Kapitel eins
Mit einem flauen Gefühl im Magen fuhr ich Anfang September in Richtung North Carolina. Neben mir saß Lynn mit ihrem schwarzgefärbten, kurzen Haar, das so steif von ihrem Kopf abstand, als hätte sie ihre Frisur aus Draht zurechtgebogen. Kristen war auf der Rückbank meines verbeulten Toyotas in sich zusammengesackt und drückte auf ihrem Handy herum. Ihr langes, glattes Haar fiel als goldener Vorhang neben ihren schmalen Wangen hinab. Ich saß am Steuer und fixierte die kerzengerade Fahrbahn, während der Schmerz in meinem Kopf mit jeder Minute an Intensität zunahm. Sehnsüchtig dachte ich an die Outer Banks, in der Hoffnung, dadurch meine Nervosität lindern zu können. Lynn hatte Recht, wenn sie immerzu behauptete, ich bliebe „das Mädchen aus North Carolina“. Geboren, um an weichen Sandstränden entlangzujoggen, mit dem Geschmack von Salz auf den Lippen und Sandkörnern auf dem Laken, wenn ich abends nach einer Kajaktour erschöpft in mein Bett sank.
„Alles klar, Lisa?“ Lynn legte mir ihre zierliche Hand auf das rechte Knie. Auf jedem Finger, bis auf den Daumen, war ein verschnörkelter Buchstabe tätowiert: L-O-V-E. Ich zuckte zusammen. Seit Wochen war ich übermäßig angespannt. Ein Bogen, dessen Pfeil niemals abgeschossen wurde.
„Geht schon.“ Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht, obwohl es nicht nötig war.
„Wir sind an deiner Seite, okay?“ Ich brauchte nicht zu Lynn hinüberzublicken, um zu wissen, dass sie lächelte. Mit diesem Gesichtsausdruck war sie mir an der University of Michigan in Ann Arbor aufgefallen, gleich am ersten Tag. Niemand konnte so lächeln wie sie. Ihre Grübchen verwandelten ihre Mundpartie in ein Wunderwerk aus feinen Schatten auf ihrer Haut. Wäre ich ein Junge gewesen, ich hätte mich sofort Hals über Kopf in Lynn verliebt. Und dass ich nicht lesbisch war, war mir spätestens nach unserer dreiwöchigen Campingtour durch den Norden von Michigan bewusst geworden. Lynn, Kristen und ich in einem Zweipersonenzelt, eingehüllt in eine Duftwolke aus süßem, billigem Parfüm und säuerlichem Schweiß. Haut an Haut im einschläfernden Rhythmus unseres Atems. Jede offen für die Sorgen der anderen, verständnisvoll, niemals urteilend. Wir hörten einander zu, wenn es nötig war, und wenn wir schwiegen, dann war es eine angenehme Stille, die sich niemals sonderbar anfühlte. Es gab keine Freundschaft, die das, was wir hatten, toppen konnte! Jetzt hatten wir unseren Bachelor-Abschluss in der Tasche, und ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen. Sobald ich Moms Wunsch, meine Tante Dolores aufzusuchen, nachgekommen war.
„Hast du Angst?“, fragte Kristen unverhofft. Ihre Stimme klang so fern, als wäre sie eben aus einer fremden Welt angereist. Was auch beinahe stimmte, denn ihr Leben spielte sich zum großen Teil auf virtuellen Plattformen ab. Kristen war onlinesüchtig. Sie sagte, sie brauche es, um sich von ihren intensiven Gedanken abzulenken.
„Ich mache mir in die Hose“, sagte ich und schluckte nach einem Räusper-Anfall mit Mühe den Kloß in meinem Hals hinunter, der sich seit Stunden unermüdlich neu bildete. „Was glaubst du denn?“
„Angst lähmt uns nur.“ Kristen klang wie eine steinalte, weise Wahrsagerin mit grauem Haar und einem stechenden Blick, dem man nicht entkam. So eine hatte ich mal auf einem Jahrmarkt gesehen und Kristen überredete mich, sie aufzusuchen. Sie hatte mir gesagt, ich stünde erst am Anfang eines langen, steinigen Weges.
„Hey, da vorne ist ein McDonald’s, lass uns anhalten!“ Lynns Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang aufgeregt wie ein kleines Kind. „Ich habe ein Loch im Bauch.“
„Meinetwegen, aber ich kann nichts essen“, sagte ich und ließ meinen Fuß weiterhin schwer wie Blei auf dem Gaspedal liegen. Das Bild meiner Mutter tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf, ihr blasses Gesicht zwischen schneeweißen Laken, ihre kraftlose Hand, die wie ein welkes Laubblatt auf meinem Handrücken liegt.
„Also ich könnte auch was vertragen“, sagte Kristen, und somit war ich überstimmt. Zu dritt war die Sache immer einfach. Es gab nie eine Diskussion und immer eine eindeutige Mehrheit, weil jede von uns eine klare Meinung hatte.
Erst als ich auf die rechte Spur wechselte und das Tempo drosselte, merkte ich, wie erschöpft ich war. Nicht nur die Ereignisse der letzten Zeit hatten mich geschlaucht, sondern auch die schlaflosen Nächte, in denen ich gegrübelt hatte, was ich tun sollte.
Ich nahm die Ausfahrt in Richtung des gelben M und parkte meinen Toyota schließlich weit weg von den Autos, die fast alle in der Nähe des Eingangs standen. Er war mit dem Blechschaden vorne rechts, wo der Vorbesitzer gegen ein Stoppschild gerauscht war, und den vielen Rostflecken beschädigt genug. Ich wollte keine weiteren Dellen riskieren.
Kristen rannte sofort auf die Toilette, Lynn und ich folgten ihr. Egal, wie dringend es war, Kristen vergaß nie, sich zuerst ein Stück Papier aus dem Spender abzureißen, um den Türschließer nicht direkt zu berühren. Sie machte uns immer wieder darauf aufmerksam, dass fremde Frauen den Riegel anfassten, nachdem sie sich unten herum abgeputzt hatten. Sie war ein Fan von Hände-Desinfektionsmitteln und Einweghandschuhen. Vielleicht liebte sie die virtuelle Welt wegen ihrer Keimfreiheit.
Während wir wenig später unschlüssig den Menüplan über dem Tresen studierten, warf uns die rundliche Dame an der vordersten Kasse einen gelangweilten Blick zu. Sie bediente uns schließlich mit einem lethargischen Lächeln. Kristen nannte es den Schnellimbiss-Blues.
