Kapitel 1
Aufbruch in ein neues Leben
Die Straßen wurden breiter und leerer, je weiter wir uns von der Stadt entfernten. Am Straßenrand wuchsen nun vermehrt Bäume, einige davon mannshoch, andere waren scheinbar erst vor kurzem eingepflanzt und mit Messingschildern versehen worden, auf denen ich den eingravierten Namen der Art vermutete. Im Licht der Scheinwerfer warfen ihre Kronen gespenstische Schatten auf den Asphalt, bevor ich binnen Sekunden an ihnen vorbeirauschte. Der Regen prasselte in einem beständigen Rhythmus an die Frontscheibe und schien sich mit meinem Herzschlag zu synchronisieren, der seit Stunden partout nicht ruhiger werden wollte.
Irgendetwas klapperte schon seit einer ganzen Weile im Wagen, und auch die Kontrollleuchte des Motors prangte seit mehreren Meilen wie eine stumme, aufdringliche Hiobsbotschaft unter dem Tacho. Es war reine Glückssache, ob wir es bis Rose Village schaffen würden oder nicht. Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. So oft, wie ich seit der Abfahrt auf ihr herumgekaut hatte, wunderte es mich fast, dass sie noch nicht blutete.
Vielleicht, ja vielleicht, hätte ich doch besser den Neuwagen statt der alten Klapperkiste nehmen sollen, die eigentlich kaum noch genutzt wurde und aus rein sentimentalen Gründen noch in der Garage stand. Meinem Herzen und meiner Unterlippe hätte es sicher gutgetan. Doch ein roter Sportwagen wäre auf den Straßen weit auffälliger gewesen als ein grauer Minivan mit abblätterndem Lack. Und wenn es eines gab, das ich in jener Nacht nicht wollte, dann war es, gesehen zu werden.
Wenn man sagt, dass man nur das Nötigste mitnimmt, dann denkt man erst mal an das, was man gerade am Leib trägt und vielleicht an ein Handy, ein paar Snacks oder Kleidung zum Wechseln. Aber das Nötigste ist manchmal mehr als das. So viel mehr. Manchmal ist es Geld. Oder schlicht Taschentücher für die heimlich verdrückten Tränen, die auf keinen Fall jemand sehen darf. Es sind manchmal Schokoriegel als Nervennahrung und ein ganzer Wäschekorb voller Spielzeug sowie Bücher mit emotionalem Wert. Und manchmal auch ein überdimensional großer Müllsack, bis oben hin vollgestopft mit Kleidung, weil man nicht weiß, wann man wieder welche kaufen kann, sowie die Lieblings–Dinosaurierdecke des Dreijährigen. Ohne die ginge nämlich gar nichts.
Der aus einem Wäschekorb und einer zerbeulten alten Spielzeugkiste gebaute Turm auf dem Beifahrersitz wackelte immer wieder in unregelmäßigen Abständen unheilvoll, obwohl ich ihn sogar mit Gurten gesichert hatte. Angeschnallt wie ein unförmiger Mensch mit Schwindelattacken thronte er neben mir, seit wir Salem City verlassen hatten. Im Fußraum lagen Ordner mit wichtigen Unterlagen, die ich im Vorbeigehen mitgenommen hatte, sowie ein Brief. Der Brief.
Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, da ich ihn in großer Hast einfach zwischen die Ordner geworfen hatte, spürte ich seine Präsenz. Ich hätte ihn nicht mitnehmen müssen, denn ich hatte ihn bereits so oft gelesen, dass ich seinen Inhalt auswendig kannte. All diese Worte – die Worte, die alles verändert hatten, waren in meinem Kopf gespeichert, und ich war mir sicher, dass sie mich auf ewig begleiten würden. Bis ins Grab. Nein, ich hätte ihn nicht mitnehmen müssen – aber ich wollte nicht, dass er in falsche Hände gelangte. Ich wollte nicht, dass sein Inhalt verriet, wohin es mich trieb. Und ihn zu zerreißen, zu verbrennen oder zu vergraben, damit sein Geheimnis niemals jemand anderen als mich erreichen würde, hätte eindeutig zu lange gedauert – ganz davon abgesehen, dass ich es nicht übers Herz gebracht hätte. Denn dieser Brief war sowohl ein Abschied als auch ein Willkommen.
