Kapitel 1
Farbspritzer, geschäftiges Klappern von Werkzeugen und fröhliches Gelächter ‒ Laura strahlte vor sich hin, wenn sie an die vergangenen Tage zurückdachte, die sie gemeinsam mit ihrer Freundin Annie durchlebt hatte.
„Wir haben es fast geschafft!“ Sie strich sich ihre braunen langen Haare hinter die Ohren, die von der Malerei am Nachmittag ganz zerzaust waren. Dann stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften und schaute sich anerkennend um. Der Duft von frisch aufgetragener Farbe umgab sie und sie musste zugeben, dass es noch ungewohnt war, die alte Bar nun so hell strahlend vor sich zu sehen. Annie, die ihren freien Tag im Café geopfert und ihr tatkräftig geholfen hatte, trat neben sie, legte einen Arm um Lauras Schultern und folgte ihrem Blick. Seit Tagen waren sie nun schon dabei gewesen, diese Räumlichkeiten zu renovieren und endlich war ein Ende in Sicht. Der alte, urige Kasten, der von dunklem abgenutztem Holz umgeben war, erstrahlte in frischem Weiß. Dennoch, die hölzerne Verkleidung war noch immer abgewetzt, passte aber zum alten Shanty-Flair, den Laura nach wie vor unbedingt beibehalten wollte.
„Es macht schon ordentlich was her“, pflichtete Annie ihr bei und nickte anerkennend. „Nur noch ein paar Handgriffe hier und da und dann kannst du bald schon eine große Neueröffnungsparty feiern.“
Eine Neueröffnung. Dass Laura nach nur vier Jahren, die sie jetzt diesen Pub besaß, schon eine Neueröffnung feiern musste, war gleichermaßen aufregend wie auch traurig. Schließlich kämpfte sie jeden Tag um jeden Penny. Doch durch eine neue Eröffnungsfeier des Shanty Cove und dem schicken, dazu passenden Shanty-Stil, versprach sie sich einen guten Neustart. Zumindest die Leute aus dem niedlichen Küstendorf hatten ihr versprochen, sie regelmäßig zu besuchen und ihr Feierabendbier dort zu trinken. Jetzt fehlten nur noch die Touristen, die seit einiger Zeit dem Dorf fernblieben. Irgendwo, tief in ihrem Inneren, erhoffte sie sich, dass die Leute von außerhalb auf ihren kleinen Pub aufmerksam werden würden und sie den Tourismus anziehen konnte. Sie wollte, dass man über sie sprach. Dass man wusste, was mit Shanty Cove gemeint war: die kleine Bar, wo die Leute gerne hinkamen.
Mit einem dankbaren Lächeln wandte Laura sich zu Annie um. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
„Ohne dich wäre ich nicht hier in Shanty Coast geblieben“, rief Annie ihr in Erinnerung.
„Na ja, so viel habe ich ja nun auch nicht dazu beigetragen.“ Laura schritt zur Theke und angelte hinter dem mit Folie behangenen Tresen nach zwei Flaschen Wasser. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, wie sie ihre Freundin vor etwa einem halben Jahr dabei unterstützt hatte, nach einer Trennung die Liebe ihres Lebens zurückzubekommen. Annie hatte damals hier in Shanty Coast für eine Freundin ein altes Cottage renoviert und nebenbei einen erfolgreichen Blog über die Arbeit im Haus veröffentlicht. Dass sie sich dabei in ihren Nachbarn verlieben würde, war zu der Zeit noch niemandem in den Sinn gekommen. Allerdings hatte sie wieder nach London zurück gemusst, wo sie für eine Redaktion gearbeitet hatte – im Gepäck eine ordentliche Ladung Herzschmerz. Doch am Ende war Laura es gewesen, die Clay einen Schubs gegeben hatte, um sich seine Traumfrau zurückzuholen. Es hatte nur eine Nacht gedauert, da war er ihr nachgereist und hatte sie wieder mit nach Shanty Coast zurückgeholt. Jetzt lebte Annie hier, in diesem süßen kleinen Fischerdorf vier Stunden von London entfernt, war glücklich mit Clay zusammen und half Laura dabei, ihre Bar zu renovieren.
„Du hast Clay damals dazu gebracht, meinen Artikel zu lesen, mit dem ich ihm meine Liebe gestanden habe.“
Laura drückte Annie eine kleine Flasche Wasser in die Hand und grinste breit. „Ja, manchmal kann ich ganz schön überzeugend sein. Jedenfalls danke ich dir, dass du heute deinen freien Tag für mich geopfert hast.“
„Danke mir lieber nicht zu früh. Übermorgen geht es weiter. Wir müssen noch die Möbel aufbereiten und die Tische müssten einmal abgeschliffen werden. Außerdem könnte ich mir gut vorstellen, wenn wir kleine gusseiserne Spiegel …“
„Hey, hey“, bremste Laura ihre Freundin lachend und hob beschwichtigend die Hände. „Eins nach dem anderen. Die Kleinigkeiten können wir auch nachträglich noch machen. Ich kann mir leider nicht erlauben, so lange zu schließen. Spätestens Samstag sollten wir wieder öffnen. Genieß du aber erst mal morgen deine Pause von diesem Laden. Übermorgen sehen wir weiter. Außerdem solltest du langsam Feierabend machen.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Wie aufs Stichwort gähnte Annie und hielt sich die Hand vor den Mund. „Du hast recht, ich gehe dann mal. Morgen muss ich zeitig im Café sein. Gott sei Dank nur für ein paar Stunden. Aber versprich du mir bitte auch, dass du nicht mehr so lange machst, okay?“
Laura nickte. „Ich schließe nur noch alles ab und räume ein bisschen auf.“
„Gut, dann sehen wir uns am Donnerstag.“ Annie schnappte sich ihre Tasche, die sie auf dem Tresen abgelegt hatte, und nahm Laura anschließend kurz in den Arm. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht und vielen lieben Dank nochmal.“
Annie winkte beim Rausgehen ab. „Ach was, für mich bedeutet das guten Stoff für meinen DIY-Kanal. Donnerstag muss ich unbedingt noch ein paar Fotos bei Tageslicht machen.“
„Gute Idee, also bis dann.“
Nachdem Annie verschwunden war, schaute Laura sich noch einmal um und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Ihr Pub, an dem ihr ganzes Herz hing, war kaum noch wiederzuerkennen. Obwohl sie bisher nur das dunkle Holz weiß gestrichen und die Möbel vorerst beiseitegeschoben hatten, wirkte die Bar plötzlich viel größer. Voller Stolz atmete sie tief durch und freute sich auf einen baldigen Feierabend. Sie wollte nur noch den Müll nach draußen bringen und sich dann bei einem Glas Rotwein auf die Couch lümmeln.
Als sie gerade zwei Säcke nach draußen tragen wollte, blieb sie im Eingang des Shanty Cove stehen. Ihr Blick glitt zum Gebäude nebenan. Es lag seit Monaten im Dunkeln. Seitdem die Besitzer ihr Restaurant wegen unzureichender Hygienemaßnahmen hatten schließen müssen, hatte Laura zumindest ein bisschen von dem fehlenden Speisenangebot in der Gegend profitiert. Und solange das alte Fischlokal geschlossen war, fühlte sie sich auch einigermaßen sicher. Auch wenn es etwas weiter die Promenade entlang noch der kleine Imbiss, Fishermans Fries, war, wo es überwiegend Fischgerichte und Fritten gab. Beide Lokalitäten ergänzten sich jedoch gut. Außerdem mochte Laura den alten Harry Rockford, der seinen Laden schon seit vielen Jahren betrieb und sein Feierabendbier regelmäßig bei ihr genoss. Doch heute Abend brannte im alten Restaurant nebenan ein kleines Licht. Nicht genug, um genau erkennen zu können, wer sich darin herumtrieb, aber es reichte aus, um zu sehen, dass es sich dabei scheinbar um zwei Männer handeln musste. Langsam schritt Laura, die Mülltüten in der Hand, zum Eingangstor, das zur angrenzenden Promenade führte. Da morgen der Müll abgeholt wurde, sammelte sie hier ihre ganzen Tüten von den Renovierungsarbeiten auf einem kleinen Haufen. Dabei ließ sie den Blick nicht vom geschlossenen Restaurant. Zu groß war ihre Neugierde, herauszufinden, wer sich darin herumtrieb. Und vor allem warum.
Laura beschlich ein ungutes Gefühl und sie spürte, wie ihr Herz aufgeregt zu pochen begann. Eine Restauranteröffnung würde bedeuten, dass die Leute nicht mehr zu ihr kämen, sondern lieber das Essen genießen würden, das ein gelernter Koch zubereitet hatte. Sie selbst konnte damit nicht aufwarten. Schließlich hatte sie keine Ausbildung zur Köchin gemacht, sondern sich die paar Gerichte, die sie anbot, selbst beigebracht. Bei Fish & Chips war das auch nicht sonderlich schwer gewesen.
Kurz bevor sie den Pub erreichte, blieb sie noch einmal stehen und schaute zum Fenster des Restaurants. In der Hoffnung, irgendjemanden darin zu erkennen, reckte sie ihren Hals, doch es brachte nichts. Sie würde weder jemanden sehen noch hören können. Bis auf das Rauschen des Meeres direkt vor der Promenade, die an die Kneipe angrenzte, und ein paar kreischende Möwen war nichts zu hören. Seufzend verschwand sie in der Bar und schloss die Tür hinter sich.
Vielleicht, dachte sie, war es nur der Hausverwalter, der nach dem Rechten sah. Das Ganze musste ja nichts zu bedeuten haben. Und doch … auch als sie nur knapp zwei Stunden später in ihrem Bett in der Wohnung über der Kneipe lag, fand sie keine Ruhe. In den vergangenen Monaten hatte es schon einmal Gerüchte gegeben, dass nebenan ein Sternehotel eröffnen sollte, was ihr eine Heidenangst eingejagt hatte. Wenn nebenan Leute ihre Nachtruhe suchten, würde es nur so Beschwerden hageln, dass sie drüben leiser sein sollte. Und auf Streitigkeiten hatte sie nun wirklich keine Lust. Umso erleichterter war sie gewesen, als sich die Gerüchte wieder verflüchtigt hatten. Und nun kreisten ihre Gedanken erneut um das Gebäude neben ihrer Bar und einer mutmaßlichen Neueröffnung. Obwohl sie sich auf ihre eigene konzentrieren sollte, wurde sie das dumpfe Gefühl nicht los, dass es sich nicht nur um den Hausverwalter gehandelt hatte.
Kapitel 2
Es hatte Stunden gedauert, bis Laura es vergangene Nacht geschafft hatte, einzuschlafen. Immer wieder hatte sie sich hin und her gewälzt, den Kopf voller Gedanken über den ominösen Besuch drüben im Gebäude. Und diese Stunden holte sie nun am nächsten Morgen nach. Der Pub war durch die Renovierungsarbeiten ohnehin geschlossen und somit erlaubte sie sich, bis elf Uhr morgens im Bett zu bleiben. Nachdem sie aufgestanden war und geduscht hatte, wurde sie bei einer Tasse schwarzem Tee endlich richtig wach. Und das war endgültig der Fall, als sie wenig später, beim Verlassen ihrer Wohnung, einen Brief vom Bürgermeister auf dem Fußboden des Eingangsbereiches im Treppenhaus fand. Mit spitzen Fingern, als wäre er giftig, hob sie ihn auf und starrte ihn an. Dann glitt ihr Blick zum Briefschlitz in der Haustür, aus Angst, dass da womöglich noch Nachschub kommen könnte. Seufzend setzte sie sich auf die letzte Stufe der Treppe, die zu ihrer Wohnung hinaufführte, strich sich ihre offenen Haare hinter die Schultern und öffnete den Umschlag. Schon beim Überfliegen der ersten Zeilen wusste sie, dass sich ihre Befürchtungen der vergangenen Nacht bewahrheitet hatten.