Wir setzten uns an den hintersten Tisch neben einer großen Glasscheibe, die den Blick auf den Kinderspielplatz freigab. Ich erinnerte mich an all die Reisen auf die Outer Banks, bei denen Mom, Oma Amber und ich bei McDonald’s gegessen hatten und die Rutsche das Tollste gewesen war. Als Kind hatte ich in solchen Momenten alles andere vergessen können. Jetzt zwang ich mich trotz des Gefühls, mich jede Sekunde übergeben zu müssen, zu einem Milchshake. Meine Nervosität wurde immer unerträglicher, aber Süßes ging fast immer, und man sah es mir nicht einmal an. Meine Beine waren schlank, mein Bauch flach, und rein wissenschaftlich betrachtet hatte ich wahrscheinlich Untergewicht. Lynn behauptete, ich sei ein schlechter Futterverwerter und es sei nicht fair. Sie biss genüsslich in ihren Cheeseburger, während Kristen in ihrem Salat herumstocherte. Ich genoss die Kühle meines Vanille-Shakes. Seit dem Gespräch mit meiner Mutter und ihrem Tod zwei Tage später schien es mir, als hätte ich die Fähigkeit zu genießen verloren. Aber das hier tat gut. Verdammt gut.
„Hast du wirklich keine Ahnung, warum dich deine Mom kurz vor ihrem Tod gebeten hat, deine Tante zu besuchen?“, fragte Lynn mit vollem Mund. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die mit Mayonnaise verschmierten Lippen. So hatten ihr das ihre Eltern sicher nicht beigebracht!
Lynn hatte sofort begeistert zugesagt, mich auf dieser Reise zu begleiten, denn sie war der festen Überzeugung, man müsse sein Leben in die Hand nehmen. Sie stammte aus einer gutsituierten Familie aus Wisconsin und hatte schon als Teenager gewusst, dass sie an der renommierten University of Michigan in Ann Arbor studieren würde. Und dass sie niemals so langweilig werden wollte wie ihre Eltern. Mit dreißig Jahren würde sie heiraten, mit zweiunddreißig das erste Kind bekommen und zwei Jahre später das zweite und letzte. Nur der Mann, an dessen Seite sie es aushalten würde und der ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein ertragen konnte, war ihr noch nicht über den Weg gelaufen.
„Nein, und ich habe auch keinen Schimmer, was ich meiner Tante sagen soll“, gestand ich fast tonlos und sog an dem Trinkhalm. „Habt ihr eine Idee?“ Ich blickte erwartungsvoll in die Runde.
Kristen sah mich wieder an, als wäre sie eben erst aus einer fremden Welt aufgetaucht. Bei ihr wusste man nie so recht, wo sie gedanklich unterwegs war. Aber wir liebten sie trotzdem! Oder gerade deswegen.
„Wieso versuchst du es nicht einfach mit der Wahrheit?“, schlug Kristen vor und zuckte mit den Schultern. Sie war in den vergangenen Monaten erschreckend dürr geworden. Ihre Schlüsselbeine stachen unter ihrer hellen Haut wie Metallstangen hervor.
„Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist.“ Wieder musste ich schwer schlucken. Ein süßer Schleim steckte in meinem Hals fest, und ich hustete in meine Armbeuge. „Meine Mom war vor ihrem Tod völlig verwirrt. Sie hatte keine Kraft mehr, um ihre Andeutung genauer zu erklären. Aber es war ihr sehr wichtig, mich zu meiner Tante zu schicken.“
„Genau, was ist denn überhaupt die Wahrheit?“, bemerkte Lynn.
„Na, dass Lisas Mom plötzlich verstorben ist und gesagt hat, dass es wichtige Dinge in der Vergangenheit gibt, über die sie mit Tante Dolores reden soll.“ Kristen balancierte ein Stück Gurke auf ihrer Plastikgabel.
„Ich weiß nicht.“ Meine Stirn glühte, und auf einmal glaubte ich, nicht mehr länger am Steuer sitzen zu können. Meine Beine waren schwer und mein Kopfschmerz inzwischen beinahe unerträglich. Ich suchte in meiner Handtasche nach einer Tablette und spülte sie mit einem großen Schluck Milchshake hinunter. „Wir können doch nicht einfach da auftauchen und sie bitten, uns aus der Vergangenheit zu erzählen.“ Ich überlegte kurz. „Andererseits, wenn es da etwas so Entscheidendes gab, dann wird sie schon verstehen, warum Mom mich geschickt hat.“
„Wir schaffen das schon!“ Lynn hob die Augenbrauen. Das war einer ihrer vielen Ticks. Genauso wie das schnelle Wippen mit dem rechten Bein, das Kristen verrückt machte.
Wir brachten unseren Müll weg, und ich bat Lynn, das Steuer für den Rest der Reise zu übernehmen. Kristen nahm hinten links Platz, sodass ich die Rückenlehne meines Sitzes nach unten kurbeln konnte, um ein wenig die Augen zu schließen. Zumindest, bis die Tablette wirkte.
Ich musste eingenickt sein, denn als Kristen mir gegen die Schulter stupste, war mir Spucke aus dem rechten Mundwinkel gelaufen, und mein Kopfschmerz war wie weggepustet.
„Hör mal, Carolina Girl!“ Ihre Stimme klang aufgeregt. Sie war nie viel gereist. Der Geldbeutel ihrer Eltern war stets dünn gewesen, und sie hatte es nur dank ihres ausgefeilten Intellekts an die renommierte University of Michigan geschafft. Sie war ein unscheinbares Mädchen aus Pennsylvania, das WLAN immer noch für Luxus hielt. Und so weit im Süden wie jetzt war sie noch nie gewesen.
Dann stöpselte mir Kristen plötzlich ihre weißen AirPods ins Ohr und drehte die Lautstärke auf gerade noch auszuhalten.
„In my mind I’m gone to Carolina …“, sang James Taylor. Ich liebte diesen Song, und das wusste Kristen natürlich. Ein erleichtertes Lächeln huschte über meine Lippen. Wie sehr konnte ich diese Sehnsucht nach North Carolina verstehen! Der Ort hatte für mich niemals seine enorme Anziehungskraft verloren, obwohl ich vor allem jetzt nach dem Uniabschluss mehr denn je offen für die Welt sein wollte. Vielleicht prägte die Kindheit mehr, als es einem lieb war.