Der Regen wurde sachter, setzte fast aus. Nur feine Tropfen landeten nun noch wie gesprüht und gänzlich lautlos auf der Frontscheibe. Der quietschende Scheibenwischer rutschte gemächlich weiter von links nach rechts.
Ich nahm einen großen Schluck vom Energydrink, den ich mir aus einem spontanen Impuls heraus beim Bezahlen an der letzten Tankstelle mitgenommen hatte ‒ in vollem Bewusstsein darüber, dass ich gerade nichts als verflüssigten, puren Zucker, angereichert mit Koffein trank. Aber manchmal geht es nicht anders. Ein Macadamia–Bananen–Smoothie oder ein Ingwer–Shot bringt dich nicht weit, wenn du mitten in der Nacht Dutzende von Meilen zu fahren hast und diese heftige, bleierne Müdigkeit dir die Lider mit nackter Gewalt herunterreißt.
Während der unangenehm süße Geschmack sich auf meiner Zunge ausbreitete und dort einen Film hinterließ, kam ich an der nächsten roten Ampel zum Stehen. Es war das erste Mal seit einer ganzen Weile, dass wir nach Stunden auf dem Highway einen Ort durchfuhren. Ich nahm noch einen Schluck. Die Müdigkeit durfte nicht siegen. Schlafen würde ich später immer noch können. Unwillkürlich schüttelte ich mich. Dieser Energydrink war so süß, dass sich in meinem Mund alles zusammenzog. Die Kohlensäure, die ihm beigesetzt war, machte das Ganze fast noch schlimmer. Er schien sich regelrecht einzubrennen. Wie zum Teufel konnte man so etwas bloß freiwillig trinken?
„Gibt es in deinem Kaff wenigstens einen Fußballplatz?“, erkundigte Nolan sich mit unüberhörbarer Gereiztheit in der Stimme von der Rückbank aus und warf seinen Lederball in die Höhe, um ihn gekonnt wieder aufzufangen.
„Ich weiß nicht, Bruderherz. Damals gab es einen kleinen Sportplatz in der Nähe des Hauses. Aber ich habe keine Ahnung, ob der noch steht.“ Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Es ist eine ganze Menge Zeit vergangen, seit ich dort war. Sicher hat sich vieles geändert und … nun ja … modernisiert.“
„Ich hoffe doch.“ Er seufzte. „Ohne Fußballverein kannst du mich nämlich auch gleich erschießen.“
Endlich änderte sich das grelle Rot der Ampel in ein leuchtendes Grün. Vorsichtig gab ich Gas. Der Wagen klang tatsächlich, als würde er keuchen. Innerlich flehte ich ihn an, nicht aufzugeben. Und wenn er in Rose Village vor meinen Augen zu Staub zerfallen würde – von mir aus sollte er das tun. Hauptsache, wir würden es bis dorthin schaffen.
„Lass mich nachdenken.“ Ich zwinkerte Nolan über den Rückspiegel, an dem ein Duftbäumchen mit Vanillearoma und ein altes Paar Babyschuhe hingen, zu. „Der Gedanke, dich zu erschießen, ist schon irgendwie verlockend. Echt jetzt. Leider habe ich aber keine Waffe. Also schlage ich vor, dass wir abwarten und uns im Vorfeld einfach noch kein Bild von dem Dorf …“
„Kaff“, korrigierte Nolan trocken, ohne auf mein Necken einzugehen.
