Leseprobe Liebe niemals einen Earl

Prolog

Das Licht lag schräg und grau auf dem Boden, ein weiterer furchtbarer Morgen. Das war jedoch nichts Neues.

Jeder Tag der letzten zwei Monate war furchtbar gewesen.

Dieser Morgen war aber der letzte, den Phoebe Baker hier verbringen würde, in ihrem kleinen Zimmer in der kleinen, eleganten Schule, die sie die vergangenen fünf Jahre lang ihr Heim genannt hatte.

Sie war schon wach. Sie saß schon auf dem Bett, hatte sich den grauen Wollmantel um die Schultern geschlungen und damit ein wenig von dem glatten Schwarz ihres Nachthemds bedeckt. Welches Nachthemd, das konnte Phoebe nicht erkennen. War es das, das einmal Streifen gehabt hatte? Oder der kleine, blumige Kambrik? Es war egal.

All die hübschen rosa und gelben Farben ihrer Garderobe waren nunmehr scheußlich schwarz wie Tinte. Das Einzige, was sie sich zu färben geweigert hatte, war ihr hellblaues Ballkleid. Ihr Vater hatte es ihr während eines seiner Anfälle von Großzügigkeit gegeben und es sich bei ihrem Debüt nächstes Jahr in London vorgestellt.

Jetzt würde sie nie nach London kommen. Nie mit jungen, schönen Männern tanzen. Nie ein Teil jener Welt sein.

Wer würde sie sein?

Wie würde sie sein?

Und mit wem würde sie ihr Leben teilen, jetzt, da ihr Vater nicht mehr war?

In gewisser Hinsicht hatte Phoebe Glück gehabt. Ihr Vater hatte ihr das volle Jahr an Mrs. Beveridges Schule bezahlt, also hatte sie bisher bleiben können, und das Familienhaus hatte genügt, um die Schulden zu begleichen, also war sie für keine weiteren verlorenen Gelder verantwortlich.

Verloren aufgrund seiner Torheit. Verloren aufgrund seiner Treuherzigkeit.

Verloren, dachte sie, als sie die kurze Nachricht zerknüllte, die sie bei jenem letzten Besuch unter der Habe ihres Vaters gefunden hatte, weil manche Männer nicht den Anstand besaßen, ihre eigene Unordnung aufzuräumen. Sie überließen es anderen, sich darum zu kümmern.

Doch obwohl sie an Mrs. Beveridges Schule hatte bleiben können, hatte sich alles verändert. Man sah sie anders an. Mädchen, die sie zuvor als Freundinnen gesehen hatte, weigerten sich, sich mit ihr abzugeben; die Eltern hatten ihnen gesagt, dass Phoebe nicht mehr »eine von ihnen« sei. Als wäre sie Gift.

Ihr Unterricht hatte ebenso einen neuen Kurs genommen. Wohingegen sie einst eines der Mädchen gewesen war, die ihre Mallehrerin stets als Beispiel guter Arbeit hochgehalten hatte, hatte Miss Earhart sie plötzlich gebeten, wegzutreten und den jüngeren Mädchen mit den Leseaufgaben zu helfen. Dann war Miss Earhart während der Tanzstunde hereingekommen und hatte darum gebeten, dass sie mit ihr das Latein auf den Schreibtafeln korrigierte.

Gebeten war jedoch das falsche Wort. »Gefordert« passte besser. Es gab kein entschuldigendes Lächeln von Miss Earhart, keine Güte in ihr. Sie zog Phoebe einfach heran, wie es ihr passte.

Komisch. Phoebe hatte Miss Earhart immer gemocht. Damals, als sie im einfältigen Alter von zwölf Jahren eingetroffen war, war sie streng aber gut zu ihr gewesen.

Aber jetzt nicht mehr, so schien es.

Es brauchte nicht lange, bis sie begriff, dass die dürre, zugespitzte Miss Earhart vom Rest der Lehrer dazu auserkoren worden war, sich um das »Problem« Phoebe zu kümmern. Sie wegzuhalten, zu verstecken. Die gehässigen Blicke, die sie von den anderen Lehrern bekam, spiegelten die der anderen Schülerinnen wieder, und sogar die namensgebende Mrs. Beveridge schnupfte die Luft, als ob etwas verfault wäre, wann immer Phoebe in der Nähe war.

So hasste sie Miss Earhart umso mehr.

Jedoch nicht annähernd so sehr, wie sie ihn hasste.

Phoebe sah sich die Nachricht in ihren Händen an. Die Worte, die sie in den vergangenen Wochen wieder und wieder gelesen hatte, gehörten zu ihren wenigen verbleibenden Besitztümern. Sie hatte den Großteil ihrer persönlichen Habe an der Schule verkauft – Haarnadeln, Schuhschnallen, Rüschenhauben, ihre Bücher. Alles fort und in den Händen gieriger Mädchen um die paar Münzen, mit denen sie sich verpflegen musste, sobald die Hausdiener kamen und sie auf die Straße hinauswarfen.

Er hatte es so weit gebracht. Der Earl von Ashby. Er hatte zugelassen, dass ihrem Vater dies passiert war, hatte ihn zu spät gewarnt und sich nicht darum gekümmert, jene zu schützen, die nicht so glücklich waren wie er.

Wenn sie jemandem von ihrem Hass gegen einen Mann erzählt hätte, den sie noch nie getroffen hatte, hätte man sie in Kenntnis gesetzt, dass es unerhört war, vernunftwidrig. Allerdings hatte sie niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte.

Außerdem gab es sonst keinen mehr, der die Schuld auf sich nehmen konnte.

Plötzlich überkam sie der Wunsch, dafür zu sorgen, dass er sich so furchtbar fühlte, wie er war. Es überkam sie das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu spucken und ihm bewusst zu machen, dass es noch andere Menschen auf der Welt gab. Dass Taten – oder deren Fehlen – Konsequenzen hatten.

Sie stand plötzlich auf, marschierte hinüber zu dem kleinen Schreibtisch unterm Fenster. Dieser war voll beladen mit Papier und frischer Tinte wie in jedem Zimmer an der Schule. Die Utensilien mochten für das reiche, verwöhnte Mädchen dort hinterlegt worden sein, das das Zimmer als nächstes belegen würde, doch in diesem Augenblick gehörten sie noch Phoebe. Sie zündete eine Kerze an, da das schwache Morgenlicht nicht zu dem genügte, was sie zu tun hatte. Sie setzte sich, legte die Feder ans Papier.

Sir,

ich werde mich in diesem Brief kurz fassen. Ich habe wenig Zeit zu schreiben und nicht viel zu sagen. Nichts außer …

Phoebe unterschrieb gerade unten mit ihrem Namen, als es klopfte. Das Klopfen war kurz, direkt. Es schreckte nicht auf, doch es bot auch kein Mitgefühl, genauso wenig wie die Frau, die sich selbst einließ.

»Miss Baker«, sagte Miss Earhart ruhig, »es ist Zeit zu gehen.«

Phoebe verstreute den Sand auf dem Blatt, faltete es ordentlich und schrieb die Adresse – so gut sie sie erahnen konnte – auf die Vorderseite.

»Phoebe«, wiederholte Miss Earhart. »Hast du mich verstanden?«

»Ja, Miss Earhart«, antwortete Phoebe gehorsam. »Wie Sie sagten, es ist Zeit zu gehen.«

Phoebe nahm die Kerze in die Hand, ließ deren Wachs auf das Papier tropfen und machte so ein Siegel. Letztendlich erhob sie sich von ihrem Schreibtisch und wandte sich der verfluchten Frau zu.

Miss Earhart stand in der Mitte des Zimmers. Ihre Stille stellte ein äußerliches Gefühl der Ruhe dar, vor dem Phoebe toben und schreien wollte, doch es gab nichts mehr, worüber man toben oder schreien konnte.

Hinter der Lehrerin standen zwei Hausdiener. Grob und still, bereit, sie hinauszuwerfen, sollte sie irgendwelchen Widerstand leisten.

»Wohin bringen die mich?«, fragte Phoebe und deutete mit dem Kopf auf die zwei Bediensteten.

»Sie werden dich im Wagen bis zur Brighton Road fahren. Dort an der Kreuzung ist ein Gasthof«, antwortete Miss Earhart platt.

Ach ja, der Gasthof. Da, wo die Eltern übernachteten, wenn sie ihre Töchter besuchten. Phoebe würde sich mit den Münzen in ihrer Tasche keine einzige Nacht dort leisten können, so sehr nahmen die Gastleute ihre Kunden aus.

»Und wohin soll ich danach?«

»Wohin du auch möchtest«, antwortete Miss Earhart.

Und das war die Schwierigkeit. Phoebe konnte nirgendwohin. Die Verwandten ihres Vaters waren tausende Meilen weit weg in Amerika. Sie hatte sie noch nie gesehen. Sie würde ihnen schreiben und von seinem Tod berichten müssen. Und die Familie ihrer Mutter hätte sie vorher angespuckt, bevor sie sie aufgenommen hätte.

Sie musste mitleiderregend ausgesehen haben, denn zum ersten Mal in den zwei vergangenen, bitteren Monaten erwies Miss Earhart ihr etwas Erbarmen.

