Kapitel 1
Die frühe Nachmittagssonne fiel durch die Fenster des großen Unterrichtsraums von Stern Manor. Der Raum war bestückt mit Bücherregalen, vier Schreibtischen, zwei Sofas und diversem Spielzeug.
Miss Dorothea Stern saß auf dem größeren der beiden abgesessenen Sofas und war gerade dabei, rosafarbene Seide in ihre Sticknadel zu fädeln. Eine Damaszener-Rose musste sie noch vollenden, ehe die Schuhe für ihre Mutter fertig waren.
Doch ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach nicht verdrängen, wie öde es daheim geworden war, seit ihre beste Freundin, Lady Charlotte Carpenter, gegangen war. Jahrelang hatten sie vorgehabt, ihr Debüt in der High Society gemeinsam anzutreten. Seit sie laufen konnten, hatten sie alles gemeinsam getan.
Es gab jedoch allerlei für Dotty zu tun, um sie in der Zwischenzeit auf Trab zu halten. Seit dem Unfall ihrer Mutter hatte sie all ihre Verpflichtungen übernommen. Dotty fand Freude daran, ihre Pächter zu besuchen, sich mit den Kindern und den Müttern zu unterhalten und Wege zu finden, um ihnen zu helfen.
»Dotty«, quengelte Martha, ihre sechs Jahre alte Schwester, »Scruffy will nicht stillsitzen.«
Scruffy, ein dreibeiniger Hund, den Dotty aus einer Jagdfalle gerettet hatte, weigerte sich standhaft, sich von Martha eine Schleife umbinden zu lassen. »Liebes, Jungs mögen keine Schleifchen. Binde sie lieber deiner Puppe um.«
Die fünfzehnjährige Henrietta blickte von ihrem Buch auf. »Da hat sie die Schleife doch her.«
»Henny«, sagte Dotty, »solltest du nicht dein Harfenspiel üben?«
Ihre Schwester streckte ihr die Zunge heraus. »Nein, eigentlich sollte ich Ovid auf Griechisch lesen.«
Ihr Vater, Sir Henry, war ein klassischer Philologe und bis zum Tod seines älteren Bruders vor wenigen Jahren Rektor gewesen. Zu Hennys Entsetzen, hatte er beschlossen, den Kindern Latein und Griechisch beizubringen.
Dotty musterte das Buch, das ihre Schwester in den Händen hielt. Der bunte Buchrücken war ein eindeutiges Erkennungszeichen der Minerva Druckerei. »Das da ist eindeutig nicht von Ovid.«
Henny stieß die Luft aus und verdrehte die Augen. »Ist es nicht derzeit für die Damen der Gesellschaft modern, dumm zu sein?«
»Nein, sie sollen dumm erscheinen«, erwiderte Dotty schnippisch. »Was absolut lächerlich ist. Ich weigere mich, einen Gentleman zu heiraten, der der Meinung ist, Frauen sollten nicht nachdenken.«
»Wenn das so ist, wirst du wohl als alte Jungfer enden«, gab Henny zurück.
»Lord Worthington gefällt es, dass Grace intelligent ist.« Dotty unterdrückte ein selbstgefälliges Grinsen. »Ich bin mir sicher, dass es andere Gentlemen gibt, die ebenso denken.«
Charlottes ältere Schwester, Grace, war nun die Countess of Worthington. Sie war für Charlottes Debüt mit den fünf jüngeren Kindern nach London gereist. Kurz nachdem sie in der Stadt angekommen waren, hatte Grace die Bekanntschaft von Mattheus, dem Earl of Worthington, gemacht und sich in ihn verliebt. Drei Wochen später hatten sie geheiratet.
Vor nicht allzu langer Zeit waren Grace und ihr neuer Gemahl für ein paar Tage nach Stanwood House zurückgekehrt, damit Lord Worthington, der jetzt die Vormundschaft für ihre Brüder und Schwestern übernommen hatte, sich ein Bild vom Anwesen machen konnte.