„Von dem Dorf machen“, fuhr ich unbeirrt fort. „Es ist in der Nähe von New Jersey. Nur weniger … zentral. Und weniger bekannt. Und weniger groß.“
Der Ort, durch den wir fuhren, endete mit einem großen grünen Ortsausgangsschild, das von einer Straßenlaterne angestrahlt wurde, und mein Navi leitete mich wieder zurück auf den Highway. Eine breite zweispurige, leere Straße erstreckte sich vor, Bäume am Straßenrand neben und Sterne am Himmelszelt über uns. Zwei Drittel des Weges hatte ich nun zurückgelegt. Meine Kraftreserven waren aufgebraucht, mein Mund ganz pappig vom übermäßig süßen Energydrink und meine Gelassenheit nur vorgetäuscht. Manchmal muss man stark sein für die, die schwächer sind. Dessen war ich mir schon als Teenager bewusst gewesen.
Nolan seufzte. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und betrachtete ihn, wie er so dasaß, das dunkle Haar länger als gewöhnlich, den Blick aus blau–grünen Augen müde gesenkt. Codey daneben schlief friedlich in seinem Kindersitz, in der einen Hand sein heißgeliebtes Plüsch–Einhorn, in der anderen eine angeknabberte Waffel. Seine in Feuerwehrauto–Hausschuhen steckenden Füße ruhten entspannt auf der vollgestopften Tasche, die ich unter Anwendung von Gewalt in den Fußraum gequetscht hatte. Die langen blonden Locken kräuselten sich in feinen Strähnen um sein rundliches Gesicht. Im Schlaf sah er mit seinem Schmollmund immer noch wie ein Baby aus.
„Danke, dass du hinten bei Codey sitzt, Nolan. Ich hätte echt Sorge gehabt, dass das hier …“, ich deutete auf den wackligen Turm auf dem Beifahrersitz, „… ihn erschlägt, wenn ich es auf die Rückbank neben ihn gestellt hätte.“
Nolan schwieg.
„Wieso schläfst du nicht etwas?“, fügte ich leise hinzu.
Unsere Blicke trafen sich im Beifahrerspiegel. Nolan schüttelte den Kopf. „Bin nicht müde.“ Er drehte seinen Ball auf dem Zeigefinger. „Gibst du mir wenigstens was von deinem Energydrink ab, wenn du mich schon ins entlegenste Kaff des Planeten verschleppst?“
„Dorf. Und es gibt sicher noch entlegenere Dörfer als Rose Village. Und zum Energydrink – Nolan, du bist vierzehn!“ Kopfschüttelnd leerte ich die Dose mit drei großen Schlucken, die Augen fest auf die leere Straße vor mir gerichtet.
„Fast fünfzehn! Was du wissen würdest, wenn du dich für mich und mein Leben interessiertest.“
Ich ignorierte seine provokanten Worte geflissentlich.
„Und selbst, wenn du fast sechzehn wärest: Die Antwort lautet nein.“
„Spießer“, murmelte Nolan, zog sich die Kapuze seines Hoodies tiefer ins Gesicht und lehnte den Kopf an das Fenster.
Eine gefühlte Ewigkeit lang raste ich über den Highway, während die verbleibenden Minuten auf dem Navi nur träge zu verrinnen schienen. Selten kreuzte ein anderes Auto meinen Weg. Doch jedes Mal, wenn es geschah, zuckte ich innerlich fürchterlich zusammen, bevor mir klar wurde, dass es unmöglich war, dass er uns fand. Nicht jetzt. Er würde frühestens in zwei Stunden von der Nachtschicht nach Hause zurückkehren und das Chaos vorfinden, das wir hinterlassen hatten: die offenen, halb leer geräumten Schränke, den Ring auf dem Boden. Und dann … dann erst würde er mich suchen. Allein der Gedanke an die Wut, die in ihm mit jeder Minute heranwachsen würde, in der er nicht wusste, wo wir waren, ließ mich unangenehm frösteln.
Ein Gähnen unterdrückend zog ich den Kragen meiner Jacke enger an meinen Hals und kuschelte mich tiefer in sie hinein. Die Heizung im Auto war schon vor Meilen ausgefallen. Zuerst hatte sie merkwürdig gerochen und dann gar nicht mehr funktioniert. Und zu allem Übel war es ausgerechnet heute für eine Frühlingsnacht auffallend kalt. Zum Glück war Codey dick angezogen und mit seiner Lieblingsdecke zugedeckt. Mit Blick auf die Straße tastete ich nach einer seiner beiden Hände. Sie fühlte sich warm an. Sehr gut. Erleichtert atmete ich aus. Im Gegensatz zu mir fror er offenbar nicht. Auch Nolan schien endlich eingeschlafen zu sein. Ruhige, gleichmäße Atemzüge drangen von der Rückbank zu mir.