„Um Himmels Willen, welchen Geist hast du denn gesehen?“ Annie schoss mit besorgtem Blick um die Theke des Cafés Shanty Dream herum und begutachtete ihre Freundin besorgt. Mit einem freudlosen Lächeln hielt Laura den Brief des Bürgermeisters in die Höhe. „Du wirst nicht glauben, was passiert ist …“
„Komm, setz dich erst einmal. Ich mache dir einen Tee. Schwarztee, richtig?“
Laura nickte und ließ sich von Annie zu der kleinen Sitzgruppe in der Ecke führen. Es waren weit und breit keine Gäste zu sehen, wofür Laura mehr als dankbar war. So konnten sie wenigstens ungestört über ihre Sorgen sprechen, ohne dass die Dorfbewohner gleich alles weitertratschen konnten. Laura stützte sich müde auf dem Tisch ab. Kurz darauf erschien Annie mit einer Tasse Tee und einem Becher Kaffee, wischte sich die Hände an ihrer gelben Schürze ab und setzte sich. „Also, erzähl mir, was passiert ist.“ Sie schob sich ein paar lose braune Haare aus der Stirn, die sich aus ihrem lockeren Knoten gelöst hatten.
Laura nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie ihrer Freundin alles erzählte. „Als ich gestern den Müll rausgebracht habe, ist mir aufgefallen, dass drüben im Gebäude Licht brannte.“
„Okay, aber deswegen allein siehst du doch nicht so aus, als hätte man dich durch den Fleischwolf gedreht“, stellte Annie skeptisch fest.
Laura schüttelte den Kopf und starrte auf ihren dampfenden Tee. „Nein, aber ich hatte schon so eine Vorahnung. Dass jemand sich zum Beispiel das ehemalige Restaurant anschaut und neu eröffnet. Du weißt, was das bedeuten würde. Wir hatten schon darüber gesprochen, als damals gemunkelt wurde, dass dort ein Sternehotel aufmachen sollte.“
„Ja, dann würde es schwer für dich werden“, seufzte Annie.
„Genau, und als ich heute Morgen meine Wohnung verlassen wollte, habe ich dieses Schreiben vom Bürgermeister gefunden.“ Um die Dramatik dahinter noch einmal zu untermauern, hielt Laura den weißen Umschlag abermals in die Höhe.
„Und was steht drin?“, wollte Annie wissen und nahm einen Schluck aus ihrem Becher.
„Der Bürgermeister erklärt mir, dass das Restaurant nebenan voraussichtlich neu eröffnet werden soll und ich mich in den nächsten Wochen auf Umbaumaßnahmen einstellen sollte. Es wird ein paar Sicherheitsvorkehrungen geben, sodass ich teilweise nicht öffnen darf, weil sonst Gäste gefährdet werden könnten, wenn sie draußen sitzen.“
Annies Augen wurden riesig. „Nein, das kann doch nicht wahr sein! Dürfen die das einfach so? Außerdem … was heißt denn voraussichtlich? Dann steht es also noch gar nicht fest?“
Achselzuckend schüttelte Laura den Kopf. „Keine Ahnung, scheinbar schon. Sie werden da sicherlich ein richtig großes Ding draus machen und da unsere Gebäude so nahe beieinanderliegen, könnte ich mir vorstellen, dass sie von meiner Seite aus auch arbeiten müssen.“
Mit einem lauten Ausatmen ließ Annie sich auf dem Sitz zurücksinken. „Vielleicht kannst du nochmal mit dem Bürgermeister sprechen?“
„Und was soll der tun? Im Dreieck tanzen und mich zum Lachen bringen?“
„Ich weiß auch nicht. Vielleicht kann er sich für dich einsetzen und die Baumaßnahmen verhindern.“ Annie wusste selbst, dass das Ganze wenig Hoffnung versprach.
„Selbst wenn sie nicht umbauen und trotzdem eröffnen, dann kann ich meinen Mittagstisch vergessen und auch abends wird sich kaum einer mehr blicken lassen, wenn sie ohnehin drüben sitzen und was trinken können.“
„Dort werden sie aber nicht das Ambiente haben, das du hast“, widersprach Annie, doch Laura pustete nur laut aus.
„Du meinst, eine alte Bretterbude mit neuer Farbe? Sehen wir das Ganze mal realistisch, Annie. Es wird ab jetzt nur noch schwieriger werden. Mit Harry habe ich ja schon eine gewisse Konkurrenz, die aber noch überschaubar ist, da er ja nur Fisch anbietet und das auch nur über ein paar Stunden um die Mittagszeit herum.“
„Aber wenn auch das Restaurant nicht lange hält und sie es wieder schließen müssen? Noch ist ja nichts passiert“, versuchte ihre Freundin die Situation irgendwie schönzureden und ja, insgeheim hatte auch Laura diesen Gedanken, diese Hoffnung schon gehabt. Letztes Mal waren mangelnde Hygienestandards ihre Rettung gewesen.
Eine Weile schwiegen sie und sie spielte gedankenverloren an ihrem Teebeutel herum. Ihr Getränk hatte sie noch nicht angerührt. Es war bereits stark abgekühlt.
„Geh zum Bürgermeister“, durchbrach Annie wenig später die Stille.
Laura schaute auf. Ihre Augen waren glasig und sie fühlte sich hundeelend. „Und dann?“
„Dann kannst du ihm deine Lage erklären. Immerhin ist die Bar ein wichtiger Teil von Shanty Coast. Die Einwohner würden ihm aufs Dach steigen, wenn du das Shanty Cove schließen müsstest. Das kann er unmöglich wollen. Einen Versuch ist es jedenfalls wert.“
In diesem Moment klingelte es und ein Gast trat ins Café. Laura erkannte die alte Dame sofort. Mrs McNeill, der Dorfdrache, wie Laura sie insgeheim bezeichnete, schaute sich abschätzig um. Annie folgte ihrem Blick und lächelte matt. Sie kannte die alte Dame inzwischen ziemlich gut. Schließlich hatte sie drei Monate in deren altem B&B gewohnt, während sie damals an dem Cottage ihrer Freundin gearbeitet hatte. Man konnte über die alte Dame sagen, was man wollte, aber sie hatte hinter ihrer verbitterten Schale einen äußerst gutmütigen Kern. Und durch die wenigen Touristen hier im Dorf hatte auch sie ordentlich zu kämpfen.
„Was muss man hier tun, um einen anständigen Earl Grey zu bekommen?“, donnerte sie, aber ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, als sie Annie erblickte. „Hallo, Liebes!“
„Um einen Tee zu bekommen, muss man einen bei mir bestellen“, trällerte Annie fröhlich und beugte sich noch einmal zu Laura. „Probier dein Glück und geh zu ihm. Dann hast du es wenigstens versucht, ja?“
Laura nickte knapp und wühlte in ihrer Tasche nach Geld, doch Annie blockte ab. „Lass nur, der geht auf mich.“
Dankbar lächelnd erhob Laura sich und nickte der alten Mrs McNeill zu. „Guten Morgen.“
„Morgen? Wir haben doch schon Mittag! Das ist die junge Generation, die bis in den Tag hinein schläft und dann nicht mehr weiß, wann morgens und wann abends ist.“
Normalerweise hätte Laura über die Frau gelacht, die es eigentlich gar nicht so ernst meinte, wie sie es klingen ließ, doch an diesem Tag sackten ihre Schultern nur noch weiter herab. Sie winkte Annie kurz zum Abschied, die ihr aufmunternd zulächelte, und verschwand aus dem Café hinein in die frühlingshafte Mittagssonne.
„Der Bürgermeister ist gerade nicht zu sprechen. Heute ist unglaublich viel los, musst du wissen.“ Tracy, die Büroangestellte des Rathauses und ehemalige Mitschülerin von Laura, schüttelte vehement mit dem Kopf, während sie auf den Bildschirm ihres Rechners starrte. Laura vermutete, dass sie gar nicht auf einen Kalender schaute, sondern gerade Solitär spielte und im Begriff war, zu verlieren. Denn als sie sich umsah, war im weitläufigen Flur des Gebäudes niemand zu sehen. Zudem war das lautstarke „Ha! Und schon wieder gewonnen!“, das aus dem Zimmer hinter dem Empfangstresen ertönte und ganz klar die Stimme des Bürgermeisters war, nicht zu überhören. Selbst Tracy blickte entschuldigend drein.
„Es ist viel los, ja?“, hakte Laura daher noch einmal nach und zog eine Braue in die Höhe.
„Es ist so …“, begann Tracy daraufhin und knibbelte an ihren dunkelrot manikürten Fingernägeln, „… er will heute nicht gestört werden. Er meinte, dass er viel zu tun hat und das hinterfrage ich nun mal nicht. Ich will einfach meinen Job machen und mehr nicht.“
Laura nickte wissend. „Gut, Tracy, dann mach doch mal deinen Job und geh dir einen Tee kochen. Wenn du wiederkommst, bin ich verschwunden.“
Skeptisch beäugte die Sekretärin ihr Gegenüber. Die beiden waren noch nie gute Freundinnen gewesen, lebten eigentlich immer aneinander vorbei, und doch wusste Laura, wie ungern Tracy arbeitete. Hier am Empfangstresen eines Rathauses zu sitzen, in dem sowieso nicht viel passierte, war das Beste, was ihr jemals passieren konnte. Kurz zupfte sie an ihrem kurzen blonden Bob und erhob sich schließlich. „Also gut, aber halte mich da bitte raus. Ich habe dich hier nicht gesehen.“
Dankbar lächelte Laura. „Vielen lieben Dank, ich ziehe dich da bestimmt nicht rein.“
Als Tracy mit eiligen Schritten in der Teeküche den Gang hinunter verschwunden war, huschte Laura am Tresen vorbei und platzte in das Zimmer des Bürgermeisters.
Kapitel 3
Bürgermeister O‘Doyle blickte überrascht auf, als Laura plötzlich in seinem Büro stand. Seine grauen Brauen kräuselten sich auf seiner Stirn und er erhob sich nur schwerfällig von seinem Platz.
„Laura, was treibt dich denn hierher? Und wer hat dich hier reingelassen? Wo ist Tracy, wenn man sie braucht?“ Sein massiger Bauch, der kurz davor war, sein graues Hemd an der Knopfleiste zu teilen, bebte beim Sprechen.
„Tracy hatte gerade alle Hände voll zu tun und war daher nicht an ihrem Platz. Bitte, Herr Bürgermeister, ich muss Sie dringend sprechen.“ Sie hielt den Umschlag wie eine Eintrittskarte in den Händen und trat näher an seinen Schreibtisch.
O‘Doyle erkannte das Schreiben in ihren Händen, seufzte kurz und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken. Laura betete, dass dieser nicht zusammenbrach und setzte sich ihm gegenüber auf einen der Besucherstühle. Dabei legte sie ihm den Brief auf den Schreibtisch, direkt neben ein vergoldetes Schild, auf dem Steven O‘Doyle stand – als würden die wenigen Einwohner aus dem Dorf seinen Namen nicht kennen.
„Ich habe Ihren Brief erhalten.“
Der Bürgermeister pustete angestrengt aus. „Laura, es tut mir leid.“
„Sie wissen, was das für mich bedeutet, oder? Ich werde meinen Laden schließen können, wenn Sie zulassen, dass das Restaurant neben mir eröffnet. Allein durch die Umbaumaßnahmen werden mir schon Einnahmen wegfallen. Das kann ich mir einfach nicht leisten. Es ist so schon schwer genug.“ Mit traurigen Augen schaute sie den älteren Mann an, dessen Gesichtszüge allmählich sanfter wurden.
„Ich kann da nicht viel machen. Der Inhaber zahlt gutes Geld für den Wiederaufbau und das Sternerestaurant wird …“
„Sternerestaurant?“, wiederholte Laura ungläubig. „Sie stellen da allen Ernstes so einen Nobelschuppen hin? Zunächst hatte ich ja noch die Hoffnung, dass es wie der Vorgänger schnell wieder zumachen könnte, aber bei einem Nobelklotz kann ich ja jetzt schon schließen!“ Sie erhob sich von ihrem Platz und schüttelte heftig den Kopf. Haare raufend schritt sie in seinem Büro umher, welches so unaufgeräumt war, dass sie sich wunderte, dass der Bürgermeister überhaupt noch seinen Schreibtisch fand. Überall stand Krimskrams herum. Alte Gemälde aus Uromas Zeiten, Skulpturen, die sicherlich nichts wert waren, und haufenweise alte Bücher, die in den Regalen ringsherum verteilt lagen. Von den vertrockneten Pflanzen wollte sie lieber nicht sprechen.