Ehe Henny ihr antworten konnte, öffnete sich die Tür. »Miss«, Polly, Dottys Zofe, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, ehe er auf Dotty landete, »Ihre Ladyschaft hat darum gebeten, dass ich Sie zu ihr bringe.«
Dotty fädelte die Seide ein, sicherte die Nadel und legte den Schuh zur Seite. »Geht es ihr gut?«
»O ja, Miss.« Polly hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Sie hat einen Brief aus London erhalten und unverzüglich nach Ihnen rufen lassen.«
Dotty eilte zur Tür. »Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«
Einen Brief aus London zu erhalten, war nichts Schönes. So gut wie jeder, den sie kannten, war zur Ballsaison in die Stadt gereist. Mutter und Dotty hätten ebenfalls dort sein sollen, doch am Tag vor der Abreise war ihre Mutter gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen.
»So ist es nicht, Miss«, sagte ihre Zofe, die ihr hinterhereilte. »Ihre Ladyschaft hat gelächelt.«
»Nun, ich schätze, je schneller ich bei ihr bin, desto schneller werde ich erfahren, was sie möchte.« Eine Minute später klopfte sie an die Tür des Salons ihrer Mutter und trat ein. »Mutter, was gibt es?«
Ihre Mutter wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft und hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht. »Ich habe unerwartete und wundervolle Neuigkeiten. Du wirst doch noch deine Ballsaison bekommen!«
Dotty fiel die Kinnlade herunter. Ruckartig schloss sie den Mund wieder und ging zu einem Stuhl, der neben ihrer Mutter stand. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Großmutter Bristol kann mich aufgrund von Tante Marys Schwangerschaft nicht sponsern.«
»Der hier«, ihre Mutter wedelte den Brief erneut umher, »kommt von Grace.«
Dottys Herzschlag beschleunigte sich und sie verschränkte die Hände. »Was – was schreibt sie?«
»Nachdem die liebe Charlotte deine Nachricht erhalten hat, dass du zur Ballsaison nicht in die Stadt reisen kannst, hat sie Grace davon überzeugt, dich einzuladen. Sie schreibt«, Mutter rückte ihre Brille zurecht, »es würde ihnen absolut nichts ausmachen, dich aufzunehmen. Sie ist für das Debüt von Charlotte und Lady Louisa Vivers – Worthingtons Schwester, wie du weißt – zuständig und in einem Haus mit zehn Kindern wird eine Person mehr kaum auffallen. Sie hat außerdem angemerkt, dass dein Scharfsinn sich als nützlich erweisen könnte.« Ihre Mutter blickte auf. »Nicht, dass ich ihr widersprechen würde. Du hast tatsächlich ein ausgesprochen gutes Urteilsvermögen, aber ich bin mir sicher, dass Grace das für deinen Vater geschrieben hat. Du weißt doch, dass er niemandem zu Dank verpflichtet sein mag.« Ihre Mutter richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Brief. »Und es wäre sehr schade, wenn du dein Debüt nicht mit Charlotte antreten könntest, so wie ihr beiden Mädchen es bereits seit Jahren geplant habt.« Mit einer ausladenden Handbewegung ließ ihre Mutter das Stück Papier sinken und lächelte zufrieden. »Na, was hältst du davon?«
Eine ganze Weile verschlug es Dotty wortwörtlich die Sprache. Ihr Kopf war noch nie wie leergefegt gewesen. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Sie schüttelte den Kopf und brachte endlich eine Antwort zustande. »Ich hätte nie geglaubt … also, ich meine, ich wusste, dass Charlotte Grace fragen würde, aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass Lord Worthington einwilligt. In ihrem letzten Brief schrieb sie jedoch, dass sie mich schrecklich vermisst. Lady Louisa, Worthingtons Schwester, hat sogar geschrieben, sie habe so viel von mir gehört, dass es sich anfühle, als würde sie mich bereits kennen, und dass sie sich wünscht, ich könnte in der Stadt sein.«
