1. Home, bittersweet home
Charlotte
Ich ruderte mit den Armen, so schnell ich konnte. Schaufelte das Wasser von mir weg, um mit der Strömung mitzuhalten, die unermüdlich dem Strand entgegenstrebte. Dann wurde mein Brett nach oben gedrückt, die Welle schwoll an und … jetzt!
Mit einem kräftigen Ruck sprang ich aufs Brett, richtete mich aber nur halb auf, gerade so weit, dass ich mit angewinkelten Knien eine gebeugte Haltung einnahm. Mit den Fingerspitzen zog ich Rillen über die Wasseroberfläche, Kratzer, die sofort wieder verschwanden. Spuren, ausgelöscht im Moment des Entstehens.
Mein Körper war angespannt vom Haaransatz bis in die Zehen. Da war nur diese schmale, hauchdünne Barriere zwischen dem unendlichen Blau und mir. Meine Füße drückten das Brett minimal nach links. Die Wirkung dieses Mikroimpulses war verblüffend, denn schon rutschte ich die Welle hinauf. Und dann wieder – ebenfalls ausgelöst durch kleinste Bewegungen – parallel zur Strömung auf der Welle dem Ufer entgegen. Der Wind flog durch mein Haar, hinter mir versank die Sonne rubinrot am Horizont. Ein weiterer Bilderbuchtag mit hüfthohen Wellen war bald zu Ende. Mir blieb nur eine halbe Stunde des kostbaren Tageslichts. Viel weniger, als mir lieb war, aber immerhin pure Trainingszeit. Niemand, auf den ich aufpassen musste. Keine verwaisten Bretter, deren Besitzer die Balance verloren hatten. Nur ich. Ich und das Meer.
Platsch. Ich ließ mich zurück ins Wasser fallen, sobald die Welle abgeklungen war. Nun kuschelte sich die kleine Welle sanft an den Strand, wo im Vergleich zum Mittag deutlich weniger los war.
Bauch aufs Brett, Arme und Beine ins Wasser. Sonne und Salzwasser zwangen mich, die Augen zusammenzukneifen. Nach all den Jahren störte mich das Brennen nicht mehr, ich nahm es wahr wie die Luft und das Wasser um mich herum. Ein geringer Preis für das Gefühl, das mich jedes Mal durchströmte, wenn ich auf einer Welle ritt: pures Glück.
Blinzeln, rudern, umdrehen, nächste Welle erklimmen. Üben. Links, rechts, links und rechts. Zwischen dem Auf und Ab kribbelten die Muskeln in meinen Armen. Aber wie zuvor Sonne und Salz ignorierte ich den Schmerz und betrat den feinen Sand erst, als sich das Blau des Himmels zu Schwarz färbte und meine Beine vor Anstrengung zitterten.
Mit einem breiten Lächeln klemmte ich mir das Surfbrett unter den Arm und entließ das Meer in die wohlverdiente Nachtruhe.
Ich hatte es nicht weit nach Hause. Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem ich lieber wohnen würde als am Strand. Wenn ich morgens aufwachte, hatte ich das Rauschen des Meeres im Ohr, das mich als mein unsichtbarer Freund durch den Tag begleitete und sich abends an mich schmiegte, sanft in den Schlaf wiegte. Ständig fand ich ein paar Sandkörner in meinem Bett, in den Schränken, in den Klamotten. Dieser feine Meeresstaub war überall. Ich liebte es. Sollte ich eines Tages nicht mehr hier leben, wüsste ich jetzt schon, was mir fehlen würde. Dieses Geräusch, dieses Gefühl.
Heute war ich spät dran. Die Sonne war untergegangen und ich musste mir eingestehen, dass ich mit voller Absicht getrödelt hatte. Körperlich erschöpft hatte ich das Brett zur Seite gestellt und mir einige Minuten Ruhe gegönnt, im Sand sitzend das dunkle Farbenspiel des Himmels beobachtet, von dem ich nicht genug bekam. Wie viele Menschen gab es wohl außer mir auf diesem Planeten, die so wie ich wussten, dass sie am richtigen Ort waren? Waren die meisten nicht ständig auf der Suche nach etwas?
Ich suchte nichts. Alles, was ich brauchte, befand sich genau hier. Aber heute war es nicht die reine Freude, am schönsten Ort der Welt zu leben, die mich dazu gebracht hatte, den Tag auszureizen. Ein unangenehmes Kribbeln im Bauch trübte den Abend. Ein nervöses Kitzeln, wie feiner Sand zwischen meinen Zehen. Intuition.
Mit angehaltenem Atem drückte ich die Klinke der Haustür hinunter und trat über die Schwelle, schüttelte den Sand von den Fußsohlen und stupste ein Paar Flipflops lautlos in die bunte Sammlung rechts von mir, weil ich fast auf sie getreten wäre. Aus dem Wohnzimmer drang ein flackernder Lichtschimmer in den Flur, und erst als mein Körper nach Luft schrie, gestattete ich ihm, einzuatmen. Mit dem Atemzug setzte der Geruchssinn wieder ein.
Die Luft roch süßlich, würzig, durchdringend.
Ich schluckte schwer, zwang mich, die Tür hinter mir zu schließen. Dabei fiel mein Blick auf einen Stapel Bücher auf der Kommode, die Dad vor Jahren aus angeschwemmtem Treibholz gezimmert hatte. Aufdringlich ragte sie in den Raum, aber es war die einzige Stelle, an der sie auf den krummen Dielen nicht kippelte. Jeder Erstbesucher rammte mit voller Wucht die Ecke, sodass die Tischlampe wackelte. Die Beschwerden über das vermaledeite Unikat störte in diesem Haus längst niemanden mehr. Die Kommode trug eine ungewollte Komik: Dads verrückte Alarmanlage, an der jeder Einbrecher scheitern würde.
Neben den Büchern lagen Reiseführer und Magazine. Nepal. Stirnrunzelnd betrachtete ich die Cover. Schneebedeckte Berge, bunte Gebetsfahnen, Männer in roten Gewändern, die in sich ruhten. Trekking in Nepal und dem Himalaja, Nepal lieben lernen, 100 Glücksorte in Nepal.
Das „Hallo“ blieb mir auf der Zunge kleben. Die Stille zwischen den Wänden und das ungewöhnlich laute Rauschen des Meeres, das vom Training in mir nachhallte, ließen mich innehalten. Nepal? Plötzlich schwante mir Übles.
Mit pochendem Herzen schlüpfte ich ins Wohnzimmer.