»Wenn du nicht weißt, wo du hin sollst, habe ich einen Vorschlag.« Miss Earhart langte in die Tasche ihres einfachen, grauen Kleides, das sie von der Schule hatte. »Dies ist die Adresse einer Familie nahe Portsmouth, die dringend eine Gouvernante für ihre drei kleinen Mädchen sucht und mich um eine Empfehlung gebeten hat. Ich habe dich genannt.«

Phoebes Kopf fuhr hoch. »Eine … Gouvernante?«

»Du gehst gut mit den jüngeren Schülerinnen um. Ich habe dir ein gutes Zeugnis geschrieben und Mrs. Beveridge gezwungen, dasselbe zu tun. Man erwartet dich dort. Soll heißen, falls du die Stelle willst.«

»Ich … ich verstehe nicht.« Phoebe schaute auf das Schreiben in Miss Earharts Hand hinab. »Was meinen Sie damit, Sie haben Mrs. Beveridge gezwungen…

Miss Earhart schnaubte nur. »Wenn es nach ihr ginge, hätte man dich vor zwei Monaten hinausgeworfen. Du hattest Glück, dass du so lange hier geblieben bist – ich habe dir in der kurzen Zeit beigebracht, was ich konnte.«

Es war, als drehte sich der Boden unter Phoebe. Dann kam plötzlich alles zusammen. Sie war aus ihrem geliebten Malunterricht abgezogen worden, aus der Tanzklasse, nicht als Strafe, nicht um von ihren früheren Freundinnen ferngehalten zu werden. Stattdessen war es darum gegangen, etwas viel Wertvolleres zu lernen.

Wie man unterrichtete.

Da wusste Phoebe sofort, wie weit sie in der Welt abgefallen war. Sie war keine verwöhnte, geliebte Tochter, der eine glänzende Zukunft bevorstand. Das Schicksal sah sie als Gouvernante.

Ihre Augen fielen auf den Brief in ihrer Hand. Ihre Knöchel wurden weiß, so fest umkrallte sie ihn.

Ihr Leben hatte sich unwiderruflich verändert. Aufgrund der Achtlosigkeit eines einzigen Mannes.

»Ich weiß, dass es nicht einfach ist«, sagte Miss Earhart und tat einen Schritt nach vorn. »Du bist eine der wenigen jungen Damen, die diese Schule mit dem Wissen abschließen, dass das Leben nur selten einfach ist. Oder gerecht.«

Ein hysterisches Schluchzen entkam Phoebes Lippen. Sie unterdrückte es gnadenlos.

»Deine Sicherheit – deine Zukunft liegt jetzt an dir. Niemand sonst wird sich um dich kümmern. Du musst stark sein. Nur so kommt man durch.«

»Durchkommen«, wiederholte Phoebe stumpf. »Heißt das, es gibt einen Weg aus dieser Dunkelheit?«

»Gewissermaßen«, sagte Miss Earhart zögerlich. »Es wird einfacher. Mit der Zeit. Und eines Tages wirst du erkennen, dass dieses neue Du, das du geworden bist, nicht so schlimm ist. Du findest vielleicht sogar etwas Freude daran.«

»Freude?«, fragte sie. »Am Alleinsein? Am Leben als Gouvernante?«

»Ja.« Miss Earhart zeigte die Silhouette eines Lächelns. »Wenn die Freude einem in der Natur liegt – wie bei dir.«

Phoebe konnte nur schnaufen.

»Du warst einmal meine fröhlichste Schülerin. Du hattest Freude am Kleinen und warst glücklich, wo du konntest.« Miss Earhart legte vorsichtig die Hand auf Phoebes Schulter. »Du kannst dich davon unterkriegen lassen, verbittert und gehässig werden. Oder du kannst etwas Gutes in der Welt finden und dich davon trösten lassen. Das Leben wird so oder so schwer, aber ich hoffe, du findest deine Freude wieder.«

Phoebe sah auf die Hand auf ihrer Schulter, auf die Frau vor ihr, die in den letzten paar Minuten etwas von ihrem zugespitzten Missfallen verloren hatte. Nun zeigte sie ihre Sorge glasklar.

Dann wechselten Phoebes Augen zu dem Brief in ihrer Hand. Adressiert an einen Earl. Der Mann, der dafür verantwortlich war, dass sie mit einem anderen Brief zu tun hatte. Mit einer anderen Zukunft.

»Danke, Miss Earhart«, sagte sie und nahm den Brief mit der Adresse nahe Portsmouth, »aber ich kann nicht glauben, dass es noch Gutes in der Welt gibt.«

Sie wandte sich einem der Hausdiener hinter Miss Earhart zu und übergab ihm den Brief an den Earl zusammen mit einem ihrer wenigen Pennys für die Mühe. »Bitte sorgen Sie dafür, dass dies zur Morgenpost kommt.«

Dann hob sie ihren kleinen Reisekoffer an und marschierte an Miss Earhart vorbei.

Sie würde sich zu der Familie in Portsmouth begeben. Ihr blieb nur diese eine Möglichkeit. Phoebe wusste jedoch, dass sie von da an allein sein würde. Wie Miss Earhart gesagt hatte, ihre Sicherheit und Zukunft lagen nun an ihr. Niemand sonst kümmerte sich um sie.

Denn wer scherte sich schon um die Gouvernante?

An Lord Edward Granville,

EARL VON ASHBY
GROSVENOR SQUARE
LONDON
1817

Sir,

ich werde mich in diesem Brief kurz fassen. Ich habe wenig Zeit zu schreiben und nicht viel zu sagen. Nichts außer: »Seien Sie verflucht.« Verflucht darum, was Sie getan haben – direkt oder indirekt haben Sie den größtmöglichen Kummer verursacht, und Sie sollten die Verantwortung dafür tragen.

Mein Vater ist aus dieser Welt geschieden – Gott sei seiner Seele gnädig, obschon er diese Welt unglücklich verließ, und ich fürchte, dass Gott seine Seele nicht ruhen lassen wird.

Ich habe den Brief gelesen, den Sie meinem Vater geschrieben haben. Was ich darin am vielsagendsten fand, war, dass Sie in Ihrer Warnung, sich von Mr. Sharp fernzuhalten, andeuteten, er habe Sie ebenso hinters Licht geführt. Er habe Sie unter dem Anschein missglückter Geldanlagen bestohlen und Ihren Besitztümern Gelder entzogen. Nichts davon stand jedoch in den Zeitungen. Mr. Sharp wurde nie abgeführt und für diese Verbrechen bestraft. Dadurch wären Sie zum Gespött geworden. Stattdessen wurde er auf das Land losgelassen, wo er Ihren Namen und Ruf nutzen konnte, jene von uns auszunutzen, die nicht so gut verbunden sind wie die in der Stadt. Die nicht so schlau sind.

Sie haben Ihren kostbaren Ruf gehütet und mein Vater hat dafür bezahlen müssen.

Ich bezweifle, dass Sie und ich uns jemals treffen werden. Meine Umstände verändern sich nunmehr schnell und ich muss in der Welt meinen eigenen Weg finden. Ich will nichts von Ihnen. Ich wünsche nur, dass Sie den Schrecken Ihrer Achtlosigkeit zu spüren bekommen. Und ich will, dass Sie eine einfache Wahrheit verstehen:

Sollte ich je die Gelegenheit haben, Ihnen Kummer zu machen, seien Sie gewiss, dass es geschehen wird. Ich werde die Chance als von Gott verordnet wahrnehmen und als Recht als meines Vaters Tochter. Doch es wird nicht böswillig sein.

Es wird gerecht sein.

Miss P. Baker

Mädchenschule Mrs. Beveridge

Surrey

1. Es beginnt mit einer Wette

London, 1822

Man sagt, dass man nicht seine Freunde anstellen soll.

Zweifelsohne hat, wer das gesagt hat, eine tiefe Lebensweisheit, einen Funken des Verstands, der gegebene Wahrheiten erkennt – oder vielleicht einfach die Erfahrung, die die Richtigkeit einer solchen Aussage beweist.

Der Earl von Ashby hatte keine dieser Stärken.

»Hartnäckig war ich. Und glücklicherweise wuchs ich genau zur rechten Zeit heran. Ich gehe zur Armee, ganz zum Missfallen meines Großonkels – doch zwei Tage später dankt Napoleon ab und wird nach Elba geschickt!«

Glück hatte der Earl von Ashby aber sehr wohl. In Hülle und Fülle. Er hatte Glück beim Kartenspiel. Er hatte Glück mit dem schwächeren Geschlecht. Er hatte sogar Glück, was seinen Titel betraf.

»Natürlich sah ich es zu der Zeit nicht als Glück, mein Großonkel jedoch sehr wohl, da ich der einzige Ashby-Erbe war, den er im Empire finden konnte. Damals hätte ich auch geglaubt, dass der Alte höchstpersönlich auf den Kontinent marschiert war und den kleinen Kaiser eingesperrt hatte, um meine Pläne zu vereiteln.«

Es war nichts weiter als Glück, dass der Sohn und der Enkel des alten Earl von Ashby in einem tragischen Unfall mit einem übermäßig zutraulichen Dachs umgekommen waren, wodurch der nächste männliche Verwandte, der junge Edward Granville – oder Ned, wie er immer genannt worden war – zum Erben einer der ältesten Earlschaften im Land wurde. Solcherart Glück war es, aufgrund dessen der alte Earl herbeigeeilt war und den kleinen Ned im Alter von zwölf Jahren aus dem winzigen Dörfchen Hollyhock und der vornehmen Armut seiner Mutter geholt und ihn in der Tradition der Aristokratie aufgezogen hatte.

