Leseprobe Liebe stand nicht auf der Liste

Prolog

„Da bist du ja.“

Irritiert werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. „Es ist zwei Minuten vor zehn. Ich sollte um zehn Uhr hier sein.“

Declan Jefferson lacht schallend und trommelt mit den Fingern auf seinem dicken Bauch herum.

„Ich weiß, ich bin bloß ungeduldig“, sagt er. „Setz dich bitte, Samantha.“

Ich sinke auf den Stuhl ihm gegenüber. Wie oft habe ich hier schon gesessen? Im Büro meines Agenten bei Silver Ink Books, der Literaturagentur, die mich mit meinem ersten Buch unter Vertrag genommen hat und die seitdem meine Liebesromane an die Verlage vermittelt.

„Also, was sind deine tollen Neuigkeiten?“, frage ich.

Gestern Abend hatte ich von Declan eine Nachricht bekommen, dass er etwas mit mir zu besprechen hat und ich heute in sein Büro kommen soll. An einem Samstagmorgen. Da war mir sofort klar, dass es eine besondere Neuigkeit sein muss.

Über seinen Schreibtisch hinweg grinst mich Declan an.

„Du kommst nie drauf, wer sich bei uns gemeldet hat.“

„Wer?“

„Jemand von den Metropolis Studios.“

Ich starre Declan an. Meint er das ernst? Mein Herz beginnt, zu rasen, und in meinem Bauch kribbelt es, als wäre ein Bienenschwarm darin unterwegs. „Metropolis Studios? Du meinst doch nicht etwas das Filmstudio in New York City, oder?“

Er lacht. „Genau die meine ich, Sam. Sie haben Interesse an einer Adaption von Whispering Hearts.

„O mein Gott!“ Ich springe von meinem Stuhl auf, sodass dieser ein Stück über den Teppichboden rutscht, und schlage mir die Hände vor den Mund, vollkommen im Unglauben darüber, was ich gerade gehört habe.

„Wie geht es jetzt weiter?“, frage ich atemlos.

„Sie wollen dich kennenlernen.“

„Wow, okay, setzen wir einen Skype-Termin an, oder wie läuft das Ganze ab?“

Declan zwirbelt seinen Schnurrbart zwischen den Fingern.

„Nein, Samantha, sie wollen dich persönlich kennenlernen.“

„In … New York?“

„Ganz genau.“

„Das ist ja fantastisch!“, sage ich mit einem breiten Grinsen. „Wie genau soll das denn ablaufen?“, frage ich neugierig.

„Zunächst würden beide Seiten eine sogenannte Optionsvereinbarung unterzeichnen.“

„Was heißt das?“

„Das bedeutet, dass du den Leuten von Metropolis das Recht einräumst, aus deinem Manuskript ein Drehbuch zu machen. Diese Vereinbarung würde über zwölf Monate gehen, kann aber verlängert werden, sollte das nötig sein.“

„Und was passiert, falls der Drehbuchautor kein Skript aus meinem Buch machen kann?“, möchte ich wissen.

„Dann bekommst du die Rechte zurück. Mr Green, unser Ansprechpartner bei Metropolis, sagt, solange kein Drehbuch existiert, ist das Ganze als Testphase anzusehen.“

„Mir ist aber nicht ganz klar, warum sie mich persönlich kennenlernen wollen.“

„Nun, du würdest die Vereinbarung noch von hier unterschreiben und dich dann in New York mit Mr Green und seinem Team treffen, um am Drehbuch mitzuarbeiten. Sie wollen dich gern live und in Farbe kennenlernen.“ Mein Agent lacht. „Es soll geschaut werden, ob die Chemie stimmt und ihr zusammenarbeiten könnt. Mr Green sagt, die meisten weiteren Termine können dann online stattfinden.“ Declan schaut mich abwartend an.