Da lagen sie, eng aneinandergeschmiegt, schlafend. Friedlich, mit sich und der Welt im Reinen. Auf dem Tisch ein abgebrannter Joint in einem handgetöpferten und bunt glasierten Aschenbecher, ein Relikt meiner Grundschulzeit. Leere Chipstüten, eine angebrochene Packung Eiscreme, die umgekippt war und deren Inhalt sich in einer cremigen, klebrigen Pfütze auf den Tisch ergossen hatte. Buntes Zellophanpapier von Schokoriegeln, die schon beim Ansehen Karies auslösten.
Scheiße. Sie hatten mir versprochen, aufzuhören. Während es in mir rumorte und ich um Fassung rang, blinzelte Mum und richtete sich vom Sofa auf. Dabei rutschte die dünne Baumwolldecke von ihrer nackten Brust.
Fantastisch. Getrieben hatten sie es auch noch.
Zum Glück überdeckte dieser penetrante Grasgeruch die Ausdünstungen meiner Eltern.
„Schatz, du bist aber heute spät“, säuselte meine Mutter und rekelte sich. In diesem Raum schämte sich nur eine Person – und das war nicht sie.
„Wie immer“, presste ich hervor.
Nun wachte auch Dad auf. Mein Blick folgte jeder seiner Bewegungen. Wie er nach seinen Boxershorts angelte, sie sich geschickt überstreifte, ohne dass ich zu viel sah. Dabei war ich mir sicher, dass es eine unbewusste Geste war, denn es interessierte ihn nicht die Bohne, ob ich einen Blick auf sein Gehänge erhaschen konnte. Meine Eltern schämten sich für nichts, wie gesagt. Er streckte sich und fragte: „Jemand Kaffee?“
Mum und ich nickten gleichzeitig. Dad verschwand hinter der Theke, zapfte Wasser aus dem Kran, schüttete es in die Maschine, fügte Filter und Kaffeepulver hinzu und schaltete sie ein. Reglos beobachtete ich ihn bei seiner Routine, während Mum mich auf dieselbe Weise musterte wie ich zuvor Dad.
„Du siehst gut aus“, stellte sie fest. „Komm mal her, lass dich ansehen.“
„Hast du eben.“ Ich blieb, wo ich war. „Was hat es mit dem Nepal-Kram auf sich?“
Sie lehnte sich zurück, weiterhin spärlich mit der Decke bekleidet. Klar, sie war meine Mum, aber verdammt, wie schwer war es, einen BH anzuziehen? Oder ein Bikinioberteil. Oder ein T-Shirt. Oder den ollen Vorhang.
Der Joint wanderte vom Aschenbecher zurück in ihre Hand und wurde neu angezündet. Sie nahm einen tiefen Zug, den sie ebenso tief und langsam ausatmete. „Das? Ach, wir haben uns überlegt, alles zu verkaufen und nach Nepal zu gehen.“
Ich starrte sie an, wie sie dort lag: lässig, nackt, befriedigt, rauchend.
„Was?“, fragte ich tonlos. Ich musste mich verhört haben.
Dad setzte sich wieder zu Mum und legte einen Arm um sie, zog sie an sich.
„Es ist Zeit, weiterzuziehen“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wir wollten nie so lange in Byron Bay bleiben, hat sich einfach so ergeben. Jetzt haben wir Lust auf etwas anders, auf die Berge. Nepal soll atemberaubend sein, weit und ruhig, ein Traum.“
Ich stand immer noch reglos da und starrte sie an. Sprachlos. Ich verstand zwar, was sie sagten, aber der Sinn ihrer Worte erschloss sich mir nicht. Ich wartete auf die Pointe, darauf, dass sie losprusteten und sagten, es wäre nur ein Witz, dass sich in ihren verrauchten Köpfen eine Idee geformt hatte, die mit dem Grasnebel verschwinden würde.
Aber die Bücher auf der Kommode sprachen für sich. Auch wenn Mums Aussage spontan und locker wirkte, war nichts an dieser Idee spontan. Sie hatten sich ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt. Es war nicht bloß ein Hirngespinst, das einen überkam, wenn man eine coole Doku gesehen hat. Nach dem Motto: Wow, da will ich auch mal hin!
Obwohl ich meinen Puls, der sich beschleunigte, überdeutlich wahrnahm, fühlte ich mich wie in Watte gehüllt. „Ihr könnt doch nicht einfach alles verkaufen und wegziehen. Was ist mit dem Haus? Was ist mit der Surfers’ Heart? Was ist mit mir? Habt ihr mich mal gefragt, was ich will? Das ist auch mein Zuhause, nicht nur eures!“ Das taube Gefühl verschwand allmählich.
Mum zwirbelte eine von Dads Bartsträhnen. „Du kommst natürlich mit.“
Alles in mir sträubte sich. „Auf keinen Fall! Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich will! Und ich sag’s ganz klar: Ich will nicht nach Nepal. Was soll ich da? Das liegt mitten im Nirgendwo. Das nächste Meer ist wie weit weg? Dreitausend Kilometer durch China?“
„Oder Indien“, ergänzte Dad mit der sachlichen Präzision eines Lehrers. „Das wird schön, Charlotte. Wir bauen uns dort gemeinsam etwas Neues auf. Du wirst dich in die Berge verlieben.“
„Ich bin schon vergeben, danke.“
Die Kaffeemaschine zischte laut, ließ meinen Blick zu ihr zucken. Ich ging hinter die Theke, um sie auszuschalten und ihren Inhalt in drei bunte Tassen zu verteilen. Dreimal schwarz, davon zweimal mit cremiger Sojamilch und einmal mit Zucker. Sanft drückte ich den Löffel unter die Oberfläche. Der weiße Hügel färbte sich augenblicklich braun und löste sich auf. In diesem Moment wünschte ich, ich könnte es ihm gleichtun und mit dem Wasser verschmelzen. Hauptsache weg von hier, von diesem Wahnsinn, den meine Eltern sich da zusammenspannen. Mit wie viel Jahren war ich eigentlich adoptiert worden? Ich konnte unmöglich ihrem Schoß entsprungen sein …
„Schlaf mal eine Nacht drüber“, schlug Dad vor und nahm mir die erste Tasse aus der Hand. Er reichte sie an Mum weiter und griff nach der zweiten. Wieder folgte mein Blick jeder seiner Bewegungen, als würde ich mich selbst von außen beobachten, als wäre ich nur eine Zuschauerin in einer absurden Theatervorstellung. Mitten in diesem Gedanken sah ich, wie Mum ihren Mann beseelt anlächelte. Und die Erkenntnis traf mich erneut ungebremst: Sie meinten das ernst. Sie würden nach Nepal ziehen. Für sie war es beschlossene Sache. Sie würden unser Haus und die Surfschule samt Grundstück verkaufen, ungeachtet der Tatsache, dass ich hier nicht wegwollte und ihr Entschluss unsere Familie zerreißen würde, denn eines war klar: Ich würde hierbleiben. Und wenn ich mich an die Surfers’ Heart festketten musste.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, der mir das Atmen erschwerte. Ich hastete aus dem Raum, flüchtete auf mein Zimmer. Hörte Dad noch sagen: „Lass sie, sie wird sich schon wieder einkriegen.“ Dann schloss ich die Tür.