»Aber dann schafft es dieser französische Wicht doch, sich von der Insel wegzustibitzen, und diesmal – welch Glück! – darf ich tatsächlich in den Krieg ziehen! Doch das wahre Glück war es, in dasselbe Regiment zu kommen wie Dr. Gray hier. Und – ach, Turner, steh doch nicht da im Schatten rum, in der Geschichte geht’s auch um dich!«

Es war Glück, und nur Glück, dass Ned Granville zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war, um seinem Freund und befehlshabenden Offizier, Captain John Turner, und siebzehn weiteren Offizieren ihres Regiments auf dem letzten Schlachtfeld zur Rettung zu kommen.

»Da sind wir also im Dunst und Nebel der Schlacht auf einem Feld in Belgien, ausgerechnet dort – und Gott sei Dank, denn ich dachte langsam, dass ich im Krieg nur geradeaus marschieren und Turner und Gray das Geld beim Kartenspielen abnehmen würde – und plötzlich rückt unsere Flanke hinter eine Anhöhe vor und bekommt den Kugelhagel von ein paar Franzmännern hoch oben ab.

Wir sitzen also fest und warten darauf, dass der Läufer mit zusätzlicher Munition kommt, als Turner den armen Läufer totgeschossen einhundert Fuß weiter weg auf dem Feld liegen sieht, und Turner springt auf, bevor der Rest von uns ihn decken kann, und läuft aufs Feld hinaus. Er schnappt sich die Munition und ist auf halbem Weg zurück, als eine Kugel ihm am Bein durchs Fleisch fährt. Da liegt er auf dem Feld und hält unsere Munition, aber ich sehe nur meinen Freund, der verblutet – also bin ich natürlich der Depp, der nach ihm ins Gefecht läuft.«

Seine Taten an dem Tag brachten ihm die Belobigung der Krone für seinen Heldenmut ein. Sie verschafften Ned Granville auch seinen Spitznamen.

»Es war reines Glück, dass mich keine ihrer Kugeln traf, und als ich Turner wieder hinter die Linie gebracht hatte und die Munition zu unserer Flanke, damit wir die Stellung halten konnten, da schlugen wir den Feind dahin zurück, wo er herkam. Am nächsten Morgen hatte Rhys – Dr. Gray hier – Turner gut genug geflickt, dass er gehen konnte, und er kam herüber, klopfte mir auf die Schulter und nannte mich Ned den Glücklichen. Den Namen – und ihn! – bin ich seither nie losgeworden.«

Von da an musste »Ned der Glückliche« – und jeder um ihn herum – einfach hinnehmen, dass das Glück sein Leben bestimmte.

Und da solches Glück sein Leben bestimmte, konnte man durchaus sagen, dass Ned der Glückliche ein Leichtfuß war. Warum sich mit Sorgen bekümmern, wenn man Glück hatte? Warum auf den Rat hören, dass man nicht seine Freunde anstellen sollte? Ach – wie lästig! Es war viel angenehmer, einem Freund eine Stelle anzuvertrauen, als sich ständig Sorgen zu machen, dass die Bediensteten einen hintergingen.

Ja, es konnte Missgunst gebären.

Ja, die Missgunst mochte weiterfaulen.

Aber nicht für Ned. Nein, er war zu gut, zu glücklich dafür.

Also nahm Ned Granville, der Earl von Ashby, seinen besten Freund, John Turner, ehemals Captain in der Königlichen Armee, in die erhabene Position seines Sekretärs auf.

Und er würde es bald bereuen.

Sie waren in einem Klub, dessen Name in Hörweite von Frauen und Töchtern nicht genannt wird, in ihrem privaten Kartenspielraum – nun, dem Privatraum des Earls – und der Earl ging seiner liebsten Beschäftigung nach: Er erzählte die Geschichte von seinem Heldenmut bei Waterloo einem Raum voller fideler Spießgesellen.

Als sich die Nacht jedoch dahinzog, gingen besagte Spießgesellen hin zu ihren eigenen Lastern, und bald blieben nur drei Männer am Kartentisch: Mr. John Turner, still und steif; Dr. Rhys Gray, bedacht und besonnen; und der Earl von Ashby, »Ned der Glückliche«, seinem Namen gerecht.

»Vingt-et-un!«, rief Ned der Glückliche; ein fröhliches Lächeln brach auf seinen Zügen aus, als er ein Ass aufdeckte.

Die anderen beiden Männer am Tisch stöhnten und warfen ihre nutzlosen Karten über den Fries. Andererseits hätten die Männer solche Resultate bereits gewohnt sein sollen, immerhin hatten sie schon jahrelang beim Kartenspiel gegen Ned verloren.

»Genug«, sagte Rhys und schob sich vom Tisch weg. »Ich spiele nicht mehr. Es ist dümmlich, sich mit jemandem zu messen, der so viel Glück hat.«

»Ich kann ja nichts dafür.« Ned zuckte mit den Achseln. »Ich hab nur bessere Karten bekommen.«

»Es wäre eine Sache, wenn du dein Glück teilen würdest«, entgegnete Rhys gutherzig, »aber du warst schon immer der letzte Mann am Tisch, selbst als wir im Lager um ein paar Stückchen getrocknetes Rindfleisch spielten.«

»Da muss ich protestieren«, empörte sich Ned. »Ich teile mein Glück sehr wohl. Wenn ich mich recht entsinne, hat Turner hier mehrere von den Stücken eingesteckt.«

»Und seither nicht viel sonst«, sagte John Turner geheimnisvoll.

Der Earl von Ashby knirschte vor Unmut ein wenig mit den Zähnen, doch vielleicht kam das einfach als Reaktion auf seine neueste Hand, die der gute Doktor austeilte.

»Außerdem« – Ned wandte sich stattdessen an Rhys – »warst du so damit beschäftigt, dich um die Verwundeten zu kümmern, dass du wohl nur wenig von den Spielen mitbekommen hast. Selbst heute Nacht weigerst du dich, um viel mehr als getrocknetes Rind zu spielen.«

»Als Mann der Wissenschaft sehe ich wenig Sinn in Glücksspielen. Ich habe ihren Fortgang lange Zeit beobachtet und der einzige bleibende Schluss, zu dem ich komme, ist, dass ich Geld verliere«, entgegnete Rhys mit gutem Humor.

»Wenig Sinn?«, rief Ned und lachte dabei. »Der Sinn liegt in der Aufregung. Du gehst mit deinen Beobachtungen und deinem kleinen Laboratorium in Greenwich durchs Leben und nie aufs Ganze. Was ist denn daran der Sinn?« Er sah hinüber zu Turner, dem der Ernst im Gesicht stand. »Was meinst du, Turner?«

John Turner sah von seiner Hand auf. Er schien einen Moment über die Aussage nachzudenken, dann …

»Ja. Manchmal wird das Leben durch einen hohen Einsatz besser. Aber man muss auf den rechten Augenblick warten.«

»Da, Turner gibt mir Recht. Eine Seltenheit heutzutage, das kann ich dir versichern«, sagte Ned und wandte sich wieder seiner Hand zu. »Ehrlich, du bist in letzter Zeit ein solcher Spaßverderber, Turner, dass ich sogar meinte, du würdest heute Nacht zu Hause bleiben und deine geliebten Papiere wälzen – in der einen Nacht, da Rhys einmal in London ist!«

»Wenn du dich entschieden hättest, in irgendeinen anderen Klub zu gehen, hätte ich das müssen«, meinte Turner mit sanfter Rüge in der Stimme. »Du kennst die Wirklichkeit so gut wie ich, und ich befürchte, dass man Spaßverderber sein muss, wenn man Sekretär ist und nicht …«

Die Stille, die über den Raum kam, wurde nur vom Aufdecken der Karten unterbrochen, bis Rhys mit den Augen auf seiner Hand auf seine abgelenkte Art fragte: »Und nicht was, Turner?«

Ein dunkler Blickwechsel geschah zwischen dem Earl und seinem Angestellten.

»Und kein gemachter Mann«, sprach Turner zu Ende.

Der Earl rollte sichtbar mit den Augen.

»Wovon redest du denn?«, fragte Rhys nach. Als Arzt war er unaufhörlich neugierig, wenn auch wunderbar ahnungslos, was die Spannung anging, die sich in dem dunklen, verrauchten Raum aufbaute.

»Er redet von seiner Mühle«, antwortete der Earl an seiner statt und stimmte einen lockeren, zwanglosen Tonfall an, der an einem Mann vom Stand des Earls seltsam wirken mochte, doch so war es bei Ashby einfach. Im Umgang mit diesen beiden Männern war die Mauer schon lange abgebaut.

Das hatte er zumindest geglaubt.

»Er jammert schon seit drei Wochen darüber, und wenn du, Turner, Besitzer einer Mühle geworden wärst anstatt mein Sekretär, wärst du nicht mal hier aufgenommen worden … Also!«

»Was ist denn mit der Mühle?«, fragte Rhys und sah Turner an.