Ich muss diese ganzen Informationen erst mal verarbeiten. „Weißt du, wie viel Mitspracherecht ich hätte?“

„Ja, die Zusammenarbeit soll sehr engmaschig erfolgen.“

Ich nicke. „Was denkst du?“ Declan und ich arbeiten seit Jahren zusammen und ich lege sehr viel Wert auf seine Meinung.

„Ehrlich? Tu es. Schau es dir an. Samantha, das ist eine phänomenale Chance, die sicher nicht jeder bekommt.“

„Das stimmt. Okay, ich sehe es mir an.“

Declan reicht mir ein Blatt Papier. „Das ist die Vereinbarung. Ich habe sie schon geprüft, du kannst sie guten Gewissens unterschreiben. Sie haben bereits einige Terminvorschläge geschickt, wahrscheinlich haben sie gar nicht infrage gestellt, dass du ihr Angebot annimmst.“

Mein Grinsen wird breiter. „So verrückt bin ich auch wieder nicht. Welche Termine stehen zur Auswahl?“

„Die meisten sind noch dieses Jahr, der erste ist am neunundzwanzigsten. Dann gibt es einen Mitte Dezember und einen in der ersten Januarwoche.“

Ich öffne den Kalender in meinem Handy. „Zeitlich passen mir alle drei. Wozu würdest du mir raten?“

„Ich weiß, wie ungeduldig du sein kannst“, sagt Declan und trifft den Nagel auf den Kopf. „Warum nimmst du nicht gleich direkt den ersten Termin? Du könntest schon jetzt hinfliegen, dann hättest du etwa zwei Wochen Zeit, um dich an die neue Zeitzone zu gewöhnen und dich vorzubereiten. Mach ein bisschen Urlaub. Du hast es dir verdient.“

Einen Moment denke ich über Declans Vorschlag nach. Es ergibt Sinn, nicht erst einen Tag vor dem Termin um die halbe Welt zu fliegen. Und wenn ich den frühen Termin nehme, bin ich über Weihnachten wieder zu Hause und kann meinem jährlichen Ritual nachgehen: Mich ungestört in meiner Wohnung verschanzen.

„Hört sich gut an. Sagst du für mich zu?“

Declan sieht zufrieden aus. „Ich gebe ihnen deine E-Mail-Adresse und deine Handynummer, ist das in Ordnung?“

„Natürlich.“

„Soll sich Majorie um einen Flug und deine Unterkunft kümmern?“

Majorie Simmons, die gute Seele der Verwaltung von Silver Ink Books.

„Das wäre großartig.“

Declan nickt, greift zum Hörer, gibt Majorie die Daten durch und bittet sie, sich um alles zu kümmern. In der Zeit lese und unterschreibe ich die Vereinbarung, damit Declan sie gleich an Metropolis zurückschicken kann. In mir kribbelt alles vor Aufregung!

Nachdem Declan aufgelegt hat, mustert er mich.

„Da wäre noch was, dass ich mit dir besprechen will“, meint er kryptisch. „Du weißt, wir, das heißt deine Lesenden sowie auch das Team von Silver Ink Books, wünschen uns seit Jahren ein Weihnachtsbuch von dir, deshalb -“

„Nein.“ Ich warte nicht einmal ab, was er noch zu sagen hat.

Ich arbeite für mein Leben gern mit Declan zusammen, aber die Antwort auf diese Frage wird immer gleich ausfallen.

„Ich hasse Weihnachten“, schiebe ich hinterher. „Deshalb werde ich kein Weihnachtsbuch schreiben.“

Declan seufzt. „Einen Versuch war es wert. Aber wer weiß, vielleicht inspiriert dich ja ein vorweihnachtliches New York mit all den Lichtern und so, du weißt schon.“

„Vielleicht“, sage ich, während Ich denke: Nie im Leben!