Ich stellte die Rückenlehne des Beifahrersitzes wieder senkrecht und ließ meinen Blick in die Ferne gleiten. Die Müdigkeit fiel beim Anblick der vertrauten Gegend von mir ab. Nach dem Besuch bei Tante Dolores würden wir in ein Ferienhaus auf den Outer Banks fahren. Hier schlug mein Herz intensiver, und meine Sinne öffneten sich wie Blumen, die ihre Bestäuber anlocken wollen. Warum nur hatte ich meinen Herzensstaat jemals verlassen müssen? Meine Mom war mit mir nach Lansing im Mittleren Westen abgehauen, als ich zwölf gewesen war, aber mein Herz war in North Carolina geblieben. Die leicht getrübte Vorfreude auf alles, was mich empfangen würde, machte mich schwindelig. Der warme, salzige Geruch, der in der schwülen Luft hing, das Zirpen der Zikaden, das friedvoll daliegende Meer, die lauen Abende, die unendlichen Sandstrände der Outer Banks. All das bescherte mir eine Gänsehaut, während ich aus dem Fenster blickte und die Musik durch meinen Körper strömen ließ. Die Michigan-Winter waren mir von Anfang an zu eisig und lang gewesen, und ich hatte die Nähe des Atlantiks vermisst. Auch wenn man die großen Seen bis auf das Salz im Wasser als Meere verkaufen konnte – es war etwas anderes, wenn der laue Wind an der Atlantikküste unter mein Top kroch. In Michigan war mir immer kalt.
Als der letzte Takt des Lieds verklungen war, zog ich die Stöpsel aus meinen Ohren und reichte sie dankend zurück.
„Alles wird gut werden, hörst du?“ Kristen hatte sich in den vergangenen Tagen bemüht, mich aufzubauen, obwohl es nicht ihre Stärke war. Während Lynn die Optimistische in unserem Trio war, verfiel Kristen leicht ins Grübeln. Das Leben ihrer geschiedenen Eltern hatte sie gelehrt, dass es keine Garantie für ein Happy End gab.
Mein Herz begann zu galoppieren. Seit über sechs Jahren war ich nicht mehr in North Carolina gewesen! Wenige Jahre nach unserem Umzug in einen Vorort von Detroit hatten meine Mom und ich fünf Tage auf den Outer Banks verbracht, um, wie sie damals behauptet hatte, ein wenig „auszuspannen“. Heute fragte ich mich, was sie in der Zeit alles angestellt hatte, während ich meine sommerlich braunen Füße mit den weiß lackierten Nägeln in den Sand gesteckt und dem vertrauten Rauschen der Brandung gelauscht hatte.
„Haben wir eigentlich WLAN im Ferienhaus?“, fragte Kristen plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken.
„Bestimmt.“ Lynn warf mir einen ermunternden Blick zu. „Und wenn nicht, dann musst du dich halt mit uns unterhalten, Kristen.“
Es kam keine Antwort von der Rückbank, und Lynn boxte mir leicht gegen die Schulter.
Ich musste erneut an meine Mom denken und an ihr Gesicht, als sie die Augen für immer geschlossen hatte. Meine brannten. Verdammt! Wieso nur hatte alles so kommen müssen? Ich hatte meine vermurkste Kindheit und Jugend schon beinahe in einer Schublade abgelegt und diese sorgfältig verriegelt. Aber dann war Moms Krebserkrankung wie aus dem Nichts gekommen und hatte sie in eine Person verwandelt, die nur noch in der Vergangenheit gegraben hatte. Was hatte sie auch vor sich gehabt, wenn der Tod bereits angeklopft hatte? Heute wünschte ich, sie hätte früher mit mir über diese Dinge gesprochen, mit denen ich mich jetzt unbedingt beschäftigen sollte.
Kapitel zwei
Ist es nicht sonderbar, dass die ersten drei Lebensjahre eines Menschen angeblich so bedeutsam sind, man sich aber so gut wie gar nicht an sie erinnert? Da gibt es nur die Geschichten, die einem erzählt werden. So wie die, dass ich mit zehn Monaten zu sprechen begann. Mit wenigen, für die Ohren der Erwachsenen wild zusammengewürfelten Worten, aber es war schon früh zu erkennen, dass ich mich meiner Umwelt mitteilen wollte.
Meine Kindheit in North Carolina war von meiner Großmutter Amber Burnett geprägt. Wir wohnten zunächst nicht an der Küste, sondern in einer Zweizimmerwohnung eine Stunde westlich von Elizabeth City. Ich erinnerte mich an den beigen Teppichboden mit den Löchern an den Stellen, an denen der Vormieter vermutlich seine Zigaretten ausgedrückt hatte. Ebenso an den beißenden Chlorgeruch im Treppenhaus, das der Hausmeister mit einer übertriebenen Sorgfalt zu oft reinigte. Die Wände in meinem Zuhause waren fleckig, aber das weiß ich nur von den wenigen Fotos, die es von mir gibt: Ich auf einem scheckigen Schaukelpferd, das Mom bei einem Garagen-Verkauf erstanden hatte, ich mit meiner roten Plastiktrompete auf Oma Ambers Schoß auf unserer verschlissenen Couch, ich mit einem der in Reimen geschriebenen Kinderbuch-Klassikern von Dr. Seuss in den plumpen Händen. Oma Amber kümmerte es nicht, dass ich viel zu jung für so manche ihrer Lektüren war. Sie meinte, man müsse Kinder fordern.
Oma Amber wohnte damals in Moyock. In einer knappen halben Stunde düste sie in ihrem blauen Pick-up zu uns, und das mehrmals die Woche. Oft übernachtete sie auf der ausziehbaren Couch im Wohnzimmer, vor allem, als ich in den Kindergarten kam und Mom für Vorstellungsgespräche früh aus dem Haus musste.
„Hier gibt es keine Jobs“, fluchte Mom oft, während sie ihren Lippenstift mithilfe des Handspiegels nachzog. Ihre krausen Locken lagen nervös auf ihren Schultern. Ich hatte mich als Kleinkind nicht gefragt, wie Mom unseren Lebensunterhalt bestritt. Heute tat ich es. Ab und zu machte sie wochenlang nichts, saß auf der Couch, sah Serien, rauchte und stopfte sich mit einem abwesenden Blick Erdnüsse in den Mund. Als ich in die Schule kam, landete sie schließlich einen Glückstreffer bei einer Ferienhausvermittlung auf den Outer Banks. Eigentlich verdankte sie es Oma Amber, denn die hatte zu dem Zeitpunkt schon vor einiger Zeit ihren Souvenirladen in Duck eröffnet und Mom seitdem einigen ihrer Freundinnen vor- und so den Kontakt hergestellt. Zu der Zeit drängten im Sommer bereits unzählige Touristen auf die Outer Banks.
Mom behielt ihre Stelle im Vermittlungsbüro, bis ich zwölf wurde. Nach einem heftigen Streit mit meiner Großmutter drehte sie durch und beschloss binnen weniger Tage, mit mir umzuziehen, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Ich verstand nicht genau, worum es bei der Auseinandersetzung ging. Ich klebte mit einem Ohr an der Tür, verstand nur, dass meine Oma nicht mit Moms wechselnden Freunden und ihrem angeblich fehlenden Glauben einverstanden war.