„Noch ist es ja nicht hundertprozentig entschieden“, wandte O‘Doyle vorsichtig ein.
Laura wurde hellhörig. „Das klang in Ihrem Schreiben aber schon eindeutig.“
„Ja, aber die Baumaßnahmen haben ja noch nicht begonnen. Außerdem sprach der Restaurantbesitzer davon, dass er sich eigentlich schon entschieden hätte, aber noch ein anderes Gebäude am Rande des Dorfes in Betracht ziehen würde. Tracy ist leider nur etwas voreilig gewesen. Ich wollte den Brief nur schon fertig haben. Dass sie ihn schon mit der morgendlichen Post wegbringt, war ja nicht geplant.“
„Dann können Sie ihr ein Empfehlungsschreiben für vorausschauendes Arbeiten ausstellen. Und Sie meinen nicht zufällig die alte Dorfdiskothek?“
Er nickte und Laura setzte sich wieder. „Warum machen Sie dann mit diesem Schreiben die Pferde verrückt, wenn es doch noch gar nicht sicher ist?“ Sie deutete auf den Brief vor sich und wurde allmählich wütend. War ihre Aufregung etwa völlig übereilt gewesen?
„Nun ja, weil ich mir sehr sicher bin, dass die alte Diskothek nicht seinem Geschmack entspricht. Für die Vorstellung, die er hat, wird das Gebäude nicht reichen. Die Aufteilung passt nicht und die Lage an der Promenade ist eben der große Pluspunkt. Für den fehlenden Tourismus könnte das eine Goldgrube werden.“
„Und für mich der Untergang, wenn ich meine Öffnungszeiten nicht ändere und erst dann öffne, sobald die nebenan schließen. Und selbst dann würde niemand mehr kommen, weil nachts um zwölf eben nicht mehr so viel los ist wie abends um neun! Also, was kann ich tun, um ihn umzustimmen?“, verlangte Laura dann zu wissen und lehnte sich etwas vor. Achselzuckend schüttelte O‘Doyle den Kopf. „Ganz ehrlich? Liebes, du kannst da gar nichts erreichen. Das Einzige, was ich versuchen kann, ist mit ihm zu reden.“
„Sie sind der Bürgermeister. Vielleicht können Sie ihm ja vorschreiben, dass …“
„Nein, Laura. Vorschreiben kann ich ihm das nicht“, druckste er herum, „ich kann ihm nur gut zureden, aber ehrlich gesagt, sehe ich für das Dorf viel bessere Chancen, wenn der Promenadenplatz für das Restaurant genutzt wird.“
Lauras Herz sackte eine Etage tiefer. Sie glaubte ihm kein Wort.
„Das bedeutet, dass Sie ebenfalls wollen, dass der Laden neben mir eröffnet?“
„Es ist nun mal für die fehlenden Einnahmen hier im Dorf besser. Dieses Restaurant könnte endlich neue Gäste herlocken.“
„Das könnte es auch am Rande von Shanty Coast“, hielt sie dagegen.
„Du weißt doch selbst, dass die Lage direkt am Meer attraktiver ist als der Dorfrand.“
Laura schwieg und blickte auf ihre zitternden Hände. Die Sicht vor ihren Augen verschwamm und sie musste sich zusammenreißen, nicht laut aufzuschluchzen.
„Okay, hör zu“, wandte der Bürgermeister vorsichtig ein und sie horchte auf. „Ich habe eine Idee: Zeig mir, dass der Pub genauso gut neue Gäste anlockt wie das Restaurant. Dann kann ich mit dem Besitzer sprechen und ihn dazu bringen, das andere Gebäude für sein Restaurant zu wählen.“
Laura schnaubte knapp. „Als ob ich das schaffen könnte.“
„Wir haben noch ein paar Wochen bis zur Vertragsunterzeichnung. Außerdem gehört das Gebäude der Gemeinde. Ich könnte es im Zweifel für Eigennutz anmelden, sodass es ohnehin nicht zur Verfügung steht.“
„Das würden Sie wirklich riskieren?“
O‘Doyle nickte ausladend. „Mir würde da schon etwas einfallen. Ein Fischereimuseum oder irgendwas in der Art. Zeig mir einfach, dass deine Bar eine Bereicherung für Shanty Coast ist und ich sehe, was ich tun kann. In Ordnung?“
Langsam nickte Laura, hatte jedoch wenig Hoffnung, dass es irgendetwas bringen würde, wenn sie zwei Gäste mehr anzog. Währenddessen wandte der Bürgermeister sich wieder seinem Computer zu, als würde er an einer höchst wichtigen Sache arbeiten. Sie wusste, dass es sich um Schiffe versenken handelte, denn die Scheiben in der Vitrine hinter ihm spiegelten seinen Bildschirm.
Träge erhob sie sich und biss sich angespannt auf die Lippe. „Danke für die Chance“, presste sie anschließend zwischen den Zähnen hervor und verschwand mit Tränen in den Augen aus dem Büro.
Kapitel 4
Es war ein merkwürdiges Gefühl, am Tresen der eigenen Kneipe zu sitzen. Jedenfalls wenn man nicht nur Feierabend machte, sondern sich selbst betrank.
Laura saß auf einem der Barhocker, hatte den Kopf, als wäre er viel zu schwer, um sich alleine halten zu können, auf einer Hand abgestützt und spielte gedankenverloren mit den Tropfen ihrer kalten Bierflasche. Hin und wieder glitt ihr Blick in Richtung Brief, den sie am Rande des Tresens abgelegt hatte, um eine sichere Entfernung zwischen sich und den Worten darin zu wahren. Im Hintergrund spielte leise Shanty-Musik von ihrer typischen Playlist, die fast immer lief. Diese Ruhe, die sie jetzt umgab, dachte sie schnaubend, würde sie sicherlich bald öfter spüren müssen. Auch wenn sie versuchte, sich selbst immer wieder gut zuzureden, dass vielleicht alles gar nicht so schlimm werden würde, wusste sie es insgeheim besser. So ein großes, teures Restaurant zog nun mal Touristen an, Leute, die sich bei gutem Essen unterhielten, leckeren Wein tranken und ihren Abend dort verbrachten. Auch wenn so eine Bar gemütlich war, sie war bei weitem nicht so attraktiv wie ein teures und schickes Restaurant an der Promenade. Und wenn sich doch ein Gast zu ihr verirren sollte, würde dieser sicherlich einen Kulturschock erleben. Es war aussichtslos. Wie auch immer Laura das Blatt drehte und wendete, immer endete ihr Szenario mit der Schließung des Shanty Cove.
„Ist hier geschlossene Gesellschaft?“, ertönte hinter ihr plötzlich eine tiefe, dunkle Stimme.
Laura schreckte auf. Als sie zum Eingang schaute, stand da plötzlich ein Mann – ein sehr attraktiver, wie sie fand – und schaute sie mit einem unsicheren Lächeln an.
„Kann man so sagen …“, seufzte sie dann und versuchte ebenfalls ein freundliches Gesicht zu machen, was ihr in Anbetracht der Umstände und des Bieres, das sie schon getrunken hatte, ziemlich schwerfiel, „… aber eine Person macht noch keine Gesellschaft, oder?“
„Soll ich Ihnen dabei helfen, eine zu werden?“ Er zuckte fragend mit den Schultern und hatte die Hände tief in seinen dunkelblauen Jeans vergraben.
Laura nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf den freien Barhocker neben sich.
Während er näherkam, musterte sie ihn kurz. Sie fragte sich, ob sie ihn schon einmal hier in Shanty Coast gesehen hatte, aber sie konnte sich an ein so schönes Gesicht nicht erinnern. Er war rasiert, doch erkannte man einen minimalen Bartschatten an seinem Kinn. Dazu trug er seine dunklen, leicht wirren Haare etwas seitlich gescheitelt. Er hatte eine beachtliche Statur unter seinem schwarzen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Das erkannte sie an den sich leicht spannenden Knöpfen an der Brust. Er zog einen Duft mit sich, der sie an die raue Seeluft erinnerte. Sie kannte dieses Parfüm. Irgendwas von Armani, wie sie sich vage erinnern konnte. Sie wusste es daher so genau, weil sie vor Jahren ihrem damaligen Freund Damian diesen Duft immer wieder aufs Auge gedrückt hatte, weil sie diesen so unwiderstehlich gefunden hatte. Doch er hatte keinen Riecher – im wahrsten Sinne – für gute Düfte gehabt und ihn nie getragen.
„Eigentlich haben wir geschlossen“, erklärte sie, nachdem er sich neben sie gesetzt hatte. „Gerade finden hier ein paar Umbaumaßnahmen statt. Und bald auch die Schließung“, fügte sie murmelnd hinzu.
„Na, dann möchte ich lieber schnell noch was bestellen, bevor hier zugemacht wird. Was muss ich denn hier tun, um ein kaltes Bier zu bekommen?“ Sein Ton war heiter, als wollte er sie aufmuntern.
Irgendwie gefiel es Laura, dass sie jetzt nicht mehr allein war. Sie deutete mit dem Kopf auf die Flaschen, die unmittelbar hinter der Theke neben dem Zapfhahn aufgereiht standen. „Einfach hinter den Tresen greifen und sich eine Flasche nehmen.“
„Hm, guter Service, muss ich schon sagen.“ Sein Schmunzeln verriet, dass er mit ihr scherzte.
Schließlich musste sie auch lächeln.
Er erhob sich etwas von seinem Hocker, um an die Flasche zu kommen, und nahm sich dann gleich zwei. Eine stellte er Laura vor die Nase. „Hier, Sie sehen aus, als bräuchten Sie es dringender als ich. Harter Tag?“
„Kann man so sagen.“ Unwillkürlich schob sie sich ein paar lose Haarsträhnen, die sich aus ihrem langen Pferdeschwanz gelöst hatten, hinter die Ohren und setzte sich etwas aufrechter hin. „Heute war einfach kein guter Tag, sagen wir es mal so.“
„Muss es auch mal geben, sonst wüsste man die guten ja nicht mehr zu schätzen, meinen Sie nicht?“ Er öffnete sich sein Bier mit dem Flaschenöffner, der neben Laura lag, und tat das Gleiche mit ihrem.
„Sind Sie Lehrer?“, wollte sie wissen und schaute ihn mit hochgezogener Braue an. „Oder Philosoph?“
Der Mann lachte kurz auf. „Ich und Lehrer? Ich bitte Sie. Ich hätte sicherlich nichts pädagogisch Wertvolles zu dieser Welt beizutragen. Man sollte mich also nicht auf Kinder loslassen. Nein, gerade bin ich einfach nur im Urlaub und möchte mein nichtsnutziges Wissen weiterverbreiten.“
Laura musste kichern. „Ein philosophierender Urlauber also. Na gut, muss es auch geben. Dann: Auf Ihren Urlaub.“ Sie hob träge ihre Flasche und leerte sie mit einem Zug.
Der Mann beobachtete sie einen Moment, ehe er ihr ein mitfühlendes Lächeln schenkte. „So schlimm?“
„Wer? Sie?“
„Nein, Ihr Tag.“
„Ach so.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, gerade möchte ich einfach nicht darüber reden.“
„Gott sei Dank. Ich bin nämlich als Seelenklempner genauso eine Niete wie als Philosoph.“ Er trank einen tiefen Schluck aus seiner Flasche und blickte sich um.
„Woher kommen Sie?“, wollte Laura wissen.
„Aus Derby.“
Sie überlegte kurz. Sie hatte schon von der Stadt, die etwa zweieinhalb Stunden von Shanty Coast entfernt lag, gehört, war aber noch nie vorher dort gewesen.