Mit meiner Antwort gibt sich Declan zufrieden. „Gut, dann sind wir so weit fertig. Ich sage Majorie, sie soll dir alle Infos zur Buchung zukommen lassen. Falls wir uns vor deiner Abreise nicht mehr sprechen, viel Glück und halt mich auf dem Laufenden, Goldkind.“

Ich schmunzle über seinen Spitznamen für mich. So richtig glaube ich noch gar nicht, was gerade passiert ist. Declans Nachfrage, ob ich mir vorstellen kann, ein Weihnachtsbuch zu schreiben nervt zwar genauso sehr wie immer, aber die Freude über den Termin mit Metropolis kann nichts trüben. Wenn das klappt, wäre es ein gigantischer Fortschritt für meine Karriere.

***

Ich habe das Bürogebäude noch nicht ganz verlassen, da ziehe ich mein Handy hervor und schreibe meiner besten Freundin Avery eine Nachricht, dass sie vorbeikommen soll, sobald sie Zeit hat. Als ich in mein Auto steige, antwortet sie mit einem Daumen-nach-oben-Emoji und einem rennenden Männchen.

Ich drehe die Klimaanlage hoch, froh, der australischen Sommerhitze entgehen zu können, und werfe mein Handy in das kleine Fach in der Mittelkonsole.

Dann fahre ich durch die Straßen von Brisbane bis zu dem Haus meiner Eltern, in dessen Obergeschoss ich meine eigene Wohnung mit separatem Eingang habe.

Als ich dort ankomme, parkt Avery gerade ihren quietschgelben Smart. Auf meine beste Freundin ist immer Verlass. Zeitgleich steigen wir aus den Autos aus. „Was ist passiert?“, fragt sie an Stelle einer Begrüßung.

„Erzähle ich dir gleich“, erwidere ich.

Statt zu meinem Wohnungseingang zu gehen, steuere ich den meiner Eltern an. Mit meinem eigenen Schlüssel verschaffe ich uns Zutritt.

„Mum? Dad?“, rufe ich.

„In der Küche!“, kommt die Antwort meiner Mutter.

Avery und ich folgen ihrer Stimme und betreten schließlich die Küche, wo Mum und Dad noch am Frühstückstisch sitzen. Da Avery regelmäßig zu Besuch ist, sind sie nicht überrascht, sie zu sehen.

„Guten Morgen, ihr beiden“, sagt Dad mit abwartendem Blick. „Setzt euch doch, wollt ihr Kaffee?“

„Gern, danke“, antwortet Avery für uns beide. Sie weiß: Kaffee würde ich niemals ablehnen. Nachdem Avery einen Schluck des Kaffees getrunken hat, schaut sie mich an. „Verrätst du mir jetzt, warum du wolltest, dass ich herkomme?“

Eigentlich wollte ich die drei noch ein wenig auf die Folter spannen, doch dafür bin ich zu ungeduldig.

„Ich komme gerade aus der Agentur.“

„Und?“ Dad schaut mich aufmerksam an.

„Jemand von Metropolis Studios aus New York hat sich bei Declan gemeldet. Anscheinend haben sie Interesse daran Whispering Hearts zu verfilmen.“

Mum verschluckt sich an ihrem Kaffee und Dad und Avery schauen mich an, als spräche ich eine Sprache, die sie nicht verstehen.

„Ist das dein Ernst?“, fragt Avery mit schriller Stimme.

„Mein voller Ernst! In zwei Wochen ist ein Treffen angesetzt. In New York.“

„Wow!“

In Mums Augen glitzern Tränen. „Ich bin so stolz auf dich.“

„Danke! Ich will mich nicht zu sehr reinsteigern, aber ich bin super aufgeregt.“

„Wann fliegst du?“, will Dad wissen.

In dem Moment kündigt mein Handy eine eingehende Mail an.

Ich öffne sie und staune nicht schlecht.

„Übermorgen“, sage ich.

„Was?“, fragt Mum.