Wir mieteten ein kleines, graues Haus, das nicht auf der Meerseite lag. Alles andere wäre zu teuer gewesen. In meinem Kinderzimmer standen neben meinem rosafarbenen Bett Moms Schreibtisch und eine dunkle Kommode, auf der mein Plüsch-Einhorn Cuddles thronte. Es war sonderbar: Heutzutage erinnerte ich mich nur schleierhaft an meinen Kinderhort, aber ich sah dieses Einhorn mit dem Regenbogenschweif und den tiefschwarzen Glubschaugen vor mir und nahm bei dem Gedanken immer noch den Geruch seines Fells wahr. Ein Gemisch aus dem Zitronen-Raumduft im Zimmer, meinem süßen Speichel und Moms beißendem Zigarettenqualm.
In ihrem Souvenirladen hatte Oma Amber Angestellte und war nur selten vor Ort. Sie war nie auf die Outer Banks gezogen, sondern pendelte bei Bedarf. Wenn sie aber im Sommer zu Besuch war, holte sie mich vom Kinderhort ab. Das tat normalerweise Mom, gegen achtzehn Uhr und mit zusammengepressten Lippen. Sie sprach kein Wort mit den Erzieherinnen, aber Oma Amber kannte bald die Lebensgeschichte jeder einzelnen!
Die Oma-Amber-Zeiten waren die besten für mich. Mom kam nach Hause, nachdem meine Großmutter mir schon eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte, oder sogar erst, wenn ich schon schlief, aber das machte mir nichts aus. Ich vergrub gern meine Finger in Oma Ambers langem, grauem Haar, das sie meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie hatte diese störrische, grobe Mähne, die ältere Frauen oft kurz schneiden ließen. Aber nicht meine Oma! Ihre reichte bis zur Hüfte. Mom sagte immer, es passe nicht zu einer Frau in ihrem Alter, aber meine Großmutter sagte nur: „Papperlapapp! Es ist doch mein Kopf!“
Oma Amber lackierte mir die Fingernägel rosa, nähte mir ein Prinzessinnen-Kostüm für Halloween, lehrte mich, auf einem Keyboard von Walmart zu spielen und kaufte mir Klebstoff mit Glitzer. „Das ist doch unnötig“, hatte Mom gemurmelt. Aber heute weiß ich, dass man sich oft an die Dinge erinnert, die eigentlich ganz klein waren.
Als Kind stellte ich den Erwachsenen viele Fragen. Doch nicht solche, die mir Auskunft über ihren Charakter oder gar ihre Vergangenheit gegeben hätten. Dafür wollte ich alles über Einhörner, die Märchen der Gebrüder Grimm, Schminktipps und das Leben der Prinzessinnen vor langer, langer Zeit wissen, und Oma Amber war eine zuverlässige Quelle. Sie befragte nicht das Internet, sondern hatte in ihrem Leben so ausgiebig gelesen, dass sie einfach viel wusste. Und wenn sie eine meiner Fragen einmal nicht beantworten konnte, dann setzte sie mich in ihr Auto, das nach Vanille roch, und fuhr mit mir zur nächsten Bücherei. Mom schüttelte nur den Kopf darüber.
Im Sommer blieb Oma Amber wochenlang bei uns. Mom und sie stritten zwar oft, weil Oma Amber sich in meine Erziehung einmischte und versuchte, das Leben meiner Mom umzukrempeln, aber unterm Strich profitierte meine Mutter von ihren Besuchen. Sie hatte mehr Freizeit und wurde bekocht, wusste mich in guten Händen, konnte den Hort pausieren und das Geld sparen.
An einem Spätsommertag, den ich niemals vergessen werde, stritten die beiden so heftig, dass ich meine Zimmertür zuknallte und mir die Ohren zuhielt, es aber trotzdem hören musste.
„Was kümmerst du dich jetzt plötzlich so um mich?“ schrie Mom. Meine Augen brannten. „Früher hat es dich auch nicht gekümmert, was ich tue oder lasse!“ Nie zuvor hatte ihre Stimme so geklungen. Sie war wie ein greller Schrei in der Stille. Es machte mir Angst.
„Hör auf damit!“ Auch Oma Amber hatte ihre Lautstärke erhoben, obwohl sie das normalerweise niemals tat.
„Kannst du die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen?“
Stille. Ich spürte mein Herz im Hals pochen. Wagte es, die Hände von meinen Ohren zu nehmen. Und dann lauschte ich an der Tür. Ich fragte mich, ob sich die beiden in den Arm genommen hatten. So, wie ich es mir oft bei Mom gewünscht hätte. Aber sie nahm mich fast nie in den Arm.
„Es war immer nur Dolores hier, Dolores dort“, sagte meine Mutter. Dolores war ihre zehn Jahre jüngere Schwester, die, seit ich sie kannte, ein zurückgezogenes Leben führte. Sie wohnte irgendwo in der Nähe von Charlotte.
„Kannst du dich nicht zusammenreißen, Elaine? Tu es wenigstens für Lisa.“
Meine Mutter erwiderte nichts. Ich ließ mich auf mein Bett fallen, holte Cuddles und hielt ihn so lange, bis ich wieder ruhig atmen konnte. Sein weiches Fell kitzelte meine Nase und bewegte sich im Luftstrom meines Atems. Oma Amber hatte mir einmal gesagt, dass man Kontrolle über das Atmen habe und sehr viel damit bewirken könne. Also verließ ich mich darauf, weil es das Einzige war, das ich in der Lage war zu kontrollieren.
Als wir später wieder aufs Festland zogen, sahen wir Oma Amber nicht mehr so oft. Heute fragte ich mich, ob sie es aufgegeben hatte, Einfluss auf Mom zu nehmen, und ob es mein Verhältnis zu meiner Mutter nachhaltig zerstört hatte, dass wir meine Großmutter nur noch selten sahen.
Oma engagierte sich stattdessen in einem Kindergarten, kümmerte sich um geistig und körperlich behinderte Kinder und machte Ausflüge mit ihnen. Manchmal rief sie mich an und richtete mir schöne Grüße von meiner Tante Dolores aus, die sie ab und zu besuchte. Im Herbst und an Weihnachten kam sie länger zu uns. Am dreiundzwanzigsten Dezember tauchte sie mit bunten Geschenken im Kofferraum auf, und wir dekorierten zusammen den Weihnachtsbaum. Mom war schlecht gelaunt, weil ihr neuer Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Er war ein Trucker aus New Jersey, und der Geruch, der stets an ihm haftete, machte mich krank. Ich war damals zehn, es war also zwei Jahre vor unserem großen Umzug nach Michigan.
„Für wen macht ihr das eigentlich?“, fragte Mom und lehnte sich gegen den Esstisch. Sie beäugte die Deko mit verächtlichem Blick. Ihre langen Finger mit den schwarz lackierten Nägeln strichen über die weiße Tischdecke voller silberner Sterne, die Oma Amber mitgebracht hatte.