„Wie ist es in Derby?“
„Hier ist es schöner“, entgegnete er ausweichend.
In ihr war die Neugierde geweckt. Sie schaute ihn fragend an. „Das ist aber keine befriedigende Antwort auf meine Frage.“
„Sie haben mir auch nicht verraten, was Ihnen den Tag so versalzen hat“, konterte er, was Laura zustimmend nicken ließ. „Touché.“
Sie tranken wieder schweigend, bis er erneut die Stille durchbrach.
„Erzählen Sie mal: Wie bringt man eine Frau wie Sie zum Lachen?“
Mit zusammengezogenen Brauen hob Laura den Blick.
Mit einem feixenden Lächeln auf den Lippen schaute er sie an, als erwartete er allen Ernstes eine Antwort.
„Eine Frau wie ich?“
„Na ja, eine gutaussehende Frau, die allein in – ich nehme mal an, ihrer eigenen Bar – sitzt und deren Lächeln ihre Augen nicht erreicht.“
„Sie meinen, ich sehe mürrisch aus?“
„Nein, ich meine, Sie sehen traurig aus. Das ist ein Unterschied. Ich würde Sie so gerne mal fröhlich erleben.“
Seine direkte Art entlockte Laura nun schließlich doch ein Lachen. „Sie sind merkwürdig, wissen Sie das?“
„Ja, ich bin vieles. Aber vor allem bin ich ein guter Zuhörer. Wohlbemerkt aber kein Seelenklempner – nur Zuhörer.“
„Schade, dass ich nicht viel zu erzählen habe.“ Mit einem herausfordernden Blick schaute sie ihn an.
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert.
„Außerdem …“, setzte sie hinzu und trank einen kurzen Schluck, „… kenne ich noch nicht einmal Ihren Namen.“
„Ich Ihren doch aber auch nicht“, antwortete er und hielt ihrem Blick stand.
Als Laura in seine dunkelbraunen Augen sah, spürte sie ein merkwürdiges Ziehen im Bauch. Dieser Mann hatte etwas an sich, was ihr gefiel. Dieses Offensive. Das, was sie bei Damian immer vermisst hatte. Immer hatte er sie mit Samthandschuhen angefasst, als könnte er sie beim bloßen Anschauen zerbrechen. Nie hatte er ihr die Stirn geboten, sondern immer zu allem Ja und Amen gesagt. Dabei wollte sie doch nur mal jemanden haben, der ihr auch mal Halt gab. Nicht immer nur andersherum.
„Ich bin Laura.“
„Bryce.“
Bryce, dachte sie. Ein kräftiger Name für einen starken Mann. Er gefiel ihr und irgendwie bot er eine nette Ablenkung von ihren bisher eher traurigen Gedanken an diesem Tag.
„Okay, Bryce, was mich zum Lachen bringt? Lustige Komödien, also mehr Liebesschnulzen, mit peinlichen Szenen und einem herzzerreißenden Happy End. Ja, ich liebe Happy Ends. Außerdem mag ich es, mit meinen Freunden Kegeln zu gehen. Zumindest früher, als die alte Kegelbahn im Dorf noch geöffnet hatte. Ich finde es lustig, wenn die Leute mit der Kugel nicht umgehen können und sie keine Kegel treffen. Zudem kann ich nicht mehr an mich halten, wenn jemand flache Witze erzählt. Sie verstehen schon, die, bei denen man ewig lange nachdenken muss, bis man sie verstanden hat, weil sie so flach sind, dass sie unter dem Teppich Fahrrad fahren könnten.“ Sie sagte das alles in so ernstem Tonfall, dass Bryce plötzlich laut loslachen musste.
Ihr gefiel der Klang seiner Stimme, wenn er lachte. So ausgelassen. So sorglos.
„Kegeln? Echt jetzt?“
„Ja, warum denn nicht?“
„Kegeln ist so ziemlich das Langweiligste, was ich jemals in meinem Leben gemacht habe. Dann doch bitte lieber Bowling.“
„Ach, Sie haben ja keine Ahnung. Was bringt Sie denn bitteschön zum Lachen?“
Achselzuckend schaute Bryce auf seine Flasche und überlegte. „Ich mag lustige Filme.“
„Lustige Schnulzen oder lustige Actionfilme?“
„Action natürlich.“
„Natürlich. Schade. Die mag ich leider gar nicht.“
„Aber da ich ja so ein weltoffener Typ bin, lasse ich mich auch gerne auf Liebesschnulzen ein.“ Er schaute Laura herausfordernd von der Seite an.
Dieser Schlagabtausch gefiel ihr. Nicht nur, dass er sie von ihren eigentlichen Problemen ablenkte, nein, sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine solche Diskussion geführt hatte.
„Weltoffen, ja?“
„Japp.“
Laura schmunzelte und drehte ihren Oberkörper in seine Richtung. „Okay Mr Weltoffen, wie kann man dann kein Kegeln mögen?“
„Ich mag ja bowlen. Ist doch fast das Gleiche.“ Er hielt ihrem Blick stand, doch hinter seinem knappen Lächeln versteckte sich eine gewisse Hinterlist. Scheinbar schien es ihm ebenfalls zu gefallen, sie aus der Reserve zu locken.
„Rockmusik und Klassik laufen ebenfalls gemeinsam unter der Kategorie Musik. Ist dann beides auch das Gleiche?“ Mit hochgezogener Braue schaute sie ihn an. Jetzt hatte sie ihn.
Seufzend hob Bryce die Hände, als wollte er sich ergeben. „Ich merke schon, mit einer Frau wie Ihnen diskutiert man nicht.“
„Einer Frau wie mir? Das hatten wir doch schon mal.“
„Ich meine damit, dass Sie offensichtlich häufiger Diskussionen führen.“
„Ich führe Unterhaltungen mit den Gästen in meiner Kneipe. Da kommt man oft ins Diskutieren. Beispielsweise warum ich die Preise im vergangenen Jahr angehoben habe. Warum ich bestimmte Schnapssorten aus dem Sortiment gestrichen habe, bis hin zu warum ich zweilagiges Toilettenpapier in den Toiletten auslege und nicht dreilagiges. Warum ich immer die gleiche Musik spiele.“
Bryce machte große Augen. „Ernsthaft? Darüber machen sich die Leute einen Kopf?“
„Sie würden sich wundern …“, entgegnete Laura und seufzte traurig. Wenn sie so darüber nachdachte, dann war sie sich ziemlich sicher, dass sie eines Tages keine Gäste mehr haben würde, mit denen sie über die Qualität des Toilettenpapiers streiten konnte.
„Und die Musik? Haben Sie nur diese eine Playlist?“ Er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Regal hinter dem Tresen, auf dem die Musikbox leise vor sich hin trällerte. Laura lachte auf. „Nein, nur meine Musikrichtung ist in vielen Songs einfach ähnlich. Meine Stammgäste lieben die Musik.“
„Tanzen Sie gerne?“
„Bitte was?“, horchte Laura verwirrt auf. „Wie kommen Sie denn jetzt aufs Tanzen?“
Kurz blickte er sich um, als wollte er sichergehen, dass sie allein waren. „Na ja, ich sehe eine freie Tanzfläche und höre gute Musik im Hintergrund. Daher frage ich.“
„Glauben Sie nicht, dass ich jetzt hier mit Ihnen tanzen werde.“ Kopfschüttelnd, jedoch mit einem Lächeln, griff sie nach einer weiteren Flasche hinter dem Tresen und reichte sie Bryce. Dieser nahm sie dankend entgegen und beobachtete, wie Laura auch für sich ein weiteres Bier öffnete.
„Das ist aber echt schade. Man sagt mir nach, dass ich ein ziemlich guter Tänzer bin. Jedenfalls zu Schulzeiten.“
Mit schräg geneigtem Kopf schaute Laura wieder zu Bryce. Sie spürte, dass sie inzwischen mehr Alkohol getrunken hatte, als sie es normalerweise gewohnt war. Aber heute war nun mal nichts normal gewesen und sie fühlte sich mutiger als sonst.
„Und das ist wie viele Jahre her?“
„Na, so lange nun auch wieder nicht. Ich bin erst zweiunddreißig.“
„In der Zeit kann man einiges verlernen.“
Er grinste schief. „Dann geben Sie mir Nachhilfe.“
Laure schaute ihn argwöhnisch an und kräuselte die Lippen. „Also schön, gut. Nur einen Tanz.“ Sie hob ihren Zeigefinger und glitt schließlich vom Barhocker.
Ihre Beine waren etwas wackelig, was sicherlich dem Bier geschuldet war und garantiert nicht an der Anwesenheit dieses hübschen Mannes lag. Demonstrativ abwartend stellte sie sich in die Mitte des Raumes.
Bryce folgte ihr. Erst skeptisch, als würde er ihr nicht ganz trauen, doch als er die Entschlossenheit in ihren Augen sah, lachte er. Wie ein Gentleman nickte er ihr zu und hielt ihr seine Hand hin, die sie ergriff. Im Hintergrund erklang ihr Lieblingssong: Closer to Fine. Kein typischer Shanty Song, den man in ihrer Bar erwartete, doch sie liebte ihn. Langsam legte sie Bryce ihre Hände auf die Schultern und sie begannen sich rhythmisch zum Takt zu bewegen. Er war ein gutes Stück größer als sie, weshalb sie sich leicht auf die Zehenspitzen stellen musste. Zudem empfand sie die Nähe zu ihm als sehr angenehm. Als würden sie sich schon eine halbe Ewigkeit kennen und nicht erst eine halbe Stunde. Er hatte seine Hände auf ihre Hüften gelegt und führte sie geschickt. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Auch sie hielt seinem Blick stand, musste zwischendurch aber immer wieder lachen. Seine Berührungen auf ihrem Körper fühlten sich gut an und sie schloss für ein paar Momente die Augen, um diesen Augenblick auf sich wirken zu lassen. Für eine Weile vergaß sie ihre Probleme, ihren Kummer, ihre Sorgen und Ängste. Sie nahm seinen Duft wahr, seine festen Muskeln unter ihren Händen, die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte. Laura wurde ganz warm und sie versuchte sich einzureden, dass es am Alkohol liegen musste, doch sie wusste genau, dass Bryce dieses angenehme Gefühl in ihr auslöste.
„Und? Bin ich ein guter Tänzer, oder was?“ Er nahm ihre Hände in seine und zog sie in eine engere Tanzposition. Nun hielt er sie an der Hand, seine andere hatte er ihr tief in den Rücken gelegt. Sie war auf diese Weise noch dichter bei ihm und fühlte sich in seiner Nähe in keiner Sekunde unwohl ‒ eher im Gegenteil. Es war schön. Dieser Tanz, dieser Augenblick. Bryce. Alles war gerade einfach nur schön.
„Du erstaunst mich, muss ich zugeben“, gestand sie feixend.
„Dann werte ich das mal als positiv.“
Sie nickte mit dem Gesicht auf seine Brust gewandt.
„Und was machen wir, wenn das Lied gleich vorbei ist? Immerhin hast du mir deutlich gemacht, dass es nur einen Tanz geben wird.“
Sie rückte ein kleines Stück von ihm ab, um ihn ansehen zu können. „Ich stehe zu dem, was ich sage. Du brauchst dir also keine Hoffnungen zu machen, dass es einen zweiten geben wird.“ Obwohl sie insgeheim am liebsten einfach mit ihm weitergetanzt hätte.