Plötzlich wurde Dotty sich der Tatsache bewusst, dass sie tatsächlich nach London reisen würde. »Ich werde wirklich eine Ballsaison haben!« Sie sprang auf, eilte zu ihrer Mutter und schloss sie in die Arme. »Ich wünschte, du könntest mitkommen.«
Ihre Mutter tätschelte Dotty den Rücken. »Ja, Liebes. Das wünsche ich mir auch, aber Grace wird gut auf dich aufpassen.«
»Wann werden wir Vater von Graces Angebot unterrichten?« Was, wenn ihr Vater es ihr verbieten würde? Das wäre entsetzlich. »Ich glaube nicht, dass er sich so freuen wird wie wir.«
Ihre Mutter richtete den Blick kurz an die Decke und stöhnte dann leidend. »Wenn es nach ihm gehen würde, würdest du dein Debüt frühestens mit zwanzig machen. Er ist außer Haus. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen mit der Bitte, mich aufzusuchen, sobald er zurückkehrt.« Sie richtete sich auf und lehnte sich gegen die Kissen. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es gibt viel zu besprechen. Polly«, sagte ihre Mutter zu Dottys Zofe, die in der Tür verharrt war, »lassen Sie sich die Truhen vom Dachboden bringen und fangen Sie schon einmal damit an, Miss Dottys Kleidung zusammenzupacken.«
»Sehr wohl, Ihre Ladyschaft.«
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, lehnte sich ihre Mutter ein Stück vor und senkte die Stimme. »Dein Vater wird die Idee, dich ohne mich nach London gehen zu lassen, zunächst nicht gefallen, aber mach dir keine Sorgen, Liebes. Ich werde ihn schon umstimmen.«
Dotty setzte sich und faltete die Hände in ihrem Schoß, die vor Aufregung leicht zitterten. Sie würde tatsächlich mit ihrer allerbesten Freundin auf der ganzen Welt in die Gesellschaft eingeführt werden! »Ich sollte Charlotte und Grace schreiben, um ihnen zu danken.«
»Ja, nachdem alles entschieden ist.« Ihre Mutter zog ihr Notizbuch hervor und befeuchtete die Spitze ihres Bleistifts mit der Zunge. »Wir müssen uns überlegen, wer dich begleiten wird. Vater wird nicht es erlauben, dass du mit Polly allein reist. Ich meine, Mrs. Parks hätte gesagt, dass ihre Schwester in London eine Freundin besuchen fährt. Ich werde sie fragen, ob sie auf dich aufpassen kann. Schließlich würde es ihr die Mühe ersparen, eine Kutsche zu buchen und zu bezahlen.«
Dotty nickte. »Ja, Mutter. Ich glaube, Miss Brownly bricht in ein paar Tagen auf. Sie wollte in der Postkutsche reisen.«
»Dann wird sie sich sicher über die Gelegenheit freuen, in einer privaten Kutsche zu fahren und in einem angenehmen Wirtshaus zu rasten. Und jetzt ab mit dir, geh und hilf Polly. Ich werde dich rufen lassen, nachdem ich mit deinem Vater gesprochen habe.«
Dotty gab ihrer Mutter einen Kuss, ehe sie recht undamenhaft die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufflitzte. Es standen bereits vier offene Truhen in ihrem Zimmer und ihr Kleiderschrank war leer. Sie begann, die Kleider zu falten, die auf ihrem Bett lagen. »Polly, ich hoffe wirklich sehr, dass Mutter Vater überzeugen kann.«
Die Zofe hielt einen Augenblick lang inne, um nachzudenken. »Ich glaube, Sir Henry hat gegen ihre Ladyschaft keine Chance.« Sie nickte entschieden. »Sie wird sich durchsetzen.«
Dotty lächelte. Für gewöhnlich tat ihre Mutter das tatsächlich. »Trotzdem … es wird mir besser gehen, wenn ich Gewissheit habe.«