Mit kalten Fingern versuchte ich – wie schon so oft zuvor – das Radio anzuschalten, doch es gab keinen Laut von sich. Ein bisschen Unterhaltung hätte nicht schaden können. Ich war noch nie ein Freund von Stille gewesen, vor allem dann nicht, wenn sie hin und wieder von ungesund klingenden Motorengeräuschen unterbrochen wurde.
Unwillkürlich erinnerte ich mich an jenen Tag zurück, an dem ich Rose Village damals verlassen hatte, ein Jahr, nachdem Vater gestorben war. Ich sah es noch lebhaft vor mir, das Dorf, in dem ich meine Kindheit und den Großteil meiner Jugend verbracht hatte. In meiner Erinnerung war es perfekt. Zumindest fast. Es war freundlich, grün und warm.
Ich erinnerte mich an den Geruch von frisch gemähtem Gras, Grillabende mit den Nachbarn und an den salzigen Geschmack auf den Lippen, den das Meer in die Luft trieb. Rose Village war Wärme für mich, war frische Luft, Pancakes am Morgen und Weihnachtsfeste, bei denen das ganze Dorf zusammenkam und gemeinsam sang. Aber Erinnerungen haben die unangenehme Angewohnheit zu verblassen. Sie spiegeln die Realität weichgezeichnet wider. Details werden ausradiert und nur das Schöne bleibt. Ob Rose Village wirklich ein solch traumhafter Ort war, wie ich glaubte zu wissen? Die letzten Jahre meines Lebens hatten mich unsanft gelehrt, dass vieles nicht das war, was es den Anschein hatte zu sein.
Ich dachte an meinen letzten Tag dort zurück. Ich hatte beim Aufwachen am Morgen nicht gewusst, dass es der letzte sein würde. Es war einfach nur ein gewöhnlicher Tag gewesen. Einer wie jeder andere. Eine unerwartete Botschaft und einen Aufbruch, der dem gleichkam, den ich in der heutigen Nacht erlebte später, hatte ich im Auto gesessen und Rose Village im Rückspiegel immer kleiner werden sehen, bis es am Horizont ganz verschwunden gewesen war.
Ich erinnerte mich nur zu gut an diese Fahrt. An den Tee aus der Thermoskanne, den ich getrunken hatte, und der so heiß gewesen war, dass ich mir die Zunge daran verbrannt hatte. Ich war müde gewesen, ebenso müde wie jetzt. Fast konnte ich die Tränen schmecken, die ich damals geweint hatte. Die Übelkeit spüren. Die Unsicherheit. Die Angst.
Am Horizont ging nun langsam die Sonne auf. Erst rötlich, dann orangefarben und schließlich weißlich breitete sich das Tageslicht auf dem Asphalt aus und vertrieb meine dunklen Gedanken. Ein Neuanfang, sagte ich mir selbst ‒ das war es, was ich wollte. Das war es, worauf ich hinarbeitete. Nur deshalb legte ich all diese Meilen zurück.
Allmählich wurden es mehr Autos, die mir entgegenkamen, viele der Fahrer darin wahrscheinlich auf dem Weg zum Frühdienst oder auf dem Heimweg nach dem Nachtdienst. Leere, fremde Gesichter, die an mir vorbeizogen wie Zugvögel.
Codey regte sich allmählich in seinem Kindersitz und strampelte die Decke von seinen Beinen herunter. Ich warf ihm im Rückspiegel ein Lächeln zu, als sich seine Lider flatternd hoben und er sich mit müdem Blick umsah. Sicher war er verwirrt darüber, im Minivan aufzuwachen und nicht in seinem Bett. Auch Nolan wachte nun mit einem Ächzen auf, reckte und streckte sich ausgiebig.