Als das Lied endete, hielten sie in der Bewegung inne und lösten sich nur langsam voneinander. Doch die Blicke entzogen sie sich nicht. Laura spürte ihr Herz auf einmal übertrieben schnell schlagen und ihre Wangen glühten. Das kribbelnde Gefühl im Bauch wollte sie lieber nicht näher definieren und doch wusste sie, dass sie in diesem Moment nur eines wollte: Bryce küssen. Diesen unfassbar gutaussehenden Mann, der sie in den vergangenen Minuten von all ihren Sorgen abgelenkt hatte, einfach nur küssen. Es war verrückt! Aber was sprach dagegen? Sie war Single. Hatte niemanden, auf den sie Rücksicht nehmen musste und wollte es. Also konnte sie es sich verdammt nochmal auch nehmen! Bryce schien die Situation ähnlich zu deuten und legte ihr vorsichtig und sanft, beinahe Kino reif, seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und zog ihr Gesicht langsam zu sich heran. Mit wackeligen Knien ließ Laura es geschehen und kurz darauf küssten sie sich. In ihrem Magen machte sich ein ungewohntes Gefühl breit, wie sie es lange nicht gespürt hatte. Neugierde? Aufregung? Sicherlich, denn es war etwa sechs Jahre her, dass sie etwas mit einem Mann hatte. Bryces Lippen waren weich und schmeckten nach Bier. Mit seinen Händen umrahmte er ihr Gesicht. Sie wiederum legte ihre Hände auf seine feste Brust. Auch wenn sie eine gewisse Lust verspürte, so wusste sie, dass sie es besser bei diesem unfassbar schönen Kuss belassen sollte. Gemächlich löste sie sich von ihm und brachte nichts weiter hervor als ein schüchternes Lächeln.
„Gute Alternative zum Tanzen, findest du nicht?“, raunte er, wirkte jedoch ebenso überrascht, wie Laura es war.
„Hm, ganz gut …“, neckte sie ihn.
Bryce schlug sich empört mit einer Hand auf die Brust. „Ganz gut? Wow, das kratzt dann doch ziemlich an meinem Ego.“
„Okay, es war schon sehr gut. Zufrieden?“
„Zumindest besser.“
Sie trat einen Schritt zurück, dankbar für die Lockerheit, mit der er sie aus der unangenehmen Situation danach geholt hatte und deutete mit einem Nicken in Richtung Theke. „Trinkst du noch ein Bier mit mir, bevor ich den Laden schließe?“
„Du meinst, bevor du mich rauswirfst? Na klar.“ Er setzte sich in Bewegung und Laura lief an der Theke vorbei. „Ich bin gleich wieder da, ich muss nur kurz einmal aufs Klo.“
Wie angewurzelt blieb Bryce stehen und schaute sie mit hochgezogener Braue an. „Aufs Klo? Sagen Frauen nicht eher so was wie: Ich muss mir mal die Nase pudern?“
Laura lachte entsetzt auf. „Du denkst wirklich ganz schön in Schubladen, hab ich recht?“
Kurz überlegte Bryce und rieb sich verlegen lachend den Nacken. „Vielleicht sollte ich nächstes Mal eher nachdenken, bevor ich spreche.“
„Und vielleicht auch mal eine neue Schublade öffnen“, riet sie ihm grinsend. „Also, ich gehe jetzt meine Nase pudern, ist das besser?“ Dabei strahlte sie ihn zuckersüß an und klimperte mit den Wimpern.
„Nein, nicht wirklich. Vorher hast du mir besser gefallen.“
„Du meinst so direkt?“
Er nickte.
„Ist wohl meinem Job geschuldet“, entgegnete sie schulterzuckend. „Also dann, bis gleich. Ach, und … magst du uns vielleicht schon mal was zu Trinken besorgen? Ich bin in einer Minute wieder da.“
„Ich werde dich hier gut vertreten“, versicherte er augenzwinkernd und marschierte hinter die Theke.
In der Gästetoilette angekommen, spritzte Laura sich etwas kühles Wasser ins Gesicht, um die Hitze auf ihren Wangen zu löschen. Sie schaute anschließend in den Spiegel. Ihre Pupillen waren vergrößert, als hätte der Kuss sämtliches Adrenalin in ihr freigesetzt. Ihre Lippen bebten noch immer leicht, was sich nach wie vor gut anfühlte. Sie strahlte ihr Spiegelbild an und schüttelte den Kopf. Hatte sie heute Morgen mit so etwas gerechnet? Dass sie einen hübschen und durchaus humorvollen Mann treffen würde, den sie küssen würde? Niemals. Und doch bereute sie keine Sekunde davon.
Etwa eine Minute später machte sie sich wieder auf den Weg in die Bar und atmete noch einmal tief durch. Doch als sie aus der Tür trat, die zu den Toiletten führte und auf den leeren Tresen schaute, entwich jegliches Glücksgefühl aus ihr. Niemand war zu sehen. Bryce war weg.
Kapitel 5
„Wie wäre es mit einem Karaoke-Abend?“ Annie starrte konzentriert auf ihre Liste vor sich auf dem Tisch. Mit ernster Miene spielte sie einhändig am Kugelschreiber herum. Als Laura nicht antwortete, schaute sie jedoch fragend auf. „Hallo? Erde an Laura?“
„Hm? Oh, ja. Entschuldige bitte. Ich war gerade etwas in Gedanken.“
Sie raffte sich auf und setzte sich gerade hin. Sie hatten sich in die kleine Sitznische im Pub zurückgezogen und sich jeweils Tee und Kaffee gekocht. Gerade waren sie dabei, nach Lösungen für Lauras Misere zu suchen.
„Das habe ich gemerkt“, bemerkte Annie, legte den Stift beiseite und betrachtete ihre Freundin mit Argusaugen. „Erzähl, was ist los? Immer noch die Sache mit dem Restaurant? Oder ist da noch was anderes?“
Laura überlegte kurz. Nachdem sie gestern Abend Bryces Verschwinden bemerkt hatte, war sie wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Sie hatte angenommen, dass sie sich gut verstanden hatten. Sie hatten gelacht, geflirtet, getanzt, und ja … sich sogar geküsst!
Wieder und wieder, auch als sie völlig übermüdet in ihrem Bett gelegen hatte, war sie den Abend gedanklich durchgegangen. War es das Schubladen-Gerede gewesen? Eigentlich hätte sie Bryce als nicht so empfindlich eingeschätzt und außerdem war er doch noch hinter den Tresen gegangen, um ihnen Getränke zu holen. Und ja, gestohlen hatte er auch nichts, denn die Kasse hatte sie tatsächlich noch kontrolliert. Und es hätte auch nichts gegeben, für was es sich zu stehlen gelohnt hätte, denn bis auf ein paar kleine Scheine war sie leer gewesen. Außerdem hatte er Geld für seine Getränke auf dem Tresen neben dem Brief des Bürgermeisters liegen lassen. Ein Dieb würde wohl kaum bezahlen, wenn er dafür dann etwas anderes stehlen würde.
„Gestern Abend …“, begann Laura schließlich und seufzte, als sie an die erste Begegnung mit Bryce dachte. Wie gut er ausgesehen hatte. Sein Lächeln. Einfach alles an ihm war umwerfend gewesen.
„Ja?“, hakte Annie nach, als ihre Freundin gedanklich wieder abdriftete.
„Gestern Abend saß ich noch eine Weile hier an der Theke und plötzlich stand da ein Mann in der Tür und fragte, ob ich noch geöffnet hätte. Na ja, ich habe ihm gesagt, er könne was trinken und wir haben uns auch echt gut verstanden. Bryce hieß er.“
„Bryce“, wiederholte Annie den Namen mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Und was hat er getan, dass du so ein Gesicht machst?“
Laura erzählte Annie die ganze Geschichte. Wie sie miteinander gescherzt hatten, wie sie für einen Moment vergessen hatte, welche Probleme sie eigentlich am Hals hatte und wie sie miteinander getanzt hatten. Auch von dem Kuss erzählte sie ihr.
Da horchte Annie gespannt auf. „Ihr habt euch geküsst?“
Laura zuckte zusammen, besann sich aber, dass sie allein in der Bar waren. „Na ja, ja … es hat sich irgendwie so ergeben. Da war so ein Knistern und … ach, ich weiß auch nicht … es fühlte sich in diesem Moment einfach richtig an“, versuchte sie zu erklären und rief sich die Empfindungen hervor, die sie gestern Abend so intensiv gespürt hatte. Das Kribbeln im Bauch, die weichen Knie. Doch Bryces plötzliches Verschwinden warf einen Schatten auf das Erlebte und übrig blieb das Gefühl von Enttäuschung, das sie am Abend schließlich übermannt hatte.
„Einfach so ergeben?“, wiederholte Annie mit einem anzüglichen Grinsen.
„Ist ja auch egal“, tat Laura das Ganze mit lässigen Handbewegung resolut ab. „Als ich auf Toilette gegangen bin, war er anschließend weg. Warum auch immer, frag mich nicht.“
„Oh je“, seufzte Annie und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. „Vielleicht hatte er ja einen guten Grund. Einen Anruf oder einen Notfall in der Familie.“
„Und da kann er nicht kurz rufen, dass er los muss?“ Ungläubig musterte Laura ihre Freundin, die versöhnlich lächelte.
„Vielleicht hast du es ja einfach nicht gehört.“
Ja, vielleicht, dachte sie, war aber trotzdem traurig. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Egal jetzt. Wir haben Wichtigeres zu tun. Also, was sagtest du? Einen Karaoke-Abend? Das fände ich echt super.“
Kurz schaute Annie Laura an und prüfte ihren geistigen Zustand. Als sie schließlich meinte, dass alles mit ihr in Ordnung war, widmete sie sich wieder ihren Notizen. „Genau, auf so was fahren die Leute doch immer ab, oder nicht?“
„Ich weiß nicht, wie die Leute das hier im Dorf sehen, aber nach außen hin könnte es gute Werbung sein“, stimmte Laura ihr zu und trank einen Schluck Tee, der inzwischen kalt war.
„Vielleicht könntest du Preise verteilen. Gratis-Drinks oder Ähnliches. Und du müsstest auf jeden Fall ordentlich Werbung machen“, sinnierte Annie und tippte nachdenklich mit dem Stift an ihr Kinn.
Laura machte ein verzweifeltes Gesicht. „Werbung?“
„Du weißt schon: Flyer verteilen und so was. So wie die Flyer, die wir zur Neueröffnung gedruckt haben.“
„Ich weiß schon, was Werbung bedeutet“, lachte Laura. „Doch bin ich diesbezüglich die totale Niete. Ich war schon froh, dass du die Flyer zur Neueröffnung übernommen hattest.“
„Dafür hast du mich ja auch.“ Annie deutete auf sich selbst und grinste zuversichtlich. „Ich kann mich darum kümmern. Außerdem kann ich dir, wenn du möchtest, einen Instagram Account für die Bar einrichten. Wir könnten die Stimmung festhalten, auf Events hinweisen und das, ohne dafür Geld auszugeben. Bis auf die Flyer, die ich noch allgemein für die Bar anfertigen werde. Aber da habe ich schon so meine Ideen.“
Laura überlegte einen Moment und nickte schließlich. „Ein bisschen Instagram sollte ich hinbekommen.“
„Auch dabei kann ich dir gerne helfen.“
„Du bist unglaublich, weißt du das?“ Dankbar lächelte sie ihre Freundin an. „Soll ich dir noch einen Kaffee machen?“
Annie schüttelte den Kopf. „Nein, danke dir, ich hatte schon genug davon. Im Café bekomme ich so viel Gratiskaffee, dass ich bald problemlos vierundzwanzig Stunden am Tag wach sein kann. Eher eine ganze Woche lang.“
„Okay, gut. Dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen. Alles Weitere können wir ja gleich beim Streichen des Tresens besprechen“, schlug sie dann vor und erhob sich müde. Der wenige Schlaf, den sie vergangene Nacht bekommen hatte, machte sich schon jetzt, am frühen Vormittag bemerkbar und sie überlegte, ob sie es ihrer Freundin nachmachen und ebenfalls literweise Kaffee in sich hineinschütten sollte.
„Klingt gut. Ich habe da noch ein paar Ideen“, ereiferte sich Annie und brachte ihre Freundin damit zum Lachen.
„Du bist ja heute Morgen kaum zu bremsen.“
„Na ja, es macht mir einfach Spaß.“
„Dann hoffe ich, dass wir noch eine ganze Weile Spaß mit diesem Laden haben werden. Ich will einfach nicht, dass am Ende dieses verdammte Restaurant über mich und meine Zukunft entscheidet.“
Annie folgte Laura, die in die Ecke marschierte, in der sie alle Arbeitsutensilien verstaut hatten. Letztere griff nach der hellbraunen Holzfarbe, die einen schönen Kontrast zu den weißen Holzwänden bot und reichte ihrer Freundin einen Eimer.