„Ich fliege übermorgen. Majorie hat mir gerade meine Flugdaten geschickt.“

„Wie aufregend“, flüstert Avery ehrfürchtig. „New York! Überleg mal, was du alles sehen wirst: Die Freiheitsstatue, die Brooklyn Bridge, den Central Park und den Broadway! Mensch, bin ich neidisch, Sam. Ich wünschte, ich könnte dich begleiten.“

Ein aufregendes Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus.

„Und das alles auch noch zur Weihnachtszeit.“ Avery lächelt verträumt.

Zack, das Kribbeln ist abgestorben. Ich mag kein Weihnachten, nicht mehr, seit ich es nur noch mit negativen Erinnerungen in Verbindung bringe. Das kann nicht einmal New York City ändern.

Kapitel 1

Verdammt ist das kalt, ist mein erster Gedanke, als ich den John F. Kennedy Flughafen in New York City auf der Suche nach einem Taxi verlasse. Ich schaue an mir herunter und betrachte meine schwarze Jeans, die auf Kniehöhe endet, mein graues Shirt sowie die leichte schwarze Strickjacke, die ich im Flieger als Schutz gegen die viel zu kalt eingestellte Klimaanlage benutzt habe. All das ist absolut unpassend für einen Novembertag in den USA, das ist mir klar. Doch zu Hause ist gerade Hochsommer und da bekommt man nichts Wintertaugliches in den Geschäften zu kaufen. Und aufgrund der ziemlich überstürzten Abreise blieb mir auch keine Zeit für Onlineshopping.

Deshalb stecken meine Füße auch in beigen Sneakers und verwandeln sich mit jeder Minute hier draußen mehr und mehr zu Eiszapfen. Aber immerhin liegt kein Schnee, das beruhigt mich.

Bevor ich irgendwas anderes tue, muss ich unbedingt Winterkleidung shoppen gehen. Vielleicht sollte ich vorher meinen Koffer ins Apartment bringen, damit ich ihn nicht die ganze Zeit mit mir herumschleppen muss. Ich winke mir eins der gelben Taxis heran, so wie ich es aus dem Fernsehen kenne, und steige ein.

***

Aufgrund der Kurzfristigkeit der Reise hatte ich mit einem kleinen, aber feinen Hotelzimmer gerechnet, doch netterweise überlässt mir einer von Declans Kollegen sein Ferienapartment für die Zeit meines Aufenthaltes. Das Apartment ist erstaunlich groß. Ich kenne mich mit den Mietpreisen hier zwar nicht aus, weiß allerdings, dass Manhattan nicht gerade billig ist. Deshalb hatte ich eigentlich eher mit etwas von der Größe eines Schuhkartons gerechnet, doch die Räume sind hell und freundlich und im Wohnbereich gibt es eine gigantische Fensterfront mit Ausblick über Manhattan. Die Küche scheint auf den ersten Blick voll ausgestattet zu sein. Nur der Kühlschrank ist – selbstverständlich – leer. Im Badezimmer gibt es sogar einen Whirlpool. Den muss ich definitiv testen, solange ich hier bin. Wann hat man schon mal so eine Gelegenheit?

Das Queensize Bett im Schlafzimmer ist so groß und weich, dass ich mich am liebsten gleich darauf fallen lassen will, um den Rest des Tages zu verschlafen, doch das werde ich nicht tun. Lieber kämpfe ich so gut gegen den möglichen Jetlag an, wie ich kann. Stattdessen räume ich meinen Koffer aus, das heißt, zumindest die paar Sachen, die ich mitgenommen habe, wie Unterwäsche, Pflegeprodukte und ein paar Strickjacken. Das schreit nach einer Shoppingtour.