„Na, Schlafmütze, ausgeschlafen?“, neckte ich ihn.
„Du bist eine Schlafmütze!“ Codey zeigte mit dem Finger auf Nolan und kicherte, wobei er die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen entblößte, die ich so niedlich fand.
„Und du sollst deinen Onkel nicht ärgern, du schlecht erzogener Frechdachs!“, ermahnte Nolan ihn mit gespielter Strenge in der Stimme und begann, ihn zu kitzeln.
Schmunzelnd setzte ich den Weg fort. Ein Glück, dass Nolan dabei war – ohne ihn wäre die Fahrt mit Codey wahrscheinlich sehr anstrengend geworden. Man mochte von männlichen Jugendlichen halten, was man wollte – mit Codey konnte Nolan besser als jeder andere umgehen.
„Ich muss Pipi“, verkündete Codey mit einem Male sehr ernst, warf mir sein Plüscheinhorn an den Kopf und hörte urplötzlich auf zu lachen. „Ganz, ganz dringend.“
„Shit.“ Mit einem Blick in den Rückspiegel und der Erkenntnis, dass sich hinter mir gerade kein Auto befand, fuhr ich an die Seite und bremste scharf.
Nolan und ich sprangen zeitgleich aus dem Wagen. Nolan holte Codey heraus und hielt sogar das schmuddelige Plüscheinhorn, während sein Neffe sich am Straßenrand erleichterte. Als ich Codey wieder anschnallte, wandte ich mich Nolan zu. „Das nenne ich mal Teamwork!“
Doch er nickte bloß müde und machte Anstalten, wieder in den Wagen zu steigen. Als Codeys Tür ins Schloss fiel, schloss ich kurz die Augen und atmete tief ein und wieder aus.
„Ich verstehe, dass du wütend bist“, setzte ich an.
Nolan antwortete nicht und sah mich auch nicht an, hielt jedoch mit dem Türgriff in der Hand inne.
„Du lässt deine Schule zurück, deine Freunde, deinen Fußballverein. Das ist hart …“, fuhr ich leise fort, „… aber Rose Village ist die beste Lösung für unsere Familie.“
„Familie?“ Nolan hob den Blick und betrachtete mich verständnislos, eine kleine, skeptische Falte zwischen den Brauen, die ihn viel älter aussehen ließ als er tatsächlich war.
„Für dich, mich und Codey. Wir sind eine Familie, Nolan. Wir werden eine Familie sein. Das verspreche ich.“ Ich schluckte. „Dieses Erbe ist ein Zeichen. Es ist Schicksal, dass ich es erhalten habe.“
Nolan zog geräuschvoll die Nase hoch und kickte einen kleinen Stein vom Rand der Straße, der mit einem dumpfen Geräusch am Minivan abprallte. „Ich glaube nicht an das Schicksal“, murmelte er.
„Ich weiß. Aber glaub mir, eines Tages wirst du mir dankbar dafür sein … für diesen Neuanfang. Wir haben doch nur noch einander, Nolan“, setzte ich hinzu. Ich spürte, dass meine Stimme brach und kämpfte gegen das jähe Bedürfnis an, in Tränen auszubrechen. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an.
Nolan reagierte nicht, doch ich konnte deutlich erkennen, wie sich seine Kiefermuskulatur anspannte, weil er die Zähne aufeinanderbiss.
Ich holte tief Luft. „Ich bin dein Vormund, und ich muss zwischen deinem Wunsch, im vertrauten Umfeld zu bleiben und deinem Bedürfnis, sicher zu sein, unterscheiden“, setzte ich mit etwas festerer Stimme hinzu und räusperte mich. „Und meine Entscheidung ist, dass wir in das Haus meiner … nein, unserer Tante ziehen. Auch wenn du sie leider nie kennengelernt hast. Es ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, Nolan. Es ist ein tolles Haus.“
„Wie du meinst.“ Nolan zuckte resigniert die Achseln und stieg zurück ins Auto.