In ihrem verqueren Optimismus vertrauten sie darauf, dass ich über Nacht zur selben Erkenntnis käme wie sie. Dass es Zeit wäre für einen Ortswechsel, für einen Neuanfang. Nur wozu? Mir erschloss sich der Sinn nicht. Die Surfers’ Heart, Byron Bay, das Meer – mehr brauchte ich nicht, um glücklich zu sein. Auf keinen Fall würde ich morgen anders denken. Denn das Meer würde nicht aufhören, mich zu rufen. Und ich würde nie aufhören, mich nach ihm zu sehnen.
Plötzlich wünschte ich mir mit kindlicher Naivität den gestrigen Tag zurück, an dem alles perfekt schien. Die Pläne meiner Eltern brodelten unter der Oberfläche, wie ein Vulkan, mit dessen Ausbruch fest zu rechnen war, und den man aus sicherer Entfernung beobachtete. Man wusste, er würde ausbrechen, aber noch hatte man Zeit. Mein Bauchgefühl hatte mich vor dem Ausbruch gewarnt. Nun stand nach einer kurzen Unterhaltung mein Leben kopf.
Ich musste dringend mit Hao reden. Hastig griff ich nach meinem Handy und tippte seinen Kontakt an. Es klingelte. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Dann sprang die Mailbox an. Wo steckte der Kerl, wenn ich ihn mal brauchte? Ich lief im Zimmer auf und ab, bis mir einfiel, dass er geschäftlich in Sydney war.
Tja, und sonst war da niemand, den ich hätte sprechen wollen. Ich hatte es nicht so mit Freundschaften, was mich normalerweise nicht störte. Meine Familie und Hao waren die wichtigsten Menschen in meinem Leben, die Surfers’ Heart alles, was ich wollte. Mein Leben war perfekt gewesen – bis jetzt.
Eine gemeine Stimme in meinem Inneren flüsterte mir zu, dass ich selbst schuld an der Situation war, dass ich diejenige war, die es mit der Pflege von Freundschaften immer versaut hatte, die zwar wöchentlich Dutzende Menschen kennenlernte, aber nie jemanden an sich heranließ.
Ich versuchte es ein zweites Mal bei Hao. Wieder die Mailbox. Es war nach acht am Abend. Was war in Sydney so wichtig, dass er nicht ranging?
In den Tiefen meines Hinterkopfes regte sich ein Gedanke, der mir ganz und gar nicht gefiel. Kannte er die Pläne meiner Eltern? War das der Grund seiner Reise, und nicht, wie er mir gegenüber behauptet hatte, die Surfbrettangebote? Ich hatte mich schon gewundert, warum Dad Hao Urlaub genehmigt hatte. Ausgerechnet zu Saisonbeginn. In all den Jahren, in denen er in der Surfers’ Heart schuftete, als wäre sie sein Ein und Alles, hatte er noch nie im Juni frei genommen. Die australischen Wintermonate waren die einnahmestärksten im gesamten Jahr, und wir konnten jede helfende Hand gebrauchen. Erst recht Haos handwerklich geschickte, die kleine Reparaturarbeiten im Nu erledigten.
Außerdem ergab es keinen Sinn, neue Bretter anzuschaffen, wenn alles verkauft werden würde – oder? Abgesehen davon lebten die besten Brettbauer der Ostküste in Byron Bay; Sydney konnte einpacken. Jetzt kam mir Haos Argument, sich mal etwas Neues anzusehen, wie eine billige Ausrede vor. Aber ich war in einer seltsamen Stimmung und versuchte, mich selbst zu beruhigen, weil Hao der letzte Mensch war, dem ich zu Unrecht unterstellen wollte, sich mit meinen Eltern gegen mich verschworen zu haben.
Woher kamen eigentlich diese total abwegigen Gedanken? Es gab keinen Hinweis darauf, dass Hao von ihrem Vorhaben wusste. Nur zwei unbeantwortete Anrufe. Mehr nicht. Bestimmt war er essen. Ich wollte nicht denken, dass Hao, mein engster Vertrauter, mein bester Freund seit Kindertagen, mit meinen Eltern unter einer Decke steckte. Er war mein Verbündeter, Teil unserer Familie.
Unruhig lief ich auf und ab. Obwohl das Fenster geöffnet war, fiel mir das Atmen schwer. Ich brauchte Luft und Weite. Keinen Moment länger hielt ich es in diesem Haus aus.
Ich kletterte aus dem Fenster, wie ich es schon viele Male zuvor getan hatte, wenn ich meine Eltern nachts nicht wecken wollte, obwohl das Meer nach mir rief. Das Wasser würde mich beruhigen.
***
Auf dem Weg runter ans Meer pochte mein Herz laut und kräftig, das Blut rauschte in meinen Ohren. Mir war flau und ich zitterte.
Wann war ich das letzte Mal so aufgewühlt gewesen? Ich dachte an alles zurück, was bisher in meinem Leben schiefgelaufen war. Es war nicht so viel, aber es hatte das ein oder andere negative Highlight gegeben. Als Jill weggezogen war. Als Andi aus Deutschland entgegen der im Meereswind geflüsterten Versprechungen nicht für immer in Byron Bay geblieben war. Als wir Hawaii, meine erste große Liebe, verlassen hatten. All die Abschiede erschienen mir unbedeutend im Vergleich zu der Aussicht, die Surfers’ Heart zu verlieren. Sollte das wirklich passieren, sollten Mum und Dad ernst machen, wäre das die größte Tragödie von allen.
„Beruhig dich Charlie, beruhig dich“, murmelte ich mir selbst zu. „Noch ist nichts passiert.“
Ich konnte noch hoffen, dass sie es sich anders überlegten. Es wäre nicht die erste absolut geniale Idee, die sie schließlich wieder verwarfen. Andererseits ging mir ihr entschlossener Blick nicht aus dem Kopf. Insgeheim wusste ich, Nepal war ein ernst zu nehmender Gegner.
„Hey!“
Erst jetzt bemerkte ich den Typen, der mir schon die ganze Zeit am Strand entgegengekommen sein musste. Rasch sah ich mich um, ob er tatsächlich mich meinte, aber wir waren fast allein. Einige hundert Meter entfernt hatten Jugendliche ein Feuer angezündet, ihr unbeschwertes Lachen wehte zu uns herüber.