„Du wirst sehen, wir reißen das Ruder schon rum. Der Nobelschuppen wird keine Chance haben. Wir verteilen die Werbung auch in den größeren umliegenden Städten. Am besten in den Supermärkten und Restaurants, in Cafés und überall da, wo viele Leute sind. So, wie ich es schon mit den meisten Flyern für die Eröffnung gemacht habe.“
„Deine Zuversicht hätte ich gerne“, scherzte Laura, während sie nach Pinseln suchte und schließlich fündig wurde.
„Meinst du, wir schaffen alles rechtzeitig bis zur großen Party am Samstag?“
Annie nickte überzeugt und schaute sich kurz im Raum um. „Ich bin mir sehr sicher. Immerhin haben wir doch das Schlimmste längst hinter uns. Wir müssen nur noch den Tresen bearbeiten und selbst wenn wir es nicht mehr schaffen sollten, die Tische mit Pflegeöl zu behandeln, wäre das auch nicht weiter tragisch. Das können wir dann immer noch machen. Wichtig ist, dass die Wanddeko noch angebracht wird und wir uns was Schönes für die Tischdekoration einfallen lassen. Alles ein bisschen nett schmücken und dann sollte das schon funktionieren. Ich habe noch eine ganze Menge an Dekoration zu Hause. Ich bringe nächstes Mal einfach ein bisschen was mit. Wenn du möchtest, dann frage ich Clay, ob er uns noch helfen kann.“
„Falls wir in Zeitverzug kommen, wäre das wunderbar“, atmete Laura erleichtert auf. „So, also hier, dann ran an die Arbeit!“ Sie hielt Annie einen Pinsel und einen Farbeimer unter die Nase.
Innerlich war sie ganz aufgekratzt. Sie freute sich auf das Endergebnis und auf die Neueröffnung in drei Tagen und versuchte, alle dunklen Gedanken an Bryce erfolgreich zu verdrängen.
Kapitel 6
Der Dorftratsch in Shanty Coast war ja bekanntlich schneller als die Polizei erlaubt. Doch selbst wenn die Bewohner längst wussten, dass es ein neues Restaurant neben Lauras Bar geben sollte, so ließen sie es sich nicht anmerken. Ob im Supermarkt, im Café oder auf offener Straße – alle begrüßten Laura herzlich und niemand stellte irgendwelche Fragen. War die Information vielleicht doch gar nicht so ernst zu nehmen, wie sie eigentlich dachte? Aber O‘Doyle hätte ihr sicherlich nicht solche Angst gemacht, wenn der neue Besitzer sich nicht schon fast sicher gewesen wäre. Außerdem hatte dort Licht gebrannt. Irgendetwas musste doch im Hintergrund passieren. Um endgültig auf Nummer sicher zu gehen, hatte Laura sich auf den Weg zu Harry, dem Besitzer des Fishermans Fries gemacht.
Es war etwa Mittagszeit, das bedeutete, dass er auf jeden Fall geöffnet haben musste. Schon vom Weiten erkannte sie, wie er mit seinem massigen Bauch vor seiner kleinen Bretterbude stand, die Hände, ganz typisch für ihn, in die Hüften gestemmt, und sich umblickte. Lediglich eine Person saß draußen an der Picknickbank und knabberte an einem Fischbrötchen herum. Es war Dale, ein Arbeitskollege ihres Cousins John. Er grüßte schon von Weitem höflich. Laura erwiderte den Gruß und marschierte auf Harry zu, der sie ebenfalls erblickte. Er lächelte freundlich. „Laura! Was verschlägt dich hierher? Doch nicht etwa mein herausragender Fisch?“
Laura schaute auf die kleine Kreidetafel neben dem Eingang. „Wenn du mich so fragst, dann hätte ich gerne ein Krabbenbrötchen. Aber ich wollte dich auch noch was fragen.“
„Nur zu.“ Harry machte sich auf den Weg in den Holzschuppen und war kurz darauf wieder durch das offene Fenster zu sehen, hinter dem er seine Küche hatte und gleichzeitig das Essen ausgab. Laura folgte ihm und stellte sich an den kleinen Tresen unter dem Fenster. Die Sonne schien an diesem Tag unnachgiebig und sie rettete sich in eine kleine schattige Ecke.
„Was trinken?“, fragte Harry dann und hob eine Dose Cola in die Höhe. Laura nickte. Er öffnete sie und reichte sie ihr durch die Öffnung.
„So, und nun erzähl mal.“
Nachdem sie ein paar Schlucke eiskalte Cola getrunken hatte, fühlte sie sich augenblicklich etwas erfrischter. „Hast du schon mitbekommen, dass hier angeblich ein nobles Restaurant eröffnen soll?“
Harry, der nebenbei in der Küche werkelte, hielt kurz inne und strich sich müde übers Gesicht. In diesem Moment wirkte er noch älter als sechzig Jahre, die er schon auf dem Buckel hatte.
„Die Leute erzählen sich so einiges und erst habe ich es für ein Gerücht gehalten. Aber inzwischen soll in dem Gebäude neben dir immer wieder was los sein, hab ich jedenfalls so gehört.“
„Das kann ich bezeugen“, seufzte sie und nippte weiter an ihrer Cola. „Ich habe dort auch schon Licht brennen sehen. Und vor allem habe ich mit O‘Doyle gesprochen.“
„Verdammter Schwachkopf“, grummelte Harry.
Laura musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Der Bürgermeister und er kannten sich schon aus Schulzeiten, so hatte sie es einmal von Mrs McNeill gehört, aber die beiden hatten sich noch nie sonderlich gemocht.
„Jedenfalls hat er es mir bestätigt“, sprach sie weiter und hielt wenig später ein lecker aussehendes Krabbenbrötchen in der Hand. „Lieben Dank, es sieht köstlich aus.“
„Lass es dir schmecken, Liebes. Also, was hat der Schwach… ich meine O‘Doyle erzählt?“, wollte der alte Fischer neugierig wissen und lehnte sich mit beiden Armen auf die Fensterbank.
Laura erzählte von ihrem Treffen mit dem Bürgermeister und schilderte ihm das Gespräch detailliert.
Harrys Augen wurden riesig. „Das ist ja ganz schön viel Druck auf deinen Schultern. Verdammte Axt, wie kann der Idiot das nur zulassen, dass sie es überhaupt in Erwägung ziehen, sich hier mitten auf der Promenade anzusiedeln? Dann können wir beide dicht machen!“
„Nicht, wenn sie in ihrem schicken Laden keinen Mittagstisch anbieten“, wandte Laura mit einem trägen Lächeln ein.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Natürlich werden sie sich mittags was einfallen lassen. Die wären schön blöd, wenn sie das nicht täten. Ach je …“, stöhnte er und rieb sich erneut übers Gesicht, „… wenn es wirklich so weit kommt, dann stehen uns harte Zeiten bevor.“
Plötzlich machte Harry einen schrecklich müden Eindruck auf Laura. Sein wettergegerbtes Gesicht war fahl und er sah unendlich traurig aus. Solange sie ihn kannte, hatte er diese Bretterbude und verkaufte seinen Fisch, den er in den frühen Morgenstunden auf seinem Kutter fing.
„Ich werde alles versuchen, um sie wenigstens am Rande des Dorfes eröffnen zu lassen. Das könnte dann in gewisser Weise sogar ein Zugewinn für uns sein. Dann sind die Touristen schon mal hier und wollen sich womöglich noch das Dorf und die Promenade ansehen. Die Chance, dass sie dann noch für ein Getränk einkehren und auf deine frischen Fischangebote aufmerksam werden, ist dadurch größer“, versuchte sie ihn aufzumuntern und schaffte es sogar, ein schwaches Lächeln von ihm zu erhaschen.
„Mag sein“, gab er zu und klopfte kurz auf die Fensterbank, ehe er sich aufraffte. „Egal was kommt, ich habe ja noch meinen Kutter. Die wenigen Speisen, die ich bisher verkaufe und die dann wegfallen, machen den Kohl am Ende auch nicht mehr fett. Aber ich glaube nicht, dass ich meinen Laden dann noch halten kann.“ Er schaute sich seufzend in seinem kleinen Schuppen um.
Laura tat das alles sehr leid. Sie bekam kaum einen Bissen von ihrem Brötchen herunter.
„Na, was soll‘s. Ich bin ohnehin nicht mehr der Jüngste. Auf diese paar wenigen Jahre, die ich den Laden noch habe, kommt es schlussendlich auch nicht mehr an. Schlimmer würde das Ganze nur für dich werden, wenn sie direkt neben dir eröffnen.“
„Ich weiß noch, wie es war, als das Fischrestaurant damals neben mir eröffnet hatte“, erinnerte sie sich und umrundete mit ihrem Finger den Rand der Coladose. „Die Verluste in den ersten Tagen waren immens. Das Gute war, dass sie einfach ein schlechtes Restaurant hatten und somit die meisten wieder zu mir kamen.“ Sie dachte daran, wie groß ihre Angst zu jener Zeit gewesen war und wie berechtigt diese vor allem in der Anfangszeit gewesen war. „Aber so ein Sterneding, wird sich wohl kaum Fehler erlauben. Und wenn die noch ein gutes Getränkeangebot haben, dann … na ja, du kennst ja das Szenario.“
„Lass den Kopf nicht hängen, Liebes“, lächelte Harry ihr aufmunternd zu und entdeckte drei junge Männer, die auf seine Bude zukamen. Es waren Leute aus Clays Dachdeckerfirma.
„Ich gebe mir Mühe“, sagte sie dann und erwiderte sein Lächeln. „Ich werde mein Bestes geben, dass es erst gar nicht so weit kommen wird.“
„Da bin ich mir sicher. Lass dir noch deine Krabben schmecken. Die sind fangfrisch.“
„Und extrem lecker, danke dir.“
„Geht aufs Haus“, sagte er aufmunternd. „Wir beide müssen doch zusammenhalten.“ Dann flitzte er aus der Küche, um seine Kundschaft zu bedienen.
Kapitel 7
„Prost, ihr Lieben“, trällerte Laura und hielt eine kühle Flasche Bier in die Höhe. Annie und Clay taten es ihr gleich und gemeinsam stießen sie an.
„Prost! Auf dich und die Party heute Abend“, strahlte Annie ihre Freundin an.
„Wir sollten lieber auf euch anstoßen. Ohne eure Hilfe wäre es nun doch noch ganz schön knapp geworden.“
„Ist doch kein Problem, haben wir gerne gemacht“, sagte Clay und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche.
Laura beobachtete ihn einen Moment traurig, da sie wusste, dass er eigentlich lieber zu Hause bei seinem Hund hätte sein wollen. Annie hatte ihr noch am Morgen berichtet, dass Balou, Clays traumhaft schöner schwarzer Schäferhund, sich einen üblen Magen-Darm-Infekt zugezogen hatte, der ihn stark ermüdete. Das arme Tier, das sonst so fröhlich umherwirbelte, lag in diesem Moment einsam in seinem Korb und schlief. Sie wusste, wie sehr Clay an seinem Hund hing und war ihm daher umso dankbarer, dass er sich Zeit für sie genommen hatte, um ihr vor der großen Eröffnungsfeier zur Hand zu gehen.
„Wie geht es Balou denn jetzt? Ein bisschen besser?“, fragte sie daher.
Clay wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schüttelte den Kopf. „Nicht so gut. Er behält leider kein Futter bei sich und schläft fast nur. Die Ärztin meinte, das sei normal und dass er sich gesund schliefe, aber ihn so zu sehen, ist schon ganz schön hart. Deshalb muss ich auch leider für heute Abend absagen. Ich wäre gerne zur großen Feier da gewesen.“ Er machte ein entschuldigendes Gesicht und fuhr sich angespannt durch sein dunkles Haar.