»Die Mühle meiner Familie hat wieder einen Schlag erlitten«, seufzte Turner, blieb jedoch aufrecht.

»Aber ich dachte, du hättest sie nach dem Feuer wieder aufgebaut«, sagte Rhys fragend; seine blonden Brauen senkten sich finster.

»Das hab ich, aber das war nur das Gebäude, nicht die Ausstattung. Ich habe jeden Penny in neue Ware aus Amerika gesteckt, aber letzten Monat ist das Schiff auf See verschollen.«

»Ach, Turner, das tut mir leid«, fing Rhys an. »Warum entleihst du nicht –«

Doch Turner schüttelte den Kopf. »Die Banken sehen eine Mühle, die seit fünf Jahren nicht mehr läuft, nicht als lohnende Investition.«

Die Frage nach der anderen möglichen Geldquelle musste man nicht stellen; die Quelle, die gleich dort im Raum zugegen war. Ein kurzer Blick zwischen Turner und dem guten Doktor, und Rhys wusste, dass es sich auch hierbei um eine Sackgasse handelte.

»Turner behauptet, dass er kein solcher Spaßverderber und viel umgänglicher wäre, wenn es ihm möglich wäre, die Mühle seiner Familie zu retten. Ich muss aber erwidern, dass das einfach nicht so wäre«, bekräftigte Ned und deckte ein Ass auf.

»Du glaubst nicht, dass ich angenehmere Gesellschaft bieten würde, wenn ich daran arbeiten könnte, mein Familiengeschäft wieder zum Erfolg und mir einen eigenen Namen zu machen?«, fragte Turner; seine dunklen Augen verengten sich.

»Natürlich nicht!«, sagte Ned mit einem gemütlichen Lächeln. »Einfach daher, dass du durchgehend arbeiten würdest! Davon wird kein Mensch angenehmer.«

»Ich arbeite jetzt schon durchgehend«, erwiderte Turner. »Glaub mir, mir bleiben nur wenige freie Nachmittage beim Verwalten deiner fünf Besitztümer.«

»Ja, alles ist immer so wichtig«, sagte Ned theatralisch. »All die Felder, die umgegraben werden müssen, verlangen ständige Berichte und Briefe und den ganzen anderen Schwachsinn.«

Turners Mund wurde zu einer harten Linie. »Ich werde mich unterstehen, dich mit Geschäftsangelegenheiten zu langweilen. Immerhin war ich kein gelehrter Mann, als ich die Stelle annahm. Ich musste die ersten drei Jahre damit zubringen, die alten Finanzen zu entwirren und mir die Arbeit selbst beizubringen.«

Bei der Erwähnung der »alten Finanzen« verspannte Ned sich sichtbar.

»Na ja«, sagte Ned versuchsmäßig und ließ diese Diskussion sein. »Zumindest bist du hier in London. Hier gibt es viel mehr zu tun und zu sehen; mehr, was den Verstand anregt, in einem einzigen Block in London, als es in ganz Lincolnshire geben kann.«

»Mehr für dich vielleicht.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass die Welt für einen Earl anders ist als für seinen Sekretär.«

»Burschen«, warf Rhys ein und reagierte damit endlich auf die immer lauteren Stimmen seiner Freunde. »Wollen wir nicht einfach Karten spielen? Ich bin gewillt, einen ganzen Viertelpenny auf diese Hand zu setzen.«

Sie ignorierten ihn jedoch.

»Sei nicht so langweilig, Turner. Nichts ist schlimmer als ein Langweiler«, sagte Ned streng, und dann genüsslich: »Was du mehr brauchst als alles andere ist eine Frau unter dir. Anstatt Spaß zu verderben solltest du ihn lieber selbst haben, ein paar Stunden lang. Da wird sich deine Ansicht ändern.«

»Du wirst vielleicht überrascht sein, dass die meisten Frauen sich nicht mit derselben Häufigkeit auf einen Sekretär stürzen wie auf einen Earl.«

»Dann kauf dir eine.« Ned zeigte dem Tisch entnervt seine (sehr guten) Karten vor. »In diesem Haus gibt es mehrere, die gern bereit wären. Madame Delacroix achtet auf die Sauberkeit der Mädchen. Zum Teufel, ich bezahl auch.«

»Nein danke.« Turner lächelte reumütig. Er warf seine Karten mitten auf den Tisch, während Ned seine Chips zusammenzog. Ned der Glückliche hatte wieder mal gewonnen. »Ich ziehe verdiente Gesellschaft der erkauften vor.«

»Die nie zustande kommen wird, solange du dieses mürrische Gesicht behältst!« Ned sammelte die Karten vom Tisch zusammen und mischte sie. »Und ganz nebenbei, ich nehme die Andeutung übel, dass ich nichts weiter bin als mein Titel.«

»Ach, Ashby, das hat er doch nicht gesagt«, fing Rhys an, doch Turner blieb merkwürdig ruhig.

»Doch, hat er. Er sagte, dass das Leben für einen Earl anders ist als für einen Sekretär, und obwohl das stimmt, deutet es an, dass alles Gute, jeder Glücksfall, den ich im Leben hatte, darauf beruht, dass ich eine Earlschaft geerbt habe, und jede mangelnde Freude, die Turner erleidet, auf seinem kürzlichen Pech beruht. Er ist ernst und lacht nicht, daher hat er Pech. Mit seiner Mühle, bei den Frauen, im Leben. Ich bin für gewöhnlich guter Natur und habe Glück. Es hat nur wenig mit meinem Titel zu tun. Es hat damit zu tun, wer ich bin. Ned der Glückliche.« Es verging ein Takt. »Und wenn ich mich Ihnen zu großzügig erwiesen habe, Mr. Turner, erlauben Sie mir, den Fehler zu beheben.«

Die Hand, mit der Ned auf den Tisch schlug, hallte im Raum wider. Unheimlich still, vom ranghöchsten Mann dort beschämt, warfen die Wände den Tadel zurück. Der Earl war immerhin ein Earl, und Turner tanzte viel zu nah an der Grenze.

»Ich entschuldige mich, falls meine Worte den Eindruck gegeben haben, dass du deine glücklichere Philosophie deinem Titel und nicht deiner Natur verdankst«, sagte Turner leise.

»Gut.« Ned schnaubte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Karten zu. Er hatte einen Buben und eine Sechs. Turner hatte ein Ass und eine verdeckte Karte, die …

Turner schenkte sodann seinem eigenen Kartensatz seine Aufmerksamkeit und deckte den Herz König auf, womit er einen Black Jack hatte. Anstatt jedoch wie sein Arbeitgeber »Vingt-et-un!« zu rufen, sagte er einfach leise: »Aber der Titel schadet auch nicht.«

»Ach, Gott im Himmel!«, rief Ned und warf seine Karten über den Fries.

Alle Augen im Raum fielen auf den Earl.

»Turner. Ich bin kein Depp. Ich weiß, dass es solche gibt, die mich nur wegen meines Titels schätzen, und die mir seinetwegen nahestehen wollen. Deswegen ist mir unsere Freundschaft teuer – euer beider Freundschaft. Und deswegen weiß ich auch die Arbeit zu schätzen, die du für mich verrichtest, Turner. Es ist allzu wichtig, jemanden in deiner Rolle zu haben, dem ich vertraue. Aber ich weise die Annahme völlig zurück, dass mein Titel mein gesamtes Leben gestaltet. Den hatte ich nicht immer, weißt du? Meinst du, dass Lady Brimley sich mit mir abgeben würde, wenn ich nichts als ein aufgeblasener Naseweis wäre?«

Bei der Erwähnung der letzten Verstrickung des Earls – einer verheirateten Dame aus guter Gesellschaft, die noch mehr als Ned zur Langeweile neigte, und mehr als gewillt war, sich und ihn zu beschäftigen – fuhren bei Turner und Rhys die Augenbrauen ähnlich hoch.

»Also meinst du, dass dein Geschick mit den Frauen auch nicht von deinem Titel abhängt?«, warf Turner vorsichtig ein.

»Natürlich nicht!«, entgegnete Ned. »Meiner nicht geringfügigen Erfahrung nach –«

Zu diesem Zeitpunkt musste der gute Doktor einen bösen Schluck genommen haben, denn er ergab sich plötzlich einem wilden Hustenanfall.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Ned fort, als sich Rhys einmal für die Unterbrechung entschuldigt hatte. »Meiner nicht geringfügigen Erfahrung nach zu urteilen, ist es viel wichtiger, wer man ist, als was man hat, wenn es um Frauen geht.«

Er sah sich die leeren Blicke seiner Freunde an.

»Nur zu, nennt mich einen Schwärmer.« Ned konnte den boshaften Unterton nicht aus seiner Stimme heraushalten. »Wenn eine Frau mich aber öde, langweilig oder, Gott behüte, mürrisch fände, wie ihr es seid, könnte ich keine fünf Minuten bei ihr bestehen, ob ich ein Prinz wäre oder ein … ein Bettler!«

»Na, an deinem demütigen Charme muss es ja etwas geben, was sie anzieht«, sagte Rhys freundlich dazu, und sein Lächeln zwang Ned zu einem ähnlichen.

Turner aber blieb still. Nachdenklich.