Ich setzte gerade zu einem „G’day“ an, da kam er mir zuvor: „Gut, dass wir uns mal treffen.“
„Wie bitte?“
Er lachte auf, kratzte sich mit einer Hand am Hinterkopf. „Entschuldige. Ich bin Alex.“ Der Fremde reichte mir die Hand und ich nahm sie zögerlich. Muss ich den kennen?
„Charlie.“
„Du bist die aus der Surfers’ Heart.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich nickte, weiterhin skeptisch.
„Dann sind wir Nachbarn.“ Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter, auf etwas Unbestimmtes hinter sich. Ich musste dumm aus der Wäsche gucken, denn er fuhr fort: „Du hast aber schon mitbekommen, dass direkt nebenan die ganze Zeit renoviert wurde, oder?“
„Ähm, klar …“ Vage fiel mir ein, dass ich den anhaltenden Lärm der Bauarbeiten nebenan wahrgenommen hatte. Mum hatte sich ziemlich dafür interessiert, was mit dem Restaurant geschehen würde, ich mich weniger. Wir waren nicht häufig dort essen gewesen, und abgesehen von der Minzsoße, für die ich seit meinem ersten Tag in Australien ein Faible hatte, war das Essen mittelklassig gewesen. Hinzu kam, dass mein Kopf mit Training gefüllt war. In wenigen Wochen fand der Byron-Bay-Cup statt, das größte Surfspektakel an der australischen Ostküste – ich war wild entschlossen, in diesem Jahr endlich teilzunehmen und das Ding zu gewinnen. Nichts und niemand würde mich davon abhalten, teilzunehmen.
Die Baustelle hatte ich ignoriert.
Bis jetzt, wo der neue Inhaber fast in mich hineingelaufen wäre. Falls Alex den Plan gehabt hatte, meine Aufmerksamkeit zu erregen, so war ihm das gelungen. Ich musterte ihn. Er sah gut aus. Groß und schlank, ein hübsches Gesicht mit nussbraunen Augen, Dreitagebart und etwas zu langem Haar, das der Wind in alle Himmelsrichtungen gepustet hatte. Seine Nase war leicht gekrümmt und ich fragte mich, ob sie mal gebrochen gewesen war und wenn ja, ob er Sport trieb. Das würde zu seinem lässigen Look mit einem langärmeligen Sweatshirt und der locker sitzenden Jeans passen. Er hatte die Ärmel hochgerollt und ich entdeckte die Ausläufer eines Tattoos. Die Füße steckten in schwarzen Chucks, die ich für den Strand unpassend fand, weil bestimmt ständig Sand hineinkam.
„Was gibt’s denn bei euch so zu essen? Ich glaub’, die Minzsoße kam bei den Touris nicht besonders gut an. Dabei war die echt gut. Na ja, ist mehr so ein Aussie-Ding.“
Irritiert zog Alex die Augenbrauen zusammen. Er schien meine Worte zu sortieren, dann schüttelte er schmunzelnd den Kopf. „Nichts Besonderes. Vielleicht ein paar Snacks.“ Sein Grinsen wurde immer breiter. Langsam beschlich mich das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben, und es ärgerte mich, dass er sich auf meine Kosten amüsierte. Das war das Allerletzte, was ich heute brauchte. Erst meine Eltern, jetzt dieser Scheißtyp!
„Witzig“, murrte ich. Sollte er doch jemand anderes verarschen! Ich wandte mich ab.
Alex verschluckte sich an seinem Lachen. „Hey, hey, warte mal!“
Da lag etwas in seiner Stimme, das mich dazu brachte, stehen zu bleiben. Er klang, als wäre es ihm wichtig, unser Gespräch besser enden zu lassen. Über die Schulter hinweg sah ich ihn an. „Ja?“
„Auf gute Nachbarschaft, Charlie.“ Ein amüsiertes Funkeln lag in seinen Augen, und ich hielt inne, gespannt, ob da noch mehr kommen würde. Unsere Blicke verhakten sich für einen Sekundenbruchteil ineinander, und in mir regte sich der Wunsch, zu hören, was Alex zu sagen hatte. Vermutlich würde es auf meine Kappe gehen, aber dennoch reizte es mich. Ich hob eine Augenbraue, was er mit einem süffisanten Lächeln erwiderte. Dann steckte er die Hände in die Hosentaschen, nickte mir knapp zu und schlenderte davon.
2. Chips & Neopren
Alexander
Unfassbar! Was für eine Tagträumerin!
Kopfschüttelnd schloss ich die Tür hinter mir und durchquerte den Shop, direkt zur Küche, wo die Kaffeemaschine auf mich wartete. Ich hatte noch einiges vor, bei dem mir eine Kanne helfen würde.
Zehn Stunden bis zur offiziellen Eröffnung. Während ich auf den schwarzen Muntermacher wartete, schlenderte ich zurück zum Shop und betrachtete unser Werk.
Nur der Mond schien durch das große Schaufenster, das ich aus dem Ausschank der Strandbude gebaut hatte. Eine Menge Arbeit, die sich gelohnt hatte. Das ehemalige Restaurant – wenn man es so schimpfen wollte – war einem sauberen, modernen Verleih für hochwertiges Tauch-Equipment gewichen, in dem man das Lieblingsteil gleich erwerben konnte. Wo monatelang Baustaub und Lärm geherrscht hatten, hingen jetzt Neoprenanzüge. Die Theke glänzte, und während mein Blick an ihr entlang schweifte, entdeckte ich eine Schildkrötenfigur. Sie war knallbunt, trug eine Sonnenbrille und hielt ein Schild hoch: Tip for good Karma! Eine Trinkgeldspardose, sogar mit QR-Code für PayPal. Spenden im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich schmunzelte. Was für eine Idee! Typisch Liv.
Liv war auch für die Girlanden verantwortlich, die auf den großen Eröffnungstag hindeuteten. Während ich heute den letzten Papierkram erledigt hatte und nur für ein paar Besorgungen und ein Dutzend Kleinigkeiten unterwegs gewesen war, hatte sie sich ordentlich ins Zeug gelegt und ein Händchen für Details bewiesen.
Ich gönnte mir einen Moment der Stille, um den Duft von Farbe und Neuem tief einzuatmen. Herrlich!
Dass das alles mir gehörte, wollte sich noch nicht recht in mein Bewusstsein pflanzen. Obwohl mich jeder Schritt, den ich in den letzten Monaten gegangen war, auf den morgigen Tag vorbereitet hatte, war die Zeit an mir vorbeigerast – und plötzlich war es so weit. Wenn doch nur schon morgen wäre! Ich konnte es kaum erwarten, den ersten Gästen ihr Equipment zu überreichen und mit ihnen ins Wasser zu springen. Den Tag wollten wir unspektakulär und ruhig angehen, sehen, wer alles hineinspazierte. Für den Abend hatten wir eine Party geplant. Also, Liv hatte sie durchgeboxt.