„Na für uns selbst und natürlich für den Weihnachtsmann!“ Oma Amber und ich strahlten uns an.
„Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?“ Mom schüttelte den Kopf und ging in die Küche, um die Tiefkühllasagne in den Ofen zu schieben.
All diese Erinnerungen hatten einen bitteren Beigeschmack. Trotzdem blieben sie für immer. Es war eine Lüge, dass sich nur die positiven Erinnerungen hielten.
Aber es gab auch Zeiten, die einfach nur schön gewesen waren. Die durchweg guten Erinnerungen entstanden in meiner Grundschulzeit, kurz nachdem wir wieder an die Küste gezogen waren. Mom zog jedes Mal um, wenn ihre neue Liebe verwelkt war, als könnte ein Ortswechsel ihren Kummer in Nichts auflösen. Oder wenn die Miete erhöht wurde oder unsere Unterkunft Mängel bekam, mit denen sie nicht leben wollte. Wir hatten defekte Wasserrohre, undichte Dächer, Ratten im Keller. Irgendwann wohnten wir in einer Erdgeschosswohnung in Strandnähe, und Oma Amber hatte mir ein blaues Fahrrad zum Geburtstag geschenkt, mit dem ich auf der Wendeplatte im Kreis fuhr. Mein blondes Haar mit Erdbeerstich, wie es Oma Amber nannte, wehte im lauen Wind, und ich vergaß alles, was sich schwer auf mein Gemüt legen wollte.
Unvergesslich waren auch die Nachmittage mit Emily – einem Mädchen, das meinem Ideal von einer Prinzessin ziemlich nahekam, denn sie wohnte in einem Schloss – und Adarsh, einem quirligen Jungen mit indischen Wurzeln. Der lebhafte Blick aus seinen großen, dunklen Augen war für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir sammelten Steine am Strand und gruben so tiefe Löcher, dass wir uns hineinstellen konnten. Nach der Abenddämmerung machten wir uns auf die Suche nach Geisterkrabben, die mit ihren flinken, gelben Füßen und wie Antennen in die Luft ragenden Augen über den samtweichen, nassen Sand flitzten, um sich blitzschnell in ihr Versteck zurückzuziehen, sobald wir uns mit unseren Taschenlampen näherten.
Wenn ich manchmal nachdenklich war, saß ich gern mit angezogenen Knien am Strand und wünschte mir, ich könnte auch einfach weglaufen und mich verstecken. Alles, was mich belastete, hinter mir lassen. Mich in einem unterirdischen Gang sicher fühlen und die Welt für eine Weile vergessen.
Meine Streitereien mit Mom fingen meist damit an, dass sie ungeduldig mit mir wurde. Noch bevor ich ein Teenager war, störte sie sich an Dingen, die in meinen Augen in Ordnung waren. Meine zeitweise Verträumtheit störte sie, meine Unordentlichkeit und mein Schwärmen für irgendwelche Rockstars, deren Namen ich mit Marker auf meine Zimmerwände schrieb. Sie mochte es nicht, dass ich ständig hautenge Leggings trug und meine Lippen schon früh schminkte.
„Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf dich“, bemerkte sie trocken und kniff die Augen zusammen, während sie den Blick an meinem Körper hinuntergleiten ließ. „Du provozierst die Jungs.“ Es war lächerlich, denn Mom schminkte sich selbst ausgiebig und trug viel zu kurze Röcke!
Selbst Oma Amber warnte mich einmal vor den Männern. Kurz, nachdem ich meine Periode bekommen hatte und seit Tagen das Gefühl hatte, die Welt könne jeden Augenblick untergehen.
„Als Frau musst du auf der Hut sein“, sagte sie und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Männer verhalten sich oft sonderbar.“
Wenn ich nach meinem Vater fragte, wichen sowohl Mom als auch Oma Amber aus und lenkten das Gespräch schnell auf ein anderes Thema. Die Vorstellung, dass da draußen jemand herumlief, der mich gezeugt hatte, ließ mich abends oft nicht einschlafen und verfolgte mich tagelang wie ein böser Schatten. Es war nicht fair, im Dunkeln gelassen zu werden, aber vielleicht wusste meine Mom nicht einmal, wer mein Vater war. Es hatte in ihrem Leben zwar Männer gegeben, die ich kennengelernt hatte, aber keiner war lange geblieben. Manchmal fragte ich mich, was mit meiner Mutter nicht in Ordnung war. Oder war etwas an den Männern faul?
Der Sandstrand war mein Zufluchtsort. Dort schienen meine traurigen Gedanken Flügel zu bekommen, wurden leicht und entfernten sich, während sich eine wohlige Wärme in meinem Bauch ausbreitete. Wenn ich mich in den Sand legte und die Hände im Nacken verschränkte, dann war die Welt für eine Weile in Ordnung.
Je fraulicher ich wurde, desto größer wurde die Kluft zwischen Mom und mir. Sie schien das Interesse an meiner Entwicklung verloren zu haben, und ich fühlte mich alleingelassen. Als Oma Amber im Alter von gerade einmal einundsiebzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, suchten mich schwarze, bleischwere Gefühle heim. Oma hatte mir ein wenig Geld hinterlassen und all die Erinnerungen, die jetzt wehtaten. Damals schwor ich mir, dass ich dieses verdammte Gefühl, wehrlos zu sein, bekämpfen würde. Dass ich so stark sein wollte wie meine Oma es gewesen war. Und dass ich das Verhältnis zu meiner Mutter reparieren wollte. Es gelang mir nie, und dann kam mit ihrem unerwarteten Tod der nächste Schicksalsschlag.
Kapitel drei
Tante Dolores wohnte in der Nähe von Charlotte; Mom hatte mir ihre Adresse gegeben. Es war keine gehobene Wohngegend, aber sie war in Ordnung. Die Miete hatte immer Oma Amber bezahlt, und ich fragte mich, wie Dolores jetzt über die Runden kam.
Mir war klar, dass ich eventuell unangenehme Dinge aufwühlen würde. Es war eine Gratwanderung. Wie viel von der Vergangenheit streckte die Finger bis in die Gegenwart aus, und sollten wir diese Finger nicht manchmal mit einem energischen Schlag verscheuchen? Ich glaubte fest daran, dass es am gesündesten war, im Hier und Jetzt zu leben.
Wir hatten Dolores von unterwegs angerufen und unseren Besuch angekündigt. Sie stand schon in der Haustür, als wir ankamen. Ich erschrak ein wenig. Dolores war gerade einmal neununddreißig, aber mit ihrem schmalen Gesicht und den Neurodermitis-Flecken um die Augen war sie von den Jahren gezeichnet und wirkte wie ausgetrocknet. Sie trug eines ihrer unspektakulären Hauskleider, die mir vertraut waren.