***

Manhattan surrt wie ein Bienenstock. Überall sind Menschen. Die meisten achten nicht darauf, was um sie herum passiert. Die Macht der Großstadt. Meine Heimatstadt Brisbane ist auch nicht gerade ein Dorf, aber mit New York City kann man es nun nicht vergleichen. Alles wirkt so lebendig, das gefällt mir. Ich steuere das nächste Kaufhaus an und beginne, mich durch die Auswahl zu arbeiten. Auf Anhieb finde ich einige Sachen, die mir gefallen, ich konzentriere mich jedoch zunächst auf Kleidung, die ich gleich anziehen kann, um das Risiko von Frostbeulen zu reduzieren. Die anderen Kleidungsstücke, kann ich mir danach immer noch in Ruhe ansehen.

Nachdem ich eine lange Jeans, einen beigen Wollpullover, ein Paar Stiefel und einen passenden Mantel gefunden habe, stöbere ich noch ein wenig weiter und so landen noch weitere Kleidungsstücke über meinem Arm. Nachdem ich meine Ausbeute anprobiert habe, bezahle ich und bitte die mürrisch dreinsehende Verkäuferin, die Etiketten für mich abzuschneiden. Mit dem ersten Outfit über dem Arm steuere ich die Toiletten an, um mich umzuziehen. Danach geht die Shoppingtour weiter.

Zweieinhalb Stunden später glüht meine Kreditkarte und Unmengen an Tüten baumeln an meinem Arm. Ich habe definitiv mehr gekauft als nötig. Zurück zum Apartment muss ich mir ein Taxi nehmen, das alles kriege ich zu Fuß niemals so weit getragen. Aber immerhin habe ich jetzt Kleidung für alle Wetterlagen. Jetzt brauche ich einen Kaffee.

Ein paar Straßen weiter entdecke ich ein Café namens Cornelia’s. Mit dem Ellenbogen stoße ich die Tür auf und trete ein. Sofort schlägt mir warme Luft entgegen, zeitgleich klingelt ein Glöckchen über mir und kündigt meinen Besuch an.

Kurz schaue ich mich um und stelle fest, dass das Café nicht besonders voll ist. Nur etwa ein Drittel der Tische ist besetzt. Ohne mich weiter umzusehen, gehe ich zur Theke.

„Guten Tag, was kann ich Ihnen bringen?“, fragt die Barista freundlich lächelnd.

„Einen großen Latte macchiato, bitte.“

„Möchten Sie ihn hier trinken oder soll ich ihn to go fertigmachen?“

Ich schaue auf meine Einkäufe und erinnere mich daran, wie sehr ich mich nach Ruhe sehne nach diesem anstrengenden Tag. „To go, bitte.“

Die Barista nickt und nimmt einen der Pappbecher vom Stapel. Mit einem schwarzen Stift in der Hand fragt sie: „Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„Samantha“, antworte ich.

Nachdem ich bezahlt habe, wird kurz darauf schon meine Bestellung aufgerufen. Ich greife nach dem Becher, der meine kalten Hände wärmt.

„Vielen Dank. Einen schönen Tag noch“, sage ich in den Raum hinein und gehe. Draußen nehme ich als Erstes einen großen Schluck meines Kaffees.

Oh, der schmeckt himmlisch!

Hoffentlich liefert er mir auch die nötige Energie, die ich brauche, um bis abends wachzubleiben.

***

Als es endlich Schlafenszeit war, war ich zu wach, um zu schlafen. Bis morgens um drei Uhr habe ich mich rastlos hin und her geworfen, bis ich schließlich eingeschlafen bin.

Deshalb ist es auch schon halb eins mittags, als ich endlich wach werde. Ich brauche einen Augenblick, um mich zu orientieren. Als ich wieder weiß, wo ich bin, lasse ich mich zurück in die Kissen sinken. Meinen ersten Tag in New York City habe ich mehr oder weniger verschwendet. Heute will ich mir definitiv die Stadt ansehen. Doch zuerst brauche ich meine morgendliche Dosis Koffein.