Meine neue Nachbarin Charlie war ganz schön durch den Wind gewesen. Typisch Surferin. Immer die nächste Welle im Kopf. Verpasste das Offensichtliche, das sich vor ihrer Nase abspielte. Ich stellte mir ihren Gesichtsausdruck vor, wenn sie schnallte, dass das hier kein Strandrestaurant mehr war. Könnte witzig werden.
Ich hörte, wie der Kaffee in die Kanne tröpfelte und die Maschine zischte. Mit Kanne und Tasse gewappnet setzte ich mich an den Laptop. Im Mailpostfach waren zwei weitere Anmeldungen für den ersten Tauchkurs eingetrudelt. Damit war er ausgebucht. Was für ein Start! Und auch auf Instagram lief es gut, die Resonanz auf die Eröffnung war groß und viele hatten in den Kommentaren zugesagt, abends bei der Party oder in den nächsten Tagen vorbeizuschauen. Mal sehen, wer hier sein würde. Die Zusagen auf Instagram waren unzuverlässig, aber ein Indikator. Wenn nur ein Bruchteil der Leute ihr Wort hielt, käme ordentlich Schwung in die Bude.
Ich beantwortete die ein oder andere Frage und war froh, dass sich vorwiegend Liv um den Social-Media-Kram kümmerte. Rasch schickte ich ihr eine Nachricht, die sie vermutlich erst morgen lesen würde. Ich hoffte zumindest, dass sie schlief und nicht von irgendwelchen Hippietypen aufgegabelt worden war. Mein Angebot, im Anbau zu übernachten, hatte sie abgelehnt und sich stattdessen in einer Jugendherberge für Surfer eingebucht. Mehrbettzimmer statt Gästebett beim großen Bruder.
Es war mir nicht gelungen, ihr das auszureden. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie ihre letzten freien Wochen vor Beginn ihres Studiums für meinen Traum opferte. Sie hatte nur abgewunken und gesagt: „Passt schon. Irgendwann hilfst du mir auch mal!“ Es klang wie ein Schuldschein. Aber ich war froh, sie an Bord zu haben, und deswegen lebte ich gut mit dem Gefallen.
Nach einigen weiteren Mails und einem letzten Blick auf die Website fuhr ich den Laptop runter und ging ein letztes Mal vor dem großen Tag durch den menschenleeren Laden. Monatelang hatte ich auf diesen einen Moment hingearbeitet, hatte mit Banken um Kredite diskutiert und die Zahlen schwindelig jongliert. Eine harte Verhandlung nach der anderen mit Lieferanten um die besten Preise für erstklassiges Equipment geführt. Ich hatte mir die Nächte um die Ohren geschlagen, weil mich die Zweifel an dem Projekt, an mir, an allem nicht schlafen ließen.
War das der richtige Weg? Was, wenn es nicht gut lief? Wenn ich zu viel investiert hatte, aber sich eine Tauchschule in einem Surfer-Hotspot nicht rentierte? In diesen Momenten rief ich mir immer wieder die Gespräche in Erinnerung, in denen es mir gelungen war, die Bank von meinem Vorhaben zu überzeugen. Wenn es um Geld ging, verstand niemand Spaß, und keiner lieh einem Geld, wenn man nicht der Überzeugung war, es wiederzubekommen. Der Gedanke half. Die Restzweifel blieben. Was, wenn wir uns alle irrten?
Schließlich hatte ich das Einzige getan, was man in einer solchen Situation tun konnte: Ich hatte die nervigen Zweifel ignoriert. Ich würde herausfinden, wohin mich meine Leidenschaft, Tauchlehrer zu sein führte, wenn ich den Sprung wagte. Ich wusste, dass mein Konzept gut war. Alles, was noch fehlte, war die Kundengewinnung.
In wenigen Stunden würde sich mein Traum erfüllen. Dann wäre ich Besitzer meiner eigenen Tauchschule.
***
„M sollte dir passen.“ Ich reichte einer jungen Frau einen Neoprenanzug, den sie mit skeptischem Blick entgegennahm. „Du kannst dich dort drüben umziehen, den Rest bringe ich gleich mit.“ Ich deutete auf den Außenbereich, wo bereits einige Wassersüchtige saßen und sich in die engen Gummianzüge gezwängt hatten. Fast alle waren meinem Rat gefolgt und hatten sie nach der Anprobe bis zur Hüfte wieder ausgezogen, sodass die leeren Ärmel wie Gummischlangen abstanden. Mit einer Taucherjacke auf dem Arm und Flossen in der Hand trat ich zu ihnen.
„Den bitte nur bis zur Hüfte“, sagte ich zu dem schwitzenden Mann, woraufhin er erleichtert, aber ungelenk am Reißverschluss herumfummelte, der über die gesamte Rückenlänge ging. Ich half ihm und nutzte sofort die Gelegenheit, den anderen eine erste Lektion zu geben. „Merkt euch am besten von Anfang an, dass ihr die Neoprens erst anzieht, wenn ihr ins Wasser geht. Ihr habt immer genug Zeit, die Anzüge zu schließen. Grundsätzlich gilt, sich halb anziehen, dann das Equipment zusammenbauen, dann den Rest anziehen. Glaubt mir, wenige Minuten in einem schwarzen Gummianzug in praller Sonne können sehr lang sein. Unterschätzt die Temperaturen nicht, auch wenn es Winter ist. Ihr schwitzt in den Dingern nicht nur fürchterlich, sondern riskiert auch einen Hitzschlag. Abgesehen davon sorgt ein erhitzter Körper wegen der angestauten Wärme für mehr Auftrieb. So viel Blei kann ich euch gar nicht angurten, um euch dann unter Wasser zu bekommen.“
Mittlerweile hatte sich der Mann aus dem oberen Teil des Neoprenanzugs befreit, Schweiß rann ihm über die Stirn. Eine junge Frau kämpfte damit, ihr rechtes Bein in den Neoprenanzug zu quetschen. Immer wieder rutschte sie mit den Fingern an der gummiartigen Oberfläche ab. Das Gefühl, wenn der Anzug auf trockener oder eingecremter Haut stockte und einfach nicht rutschen wollte, kannte ich zu gut. Der perfekte Zeitpunkt für Lektion Nummer zwei.
„Wenn ihr nicht in eure Anzüge kommt, blast Luft rein. Versuch es mal.“
Sie sah mich irritiert an und pustete dann zögerlich in den Anzug. Nichts tat sich. „Am besten hilft dir jemand.“
„Jemand anderes soll in den Anzug pusten?“, fragte eine andere junge Frau amüsiert.