„Lisa, mein Schatz!“ Sie umarmte mich auf ihre zurückhaltende Art und sah mir kurz und tief in die Augen. „Wie schön, dass du mich besuchen kommst.“
Dann erblickte sie Lynn und Kristen, die nun dicht hinter mir standen. Kristen steckte ihr Handy nervös in die Hosentasche.
„Das ist meine beste Freundin Kristen Cunningham“, sagte ich und lächelte in die Runde. „Und das hier ist meine andere beste Freundin, Lynn Fulton.“
Lynn und Kristen begrüßten meine Tante und führten Small Talk über das schöne Wetter und ihre Freude, bald das Meer zu sehen.
„Ihr macht Urlaub am Meer?“ Tante Dolores hielt uns die Windfangtür auf und bat uns, hereinzukommen. Ich bemerkte Kristens nervösen Blick, als wir den engen, von Katzenhaaren und Staubflusen gezeichneten Flur betraten.
„Wir werden Urlaub machen“, sagte ich. Wir hatten das Ferienhaus auf den Outer Banks gemietet, um uns zu erholen.
Wir nahmen in dem Wohnzimmer Platz, in dem zwei Kratzbäume standen. Widerwillig ließ sich auch Kristen auf das fleckige Cord-Sofa fallen und presste die Lippen zusammen. Tante Dolores verschwand in der Küche.
„Kommen wir gleich zum Punkt?“, flüsterte Lynn mir zu. „Ich meine, was ist dein Plan?“
Die Wahrheit war, dass ich mal wieder keinen hatte. Ich nahm die Dinge stets so, wie sie kamen. Mom hatte mir in der Pubertät ständig vorgeworfen, diese Unverbindlichkeit wäre zum Haareraufen.
Tante Dolores war kein leichter Mensch. Man wusste nie, ob man sie an einem guten Tag erwischte. Sie war vor drei Wochen nicht auf Moms Beerdigung erschienen, weil sie in einer ihrer Phasen gesteckt und der Weg ihr zu lang gewesen war. Sie hatte ein imposantes Blumengesteck geschickt, auf dem auf einem seidenen Band in geschwungener Schrift In ewiger Dankbarkeit, deine kleine Schwester Dolores gestanden hatte. Wir hatten alle Verständnis dafür, dass Tante Dolores unter Depressionen und starken Stimmungsschwankungen litt.
„Wie geht es dir, erzähl doch ein bisschen!“ Tante Dolores kam mit einem geblümten Tablett auf uns zu, auf dem ein Teller mit Keksen und drei Gläser mit giftgelber Limonade standen. Lynn machte sich über die Kekse her und leerte ihr Glas in einem Zug, Kristen hielt sich zurück. Ich nahm die Limonade, um etwas zum Festhalten zu haben und meine Hände ruhig zu halten.
„Es geht mir schon besser, danke.“ Ich nickte fast unmerklich, führte das Glas an die Lippen und nahm den ersten Schluck. Das Zeug war klebrig-süß.
„Es tut mir so leid, dass ich bei der Beerdigung nicht dabei sein konnte.“ Tante Dolores senkte beschämt den Blick. „Aber du weißt ja, dass es Phasen gibt, in denen ich das Haus nicht verlassen kann. Dann bin ich froh, wenn ich mich aus dem Bett quäle und dusche.“
„Wir haben alle Verständnis dafür.“ Ich schenkte meiner Tante einen warmen Blick, aber sie schien es nicht zu bemerken, weil sie vor sich hinstarrte.
Ein peinliches Schweigen legte sich über unsere kleine Runde. Mom hatte immer gesagt, Tante Dolores würde jede Behandlung mit Medikamenten ablehnen. Es sei lächerlich, dabei könne man depressiven Menschen heutzutage doch helfen.
„Wir sind hier, weil wir einige Fragen haben“, sagte Lynn plötzlich unerwartet. Sie sah mich fest an.
„So etwas habe ich schon immer befürchtet“, sagte Tante Dolores genauso unvermittelt und begann, ihre knochigen Hände zu kneten.
„Was hast du befürchtet?“ Manchmal war es nicht leicht, den Gedankengängen meiner Tante zu folgen, weil sie nur Teile ihrer Überlegungen laut aussprach. Das war für jemanden wie mich besonders schwierig, denn ich fasste normalerweise alles in Worte, was mir durch den Kopf ging.
„Dass deine Mutter Krebs bekommen könnte.“
Ich verstand nichts.
„Hatte sie denn eine familiäre Vorbelastung?“, fragte Lynn.
„Und ob!“ Jetzt richtete Tante Dolores den Blick auf mich. Sie war immer noch eine hübsche Frau, auch wenn sie ausgemergelt wirkte. Auf ihrem Gesicht lagen ein Schleier aus Sanftmut und etwas Geheimnisvolles, das mir heute keine Angst mehr machte. Mom hatte immer gesagt, Dolores esse wie ein Spatz, und überhaupt kümmere sie sich um nichts in ihrem Leben, es sei zum Heulen.
„Deine Oma Amber hatte während der Schwangerschaft mit Elaine Krebs.“ Es lag ein Hauch Triumph in Dolores’ Blick. Sie war immer der Liebling meiner Oma gewesen, und meine Mom hatte es zu spüren bekommen. Wer konnte es ihr also verübeln, dass ihr Verhältnis zu meiner Tante vergiftet gewesen war? Ebenso wie ihre Beziehung zu ihrer Mutter. Die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung zog sich wie ein roter Faden durch unsere Familie, und alles in mir sträubte sich dagegen, zu viel darüber nachzudenken. Aber jetzt waren wir nun einmal hier. Wenn man am Sterbebett eines geliebten Menschen saß und der die Vergangenheit aufwühlte, dann musste man handeln, oder? „Besuch Dolores“, hatte Mom gesagt und müde die Augen geschlossen. Ihre Lider waren so blass und hauchdünn gewesen. Ich hasste den Tod.
„Amber hatte Krebs in der Schwangerschaft?“ Lynns Worte rissen mich aus den Gedanken. „Das ist ja schrecklich.“
Kristen hatte ihr Handy gezückt und sah auf das Display. Ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. Manchmal war die Flucht in eine virtuelle Welt ein Segen. Und die momentane Situation war mehr als unangenehm! Was wollte ich überhaupt von meiner Tante?
„Deine Großmutter hatte Krebs und hat ihn besiegt“, fuhr Dolores mit einem stolzen Glänzen in den Augen fort. „Sie war eine starke Frau. Die stärkste, die ich jemals habe kennen dürfen.“
Da konnte ich meiner Tante nur zustimmen. An manchen Tagen vermisste ich Oma Amber immer noch schmerzlich.