Nachdem ich mich fertig gemacht habe, peile ich das erstbeste Café an. Während ich auf meinen bestellten Latte macchiato warte, überlege ich, was ich mir als Erstes ansehen soll. Die Freiheitsstatue? Die Brooklyn Bridge? Oder doch lieber den Central Park? Lächelnd fällt mir ein, dass genau das die Orte waren, die Avery mir genannt hatte.

Vorerst, so beschließe ich, will ich nur ein bisschen durch die Stadt schlendern. Ich nehme einen Schluck von meinem Latte und verziehe angewidert das Gesicht. Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, ihn auf den Weg vor mir zu spucken. Der schmeckt echt eklig! Zum einen ist er eiskalt und zum anderen schmeckt er nur bitter. Super, und jetzt? Genervt pfeffere ich den vollen Pappbecher in den nächsten Mülleimer und sehe mich nach einer Alternative um, als mir das Café von gestern wieder einfällt. Cornelia’s heißt es, glaube ich? Der Kaffee dort war spitze! Also mache ich mich auf den Weg dahin.

***

Im Gegensatz zu gestern nehme ich mir heute Zeit, das Café genauer zu inspizieren Es ist größer, als es von außen den Anschein macht. Trotzdem wirkt es eher wie ein großes Wohnzimmer als ein Café. Die Wände sind in einem hellen Grünton gestrichen und der Boden ist aus hellem Buchenholz. An mehr als der Hälfte der Tische stehen keine Stühle, sondern gemütlich aussehende Sessel. Im hinteren Teil führt eine Treppe zu einer Empore hinauf und an der Theke stehen aufgereiht Barhocker. An der Wand dahinter hängen schwarze Tafeln, auf denen mit bunter Kreide die Auswahl an Getränken, Snacks und Gebäck geschrieben stehen. Heute ist mehr los als gestern. Vielleicht liegt das an der Uhrzeit. Ich reihe mich in der Schlange ein und warte, bis ich an der Reihe bin, meine Bestellung aufzugeben. Dabei lausche ich der Jazzmusik, die leise aus den Lautsprechern dudelt.

Die Barista hinter der Kasse ist dieselbe wie gestern. Sie trägt eine bordeauxrote Schürze und auf ihrem Namensschild steht Lily. Das ist mir gestern gar nicht aufgefallen.

„Willkommen, was kann ich für Sie tun?“ Mit ihrem Lächeln entblößt sie eine Reihe perfekter weißer Zähne.

„Einen großen Latte macchiato.“ Mein Blick fällt auf die Auslage und mir wird bewusst, dass ich zuletzt im Flugzeug etwas Richtiges gegessen habe. „Und einen Bagel mit Frischkäse.“

„To go oder zum hier essen?“

Eine Sekunde überlege ich. Mich zum Essen in Ruhe hinzusetzten, ist wahrscheinlich eine gute Idee. „Den Bagel zum hier essen, aber den Kaffee bitte in einem To-go-Becher, wenn das geht.“ So kann ich nach dem Essen anfangen die Stadt zu erkunden, ohne mein flüssiges Gold zurückzulassen.

„Gern, das ist kein Problem. Darf ich Ihren Namen erfahren?“, fragt sie höflich.

„Sam“, antworte ich und sie nickt.

Während ich auf meine Bestellung warte, beobachte ich die Barista Lily. Mir fällt auf, dass sie strahlend blaue Augen und ein einnehmendes Lächeln hat.

Einige Minuten später nehme ich meinen Kaffee und den Bagel von der Theke und sehe mich nach einem freien Platz um. Mittlerweile ist es im unteren Bereich sehr voll.

Vor allem die Sessel sind belegt, also mache ich mich auf den Weg zur Empore, dort ist es leerer. An der Rückwand befinden sich drei Bücherregale mit einem Schild davor, auf dem LIES UNS! steht.