„Ja. Aber so, als würdet ihr einen Ballon aufblasen wollen, mit Druck, kein leichtes Lüftchen. Ihr müsst Luft zwischen eure Haut und dem Anzug bringen. Alternativ könnt ihr euch unter die Dusche stellen oder Wasser aus dem Becken reinschütten. Oder ihr kauft euch einen dünnen Unterzieher, mit dem ihr leichter in den Anzug kommt. Der Feind des Neoprens ist Sonnencreme. Wenn es geht, verzichtet vorm Tauchen auf den Sonnenschutz, dann klappt es besser mit dem Anziehen. Auch die Maske sitzt am besten, wenn kein Sunblocker das Gesicht verfettet.“
„Ha!“ Triumphierend sprang die Frau auf, als ihr Bein endlich mit Neopren bekleidet war. Ihre rot gefleckten Wangen bezeugten ihren persönlichen Sieg. Ich reichte ihr einen Becher Wasser, den sie hastig austrank. Ihre Freundin stupste sie an und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstand. Die beiden kicherten.
„Geht’s nun endlich ins Wasser?“, fragte der Vorschnelle, wieder mit einem Arm im Ärmel hängend. Hoffentlich wäre seine Lernkurve beim Tauchen besser als bei den Vorbereitungen.
„Hast du es eilig?“
„Klar! Ich will schließlich was sehen.“
Weil ich wusste, was jetzt kam, konnte ich mir das Grinsen nicht mehr verkneifen. So sehr ich die Euphorie und Vorfreude meiner Schülerinnen und Schüler schätzte, mussten wir erst eine Basis schaffen. „Gut. Nachdem wir jetzt wissen, dass die Anzüge passen, könnt ihr sie wieder ausziehen.“
Aus dem Stimmengewirr, das über mich hineinbrach, schnappte ich einige Fetzen auf.
„Was?“
„Dann ohne Anzüge ins Wasser?“
„Das ist viel zu kalt!“
„Hä? Du hast doch gerade gesagt, dass wir das Equipment zusammenbauen und dann ins Wasser gehen!“
Beschwichtigend hob ich die Hände. „Hey, hey, bleibt locker. Eure erste Wasserlektion findet im Pool statt, die Anzüge musstet ihr so oder so anprobieren. Also, raus aus den Klamotten und ab zum Pool. Vergesst eure Brillen und Flossen nicht!“
Immer noch starrten mich acht Schülerinnen und Schüler entgeistert an.
Schließlich stellte eine die Frage, die alle beschäftigte: „Kein Meer?“
Ich schüttelte den Kopf. „Bevor wir ins Freiwasser gehen, muss ich wissen, dass ihr mit eurem Equipment klarkommt. Was macht man, wenn die Brille voller Wasser läuft oder beschlägt? Was, wenn zu viel Luft im Jacket ist – oder zu wenig? Wie verhält sich überhaupt welches Ausrüstungsteil und wofür brauche ich was? Das alles lernt ihr hier in der Basis, nicht sofort im Meer unter erschwerten Bedingungen. Also, bis gleich.“
Damit ließ ich sie allein und ging zum Pool, wo Liv und Josh, mein angestellter Tauchlehrer und Guide, mein Equipment sowie je acht Tauchjacken, Atemregler, Flaschen und Bleigürtel im Schatten des großen Bambus bereitgelegt hatten.
Wo vor wenigen Monaten noch der Kundenparkplatz der Pommesbude gewesen war, glitzerte nun das unnatürliche Azurblau des Pools. Das Becken maß zehn mal fünfzehn Meter. Eine Hälfte war nur einen Meter zwanzig tief. Die perfekte Höhe, um im Wasser zu hocken und mit Maske, Atemregler und Co. zu üben. Die andere Hälfte maß knapp vier Meter Wassertiefe. Eine Sonderanfertigung, die mich einige tausend Dollar extra gekostet hatte.
Liv war zunächst skeptisch gegenüber dem exorbitanten Planschbecken gewesen, denn theoretisch konnte man die ersten Einheiten auch im Flachwasser am Strand absolvieren. Aber dann würden Salzwasser, Wellen und neugierige Strandbesucher den Unterricht stören, was ich um jeden Preis verhindern wollte. Denn eine der Grundlagen des Tauchens war zu verstehen, wie die Ausrüstung funktionierte und sich auf die Umgebung und den eigenen Körper auswirkte. Dass man eine leidenschaftliche Liebe zum Meer besitzen musste, verstand sich von selbst – niemand, der nicht bereit war, sich in eine millimeterdicke Gummihülle zu quetschen, um in warmes bis eiskaltes Wasser zu springen, würde sich in eine Tauchschule verirren.
Die meisten hatten die Vorstellung, man würde morgens die Theorie lernen und nachmittags schon Schildkröten, Haie und Korallenriffe sehen. Mit dem schweineteuren Pool zog ich ihnen diesen Zahn. Wenn ich so darüber nachdachte, es war verdammt cool, mein eigener Chef zu sein. Ich konnte tun und lassen, was mir beliebte.
Schließlich war Liv die Erste gewesen, die jauchzend hineingesprungen war, sobald der Pool genug Wasser maß.
Meine Schwester saß im Schatten auf einer Bank. „Wie läuft’s, Bruderherz?“
„Gut. Ich hoffe, sie kommen alle morgen wieder.“
„Fährst du wieder die strenge Lehrernummer?“
Dass sie mich immer so durchschauen musste! „Was soll ich mit Schülern, die das Tauchen nicht ernst nehmen und mir aus Leichtsinn absaufen?“
Liv sah mich stumm an. Am liebsten wäre es mir, sie würde sagen, was sie dachte. Aber ehrlicherweise hatte ich keine Lust, mich wieder kritisieren zu lassen. Wir wussten beide um meine Strenge als Lehrer, ebenso wie um die Tatsache, dass ich diejenigen, die wirklich lernen wollten, auch zum Tauchschein brachte. Jeden Einzelnen.
Die anderen hatten nichts in diesem Hobby verloren. Denn im Gegensatz zum Skateboarden, wo man mit einem angeschlagenen Knie und dem Schrecken, im schlimmsten Fall einen Bruch davonkam, barg der Tauchsport echte Gefahren. Nur mittels Technik überlebte der Mensch unter Wasser. Man sprang ja auch nicht aus einem Flugzeug, ohne den Fallschirm vorher kontrolliert zu haben. Egal, wie oft Liv wegen meiner Lehrernummer die Schnute zog, ich blieb bei meiner Meinung: erst das Equipment, dann der Spaß.
Wir beendeten unser Blickduell unentschieden, weil die Schülerinnen und Schüler schnatternd und mit bester Laune den Poolbereich betraten. In ihren normalen Badeklamotten sahen sie verändert aus.
„Ich scheine doch kein so mieser Lehrer zu sein“, murmelte ich. Liv verdrehte die Augen und wandte sich ab, aber mir entging das Zucken ihrer Mundwinkel nicht. Erwischt.