»Ich versicher dir, Turner, es ist deine üble Einstellung, die dich hindert – egal ob es um Frauen oder Bankiers geht. Meine gute Einstellung bringt mir Glück. Nicht umgekehrt.«

»Also meinst du, dass du’s könntest?«, fragte Turner mit unheimlicher Ruhe und Gelassenheit.

»Was denn?«

»Eine Frau für dich zu gewinnen, ohne Titel. Wenn du stattdessen, sagen wir, ein Mann meiner Stellung wärst?«

Ned lehnte sich selbstsicher mit den Händen über dem flachen Bauch gefaltet zurück. »Ich könnte es, selbst wenn ich du wäre. Es wäre so einfach, wie dein Geld beim Kartenspielen zu gewinnen. Und es würde auch nicht so lange dauern.«

Es geschah schnell, doch es war unverkennbar. Turner ließ ein Lächeln sehen. Sein erstes Lächeln an dem ganzen Abend.

»Wie lange, meinst du, würde es dauern?«, fragte er; seine Augen funkelten in dem dunklen Raum.

Ned lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Normalerweise äugeln mir die Damen innerhalb weniger Tage nach, aber nachdem ich ohne meinen Titel wäre, könnte es da draußen eine Woche dauern, nehme ich mal an.«

Turner blieb völlig ruhig, als er sprach. »Ich geb dir zwei.«

Rhys und Ned flogen beiden gemeinsam die Köpfe hoch; ihre überraschten Blicke passten genauso zusammen. Rhys aber schnappte den vielsagenden Blick in Turners Augen auf und versuchte es ein letztes Mal mit Diplomatie zwischen seinen beiden streitenden Freunden.

»Turner – Ned …« setzte Rhys erneut an, als ob der heitere Gebrauch von Neds Taufnamen ihn ablenken würde. »Ich bin so selten in London und bei dieser Fahrt nur eine Nacht lang. Können wir nicht einfach spielen?«

»Oh, aber wir spielen doch«, erwiderte Turner. »Siehst du’s nicht? Seine Lordschaft fordert mich zu einer Wette heraus.«

»Wirklich?«

»Wirklich?«, fragte Ned. »Äh, ja. Ja, wirklich.«

»Du hast eben gesagt, dass du eine Dame innerhalb einer Woche für dich gewinnen kannst, selbst wenn du ein Mann meiner Stellung wärst. Ach, selbst wenn du ich wärst, hast du gesagt.«

»Also …«

»Also tauschen wir die Stellung. Du wirst ich. Wirb um eine Dame und hol sie dir. Und ich schenke dir zwei Wochen Gunst – was nach deiner Schätzung mehr als reichen sollte.«

»Aber … was … wie …«, stammelte Ned, bevor er wieder die Haltung fand.

Und dann – lachte er.

Doch bei dem Ausbruch war er allein. Nicht einmal Rhys gesellte sich dazu.

»Das ist ja unerhört«, sagte Ned endlich. »Geschweige denn machbar.«

»Warum denn?«

»Na, mal davon abgesehen, dass ich der Earl bin und jeder es weiß.«

»Jeder in London weiß es, aber niemand in Leicestershire.«

»Leicestershire?«, stieß Rhys aus. »Was in aller Welt hat Leicestershire denn damit zu tun?«

»Da fahren wir morgen hin. Wir sehen uns das alte Haus von Ashbys Mutter in Hollyhock an.«

»Hollyhock?!« Ned sprang förmlich vom Stuhl. Jede Kartenhand war zu dem Zeitpunkt völlig vergessen, das war klar, denn die Wette, die anstand, war von viel größerem Interesse. »Warum zum Teufel sollte ich nach Hollyhock wollen?«

»Weil das Dorf ein Geschäft für das Grundstück angeboten hat und Land und Gebäude geschätzt werden müssen, bevor du dich entscheidest, was du damit machen willst«, antwortete Turner ernsthaft. »Ich kann und werde nicht für dich unterschreiben. Die Regel habe ich sehr streng festgelegt, und aus gutem Grund, wenn du dich erinnerst.«

Das Trio an Köpfen nickte bewusst. Der Earl von Ashby hatte guten Grund, mit seinen größeren Geschäften vorsichtig umzugehen, und jemanden als Sekretär zu haben, dem er traute. Und den Verkauf des Hauses seiner Mutter in Hollyhock konnte man als »großes Geschäft« bezeichnen.

»Aber warum sollte ich denn jetzt nach Hollyhock fahren? Am Höhepunkt der Saison? Himmel Herrgott, nächste Woche ist Lady Brimleys Ball, ich wäre persona non grata bei der … Liebreizenden, wenn ich den versäumte.«

»Ich hab die Reise gerade wegen Lady Brimleys Fest jetzt angesetzt«, stellte Turner fest. Dann sagte er betont: »Zu dem sie Mrs. Wellburton als Sängerin geladen hat.«

Als der Name der letzten Liebhaberin des Earls fiel – einer Schauspielerin mit besserer Figur als Stimme, doch einer absolut verblüffenden Fantasie – rückte Ned sichtlich auf dem Stuhl herum.

»Ja, gut … vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist jetzt die beste Zeit, aus London rauszukommen. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Wir verstehen, was du meinst, Ashby«, meinte Rhys. »So gut, wie du die Syphilis verstehst.«

Ned ließ die Bemerkung kommentarlos zu.

»Na, worum geht’s denn bei dem Angebot?«, fragte Ned, bevor er die Frage abwinkte. »Nein, ich erinnere mich schon. Irgendwas wegen einer heißen Quelle. Aber, Gott, Hollyhock. Der Name allein beschwört Bilder von dornenüberwachsenen Gehwegen und einem Übermaß an Kühen herauf. Ich kann mir keine langweiligere Art vorstellen, zwei Wochen zu verbringen. Ich bin kein einziges Mal dort gewesen, seit ich zwölf war.«

»Also gibt es keinen Grund zu erwarten, dass dich dort jemand erkennt«, meinte Turner.

»Na sicher wird man mich erkennen«, gab Ned zurück. »Ich bin ich.«

»Der körperliche Unterschied zwischen einem zwölfjährigen Knaben und einem erwachsenen Mann ist so ziemlich der gleiche wie der zwischen dem Zwölfjährigen und dem Neugeborenen«, warf Rhys ein, worauf Ned ihn gründlich mit einem Blick zurechtwies.

»Wie dem auch sei, ich sehe aus wie ich und du siehst aus wie du«, meinte Ned aufgebracht.

»Und wer sagt, dass wir uns nicht ähneln?« Turner zuckte mit den Achseln. »Wir sind gleich groß, haben beide braunes Haar und braune Augen. Das ist alles, was den Leuten in Hollyhock von einem zwölfjährigen, seither lang erwachsenen Knaben in Erinnerung sein wird. Außerdem« – Turner lehnte sich mit einem Lächeln vor – »bezweifle ich, dass die Reise nach Hollyhock dich langweilen wird, wenn ich du bin und du ich.«

»Es bleibt noch die kleine Sache mit deiner Aussprache«, sagte Ned plötzlich. »Dein Akzent ist etwas … nördlicher als meiner.« Das war wahr; als Ned aus Leicestershire geholt und von seinem Großonkel erzogen worden war, hatte man jedes Anzeichen von Armut in seinem Akzent ausgeglättet. Turner, der in der ländlichen Grafschaft Lincolnshire aufgewachsen und zum Händler erzogen worden war, hatte einen Akzent, der seine Herkunft in der Unterschicht widerspiegelte.

Doch es schien, dass er in der Zwischenzeit ein paar Dinge gelernt hatte. Als er zum nächsten Mal den Mund öffnete, sprach Turner in den melodischen, kultivierten Tönen eines Londoner Gentleman.

»Ich bezweifle, dass es da Schwierigkeiten geben wird«, sagte Turner – sein Akzent ahmte den von Ned perfekt nach! – mit einem Lächeln. »Doch wenn jemand unseren Streich durch meine Aussprache erkennt, gebe ich auf, und du gewinnst.«

»Gentlemen«, mischte Rhys sich ein. »Das ist eine äußerst schlechte Idee. Ich kann mir nicht vorstellen, was wir uns von dem Experiment zu lernen erhoffen können.«

»Da will ich dich erleuchten«, entgegnete Turner. »Wenn der Earl Recht hat, wird er mir eine wertvolle Lektion in Sachen Leben erteilen. Wenn er, nur durch sein natürlich gutes Gemüt, das Herz einer jungen Dame erobern kann, dann gibt es für mich offensichtlich keinen Grund, die Härte des Lebens so ernst zu nehmen. Wenn er aber Unrecht hat …«

»Ich habe nicht Unrecht«, stieß Ned sofort aus und starrte Turner mit verhärtetem Blick an. »Aber ich werde bei dieser Farce auch nicht mitmachen. Na, du willst doch die Stellung tauschen!«

Rhys atmete erleichtert auf. Turner aber hielt immer noch Neds Blick. Starrte. Eine Herausforderung.

Eine Wette.

»Es könnte aber … interessant sein«, sinnierte Ned.

»Oh nein«, sagte Rhys in seine Hände.

»Wenn wir es tatsächlich schaffen würden? Na, das wäre ein Heidenspaß! Eine Geschichte, die man jahrelang erzählen kann!«

»Du erzählst gerne gute Geschichten«, sagte Turner mit einem milden Lächeln.