„Sie hat so sehr gegen diese furchtbare Krankheit gekämpft und wurde am Ende dafür belohnt.“ Tante Dolores lächelte vorsichtig. „Jedenfalls hat sie mir das erzählt. Ich selbst war ja zu der Zeit noch nicht einmal auf der Welt.“ Ihr Blick wanderte verträumt in die Mitte des Raumes. „Geschichten über starke Frauen sind mir immer die liebsten.“
Ich wusste nicht viel über Omas Vergangenheit. Sie war selten ein Thema zwischen uns gewesen, und mir war nur bekannt, dass es einen Mann namens Benedict gegeben hatte – hochgewachsen und schlank, mit dunklen Augen und einem kunstvollen Schnurrbart. Sein Foto hatte auf Oma Ambers Nachttisch gestanden. Aber es hatte nie einen Opa gegeben. Genauso wenig wie einen Vater. Die Männer in unserer Familiengeschichte schienen sich in Luft aufzulösen, und deshalb hatte ich großen Respekt vor Liebesbeziehungen. Meine Mom hatte mir vorgelebt, was es bedeutete, wechselnde Liebhaber zu haben und sie der Reihe nach wieder zu verlieren. Ich glaubte nicht an die große Liebe und hatte erst wenige, bedeutungslose Abenteuer gehabt, die ich alle in die mentale Schublade unwichtig gesteckt hatte.
„Kann ich euch noch etwas bringen? Einen Tee vielleicht?“, fragte Tante Dolores, und ich war froh, dass sie das Thema fallenließ.
„Ein Kaffee wäre toll“, murmelte Kristen, ohne von ihrem Handy aufzublicken.
„Wir sind gekommen, weil Lisas Mom es ihr nahegelegt hat“, sagte Lynn. Sie wollte das Gespräch auf den Punkt bringen, aber mir ging das zu schnell, und ich warf ihr einen strafenden Blick zu. Es kümmerte sie, wie immer, nicht.
„Wir glauben …“ Lynn hielt kurz inne. „Also Lisa glaubt, dass es da Dinge in ihrer Vergangenheit gibt, die ans Tageslicht gebracht werden sollten. Weil ihre Mom so unruhig war in ihren letzten Stunden.“
Lynn wollte mit der Tür ins Haus fallen, aber bei meiner Tante würde das nicht funktionieren! Ich fühlte mich geradezu gedrängt, ebenfalls etwas zu sagen, auch wenn es mir sehr schwerfiel.
„Lynn und Kristen sind als meine mentalen Stützen dabei“, erklärte ich also. „Sie sind seit Jahren meine allerbesten Freundinnen, und ich war nach Moms Tod ziemlich schlecht drauf.“
„Verständlich“, sagte Tante Dolores. „Ich bin oft ohne ersichtlichen Grund schlecht gelaunt und weiß sehr gut, wie das ist, Lisa.“
Fieberhaft versuchte ich, mir die Worte zurechtzulegen. Ich fand es unfair, meiner Tante die Pistole auf die Brust zu setzen: Los, erzähl uns alles, was du weißt! Du weißt doch mehr als wir, oder? Raus mit der Sprache! Das war nicht meine Art. Ich mochte es, wenn sich die Menschen mir gegenüber aus freien Stücken öffneten.
„Ich mache einen Kaffee, dann bin ich wieder bei euch.“ Meine Tante stand auf und ging wieder in die Küche.
„Spinnst du, was drängst du meine Tante so?“ Ich sah Lynn wütend an. Meine Wangen wurden heiß.
„Was denn?“ Lynn zuckte mit den Schultern. „Wir können hier auch stundenlang hocken und Kekse essen und von dieser pappsüßen Limonade Bauchkrämpfe bekommen.“
Ich erwiderte nichts, weil ich weiterhin überlegte, was ich Dolores fragen wollte. In der Küche schepperte es, etwas musste zu Boden gefallen sein.
„Wenn du willst, dann sage ich nichts mehr.“ Lynn warf mir einen leicht genervten Blick zu.
Ich schwieg, weil meine Tante zurückkehrte. Dass ich sie nur aufgesucht hatte, um ihr Informationen über früher zu entlocken, bereitete mir auf einmal Gewissensbisse.
„Warst du eigentlich in letzter Zeit auf den Outer Banks?“, fragte ich, um die Situation aufzulockern.
Tante Dolores reichte Kristen eine dampfende Kaffeetasse und setzte sich neben mich. Mit einem entschuldigenden Lächeln legte Kristen ihr Handy ab und nahm das Getränk dankend entgegen.
„Ich bin schon lange nicht mehr dort gewesen, Lisa.“ Tante Dolores tätschelte meinen Oberschenkel. Ich kam mir vor, als wäre ich wieder ein kleines Kind. „Damals war ich noch oft im Souvenirladen, aber nicht mehr, seit dieser Chris das Geschäft übernommen hat. Es hat seinen früheren Charme verloren.“ Tante Dolores zog ihre Hand weg. „Deine Großmutter hat damals Kunst verkauft, aber jetzt gibt es dort nur noch Kitsch und sonderbaren Krimskrams.“
„Ich verstehe.“ Ich lächelte meine Tante an. Sie und meine Mutter hatten den Laden nach Oma Ambers Tod verkauft, und ich war sauer gewesen, weil er mir viel bedeutet und ich die Zeit auf den Outer Banks immer genossen hatte.
„Der Laden war der Traum deiner Großmutter“, sagte Tante Dolores, als könnte sie meine Gedanken lesen. „Er war aber zu viel Arbeit und zu weit weg, vor allem, nachdem Elaine und du nach Michigan gezogen seid und ich hier allein war.“ Ich war mir nicht sicher, ob in ihrer Äußerung ein leiser Vorwurf lag.
„Es ist so schade, dass wir damals weggezogen sind“, sagte ich.
„Also für mich ist Lisa für immer das Mädchen aus North Carolina.“ Lynn strahlte. „So haben wir sie kennengelernt, und ich merke, dass sie hier glücklicher ist.“
„Wohl wahr!“ Kristen nippte an ihrem Kaffee. „Lisa ist unser Carolina Girl, und wir hoffen, dass sie wieder zu ihren Wurzeln zurückfinden wird, denn in Michigan ist es kalt, und jetzt, nach unserem Bachelorabschluss, müssen wir sowieso alle überlegen, wie es für uns weitergehen soll.“
„Hier gibt es doch nichts für Lisa“, sagte Tante Dolores mit einem nachdenklichen Blick. „Was einen an dem Ort hält, an dem man geboren wurde, ist doch nur die Trägheit.“ Sie starrte gedankenverloren vor sich hin, und ihre Augen waren auf einmal sonderbar verklärt, als sähe sie nicht in die Welt, sondern in ihr Herz hinein. Ich kannte diesen Blick von früher. „Oder die Angst, etwas Neues zu wagen“, fuhr sie fort. Kristen, Lynn und ich hingen an ihren Lippen, begierig, mehr zu hören. Vielleicht etwas, das Moms Nervosität vor ihrem Tod erklärte.