Seufzend nahm ich wieder auf dem Fahrersitz Platz, der sich allmählich ziemlich unbequem anfühlte. Ich vermisste den Komfort und die weichen Ledersitze des Sportwagens.
Etwa eine Stunde lang schaffte Nolan es, Codey mit Liedern, Unterhaltungen und Spielen abzulenken. Die Herbstsonne brach sich inzwischen in goldfarbenen Strahlen in den Pfützen am Straßenrand. Der feine Nieselregen hatte aufgehört und einen klaren blauen Himmel hinterlassen. Ein guter Tag für einen Neuanfang. Ich unterdrückte den Gedanken an meine volle, drückende Blase und an Travis, der unser Verschwinden inzwischen höchstwahrscheinlich bemerkt hatte.
„Wir ziehen neben die alte Mrs Foster“, sagte ich, um sowohl Codey als auch mich abzulenken. „Die müsste inzwischen fast hundert Jahre alt sein.“ Ich runzelte die Stirn. Mrs Foster war damals schon steinalt gewesen. Ob sie überhaupt noch lebte?
„Hundert?“, wiederholte Codey. In seiner Stimme lagen sowohl Ehrfurcht als auch so etwas wie Belustigung. „Dann kann sie ihre Zähne rausnehmen, stimmt‘s?“
„Was?“ Ich musterte ihn im Rückspiegel. „Oh … ja. Das kann sie sicher.“
Wenn sie noch lebt.
Allmählich hatte ich meinen toten Punkt überwunden. Die Müdigkeit schwand und mit ihr auch die Angst davor, Rose Village nicht erreichen zu können. Der Minivan ruckelte und knatterte zwar nach wie vor unentwegt, aber er fuhr beständig – und jeder Meter, den wir zurücklegten, war einer näher am Ziel. Am Neuanfang.
„Das Haus liegt am Strand, wisst ihr?“ Ich lächelte milde. „Es hat eine Veranda, und der Garten führt einmal rings um das Haus herum. Ich hoffe, all die Obstbäume stehen noch. Ich habe Tante Claire nie danach gefragt.“
Nolan grummelte irgendetwas Unverständliches und setzte seine Kopfhörer auf.
„Und sind die Menschen da nett?“, erkundigte Codey sich munter. Zumindest er war aufgeschlossen.
„Oh ja“, antwortete ich. „Das sind sie.“
Alle bis auf einen, dachte ich. Aber der Schrecken des Dorfes war laut Tante Claire schon vor langer Zeit fortgezogen, um zu studieren. Ich erinnerte mich mit Genugtuung an das Telefongespräch vor einigen Jahren, in welchem sie es nebenbei erwähnt hatte. Rose Village würde ein tausendfach schönerer Ort sein ohne ihn.
Im Rückspiegel sah ich, wie Codey begann, sein Einhorn immer wieder in die Höhe zu werfen und es aufzufangen, ganz ähnlich, wie Nolan es zuvor mit dem Lederball getan hatte.
„Kommt Daddy später nach?“, fragte er unvermittelt.
Ich hatte damit gerechnet, dass diese Frage kommen würde. Früher oder später. Dennoch warf sie mich mehr aus der Bahn, als sie eigentlich sollte, und die Antwort, die ich mir im Voraus zurechtgelegt hatte, verpuffte in meinem Kopf zu einem reinen Nichts.
Und während er plötzlich abgelenkt war, weil er Schafe entdeckt hatte, die abseits der Straße grasten, fragte ich mich selbst, ob er eines Tages aufhören würde, diese Frage zu stellen – oder ob er sie wieder und wieder stellen würde, so lange, bis ich ihm eine ehrliche Antwort darauf gäbe.
Ich dachte an den Brief, der all das ins Rollen gebracht hatte. Der nach Rosenparfum geduftet hatte, als ich ihn aus dem Umschlag geholt und verwundert geöffnet hatte. Ein Schlüssel war herausgefallen und vor meinen Füßen auf dem Boden gelandet. Derselbe Schlüssel, den ich nun an einem geflochtenen Band um den Hals trug.