»Und ich kann dir zugleich eine Lektion erteilen. Noch besser.« Da grinste Ned wölfisch. »Welche Bedingungen stellst du?«

Obwohl Turners Herz außergewöhnlich schnell klopfte, schaffte er es, jede äußerliche Erscheinung davon zurückzuhalten. »Solltest du nicht genug Glück haben, das Herz einer Frau zu erobern …« Er holte Luft. »Fünftausend Pfund.«

Rhys fing wieder zu husten an.

»Du willst, dass ich dir fünftausend Pfund gebe?«, fragte Ned mit einem Lachen. »Wie dreist von dir.«

»Du meintest doch, das Leben sei nichts ohne einen gelegentlichen hohen Einsatz.«

»Und du sagtest, man müsse seine Spiele vorsichtig wählen. Was du anscheinend getan hast. Aber eine solche Summe …«

»Ist dir nicht unmöglich.« Sein Lächeln wurde kalt. »Ich sollt’s ja wissen.«

»Und wenn ich Recht behalte?« Ned lehnte sich auf seinem Stuhl vor und sprach mit bedrohlicher statt gelassener Stimme. »Was, wenn ich gewinne?«

Turner hob die Augenbraue. »Was willst du denn?«

Ned tat so, als dächte er einen Augenblick lang darüber nach. »Das Einzige, was du hast. Das Einzige, was dir lieb ist.« Ned sah zu, während Turners Entschlossenheit wankte, wenn auch nur ein wenig. »Ich nehm dir die Familienmühle ab. Befreie dich zu einem besseren Leben mit weniger Sorgen.« Er überlegte und rieb sich den Zweitagebart am Kinn. »Da sie nicht läuft, nehme ich an, dass sie etwas weniger wert ist als fünftausend, aber ich will’s quitt heißen.«

Turner blieb ruhig. Sehr ruhig. Eine Ruhe, die er womöglich in der Schlacht erlernt hatte. Dann langte er mit der Hand über den Tisch.

»Angenommen.«

»Nein! Nein, ihr seid ja verrückt«, rief Rhys, als er aufstand. »Da will ich nichts mit zu tun haben.«

»Ich fürchte, das wirst du müssen«, sagte Turner langgezogen. »Du bist nicht nur unser Zeuge, sondern du wirst uns auch als Richter dienen müssen.«

»Richter?«, krächzte Rhys, setzte sich wieder und legte den Kopf in die Hände.

»Ja – du allein bist parteilos genug dafür.« Er wandte sich an Ned. »Ist Ihnen das recht, Mylord

»Ja. Das passt mir so«, gab dieser scharf zurück, denn Turners Tonfall ärgerte ihn.

»Dann stimmen wir also überein? Gilt die Wette?«, fragte Turner mit weiterhin erhobener Hand, die darauf wartete, dass man sie schüttelte.

»Sie gilt.« Ned nahm seine Hand und schüttelte sie einmal – kräftig. »Viel Glück«, wünschte er seinem alten Freund. »Von uns beiden bist du’s, der’s brauchen wird.«

2. Die Regeln stehen fest

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nicht nur einfach sein wird – sondern auch witzig.«

Ned und Turner waren den Großteil des Morgens lang Seite an Seite geritten. Schweigend. Sie waren am Vortag mit Rhys von London aufgebrochen und hatten sich nach Smithfield und zur Great North Road aufgemacht, bevor die Sonne am Himmel aufgegangen war. Sie hatten den ermüdenden Teil der Reise am ersten Tag auf sich genommen und waren geschwind zu Pferde bis nach Peterborough geritten, wobei eine Kutsche mit dem Gepäck und Neds Kammerdiener, Danson, ihnen folgte.

Aber bei diesem zweiten Abschnitt der Reise waren sie nur zu zweit.

Nachdem die Übereinkunft abgeschlossen und die Wette abgemacht war, war es trotzdem nicht leicht gewesen, Rhys dazu zu überreden, seinen Part dabei zu spielen.

»Erstens ist das eine schreckliche Idee und ihr werdet sie beide einst bereuen«, hatte Rhys argumentiert und eingeschnappt die Arme verschränkt. »Zweitens habe ich nicht die Zeit, den ganzen Weg nach Leicestershire mit euch zu fahren – ich muss arbeiten. Ich mache nur einen Abstecher in London auf dem Weg nach Peterborough – da wohnt ein Chemiker, der einige erstaunliche Experimente macht, die wir vielleicht in unserem eigenen Labor einführen –«

»Peterborough!«, unterbrach ihn Turner. »Ausgezeichnet. Das liegt nur wenige Stunden von Hollyhock entfernt. Du kannst mit deinem Chemiker arbeiten gehen und dann nach zwei Wochen zu uns kommen.«

»Jawohl«, stimmte Ned zu. »Ein viel besserer Plan, besonders, wenn wir es vermeiden wollen, uns ständig deine Unheilsbotschaften anzuhören. Komm einfach am Ende und spiel den Richter.«

Rhys hatte seinen Blick zwischen ihnen hin- und hergeschwungen und dabei geurteilt und bewertet.

Doch es war Turners Ernst gewesen, der Rhys keine Wahl gelassen hatte.

»Bist du gewillt, eine Freundschaft zu zerstören«, fragte Rhys Turner, »die den Großteil eines Jahrzehnts überstanden hat?«

»Was redest du denn?« Ned warf vor Lachen den Kopf zurück. »Es soll doch ein Jux sein! Ein bisschen Spaß!«

»Niemand setzt sein Leben auf einen Jux, Ashby«, betonte Rhys düster. Ned konnte angesichts der pragmatischen Haltung seines Freundes gegenüber dem Spiel nur abweisend die Hände vor sich halten.

»Glaubst du, es ginge anders?«, fragte Turner ruhig und richtete die Augen auf Rhys.

Es fand ein unausgesprochener Austausch zwischen den beiden statt, wovon Ned das Gefühl bekam, nicht am Witz beteiligt zu sein. Allerdings lachte keiner von beiden.

Dann hielt Rhys die Hände hoch. »Gut, dann werd ich halt euer Richter sein.«

Infolgedessen machte Rhys sich daran, einen Brief an den Chemiker in Peterborough zu verfassen, der diesem durch ein paar sehr geschwinde Reiter einige Stunden Vorbereitung auf die verheißungsvolle Ankunft des Earls von Ashby und seiner Gefolgschaft gab.

In jener Nacht hatten sie sich bereit gemacht, die Leben zu tauschen. Es stellte sich heraus, dass es am wichtigsten war, dass so wenige wie möglich die Wahrheit kannten. Es wurde beschlossen, dass Danson, Neds Kammerdiener, der einzige Diener war, der mitkommen durfte. Wenn sie jedoch mit noch weniger verreist wären – das hatte Danson schnell aufgezeigt – wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass man auch nur einen von ihnen als den Earl von Ashby erkannt hätte.

»Männer, ihr bleibt hier bei Dr. Gray.« Ned hatte sich an seinen Kutscher und seinen gut gekleideten Reitknecht gewandt – ohne den Abandon, sein Hengst, nicht hätte sein mögen. »Danson wird morgen in Peterborough eine Kutsche mieten, die ihn nach Hollyhock bringt. Es geht nicht darum, dass wir euch nicht trauen, aber … wir trauen euch nicht.«

Seltsamerweise schienen sowohl der Kutscher als auch der Knecht mit diesem Beschluss zufrieden zu sein.

Es war die letzte Nacht gewesen, in der Ned in den ganzen nächsten zwei Wochen er selbst sein würde, denn als er am Morgen erwachte, tauschten er und Turner die Kleidung, tauschten die Pferde und tauschten die Leben.

Sie frühstückten gemütlich, womit sie das Unvermeidbare hinauszögerten, dann winkten sie Rhys und ihrem Gastgeber, dem Chemiker, zum Abschied – letzterer war ein gutmütiger, gelehrter Mann, dessen Gehör unter seiner überschwänglichen Freude an der Sprengung von Dingen in seinem Labor gelitten hatte.

Und nun stand die Sonne hoch am Himmel, sie waren nur einige Meilen von ihrem Ziel entfernt, und sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, seit sie auf die Pferde gestiegen waren.

Bis jetzt.

»Ich sagte, es könnte witzig sein«, wiederholte Ned. »Du zu sein.«

»Was wird daran so witzig sein?«, fragte Turner mit neutralem Tonfall.

»Einfach, dass ich mich um nichts werde kümmern müssen. Nicht um meine Kleidung, nicht um Aufmerksamkeit gegenüber der Gastgeberin, all die kleinen Leiden, die die Earlschaft mit sich bringt.«

Turner gab ein unverbindliches Geräusch von sich.

»Also«, fuhr Ned fort, »werde ich in meiner ganzen Zeit um jede junge Frau werben können, die ich will.«

Turner zog an den Zügeln und bremste seinen – eigentlich Neds – wunderschönen schwarzen Hengst ein. Das Pferd wieherte unmutig. Anscheinend hatte Turner noch nicht die Feinheiten erlernt, ein Vollblut wie Abandon zu reiten, das auf die kleinste Berührung reagierte. Ganz anders als die Stute, auf der Turner sonst ritt, die stur wie ein Maultier war.