Laura nickte verständnisvoll. „Das ist überhaupt kein Problem. Ich verstehe das. Balou braucht dich jetzt.“
„Danke. Also dann werde ich mich mal auf den Weg machen.“ Er deutete auf das leere Bier in seiner Hand und stellte es auf den Tresen. „Vielen Dank dafür.“
„Ich danke dir für deine Hilfe“, entgegnete sie lächelnd und beobachtete, wie Clay sich zu Annie wandte und ihr einen innigen Kuss auf den Mund gab. Hastig riss sie ihren Blick von dem verliebten Pärchen los, da die Erinnerung an den Kuss mit Bryce in ihr aufstieg und an ihn wollte sie heute auf keinen Fall denken. Sicherlich hatte er seinen Urlaub längst beendet und war wieder nach Derby gefahren. Sie hatte ihn in den vergangenen drei Tagen jedenfalls nicht mehr gesehen. Zugegeben, sobald sie im Dorf unterwegs gewesen war, hatte sie immer wieder verstohlen Ausschau nach ihm gehalten und auch insgeheim gehofft, dass er sich noch einmal von ihr verabschieden und ihr seinen plötzlichen Abgang erklären würde, aber inzwischen war sie sich sicher, dass er einfach nicht mehr da war. Shanty Coast war ein kleines Küstendörfchen und früher oder später rannte man sich hier über den Weg.
Sie räusperte sich und marschierte zum Tresen, um ihre widersprüchlichen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Sicherlich war sie nur so emotional, da heute Abend die Neueröffnung anstand.
„Warte mal eben, Clay …“, hörte sie dann Annie sagen. Dann kam sie zu ihr an den Tresen. „Soll ich dir noch ein wenig helfen, bevor ich dann heute Abend wiederkomme, um dich zu unterstützen?“ Dann deutete sie mit dem Daumen hinter sich. „Sonst würde ich eben bei Clay mitfahren und mich für später etwas frisch machen.“
Laura nickte. „Natürlich. Wir sind ja mit den meisten Vorbereitungen fertig. Die Tische sind, dank deiner Deko, schick hergerichtet und auch an den Wänden ist wieder Leben eingekehrt. Was jetzt fehlt, fehlt eben.“
Annie griff über die Theke hinweg nach der Hand ihrer Freundin. „Wir haben alles gemacht, was wir konnten. Wir haben die Flyer verteilt, allen Leuten rechtzeitig Bescheid gegeben, dass heute Abend eine tolle Party stattfindet und die Bar im neuen Glanz erstrahlen wird. Du kannst dir sicher sein, die Leute werden es lieben. Und vor allem ist für dich, bis auf das Ambiente, doch nichts neu. Du kennst die Menschen, du bist super in deinem Job … was soll also schiefgehen?“
Laura überlegte einen Moment und zuckte fahrig mit den Schultern. „Du hast recht. Eigentlich kann nichts passieren. Außer dass die Zapfanlage den Geist aufgibt und ich nicht genug Flaschenbier als Ersatz dahabe, ein Rohrbruch die Gäste hinausschwemmt …“
Annie rollte demonstrativ mit den Augen und stöhnte. „Das wird schon nicht passieren, du alte Schwarzmalerin.“
Schließlich lachte Laura und winkte ab. „Schon gut, das war ja auch nur ein Scherz. Ich denke, ich bin nur so aufgeregt, weil ich das hier als letzte Chance sehe.“
„Und deshalb schmieden wir genügend Pläne, um den Bürgermeister zu überzeugen. So, und nun springe ich eben unter die Dusche und komme dann in zwei Stunden wieder, in Ordnung?“
„Klingt super“, strahlte Laura dankbar und so verabschiedeten sie sich voneinander, ehe sie sich ebenfalls in ihre Wohnung aufmachte, um sich bei einer eiskalten Dusche die wirren Szenarien aus dem Kopf zu waschen. Es würde alles gut werden. Und auch den Bürgermeister würden sie noch überzeugt bekommen.
Annie hatte recht. Sie war eine Schwarzmalerin. Dabei war sie früher nie so gewesen. Erst in den vergangenen beiden Jahren, als sie gemerkt hatte, wie schwierig es war, das Tagesgeschäft am Laufen zu halten, hatte sie angefangen, sich schnell Sorgen um ihre Zukunft zu machen. Aber damit würde nun Schluss sein! Weder irgendein gutaussehender Bryce, der ihr merkwürdigerweise ganz schön den Kopf verdreht hatte, noch ein Nobelrestaurant, was noch nicht einmal geöffnet hatte, würde ihr heute ihren Neustart vermiesen.
„Was soll das heißen, du kannst nicht kommen?“ Lauras Stimme war so schrill, dass sich sicherlich die Mäuse auf dem Dachboden über ihr die Ohren zuhalten mussten.
„Es tut mir so unglaublich leid, Laura. Aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“ Annie seufzte tieftraurig und Laura atmete ein paarmal ein und wieder aus. „Ist schon gut. Ich wollte nicht so … hysterisch werden.“
Nervös wanderte sie durch ihre Wohnung und knabberte sich die Nägel ins Unkenntliche.
„Dümmer kann der Zufall kaum sein“, erklärte ihre Freundin am anderen Ende der Leitung. „Aber Clay muss nun einmal zu diesem Notfall auf die Baustelle. Irgendein Deckenbalken hat sich gelöst und nun droht das Dach einzustürzen. Na ja, und Balou geht es gerade wirklich schlecht. Ich muss dringend mit ihm zum Tierarzt. Ich kann dir nur anbieten, dass ich sofort zu dir komme, sobald Clay wieder zu Hause ist. Nur weiß ich nicht, wann das sein wird.“
Erneut atmete Laura tief durch und besann sich, dass eigentlich alles in Ordnung war. Die Bar war schön öfter voll gewesen und bisher hatte sie immer alles allein geschafft. Das würde sie auch heute Abend hinbekommen.
„Schon gut. Es tut mir leid und natürlich sollst du mit dem armen Balou zum Tierarzt fahren. Schau einfach, wie es nachher bei dir passt und wenn nicht, dann kriege ich das schon irgendwie geschaukelt. Notfalls verdonnere ich John, mir hinter dem Tresen zu helfen.“ Sie versuchte so verständnisvoll wie möglich zu klingen.
„Ach Laura, du ahnst nicht, wie leid mir das tut. Ehrlich.“ Annie klang so traurig und verzweifelt, dass Laura am liebsten zu ihr gefahren wäre, um sie in den Arm zu nehmen. Immerhin hätte sie ohne ihre Hilfe niemals alles in dieser kurzen Zeit geschafft. „Es ist wirklich nicht schlimm. Kümmere dich gut um Balou und vielleicht sehen wir uns später.“
„Tausend Dank, Laura. Ich verspreche, ich mache das wieder gut.“
„Brauchst du nicht. Das hast du längst. Also, bis dann“, verabschiedete sie sich und warf einen Blick auf die Uhr ihres Smartphones. So langsam musste sie sich auf den Weg nach unten machen, denn in einer halben Stunde öffnete sie die Tür. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel neben ihrer Eingangstür. Sie hatte ihr Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken zusammengebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Ihr Make-up war zwar dezent, aber dennoch sichtbar. Jedenfalls hatte sie sich bei ihren langen Wimpern besonders viel Mühe gegeben. Zudem gefiel ihr das Outfit, das sie sich ausgesucht hatte: eine engsitzende schwarze Bluse und dazu eine hellblaue lockere Stoffhose. Heute Abend würde sie auf ihre schwarze Schürze, die sie eigentlich immer trug, verzichten.
Sie lächelte ihrem Spiegelbild zuversichtlich entgegen, ehe sie sich auf den Weg nach unten machte. Ja, es würde alles gut werden. Kein Grund zur Panik!
Kapitel 8
Laute Musik, etwas lauter als sonst, und glückliche Gesichter. Das war alles, was Laura innerhalb der ersten Stunde, nachdem sie geöffnet hatte, wahrgenommen hatte. Natürlich handelte es sich bei den Gästen um ihre Stammgäste, aber sie war überglücklich, all die Leute wieder in ihrem Laden zu sehen. John, ihr Cousin und angesehener Elektriker aus dem Dorf, hatte sich wie immer an seinen Stammplatz an der Theke gesetzt und steckte seine Mitmenschen mit seinem schallenden Lachen an. Laura hastete von einer Seite der Bar zur anderen, zapfte Bier in Massen und schenkte Shots und Wein aus.
„Es ist unglaublich, was du aus diesem Laden gemacht hast!“, rief Ava, die Besitzerin des Cafés Shanty Dream, über den Tresen, ehe sie ein Tablett mit zahlreichen Getränken entgegennahm, das sie an ihren Tisch balancierte, an dem ihre beiden besten Freundinnen Isla und Grace saßen.
Von allen Seiten erhielt Laura Lob und Anerkennung und vor allem Nachsicht, wenn es mit den Getränken doch mal etwas länger dauerte.
„Du kannst wirklich stolz auf dich sein“, hörte sie John etwas später sagen, als sie sich gerade den Schweiß von der Stirn rieb und eine Sekunde durchatmete.
„Vielen Dank. Ich bin so froh, dass ihr alle gekommen seid.“
„Aber selbstverständlich. Denkst du, dass ich mir dieses Event von meiner Lieblingscousine entgehen lasse? Außerdem habe ich meine Jungs auf ein paar Freigetränke eingeladen.“ Stolz deutete er mit einem Kopfnicken auf den Tisch neben den Café-Frauen, die immer wieder zu ihnen hinüberschauten. John arbeitete in der Elektrikerfirma seines Vaters und in ein paar Jahren schon würde er den Laden übernehmen. Immerhin war er schon mehr Chef als sein Vater, da dieser inzwischen zu alt war, um noch jeden Tag auf der Matte zu stehen.
„Das ist lieb von dir, das weiß ich zu schätzen“, entgegnete Laura und deutete auf den Tisch mit den drei Frauen. „Aber Vorsicht! Deine Jungs scheinen Gefallen an dem Frauentisch gefunden zu haben.“
John wurde so rot wie die Farbe seines wuscheligen Haares. „Ava und ich haben mit den Versteckspielchen aufgehört. Inzwischen wissen die Jungs, dass sie zu mir gehört.“
„Na Gott sei Dank. Ihr wart ziemlich schlecht im Vertuschen“, lachte Laura schallend.
Plötzlich wurde sie von der Seite angesprochen. „He, Kleines.“ Es war Willy. Er machte dem Wort Stammgast alle Ehre. Solange Laura diesen Pub führte, gehörte er mit seinen knapp sechzig Jahren allmählich quasi zum Inventar. Dass man ihm und seiner Ausdruckweise allerdings öfter mal Einhalt gebieten musste, wusste Laura nur zu gut. Sie wollte gerade den Mund öffnen, um ihm irgendetwas entgegen zu pfeffern, da bemerkte sie plötzlich einen Mann neben sich hinter dem Tresen. Erschrocken wirbelte sie herum.
„Die Dame macht eben einmal eine kurze Pause. Wenn ich an ihrer Stelle einspringen darf? Aber bitte, ich höre nicht gerne auf den Namen Kleines. Da müsstest du dir schon einen neuen einfallen lassen.“
Lauras Herz setzte einen Schlag lang aus. Es war Bryce, der plötzlich neben ihr hinter der Theke stand, die Ärmel seines schwarzen Hemdes hochgekrempelt hatte und den älteren Mann herausfordernd ansah.
„Na gut, dann …“ Willy räusperte sich und kratzte sich an seinem ergrauten Kinnbart, „… ein Bier bitte.“
„Ein Bier, kommt sofort.“
Wie selbstverständlich schnappte sich Bryce ein leeres Glas und zapfte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Mit offenem Mund beobachtete Laura das Schauspiel und auch John machte große Augen.
„Kennst du den?“ Er sah seine Cousine fragend an.
Diese nickte nur langsam. „Ja, ich kenne ihn. Und scheinbar kennt er sich hier auch bestens aus.“
Bryce schaute kurz zu ihr, zwinkerte ihr zu und nahm eine weitere Bestellung entgegen.