Ich lasse mich in einen der Sessel am Fenster fallen. Wenn ich in Ruhe etwas gegessen habe, bleibt immer noch genug Zeit, die Stadt zu erkunden. Doch als ich meinen Bagel aufgegessen habe, fällt mein Blick erneut auf die Bücherregale. Ich stehe auf und gehe hin, um zu sehen, welche Bücher dort stehen. Es ist eine bunte Mischung und es dauert nicht lange, bis ein Titel seine Aufmerksamkeit auf mich zieht. Es ist ein Thriller, den ich schon lange lesen wollte, nur nehme ich mir zu Hause selten die Zeit, mich in Ruhe mit einem Buch hinzusetzten, weil ich ständig andere Dinge tue, die mir in dem Moment wichtiger erscheinen. Ich ziehe das Buch aus dem Regal und gehe zu meinem Sessel zurück. Dort mache ich es mir bequem, schlage das Buch auf und fange an zu lesen.

Schon innerhalb des ersten Kapitels hat mich die Geschichte gepackt und ich fliege so schnell durch die Seiten, dass ich alles um mich herum einfach ausblende.

***

„Miss?“ Eine Stimme holt mich zurück in die Realität. Ich zucke zusammen und blicke vom Buch auf. Vor meinem Tisch steht eine kleine runde Frau mit schwarzem Dutt auf dem Kopf. Ein paar graue Strähnen zeichnen sich darin ab. Sie trägt die gleiche Schürze wie die Barista.

„Ja?“, frage ich leicht verzögert, weil ich in Gedanken immer noch zwischen den Seiten des Buches hänge.

„Es tut mir leid, Sie zu stören, aber wir schließen jetzt.“

„Schließen? Du meine Güte, wie spät ist es denn?“

Die Frau, laut ihrem Namensschild heißt sie Wanda, lächelt mich herzlich an. „Es ist gleich acht Uhr.“

Wann habe ich zuletzt so gut abgeschaltet? Zu Hause habe ich immer entweder eine Deadline oder andernfalls eine lange To-do-Liste, die dafür sorgt, dass ich mir zu wenig Zeit für mich nehme. Oder eine Idee lässt mir keine Ruhe, irgendwas ist immer. Ich versuche mir Declans Ratschlag zu Herzen zu nehmen und einfach mal Urlaub zu machen.

„Oh, natürlich, ich bin gleich weg. Ich würde nur gern das Kapitel zu Ende lesen, wenn das okay ist? Es ist gerade so gut.“

„Aber sicher. Das Café gehört mir, es ist schon in Ordnung einmal erst um fünf nach acht zu schließen“, erwidert sie lächelnd.

Da stutze ich. „Das Café gehört Ihnen?“ Ich deute auf ihr Namensschild. „Aber Sie heißen Wanda und das Café Cornelia’s. Müsste es dann nicht Wanda’s heißen?“ Gespannt sehe ich mein Gegenüber an. „Bitte entschuldigen Sie meine Neugierde. Berufskrankheit als Autorin“, sage ich und lächle entschuldigend, als mir bewusst wird, wie aufdringlich ich gerade geklungen haben muss.

Wanda winkt ab. „Schon in Ordnung, Herzchen. Dieser Ort war ein jahrelanger Traum von meiner besten Freundin Cornelia und mir. Schon in der High School wollten wir eines Tages unser eigenes Café eröffnen. Als wir dann diesen Laden gefunden haben und das auch noch in der Cornelia Street, da war alles ganz schnell geklärt. Alle guten Dinge sind drei, wissen Sie?“

„Ah, verstehe“, erwidere ich. „Gut. Ich beeile mich das Kapitel zu Ende zu lesen, dann können Sie Feierabend machen.

***

Etwas später, als ich mich im Apartment am Esstisch über eine Box mit gebratenen Nudeln beuge und meinen Tag Revue passieren lasse, stelle ich erneut fest, dass ich seit langer Zeit nicht mehr so einen entspannten Tag hatte. Ob das an der Atmosphäre des Cornelia’s lag? Das werde ich wohl herausfinden müssen.