»Vielleicht sollten wir ein paar Regeln festsetzen«, murrte Turner. »Hinsichtlich der Wette.«

»Ach?«, sagte Ned. »Was für Regeln denn?«

»Grundlegende Dinge. Zum Beispiel, dass, wenn einer von uns seine wahre Identität verrät, er auch verliert.«

»Das ergibt völlig Sinn.« Ned nickte. »Aber, da es sich um eine Wette handelt, bei der ich den Großteil der Last trage«, sagte er vernünftig, »glaube ich, dass es dir ausdrücklich verboten sein sollte, dich einzumischen.«

»Wie könnte ich mich denn jemals einmischen?«, fragte Turner zurück, während er versuchte, Abandon vom Tanzen abzuhalten, als dieser anhielt.

»Du könntest bei jeder Dame Lügen verbreiten, die an mir Interesse zeigt; du könntest – oh, hier, lass mich.« Ned langte hinüber und nahm Abandons Zügel, wobei er Turners Griff lockerte. »Würg nicht so fest mit den Zügeln. Da glaubt er, dass er Angst haben muss.«

Turner fasste die Zügel etwas weiter unten, damit sie sich ein wenig lockerten. Abandon beruhigte sich sofort.

»Vielen Dank«, grummelte Turner. Er nahm sich einen Augenblick lang Zeit, sich wieder auf Abandons Rücken einzurichten. »Ich stimme deiner Regel zu. Es geht um eine Gentleman-Wette, und ich werde mich durchgehend als Gentleman verhalten.«

»Tatsächlich meine ich, du solltest überhaupt nichts Schlechtes über mich sagen dürfen «, beschloss Ned. »Nicht einmal eine kleine Kränkung. Du darfst mich nur loben.«

»Da du meinen Namen trägst, wird eine Kränkung gegen dich eine Kränkung gegen mich sein«, urteilte Turner, doch als Ned ihn ansah, hielt er die Hand hoch. »Gut, gut. Ich werde dich nur loben. Aber – ich habe auch eine Bedingung.«

»Nur zu.«

»Das Objekt deiner Wertschätzung muss eine Dame aus gutem Hause sein. Jemand Wohlerzogenes. Keine Zimmermädchen, keine Köchinnen.«

Neds Brauen senkten sich. Woher wusste er …? Doch Turner grinste nur.

»Der Gegenstand dieser Wette ist, dass du, als ich, eine Dame für dich gewinnen kannst. Deshalb muss es jemand sein, um den ich werben würde. Und obwohl ich dein Sekretär bin, bin ich doch Gutsherr –«

»Einige Wochen zumindest noch.«

Turner warf ihm einen bösen Blick zu. »– und war Offizier bei der Armee.« Obschon Turner sein Patent nicht erworben hatte. So viele Offiziere waren während der Kriege gestorben und hatten leere Posten hinterlassen, die jedem zur Verfügung standen, der sie haben wollte. Turner hatte einen nicht verkäuflichen Posten als Offizier erhalten und war aus Verdienst auf dem Felde zum Captain aufgestiegen.

»Und diese Qualifikationen machen dich so eingebildet wie den höchsten Lord«, sagte Ned trocken. Sich nur mit Damen begnügen zu müssen, würde etwas schwieriger sein, aber … »Gut, ich stimme deiner Klausel zu. Außerdem gibt es meiner Erfahrung nach beim schönen Geschlecht keine großen Unterschiede, wenn es um Herzensangelegenheiten geht, ungeachtet des gesellschaftlichen Standes. Wenn man die Liebe gesteht, sind die Chancen gut, dass sie sie zurückgestehen.«

»Oh, und das ist eine weitere Klausel«, fügte Turner hinzu, trieb Abandon an und setzte ihren Weg auf der Straße fort. »Du darfst deine Gefühle nicht offenbaren. Ihre Erklärung muss spontan sein.«

»Wie bitte?«, rief Ned, trat sein stures Tier in Bewegung und holte mit Turner auf. »Das ist ja lächerlich!«

Und es machte Neds Plan vollkommen zunichte. Er würde auf ein Mädchen stoßen (wenn auch Zimmermädchen und Köchinnen nun nicht mehr in Frage zu kommen schienen), sie sieben Tage lang umwerben und dann seine Liebe offenbaren. Dann bliebe ihm eine ganze Woche, in der sie sie zurückerklären konnte – sie zu erweichen. Und gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, dass er ein klares »Nein« bekam, würde er die zusätzliche Woche nutzen, seine Interessen bei einer anderen durchzusetzen.

»Warum ist das lächerlich?«, fragte Turner zurück. »Du versuchst zu beweisen, dass dein gutes Gemüt obsiegt – nicht deine heißblütigen Erklärungen.«

»Ich glaube, du verstehst nicht, wie das angeht. Keine junge Dame – keine aus gutem Hause jedenfalls, was deine Klausel ist – spricht eine Liebeserklärung aus, ohne dass sie zuerst eine von ihrem Gegenüber hört.« Ned schüttelte den Kopf. »Das kommt einfach nicht vor.«

Turner schien es einen Augenblick lang zu überdenken. »Na, dann besprechen wir doch, was eine Liebeserklärung ausmacht.«

Ned lächelte. Endlich würde die Regel zu seinen Gunsten wirken.

»Gut. Was macht eine Liebeserklärung aus?«

»Nun, offensichtlich, wenn du das Mädchen dazu bringst, ihre Gefühle auszudrücken, entweder schriftlich oder öffentlich, dann bringt dir das den Sieg.«

»Aber was, wenn sie’s nicht tut? Wenn sie dazu zu wohlerzogen ist?«

»Dann …« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Wenn du drei Dinge von einer Dame bekommst, wird das als Beweis genügen.«

»Und was sind diese drei Dinge?«, fragte Ned argwöhnisch.

Sein Freund zählte sie an den Fingern ab. »Ein Tanz, in der Öffentlichkeit.«

»Nichts leichter als das.« Ned stimmte zu.

»Zweitens, ein Zeichen der Zuneigung. Einen Handschuh, eine gepresste Blume oder solcherlei Unsinn. Aus freien Stücken übergeben, nicht ohne ihr Wissen weggenommen.«

»Turner, wenn das deine Bedingungen sind, werde ich in zwei Wochen nicht nur eine Dame für mich gewinnen, sondern alle«, spottete Ned.

»Und drittens: eine … intime Kenntnis der Dame.«

Ned ritt nah heran. »Eine intime Kenntnis?«

»Ja – die Lage eines Muttermals an verborgenen Teilen ihres Körpers, ein persönliches Geheimnis aus der Jugend – etwas Derartiges.« Turner grinste wieder wie eine Raubkatze – sein Tigerlächeln. »Wie du das Detail herausfindest, liegt an dir.«

»Jetzt aber mal Halt«, sagte Ned streng. »Du forderst ja, dass ich jemanden verführe. Das hätte weitreichendere Konsequenzen über zwei Wochen hinaus.«

Turner zuckte mit den Achseln. »Nur wenn du sie nicht dazu bringen kannst, ihre Liebe offen zu erklären. Die Möglichkeit gibt es noch. Außerdem ist die Verführung kein Muss – nur eine mögliche Methode, an das heranzukommen, was du brauchst.«

Eine mögliche Methode? Zum Himmel, es war die einzige Methode, die Ned einfiel. Plötzlich fühlte er sich, als fehlte ihm der Boden unter den Füßen. Er wankte auf seinem Sattel und bemühte sich, gerade sitzen zu bleiben.

»Bist du etwa unruhig?«

»Keineswegs.« Ned schoss sofort wieder hoch. »Ich vermeide nur gerne Dinge, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Aber wenn es nicht anders geht …«

Sein Gehabe aber kaschierte ein seltsames Gefühl in seiner Magengegend. War es etwa … ein Zweifel? Ein flüchtiges Schuldgefühl?

»Wenn du dich der Aufgabe nicht gewachsen siehst … kannst du immer aufgeben«, sagte Turner mit ruppiger Stimme.

»Bevor das Spiel überhaupt losgegangen ist?« Davon schoss Neds Kopf hoch. »Nein, ausgeschlossen.«

Das war also Turners Taktik, ja? Mehr und mehr lächerliche Bedingungen zu stellen, in der Hoffnung, dass er das Ganze abblasen würde. Na, da hatte er aber nicht mit Neds Glück gerechnet.

Seine Augen fielen auf den Siegelring, den er an der rechten Hand trug. Das Wappen des Earls von Ashby. Und er hörte, wie ihm die Stimme seines Großonkels durch den Kopf hallte, als ob er noch zwölf Jahre alt wäre: »Du hast Glück, hier zu sein, verstehst du nicht? Wenn du da draußen wärst, würden die Leute etwas von dir wollen. Und ohne meinen Schutz wärst du vielleicht töricht genug, es ihnen zu geben.«

Seine Augen verengten sich. Ja, Turner, sein alter Freund, wollte etwas von ihm. Er wollte Recht behalten, und dass Ned Unrecht hätte.

Nun, solange er der Earl von Ashby war, würde er sich nicht ausnutzen lassen. Er würde sich nicht von etwas Banalem wie Schuldgefühlen einschüchtern lassen. Er würde Turner als Trottel entlarven und ihm zeigen, dass sein gutes Gemüt und sein Glück echt waren …

Und er hatte Recht. Es würde ein Spaß werden.