3. I am Salt
Charlotte
Ein Ziehen in der Wange weckte mich. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren und gegen die Helligkeit anzukommen, die den Raum flutete. Meine Augen wollten mir nicht gehorchen und die Lider fielen mir immer wieder wie bleierne Vorhänge zu.
Das Ziehen wurde zu einem Pochen und das Pochen zu Schmerz, der mich schließlich zwang, mich aufzurichten. Vor mir lag ein Schreibblock, dessen Spiralbindung sich in meine Wange gedrückt hatte. Ich betastete mein Gesicht und versuchte, mich an gestern Abend zu erinnern. Nachdem ich am Strand gewesen war, hatte ich mich hingelegt. Das Workout war heftig gewesen, mein Körper bettelte um Erholung. In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos. Die Worte meiner Eltern waren in meinen Gedanken Karussell gefahren und nicht zum Stillstand gekommen. Erst als ich sie aufgeschrieben und losgelassen hatte, ließ der Druck in meinem Kopf und im Herzen ein klein wenig nach.
Dann war da dieser Alex immer wieder aufgetaucht. Selbstsicher schaute er nur mal vorbei und sagte Hallo, als wäre es das Normalste auf der Welt. Leider konnte ich mir nicht erklären, was mein neuer Nachbar in meinen Träumen suchte. Was hatte ihn gestern Abend so amüsiert?
Schnaubend schob ich den Gedanken an ihn zur Seite. Er musste warten, denn dieses klitzekleine Problem namens Nepal hatte Vorrang.
Warum um alles in der Welt Nepal, wenn man hier in Australien alles hatte, was das Herz begehrte? Berge, Wälder, Wüste, Seen, unberührte Natur, Weite, eine einzigartige Tierwelt, die jedes Jahr Millionen von Touristen lockte. Das Meer. Alles in einem einzigen Land vereint, das mit seiner riesigen Fläche gleich drei Zeitzonen umfasste. Ich hatte gehofft, dass meine Eltern nach über zehn Jahren, in denen wir nun in Australien lebten, für Byron Bay dasselbe Gefühl entgegenbrächten wie ich: Heimat.
Schließlich waren wir nach den üblichen anfänglichen Auf und Abs hiergeblieben, hatten uns eingelebt, Freundschaften geschlossen, etwas aufgebaut. Als Familie. Nie hatte ich länger an einem Ort gelebt als hier. Ich war mit der Surfers’ Heart gewachsen. War von der kleinen Tochter zu Unsere Tochter Charlie wird dich unterrichten gereift. Und ich hatte gedacht, ich würde die Surfschule eines Tages übernehmen. Nun, da hatte ich mich wohl mächtig geirrt. Anscheinend bedeutete sie meinen Eltern nichts. Was stimmte nicht mit ihnen? Warum wollten sie hier weg?
Mit jeder weiteren Gedankenrunde kam ich zu dem Schluss, dass es einen Grund geben musste, den sie mir verschwiegen. Es musste mehr dahinterstecken. Wenn es ihnen nur darum ging, nach Nepal zu reisen, würde sich eine andere Lösung für die Surfers’ Heart finden – garantiert.
Andererseits hatten sie schon immer Entscheidungen getroffen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Das Einzige, was ich mit Mum und Dad teilte, war die Liebe zur Natur. Draußen fühlte ich mich am wohlsten, im Wasser konnte ich ganz ich selbst sein. Das Hippiehafteste an mir war eine wadenlange Häkeljacke mit Fransen, die ich vor Jahren in einer kleinen Boutique in Sydney erstanden hatte.
Durch das geöffnete Fenster drangen Stimmen hinein, die der Wind vom Meer hertrug. Lachen und Kreischen. Dad, der eine junge Frau ermahnte, vorsichtiger aufs Brett zu steigen. Da traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Ich hatte verschlafen! Fluchend wirbelte ich durchs Bad und sprang in meine Surfklamotten. Das war mein Kurs, den Dad soeben übernommen hatte! Verdammt!
„Ah, da bist du ja!“ Dad begrüßte mich fröhlich. „Sieh mal, wie die Schildkröten.“ Er deutete auf die fünf unbeholfenen Frauen ungefähr in meinem Alter, die gerade rücklings von ihren Brettern in das flache Wasser gekippt waren und dort lagen. Alle viere von sich gestreckt, unkontrolliert rudernd.
„Ja, witzig.“ Am liebsten hätte ich ihn ins Wasser geschubst, so wütend war ich. „Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Du hast so friedlich ausgesehen, wie du über deinen Notizen eingeschlafen bist, da wollten wir dich nicht wecken. Machst du wieder eine deiner Pro- und Kontralisten? Für Nepal? Du musst wissen, deine Mutter und ich verstehen deine Bedenken. Lass dich einfach drauf ein, Nepal ist ein wundervolles Land mit … Hey! Ihr müsst ein bisschen weiter ins Wasser und dann erst aufs Brett. Ihr liegt ja schon am Strand!“
Eine Schülerin zog ihr Brett mit sich ins tiefere Wasser. Sie war klatschnass und grinste bis über beide Ohren. Dads Charme kam bei Frauen immer gut an. Mich wickelte er nicht so leicht um den kleinen Finger.
„Klar, nett, dass du eingesprungen bist“, erwiderte ich unbeirrt. „Aber das ist mein Kurs.“
„Ach, macht nichts. Oder traust du deinem alten Herrn nicht zu, deinen Kurs zu übernehmen?“
„Darum geht’s nicht, und das weißt du genau! Ich bin die Lehrerin, nicht du.“ Die Leute hatten bei mir einen Kurs gebucht, nicht bei ihm.
Dad bekam von meinem Groll nichts mit oder ignorierte ihn auf seine Art. Entspannt schlenderte er barfuß zu seinen – meinen – Schülerinnen, um ein paar Tipps zur Balance und der richtigen Haltung auf dem Brett rauszuhauen. Ich sah ihm zu, wusste nicht recht, was ich tun sollte. Er hatte die Gruppe voll im Griff und kam sehr gut ohne mich klar. In mir brodelte es. Mühsam riss ich mich zusammen, denn wenn ich ihm vor dem Kurs eine Szene machte, wäre das höchst unprofessionell. Das könnte zur Folge haben, dass sich die Kursteilnehmerinnen unwohl fühlten und vielleicht sogar abbrachen. Sie wollten eine gute Zeit haben, nicht Zeuge eines Streits zweier Surflehrer werden.
Ich beobachtete die Gruppe. Die angehenden Surferinnen waren bester Laune, obwohl sie keine drei Sekunden auf den Brettern gestanden hatten, und eine grinste meinen Dad die ganze Zeit strahlend an. Mir wurde übel. Sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als er.