„Verrätst du mir, was du hier machst?“ Sie stellte sich neben ihn, stützte sich seitlich am Tresen ab und beobachtete sein Tun mit hochgezogener Braue.
Bryce schaute kurz auf, fuhr dann aber mit seiner Bestellung fort und zapfte ein weiteres Bier. „Ich dachte, ich greife dir ein wenig unter die Arme.“
„Aber ich …“, stammelte sie und schaute sich flüchtig um. Der Tresen war inzwischen gerappelt voll und auch die Leute dahinter tummelten sich auf der Tanzfläche, wippten mit einem Getränk in der Hand zur rockigen Hintergrundmusik im Takt und auch die Tische gegenüber der Bar waren bis auf den letzten Platz besetzt. Sicherlich standen auch einige Menschen noch draußen vor der Tür. Eigentlich wollte Laura ihn sofort wieder wegschicken, doch als sie sah, wie viel Arbeit sie vor sich hatte, ruderte sie zurück. Natürlich, sie war immer noch wütend auf diesen Mann, der sie einfach geküsst hatte und dann wortlos verschwunden war und doch war er nun einmal hier. Er bewegte sich hinter der Bar an ihr vorbei, als wäre das nichts Neues für ihn und allmählich bekam sie den Eindruck, dass sich ihr Verdacht bestätigte.
„Erde an Laura, bekomme ich noch eines?“, riss sie plötzlich eine weibliche Stimme aus ihren Gedanken. Es war Ramona, die Friseurin aus dem Dorf, die ihr leeres Glas in die Höhe hielt und freundlich lächelte. Laura setzte sofort ein freundliches Gesicht auf und machte sich an die Arbeit. „Ja, natürlich!“
Nur wenige Minuten später waren Laura und Bryce ein eingespieltes Team. Immer wieder schaute er zu ihr herüber, schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln und auch der Umgang, den er mit den Gästen pflegte, verursachte bei ihr ein freudiges Gefühl in der Magengegend.
„Du machst das nicht zum ersten Mal, habe ich recht?“, fragte sie wenig später, während sie ein Tablett mit kleinen Shots befüllte, schaute Bryce jedoch nicht an. Sie erahnte allerdings das Lächeln in seinem Gesicht, als er an ihr vorbeigriff, um ein leeres Bierglas zu nehmen.
„Da hast du mich wohl ertappt.“
„Wieso bist du wieder hier?“, wollte sie dann wissen und war gespannt, was der Grund für sein plötzliches Erscheinen war.
„Nun, ich wollte gemütlich ein Bier trinken.“ Wieder griff er an ihr vorbei, wobei seine Hand ihren Arm streifte. Ihr Körper spannte sich an und ein Kribbeln durchfuhr sie. Kurz hielt sie die Luft an und stieß diese leise wieder aus.
„Gemütlich ein Bier zu trinken sieht für mich aber anders aus. Zumal du dich dafür auf der falschen Seite der Theke befindest.“
„Mir ist eigentlich egal, ob ich es vor oder hinter der Theke trinke. Außerdem habe ich hier so nette Gesellschaft.“ Er schnappte sich ein volles Bierglas, trank einen Schluck daraus und warf ihr einen provokanten Blick zu.
Laura ging es durch und durch und sie verfluchte sich dafür, dass dieser Mann in ihr Empfindungen aufsteigen ließ, die sie ewig nicht gefühlt hatte – zumal er es nach seinem Abgang eigentlich auch nicht verdient hatte.
Sie riss ihren Blick von ihm und bediente eine Gruppe, die sich vor dem Tresen versammelt hatte. Sie kannte die fünf jungen Männer nicht und wertete das als ein gutes Zeichen. Scheinbar hatte ihre Werbung ja doch etwas gebracht, denn es fanden tatsächlich ein paar Touristen hierher.
Laura hatte kein Zeitgefühl mehr und schaffte es kaum, einen Blick auf ihr Smartphone zu werfen, um nachzusehen, wie spät es inzwischen war. Aber es war ihr auch egal. Wenn sie so in die lachenden und zufriedenen Gesichter ihrer Gäste schaute, unter ihnen auch Harry, der sehr gelöst und locker wirkte und ihr zwischendurch anerkennend zuprostete, dann war das die Bestätigung, die sie heute Abend so dringend gebraucht hatte. Sie hatte alles im Griff. Zugegeben, auch wenn sie dafür die Hilfe von Bryce, der noch immer damit beschäftigt war, die Gäste mit Getränken zu versorgen, annehmen musste. Doch in den Momenten, in denen sie ihn verstohlen beobachtete, erkannte sie, wie gut er auf die Leute reagierte. Und auch andersherum. Gerade die weibliche Gesellschaft schien ein interessiertes Auge auf den hübschen neuen Kellner zu werfen. Jedenfalls erkannte sie das an Tracys Blick, die ebenfalls zur Eröffnung gekommen war und ihn verstohlen musterte, als er ihr ein Glas Wein reichte. Bryce wusste genau, wie er mit den Gästen umgehen musste und Laura merkte, wie sie sich entspannte. Alles war bestens.
„Du hast aber schnell Ersatz für mich gefunden“, riss sie da plötzlich eine ihr bekannte Stimme zurück ins Hier und Jetzt. Erfreut blickte Laura in Annies große Augen.
„Hey, da bist du ja!“
„Ja“, seufzte ihre Freundin und wirkte müde und abgehetzt. „Clay ist gerade nach Hause gekommen und hat mich abgelöst.“
„Wie geht es Balou? Hoffentlich etwas besser?“
Annies Blick wurde sanfter. „Es geht ihm besser. Er hat Medizin bekommen und schläft sich jetzt hoffentlich gesund.“
Laura schnappte sich ein halb gezapftes Bier, füllte es auf und stellte es der erschöpften Freundin vor die Nase. „Hier, das hast du jetzt bitter nötig.“
„Lieben Dank.“ Annie trank ein paar tiefe Schlucke und atmete erschöpft aus. „Also, wo kann ich dir helfen? Und verrätst du mir bitte mal, wo du diesen hübschen Ersatzkellner gefunden hast?“ Mit einem anzüglichen Grinsen deutete sie auf Bryce, der gerade dabei war, ein paar Tische von leeren Gläsern zu befreien. Laura folgte ihrem Blick und musste ebenfalls schmunzeln.
„Vielmehr hat er mich gefunden. Darf ich vorstellen? Bryce, der Mann, der mich vor ein paar Tagen geküsst und anschließend die Flucht ergriffen hat.“
Annie fielen fast die Augen aus den Höhlen. „Das gibt‘s doch nicht! Das ist dieser Bryce, von dem du mir erzählt hast? Ich habe dir ja geglaubt, dass er gut aussieht, aber dass er so ein hübscher Typ ist … Huch, darf ich das überhaupt sagen, wenn ich einen Freund habe?“
„Hat ja niemand außer mir gehört“, kicherte Laura. „Tja, und dazu kann er noch super kellnern.“
„Bin ich denn dann jetzt abgeschrieben?“, wollte Annie mit gespielt traurigem Blick wissen, konnte ihre Augen aber nicht von Bryce nehmen, der gerade wieder hinter die Theke kam und den beiden Frauen ein umwerfendes Lächeln schenkte.
„Du weißt, wie gerne ich mit dir zusammenarbeite, aber ich glaube, du kannst eine Pause dringender gebrauchen als ich. Du hast mir so viel geholfen, jetzt genieß einfach deinen Feierabend, in Ordnung?“
„Bist du dir sicher?“
Laura nickte bekräftigend und sah sich kurz um. „Ich denke, das Schlimmste haben wir geschafft.“
„Na gut, aber ich werde hier sitzen bleiben und einsatzbereit sein“, knickte Annie bereitwillig ein und ließ sich etwas entspannter auf den freien Hocker neben ihr sinken. „Nimmst du dann wenigstens das Essen an, das ich dir mitgebracht habe?“ Sie hob einen kleinen Korb neben sich hoch und reichte ihn Laura über den Tresen. Neugierig spähte diese auf zwei befüllte Schalen.
„Das sind nur ein paar Essensreste von heute. Ich hatte etwas zu viel gemacht. Einen Kartoffelauflauf und Salat dazu. Ich nehme mal an, dass du heute noch nicht wirklich viel gegessen hast.“ Mit scharfem Blick musterte Annie ihre Freundin, die nur schuldbewusst mit den Schultern zuckte. „Erwischt. Ich habe heute wirklich noch nicht viel runterbekommen. Daher bin ich dir total dankbar hierfür.“ Laura deutete auf den Korb und stellte ihn hinter den Tresen. „Du bist die Beste! Vielen Dank.“
„Kein Problem. Hauptsache, du isst nach Feierabend auch was.“
Nur wenige Sekunden später hatte sich John zu den beiden Frauen durchgekämpft und legte Annie einen Arm um die Schultern. „Du auch hier. Ich habe dich schon vermisst.“
„Ich wäre gerne schon früher da gewesen.“
Sie erzählte ihm von dem Drama, das sich zu Hause mit Balou abgespielt hatte. Laura machte sich währenddessen wieder an die Arbeit.
Etwa eine Stunde später lichtete sich das Feld und sie trat neben Bryce, der gewissenhaft schmutzige Gläser spülte. „Ich denke, ich kann dich jetzt in deinen wohlverdienten Feierabend entlassen.“
„Kommt nicht infrage“, ereiferte er sich und strich sich durch seine verwuschelten dunklen Haare. Er wirkte müde, behielt aber sein Lächeln stets bei. „Ich lasse dich jetzt bestimmt nicht mit dem ganzen Rest allein.“
„Das ist schon okay. Immerhin kenne ich das nicht anders. Ich mache das fast jeden Tag allein.“ Sie lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tresen und beobachtete, mit welch geschickten Handgriffen Bryce sich hinter der Theke bewegte. Und sie musste sich eingestehen, wie sehr ihr das Bild gefiel.
„Hast du etwa keine Angestellten?“
„Ich habe eine Freundin, die mir gelegentlich hilft, aber nichts Festes. Bisher bin ich bestens allein zurechtgekommen. Oder suchst du womöglich noch einen Job?“ Mit hochgezogener Braue schaute sie ihn an.
Doch er wandte seinen Blick schnell wieder ab und ging seiner Arbeit nach. Laura hatte das Gefühl, dass er nicht auf ihre im Scherz gemeinte Frage eingehen wollte und half ihm stattdessen beim Spülen, indem sie die Gläser abtrocknete.
„Ich hoffe, es war okay für dich, dass ich dir einfach so zur Hand gegangen bin.“ Er klang aufrichtig und hielt in der Bewegung inne, als er ihre Antwort abwartete.
„Ich bin dir sogar sehr dankbar dafür. Zugegeben, am Anfang habe ich fast gedacht, dass ich halluziniere. Immerhin dachte ich, dass du längst das Land verlassen hättest.“ Diesen kleinen Seitenhieb konnte sie nicht zurückhalten. Nur zu gern wollte sie wissen, wie er seinen Abgang rechtfertigen würde.
„Autsch …“ Er zuckte ertappt zusammen und machte ein versöhnliches Gesicht. „Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dich ja am nächsten Tag besuchen und es erklären, aber ich musste dringend weg. Ich … hatte einen Anruf bekommen und es war …“
„… dringend, nehme ich an?“
„Klingt ziemlich lahm, diese Entschuldigung, ich weiß. Aber ich hoffe, dass du mir verzeihst. Es hatte nichts mit dir zu tun.“
„Das sagen sie alle“, hielt Laura dagegen, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen und polierte weiter die Gläser. „Also gut, Entschuldigung angenommen.“
Erleichtert atmete Bryce auf. „Da bin ich aber froh. Du gefällst mir nämlich nicht, wenn du so aussiehst, als wärst du sauer auf mich.“
„Dann gib mir am besten keinen Grund.“ Sie zwinkerte ihm kurz zu, ehe sie sich abwandte, um die nächsten Runden abzurechnen.