***
Zwei Stunden später betrachtete Sir Henry Stern den Brief in seiner Hand mit einem Stirnrunzeln, als er den Salon seiner Frau betrat. »Dieser kommt von Lord Worthington. Ich schätze, du wirst einen von Grace erhalten haben.«
Lady Stern lächelte. Sie liebte ihren Gatten wirklich sehr, aber gelegentlich ging sein Drang zur Unabhängigkeit zu weit. Sie würde nicht zulassen, dass er Dotty ihre Ballsaison verdarb. »Das habe ich. Ich glaube, ich habe mich noch nie so sehr für Dorothea gefreut. Sie und Charlotte träumen schon seit so vielen Jahren von ihrem Debüt, und all die neuen Kleider, die wir für sie haben anfertigen lassen … nun, es wäre doch schade, wenn sie davon keinen Gebrauch machen kann.«
Ihr Ehemann schien nicht überzeugt zu sein. »Worthington hat zwar versprochen, dass er sich um Dotty genauso kümmern wird, wie um seine Schwester Lady Louisa und Charlotte«, die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, »aber Cordelia, wir würden ihm unsere Tochter anvertrauen. In London. Und so gut kennen wir ihn nicht einmal.«
»Henry«, Cordelia bemühte sich um einen geduldigen Tonfall, »wir kennen Grace, und Worthington war überaus liebenswert, als sie uns, während der wenigen Tage, die sie hier waren, zum Dinner in Stanwood Hall eingeladen haben. Er hat einen guten Ruf. Ganz und gar nicht anrüchig, wie Harry sagen würde.« Ihr Ehegatte presste die Lippen aufeinander und Cordelia fuhr hastig fort. »Außerdem hätte Grace ihm nicht mit ihren Brüdern und Schwestern vertraut, wenn er kein ehrenwerter Mann wäre.«
»Aber auf drei junge Damen aufzupassen?«
Sein entsetzter Gesichtsausdruck brachte sie fast zum Lachen.
»Du vergisst, dass Jane Carpenter, Graces Cousine, noch bei ihnen ist und die Witwe Worthington ebenfalls. Sie werden die Mädchen ausgiebig beaufsichtigen und Grace hat Dottys gutes Urteilsvermögen angemerkt.«
»Nun denn.« Er blickte auf die Nachricht und zog die Brauen so streng zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten. »Da die Ballsaison bereits in vollem Schwung ist, bittet Worthington um eine unverzügliche Rückmeldung. Ich schätze, ich sollte ihm wohl schreiben.«
Cordelia lächelte wieder. »Bedeutet das, du wirst es Dorothea erlauben, hinzufahren?«
Ein Funken Humor trat in die Augen ihres Ehemannes. »Ich kenne dich, Liebling. Wenn ich Nein sage, würde ich es bis in alle Ewigkeit zu hören bekommen. Du bist genauso entschlossen wie deine Mutter. Wie gedenkst du, Dotty reisen zu lassen?«
»Darüber kannst du dich nicht beschweren, Liebster. Wenn wir nicht so eigensinnig gewesen wären, dann hätte man es uns niemals erlaubt, zu heiraten.« Cordelia fiel es schwer, nicht triumphierend zu klingen. Es war ein Glück, dass die Sterns seit Generationen mit den Carpenters befreundet waren. »Ich werde all die nötigen Vorkehrungen treffen.«
»Na schön. Ich weiß, du wirst Dotty so bald wie möglich losschicken. Vorher möchte ich aber noch einmal mit ihr sprechen.«
»Natürlich, Liebster.« Cordelia zog an der Klingel und ließ nach ihrer Tochter rufen.
Dottys Schritte wurden zögerlich, als sie das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat. Bei seinem mürrischen Gesichtsausdruck verknotete sich ihr Magen. Er würde es ihr nicht erlauben, in die Stadt zu fahren. Sie würde sich wohl oder übel damit abfinden müssen. Sich aufzuregen, würde nicht helfen. Sie atmete tief ein und wappnete sich für die schlechten Neuigkeiten. »Ja?«
»Dein Vater möchte mit dir sprechen.« Ruckartig wandte sie den Kopf und sah ihre Mutter auf dem Sofa liegen. Dies musste wichtig sein, wenn ihre Mutter sich dafür hatte herbringen lassen.