Liebste Nami,
der Gedanke, dass du diese Zeilen erst liest, wenn ich schon tot bin, ist beängstigend wie schön zugleich. Als würde ich durch diesen Brief noch einmal ganz kurz leben.
Du musst wissen: Häuser altern nicht viel anders als Menschen es tun. Sie werden hier und da ein wenig grau, knarren und knacken, und machen allerlei andere merkwürdige Geräusche. An verschiedenen Stellen blättert der Lack ab, und manchmal scheint es beinahe so, als würden alte Häuser ein wenig in sich zusammenschrumpfen, so, wie es bei alten Menschen den Eindruck macht, da sie mit voranschreitendem Alter immer gebückter durch das Leben gehen.
Dieses Haus hat vieles gesehen, vieles erlebt und mitgemacht. Dein Urgroßvater hat es eigenhändig gebaut und seine Kinder darin aufgezogen. Sein ältester Sohn, dein Großvater, hat es anschließend mit seiner Frau, deiner Großmutter, übernommen, und so sind wiederum deine Mutter und ich darin aufgewachsen. Wir waren immer grundverschieden, wie du weißt. Wie Feuer und Wasser.
Als ich Rose Village damals verließ, war der Abschied vom Haus genauso schmerzhaft wie der von den Menschen, die ich liebte. Deine Mutter hegte und pflegte es weiterhin, auch, als unsere Eltern krank und gebrechlich wurden. Und schließlich zog dein Vater mit ein, und du wurdest geboren. Da war endlich wieder Kinderlachen im Haus. Als dein Vater starb und ich zurück nach Rose Village kam, um deiner Mutter und dir in der schweren Zeit unter die Arme zu greifen, da empfing das Haus mich mit offenen Armen und goldgelb gesprenkelten Sonnenstrahlen auf dem alten Parkett, auf dem schon unsere Großeltern getanzt hatten. Ich bin mir sicher, dass es dem Haus das Herz brach, als ihr beide nach dem schrecklichen Streit zwischen deiner Mutter und mir in die Stadt gezogen seid. Und den Rest meines Lebens gab ich mir die größte Mühe, es zu pflegen, dieses alte, gute, gebrochene Herz.
Eines, musst du wissen, hatten all diese Familien gemein: Sie respektierten dieses Haus. Sie schätzten es. Dadurch, dass sie darin lebten, lebte es ebenso.
Und da ich glaube, dass auch du jemand bist, der zum einen das Haus pflegen und respektieren und am Leben erhalten wird und zum anderen eine Zuflucht braucht, liebste Nami, halte ich es für eine meiner klügsten (wenn nicht gar für die klügste) Entscheidungen, dir das Haus und alles, was darin und drum herum ist, zu vermachen. Ich habe diese Entscheidung natürlich auch in meinem Testament festgehalten. Ich mag alt sein, und hier und da auch ein wenig vergesslich, aber dumm bin ich nicht. Alles, liebste Nami, ist in trockenen Tüchern, wie man so schön sagt.
In den letzten Jahren wirktest du bei unseren wenigen Telefonaten immer bedrückter, meine liebe Nichte, auch wenn du versuchtest, es vor mir zu verbergen. Die vielen Einladungen von mir hast du stets ausgeschlagen, und ich gehe auch davon aus, dass du nicht zu meiner Beerdigung kommen wirst. Sei unbesorgt – ich bin deshalb nicht wütend. Ich weiß, dass es nicht deine Entscheidung ist.
Ich bin alt und krank, Nami, und alte, kranke Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob jemand eine Portion Glück vertragen könnte. Und manchmal, da kommt das Glück in Form eines Hauses daher.
P.S.: Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Auch wenn du dein Leben lang glaubtest, ich würde es nicht kennen. Sei unbesorgt. Ich werde es mit ins Grab nehmen. Aber bist du sicher, dass auch du das tun willst?
Ich erinnerte mich lebhaft an das, was ich nach dem Lesen des Briefes empfunden hatte. Die Tatsache, dass mir urplötzlich ein Haus in Rose Village gehörte, hatte mich nicht minder schockiert wie der Zusatz hinter dem P.S.