„Ich bin auch nicht weit weggezogen, aber immerhin weg von der Küste. Weil es manchmal so ist, dass man die Vergangenheit nur dann hinter sich lassen kann, wenn man sich zumindest räumlich von ihr distanziert.“
Da war sie wieder, die Vergangenheit! Es machte mir keine Freude, in ihr zu wühlen, aber eine leise Stimme in mir flehte danach.
„Wir waren nie eine richtige Familie.“ Tante Dolores’ Augen wurden feucht. „Ich hoffe, das belastet dich jetzt als junge Frau nicht allzu sehr.“
„Was ist schon eine richtige Familie?“, fragte ich, aber eher rhetorisch. Doch meine Tante reagierte sofort.
„Eine richtige Familie besteht für mich aus einer Mutter und einem Vater und zumindest einem Kind. Und aus viel Liebe.“ Sie sah mich auf eine melancholische Weise an. „Weder Elaine noch ich haben jemals erfahren dürfen, was es bedeutet, sich im warmen Nest einer Familie einzukuscheln und bedingungslos wohlzufühlen. Wir hatten nie einen Vater. Deine Großmutter hatte als Kind eine liebevolle Familie, und diese Wärme hat sie später weitergegeben.“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, denn es klang einerseits so schön, andererseits aber auch hoffnungslos, weil ich die Sehnsucht nach einer männlichen Bezugsperson nur allzu gut nachempfinden konnte. Ich mochte es nicht, wenn meine Tante so klang. Wenn überhaupt jemand so klang. Das Leben war schön, und ich wollte niemals zulassen, dass die Umstände meine Einstellung auf Dauer vermiesten. An der Uni und mit meinen Freundinnen hatte ich wieder gelernt, unbekümmert zu sein. Nachdem meine Mom mir vorgelebt hatte, dass das Leben sorgenvoll sein konnte.
„Sind Sie nicht einsam?“, fragte Kristen meine Tante auf einmal. „Ich meine, wie schaffen Sie das hier so ganz allein?“
Ich war für einen Augenblick entsetzt über Kristens Taktlosigkeit.
„Ich kann das, was Sie gesagt haben, sehr gut nachvollziehen“, fügte Kristen hinzu, als könnte sie dadurch ihre Frage entschärfen. „Meine Kindheit war scheiße. Ich habe gelernt, auf mich selbst achtzugeben.“ Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. „Meistens schaffe ich es, die Vergangenheit auszublenden, aber manchmal holt sie mich ein.“
Ich wusste, wovon Kristen sprach. Wenn sie nicht gerade online war, dann verwickelte sie mich in tiefgründige Gespräche, die meist zu keinem Ziel führten. Es waren Gedankengänge, die ich irgendwann als Qual empfand. Sie zogen mich oft runter, aber Kristen blühte in ihnen auf und schien sie zu brauchen wie die Luft zum Atmen. Es wunderte mich nicht, dass sie noch nie einen festen Freund gehabt hatte, denn man musste schon sehr tolerant sein, um Kristens gedankliche Foltertouren auszuhalten.
„Ich bin tatsächlich oft einsam.“ Tante Dolores warf Kristen einen dankbaren Blick zu. Da hatten sich zwei gefunden! Lynn verdrehte die Augen. „Aber ich bin schicksalsergeben.“
Lynn seufzte zu laut.
„Ich habe mich mit vielen Dingen abgefunden, weil es für mich die einzige Möglichkeit war, weiterzumachen. Wäre ich nicht so gläubig wie meine Mutter, dann hätte ich mir schon längst das Leben genommen.“
„Das klingt ja furchtbar!“ Lynn fuhr sich mit den Fingern durch ihre schwarze Drahtfrisur. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
Ich hielt mich zurück und beobachtete die absonderliche Szene. Und war unendlich dankbar, dass ich meine beiden Freundinnen, die wie Schwestern für mich waren, auf dieser Erkundungstour in meine Vergangenheit an meiner Seite hatte. Lynn hatte sogar ihren geplanten Urlaub mit einem ehemaligen Kommilitonen dafür geopfert!
„Es ist immer so, wie man es auffasst“, sagte Tante Dolores auf einmal sehr nüchtern. „Es ist eine Frage der Einstellung, aber die wird einem in die Wiege gelegt.“
„Ach was!“ Lynn war sichtlich aufgebracht. „An seiner Einstellung kann, ja muss man sogar arbeiten.“
Ich stimmte ihr innerlich zu.
Tante Dolores verschränkte die Arme vor der Brust und sah elend aus.
„Ich glaube, wir lassen dich jetzt in Ruhe“, sagte ich, weil ich tatsächlich das Gefühl hatte, dass es eine schlechte Idee gewesen war, meine depressiv veranlagte Tante aufzusuchen. Das hier klang immer mehr wie ein Verhör. „Wir kommen gern auf dem Rückweg wieder bei dir vorbei, Tante Dolores.“ Ich versuchte ein Lächeln.
„Das würde mich sehr freuen, Lisa“, sagte sie.
Wir erhoben uns und folgten ihr in den Flur. An der Tür angekommen, ergriff sie meinen Arm. „Es tut mir so leid, Lisa, aber ich kann wirklich nicht mehr zu Elaine und zu früher sagen. Und wenn ich ehrlich bin, möchte ich es auch nicht.“ Sie zog mich an sich. Ich schloss die Augen und atmete ihren vertrauten Duft ein, dieses Gemisch aus ihrem Vanilleparfüm und einfach nur Tante Dolores.
„Es ist schon in Ordnung“, flüsterte ich in ihr Ohr, auch wenn ich maßlos enttäuscht war. Ich versuchte, mich auf die freien Tage auf den Outer Banks mit Kristen und Lynn zu freuen, aber es gelang mir kaum.
„Nur eines, Lisa.“ Tante Dolores entließ mich aus der langen, festen Umklammerung. „Wenn du wirklich mehr wissen willst, dann such nach Milton, der lebt vielleicht noch auf den Outer Banks, könnte ich mir vorstellen.“
Ich sah meine Tante verwundert an.
„Frag nach einem Milton Farrell. Am besten in Nags Head.“ Sie nickte fast unmerklich. „Aber ich weiß nicht, welche Folgen deine Suche haben wird. Manchmal ist es besser, die Dinge so zu nehmen, wie sie jetzt sind. Die Vergangenheit ist vorbei.“