„Die hat wohl ’nen Vaterkomplex.“
Ich zuckte heftig zusammen, riss mich vom Anblick der beiden los und entdeckte Alex neben mir. Wie schon gestern Abend war es ihm auch heute gelungen, sich an mich heranzuschleichen, ohne dass ich ihn bemerkt hatte. Als wäre er ein verdammter Ninja oder ein Vampir.
„Schleichst du dich immer so an?“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Mach ich nicht. Du warst nur so beschäftigt mit Schmollen, dass du nichts mitbekommen hast. Nicht meine Schuld.“
„Ich schmolle nicht!“
„Ach nein?“
„Nein.“ Ich seufzte. „Na gut, vielleicht ein bisschen“, räumte ich ein. Irgendwie wollte ich ihn nicht anflunkern. „Verdammt, ja, ich bin angefressen. Weil ich verschlafen habe, hat mein Dad den Kurs übernommen.“
Alex musterte erst mich, dann meinen Vater. Unverständnis stand in seinem Gesicht. „Das ist doch nett von ihm?“
„Nein. Also, ja, klar. Nur ist es mein Kurs, und statt für mich einzuspringen, hätte er mich lieber wecken sollen.“
„Verstehe.“ Alex fuhr sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. „Ich dachte, ihr würdet gemeinsam unterrichten, je nachdem, wer gerade Zeit hat. Mir war nicht klar, dass man einen Kurs explizit bei einem von euch beiden buchen kann.“
„Normalerweise führt einer den Kurs komplett, von Anfang bis Ende. Es sei denn, man muss spontan einspringen, was eher selten vorkommt. In letzter Zeit ist das nur zweimal passiert, weil mein Dad dringend einem Freund helfen musste und ich mir eine heftige Erkältung eingefangen hatte, mit der ich lieber nicht den halben Tag im Wasser stand.“
„Verstehe“, wiederholte Alex.
Ich wusste nicht recht, warum ich ihm das alles erzählte. Andererseits war nichts dabei und es tat gut, ein paar Worte mit jemanden zu wechseln, der nicht so tief im Familiengeschäft steckte. Alex war unvoreingenommen und sah die Dinge sachlich. Die Unterhaltung lenkte mich von dem Chaos in meinem Kopf ab.
Wir beobachteten, wie mein Vater ein Surfbrett festhielt, damit eine Frau raufklettern und sich auf das Brett hocken konnte. Obwohl das Meer heute ruhig war, wackelte das Brett bedrohlich und sie war so ungelenk, dass es heftig schwankte. Die Balanceübungen am Strand waren nicht mit dem Gefühl im Wasser vergleichbar. Beinahe kippte sie wieder runter. Dad half ihr, indem er ihren Arm festhielt.
So müssen meine ersten Versuche auch ausgesehen haben.
„Ganz schön wackelig“, sagte Alex.
Ich nickte. „Surfen zu lernen ist nicht leicht. Es erfordert eine gute Balance, Kontrolle über den eigenen Körper und viel Geduld. Letztes ist das, was den meisten fehlt. Sie geben zu früh auf. Aber einigen gelingen schnell erste Erfolge. Nach wenigen Tagen stehen sie auf dem Brett.“ Ich dachte an all die Schülerinnen und Schüler zurück, die lange und flache Wellen gemeistert hatten, an ihr Strahlen, die pure Lebensfreude. Das Glück, das mich durchströmte, weil ich wusste, dass sie diese Erfahrung unter meiner Anleitung machten.
Nicht jeder war fürs Surfen gemacht. Einige konnte sich einfach nicht auf dem Brett halten.
Platsch. Die Frau war ins Wasser gefallen.
„Sie muss wohl mehr üben.“ Alex lachte.
Als sie auftauchte, entdeckte ich eine wilde Entschlossenheit in ihrem Gesicht, die deutlich zeigte, dass sie so schnell nicht aufgab. „Sie wird es hinbekommen“, erwiderte ich. Man durfte nicht vorschnell falsche Schlüsse ziehen. In diesem Moment wirkte sie nicht wie eine Abbrecherin, sondern wie jemand, den der Ehrgeiz gepackt hatte und der unermüdlich lernte, bis er perfekt auf dem Brett stand.
Mein Magen knurrte. In der Eile hatte ich das Frühstück übersprungen. Gut, dass neben mir ein Koch stand. „Müsstest du nicht eigentlich vorkochen oder so?“
„Was?“
„Ich dachte, dein Restaurant hat heute schon geöffnet? Mein Fehler.“
Wieder hob er die rechte Augenbraue und bedachte mich mit einem amüsierten Blick, unter dem mir heiß und kalt zugleich wurde. Meine Muskeln spannten sich an, mein Körper straffte sich. Ich hielt seinen Blick, erwiderte ihn offen und angriffslustig, auch wenn ich mich wie ein Kind fühlte, das die Welt nicht verstand. Diesem Arsch würde ich zeigen, was für ein ungehobelter Blödmann er war. Sein süffisantes Lächeln würde ihm noch vergehen! Von wegen Auf gute Nachbarschaft.
Er lachte leise. „Tatsächlich eröffnen wir gleich.“
„Und da hast du nichts Besseres zu tun, als hier am Strand herumzulungern?“, konterte ich.
„Doch.“
„Aha?“
„Ich wollte euch zur Eröffnungsfeier heute Abend einladen. Dich und deine Eltern. Schließlich sind wir Nachbarn.“
Puff, damit war der Ärger verraucht. Wind aus den Segeln nehmen, so nannte man das wohl. „Oh. Das … ähm. Cool! Danke.“ Verdammt, konnte man sich noch alberner aufführen? Während ich fieberhaft überlegte, wie ich wieder aus der Nummer rauskam, schien Alex die Sache mit Humor zu nehmen und nicht weiter drüber nachzudenken.
„Es geht um fünf los. Nach der Arbeit. Ein paar Snacks gibt’s auch. Allerdings kein Fish ’n’ Chips – die sind mit der alten Strandbude Geschichte.“
„Macht nichts, die waren so lala. Wie so oft bei Läden ohne echte Konkurrenz.“
Er brummte zustimmend. „Also dann, ich muss los.“
„Bis später – ich bin gespannt!“
„Ich auch, Charlie, ich auch.“ Er winkte mir zum Abschied und schlenderte über den Strand zu seinem Restaurant. Als ich ihm nachsah und mein Blick auf das Gebäude fiel, das er ansteuerte, dämmerte mir endlich, was ihn so köstlich amüsiert hatte. In großen, schnörkellosen Lettern prangte ein neuer Schriftzug an der einstigen Frittenbude: Beach Dive.
Eine Tauchschule! Mein Nachbar hat eine Tauchschule eröffnet.