Dein Geheimnis ist bei mir sicher.
Tante Claire hatte geahnt, wie schlecht es mir in den letzten Jahren ergangen war. Obwohl ich mir stets Mühe gegeben hatte, fröhlich zu klingen, musste ihr aufgefallen sein, dass der goldene Käfig, in dem ich gesessen hatte, immer beengender geworden war.
Es verging eine weitere Stunde, in der Codey mit den Beinen strampelte, Nolan mich ignorierte und wir zwei kurze Pausen an Rastplätzen einlegten, da Codey nicht mehr stillsitzen konnte. Und dann schrumpfte die Minutenzahl der Zeit, bis wir unser Ziel erreichen würden, auf dem Navi zu einer Zahl aus nur zwei Ziffern. Mein Herz zog sich in jäher Erleichterung und Vorfreude kurz krampfhaft zusammen, bevor es sich allmählich wieder beruhigte und in einen gemächlichen Rhythmus verfiel.
Rose Village war nun zum Greifen nah. Codey begann zu quengeln und unruhig im Sitz hin und her zu rutschen. Nur allzu verständlich, dass er mit seinen drei Jahren allmählich genug vom Sitzen und Warten hatte. Ich öffnete das Fenster ein Stück weit und atmete tief ein und wieder aus. Die morgendliche Frühlingsluft war klar und kalt.
Als das Navi schließlich verkündete, dass es bis zum Ziel nun bloß noch dreißig Minuten seien, beschleunigte ich noch einmal. Mit dem Durchtreten des Gaspedals erreichte ich die auf dem Highway erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 75 Meilen pro Stunde.
„Noch eine halbe Stunde, Codey“, verkündete ich mit kurzem Blick in den Rückspiegel. „Das dauert nicht einmal ganz so lange wie die Fahrt bis zu Grandma.“
Ich hatte es ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken, und erst jetzt, da meine Worte unbeantwortet in der Luft zu schweben schienen, wurde mir bewusst, dass ich mit dem, was ich gerade tat, nicht nur meinen Ehemann Travis verlassen, sondern auch seiner Mutter, meiner Schwiegermutter, den Rücken gekehrt hatte. Ich versuchte zu schlucken, aber in meinem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. Gwendolyn Sawyer war eine herzensgute Frau. Doch um von ihrem Sohn loszukommen, musste ich auch Opfer bringen – das war mir von vorneherein mehr als klar gewesen. Unser Haus, mein Freundeskreis, Salem City – ich hatte diese große Stadt mit all den adretten Häusern, Vorgärten und Geschäften geliebt – waren nur ein Bruchteil dessen, was ich zurückließ. Was wir zurückließen.
Noch zwanzig Minuten. Ich verließ den Highway, um durch eine Ortschaft zu fahren. Codey hatte inzwischen seine Feuerwehr–Hausschuhe von den Füßen gezogen und sie über die Hände gestülpt. Rhythmisch trommelte er damit an die Fensterscheibe. Hätte ich es unter anderen Umständen wahrscheinlich unterbunden, so ließ ich ihn nun gewähren, in der Hoffnung, dass er sich damit beschäftigen würde, bis wir ankämen.
Noch zehn Minuten. Nolan richtete sich in seinem Sitz ein wenig auf und blickte aus dem Fenster. Einige Strähnen seiner dunklen Haare reichten bis weit über seine Augenbrauen und hingen ihm teilweise im Gesicht, was ihn nicht zu stören schien. Er hatte sie seit Moms Tod nicht mehr schneiden lassen.
Allmählich wurde mir das, was uns umgab, wieder vertrauter, und dann – endlich – folgte ein schmaler Schotterweg, auf dem der Wagen mächtig ins Holpern geriet.
Das Ortseingangsschild war noch dasselbe wie vor fünfzehn Jahren. Dunkelgrün und breit, mit der Aufschrift ROSE VILLAGE in Druckbuchstaben.
„Wir sind zu Hause.“ Mit Tränen in den Augen wandte ich mich zu Nolan und Codey um. „Wir sind endlich zu Hause.“