»Warum grinst du denn so?«, fragte Turner argwöhnisch.

Ned sah auf und war verwundert, dass er grinste. »Ach, nichts«, antwortete er, unfähig, seine neugefundene Selbstüberzeugung einzuhalten. »Hier, nimm – um die Verwandlung zu vervollständigen.« Er hielt ihm den Siegelring hin. Turner nahm ihn und schob ihn sich nicht allzu zärtlich auf den Finger.

»Zu fette Finger?«, höhnte Ned.

»Ich würde behaupten, deine Hände seien zu schlank und feminin«, gab Turner zurück, wobei ein schelmisches Grinsen sein Gesicht kerbte.

Es war ein kurzer Augenblick männlichen Scherzes, von Kameradschaft. Es war lange her, dass er und Turner sich gegenseitig leichte, fröhliche Sticheleien zugeworfen hatten. Nicht mehr seit …

Turner aber richtete sich auf und trat Abandon mit den Absätzen – sachte, wie Ned bemerkte – und spornte ihn zu einem Trott über einen Seitenpfad jenseits der Hauptstraße an.

»Das ist der falsche Weg«, sagte Ned, als er Turner eingeholt hatte. »Hollyhock liegt noch zwei Meilen weiter da entlang.«

»Wir übernachten nicht in Hollyhock. Wir übernachten in Puffington Arms, dem Heim von Sir Nathan und Lady Widcoate.«

Neds Augenbrauen fuhren hoch. »Warum um Himmels willen übernachten wir dort?«

Turner seufzte. »Weil man, als ich das Dorf von unserer Reise in Kenntnis setzte, es nicht hören wollte, dass ein Earl – besonders ein Earl, der aus Hollyhock stammt – in einer Herberge übernachten sollte. Da das alte Landhaus deiner Mutter nicht bewohnbar ist, wandte man sich an die Widcoates. Mir wurde gesagt, ihres sei das größte Haus in der Gegend.«

»Was nicht heißt, dass es auch nur annähernd groß ist.« Ned kniff die Augen zusammen und versuchte zurückzudenken. »Ich erinnere mich an die Widcoates. Dunkel. Sir Nathan hatte gerade geheiratet, als ich fortging. Seine Frau und ihre jüngere Schwester zogen ein.«

Lady Widcoate war eine Einmischerin gewesen. Sie täuschte immer Besorgnis vor, gab sich aber seiner Mutter gegenüber in Wahrheit arrogant und überheblich. Und er war im Begriff, zwei ermüdende Wochen bei ihr zu verbringen.

Aber noch deutete sich da ein Silberstreif an. »Vielleicht haben sie eine Tochter oder zwei«, sinnierte Ned. »Gerade alt genug, umworben zu werden.«

Turners Blick wurde steif. »Ich bezweifle, dass die Widcoates mehr tun werden, als uns der Nachbarschaft vorzustellen.«

»Oh, ich glaube, ich werde mich ganz gut selbst vorstellen.« Ned lächelte, da seine Augen auf etwas gefallen waren, das sein Interesse weckte.

Neben der Straße, auf die sie abgewichen waren, stand ein langer, niedriger Holzzaun, der ein breites Feld mit hier und da einer Kuh von ihrem Weg absperrte. Und da, am Zaun, stand eine Frau. Sie trug einen einfachen Wollschal um ihr schlichtes graues Kleid gewickelt. Trotzdem konnte diese Masse nicht verbergen, wie dünn sie war. Ihr flachsblondes Haar war straff zusammengezogen, und vor ihr rannten zwei Kinder her, ein Junge und ein Mädchen, die Stöcke als Schwerter verwendeten.

Diese Art Frau war nicht zu verwechseln. Sie war ihrem Auftreten nach, ihrer Haltung nach, voll und ganz Gouvernante.

Nicht gerade eine Dame, doch sie war weiblichen Geschlechts und somit zur Übung geeignet.

»Also, Turner. Oder sollte ich sagen, Mylord«, sagte Ned herausfordernd. »Zeit, unsere Rollen einzunehmen.«

Ned ritt mit dem Pferd langsam an den Zaun heran, wo die Kinder stehengeblieben waren, da sie die herannahenden Pferde gesehen hatten.

»Hallo«, rief Ned munter. Er hob die Hand an den Hut in Achtung der Dame. »Madam. Was für ein schöner Tag.«

Doch dann geschah etwas Seltsames. Für gewöhnlich lächelte man zurück, wenn man ihn sah, und antwortete fröhlich, selbst fremde Leute. Doch die Dame blieb still. Und die Kinder …

»Das ist das schönste Pferd, das ich je gesehen hab!« Eines, das Mädchen, ganz rotwangig und lockig, duckte sich unter den Zaun und lief auf Turner zu, voller Bewunderung für sein Reittier. »Darf ich es anfassen?«

»Sie will ja auf ihm reiten«, sagte der Junge mit Ernst, während er sich zu dem Mädchen gesellte.

»Kinder!«, mahnte die Gouvernante. »Geht bitte von dem Pferd weg. Wir kennen sein Gemüt noch nicht.«

»Sein Gemüt ist verträglich«, versicherte Turner ohne eine Spur seines üblichen nördlichen Akzents.

»Vielleicht meinte ich den Reiter«, sagte sie schroff, wovon Ned lächelte und Turners Brauen sich verwirrt senkten. »Aber«, fuhr sie fort, »ich weiß ja nicht, ob Ihr Tier sich auch mit Kindern verträglich verhält. Rose, Henry … kommt da weg. Sofort.«

»Ihr solltet eurer Gouvernante gehorchen«, fügte Ned hinzu und zwinkerte der besagten Frau zu.

Doch sie errötete seltsamerweise nicht. Sie ließ nicht einmal ein Lächeln sehen. Stattdessen richtete sie ihren steifen, starren Blick auf Turner. Als erwartete sie …

Ach ja! Die Vorstellung!

»Oh, mein Name ist Mr. John Turner«, sagte Ned. Es fühlte sich auf seiner Zunge seltsam an. »Und dies ist –«

»Lord Granville, Earl von Ashby«, sagte Turner mit einer kleinen Verbeugung – so gut er sie auf dem Pferderücken zustande brachte. »Wir sind auf dem Weg zu Puffington Arms. Reiten wir da richtig?«

Da tat sich etwas. Ned fiel es nur auf, weil er sie so genau beobachtete und sich auch nur ein klein bisschen, das geringste Anzeichen von Interesse erhoffte.

Doch anstatt solcher hoffnungsvoller Zeichen ignorierte sie ihn. Stattdessen versteifte sie sich, als Turner sie ansprach.

Es war flüchtig, beinah unmerklich. Doch Ned sah es glasklar. Seltsam. Turner beunruhigte die blasse, steife Gouvernante … und Ned ließ sie völlig kalt.

Falls es Turner auffiel, sagte er jedoch nichts, und sie erstickte jede Emotion, die ihr übers Gesicht gewandert war, und antwortete mit Ruhe.

»Sie befinden sich auf dem rechten Weg. Puffington Arms liegt etwa eine Meile weiter vorne, hinter der Kurve. Sie sollten es bald sehen.«

»Wir wohnen dort!«, rief das kleine Mädchen aufgeregt.

»Ist das so?«, rief Ned. Er wurde jedoch sofort, und obwohl er es nicht glauben konnte, ignoriert.

»Ich bin Rose. Das ist Henry. Mylord, wenn Sie mit uns nach Hause kommen, darf ich auf Ihrem Pferd reiten?«

»Oh – darf ich das Pferd führen?«, bettelte der Junge, Henry. Doch die steifnasige Gouvernante hielt die beiden fest im Griff.

»Sie sollten aufbrechen, Mylord«, sagte sie an Turner gerichtet, hielt ihren Blick aber gewillt nach unten. »Man erwartet Sie schon.«

Und so schnell waren sie verabschiedet. Die Gouvernante hatte sie verabschiedet. Es blieb nichts mehr zu tun, als die Hüte zu ziehen und weiterzureiten.

»Das war ja mal ein Kennenlernen.« Turner grinste breit. »Sie hätte dich nicht vollkommener ignorieren können. Spürst du schon, wie dein Glück ausgeht?«

»Sie schien auch von dir nicht besonders beeindruckt«, konterte Ned. Etwas daran, wie sie so schnell von höflich auf steif übergesprungen war, störte ihn.

»Zumindest hat sie mich angesehen. Sie hat dich nicht mal eines Blickes gewürdigt.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie ist eine Gouvernante. Sie hat wohl noch nie jemanden mit so hohem Titel getroffen.«

»Was soll’s«, sagte Ned und schüttelte damit alle tiefen Gedanken ab, die eindringen könnten. »Wen kümmert die Meinung einer gemeinen, elenden Gouvernante? Wir werden noch Unmengen junge Damen finden, die sich viel lieber eine Freude machen lassen.«

Als sie um die Kurve ritten und Puffington Arms ins Blickfeld kam, ließ Turner wieder jenes Tigerlächeln sehen.

»Wissen Sie, ich glaube, Sie haben Recht, Mr. Turner. Ich glaube, das wird ein Spaß.«