Vater trat hinter dem Schreibtisch hervor und fasste Dotty an den Schultern. »Du darfst für deine Saison zu Charlotte reisen. Du weißt jedoch, wie ich darüber denke. Du bist noch jung, und es gibt keinen Grund für dich, so bald schon zu heiraten.«
Ihre Miene blieb so ernst, wie die ihres Vaters. »Ich weiß, Vater.«
Er räusperte sich. »Wenn ein junger Herr Interesse an dir zeigt, hat er sich zuerst an Lord Worthington zu wenden. Er wird wissen, ob der Gentleman anständig und eine gute Partie ist.«
Dotty nickte. Erleichterung und Aufregung machten sich in ihr breit. Doch ihr Vater war noch nicht fertig. Sie wartete, bis er fortfuhr.
»Wenn man bedenkt, wie viele Personen Worthingtons Haushalt bereits umfasst und dazu noch die Hunde, musst du mir versprechen, dass du keine streunenden Tiere oder Menschen nach Stanwood House bringst. Das würden sie sicher nicht begrüßen.«
»Versprochen, Vater.«
»Und nun werde ich mich vergewissern, dass die Kutsche bereit ist.«
Sobald ihr Vater die Tür zugezogen hatte, entfleuchte ihr ein kleines Quietschen und sie umarmte ihre Mutter. »Oh, Mutter! Vielen Dank. Das werde ich dir nie vergelten können.«
Sie tätschelte Dottys Wange. »Doch, das kannst du, indem du Spaß hast. Aber achte auf die Worte deines Vaters. Mit all den Kindern und zwei Dänischen Doggen brauchen die Worthingtons keine dreibeinigen Hunde oder halbblinden Katzen, von obdachlosen Kindern ganz zu schweigen.«
»Jawohl, Mutter. Ich werde mein Bestes tun.« Dotty grinste.
Alle liebten Scruffy. Der Kater war der beste Mäusefänger, den sie je gehabt hatten. Und Benjy entwickelte sich zu einem großartigen Stallburschen. Man musste Menschen und Tieren bloß eine Chance im Leben geben. Nichtsdestotrotz hatten ihre Eltern nicht ganz unrecht. Es war eine Sache, mit Streunern in Stern Manor aufzukreuzen, sie aber in das Haus von jemand anderem zu bringen, war etwas völlig anderes. Dotty schickte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass sie auf niemanden treffen würde, der Hilfe benötigte.
Kapitel 2
Dominic, der Marquis of Merton, machte es sich in seinen Gemächern des Pulteney Hotels bequem. Dass man ihn aus dem Haus seines Cousins, Matt Worthington, geworfen hatte, kränkte seinen Stolz noch immer. Das Rauchen war derzeit der letzte Schrei. Nicht, dass Dom es jemals gewagt hätte, im White’s zu rauchen, denn dort war es schließlich verboten; aber er hatte einen höheren Rang als Worthington und demnach hätte man ihn wie einen Ehrengast behandeln sollen. Nicht fristlos vor die Tür setzen. Jedoch kam es Dom gelegen, dass er das Rauchen nicht wirklich genoss, da er sich ziemlich sicher war, dass es im Pulteney ebenfalls nicht erlaubt war.
Er hätte sich auf seine Kavaliersreise begeben sollen, statt in die Stadt zu kommen. Doch seine Mutter hatte einen Brief erhalten, der sie über die anstehende Hochzeit seines Cousins informierte, und so hatte er beschlossen, dass es das Vernünftigste sein würde, an seinen eigenen Nachwuchs zu denken. Schließlich würde die Erbfolge sich nicht von allein aufrechterhalten, und er hatte eine Verpflichtung gegenüber seiner Familie und seinen Angehörigen. Vielleicht konnte er verreisen, nachdem er geheiratet hatte.
Nicht, dass Dom England tatsächlich verlassen wollte. Ihm gefiel ein geordnetes Leben und das Reisen würde die Struktur, mit der er sich wohlfühlte, garantiert erschüttern. Frankreich kam für ihn als Reiseziel nicht in Frage. Ein Land, in dem die Einwohner nicht davor zurückschreckten, all jene, die über ihnen standen, zu ermorden, hatte für ihn keinen Reiz. Es ging letzten Endes immer um die korrekte Ordnung der Dinge. Das Leben war so viel schöner, wenn alle sich an die Regeln hielten und wussten, wo sie hingehörten.
Kurz zog er es erneut in Erwägung, Merton House für die Ballsaison zu beziehen, aber wenn seine Mutter nicht ebenfalls anwesend war, lohnte es sich einfach nicht. Ohne sie als seine Gastgeberin würde er, außer für seine Freunde, keine gesellschaftlichen Empfänge halten können. Er hatte nicht vor, lange in der Stadt zu bleiben, und für die kurze Zeit würde das Hotel genügen. Eine Braut zu finden, sollte nicht allzu lange dauern. Schließlich war er ein Marquis. Selbst ohne sein beachtliches Vermögen wäre er eine gute Partie.
»Kimbal«, rief er seinen Kammerdiener.
»Ja, Milord?«
»Ich werde im White’s dinieren.«
»Sehr wohl, Milord.«
Dom schrieb seinem Freund, Viscount Fotherby, eine hastige Nachricht, um ihn zu fragen, ob er ihm beim Dinner Gesellschaft leisten wollte. Als er sich angekleidet und seinen Hut aufgesetzt hatte, war Fotherbys Zusage bereits eingetroffen.
Kurze Zeit später, gerade als aus dem leichten Nieselregen ein anhaltender Regenguss wurde, überreichte Dom seinen Hut und Gehstock an einen Bediensteten im White’s. Fotherby fand er in jenem Raum, in dem auch das berühmt berüchtigte Betting Book des Clubs aufbewahrt wurde, in dem jegliche Wetten und Wetteinsätze dokumentiert wurden. William Alvanley, der ebenfalls ein Freund von Dom war, saß mit einem anderen Herrn am Fenster und starrte gebannt in den Regen.
Er wandte sich an Fotherby. »Was tun sie da?«
»Sie haben fünftausend Pfund darauf gewettet, welcher Regentropfen zuerst die Fensterbank erreicht.«
Dom hatte zwar viele Bekanntschaften im engeren Zirkel des Prinzregenten, doch er konnte ihre exzessiven Wetteinsätze nicht leiden. Wenn Alvanley so weitermachte, würde er sich und seine Anwesen noch in den Ruin stürzen. »Bist du bereit für das Dinner oder möchtest du das Ergebnis abwarten?«
»Ich bin am Verhungern.« Fotherby leerte sein Glas Wein in einem Zug. »Ich dachte, du wolltest dieses Jahr nicht in die Stadt kommen.«
»Meine Pläne haben sich geändert.« Dom und Fotherby betraten den Speisesaal. »Ich habe beschlossen, mich zu vermählen.«
»Vermählen?« Fotherby verschluckte sich. »Weißt du schon, mit wem?«
»Noch nicht, aber ich habe eine Liste mit Voraussetzungen. Sie muss aus gutem Hause stammen, darf nicht zu Temperaments- oder anderen, merkwürdigen Ausbrüchen neigen, muss ruhig, gehorsam und nett anzusehen sein – ich muss schließlich einen Erben mit ihr zeugen – und sie muss wissen, was von einer Marquise erwartet wird. Und sie darf keine Skandale verursachen. Du weißt, wie sehr mein Onkel so etwas gehasst hat. Ich glaube, das war’s.«
»Der Inbegriff einer perfekten Frau, also.«
Dom nickte kurz. »Genau. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden.«
Um kurz nach drei Uhr nachmittags traf Dotty in Stanwood House, am Berkeley Square, Mayfair, ein. Den Briefen nach zu urteilen, die sie von Charlotte erhalten hatte, kamen die Carpenters und die Viverses gut miteinander aus. Louisas Mutter, die Witwe Worthington, lebte ebenfalls bei ihnen. Lord Worthington war allerdings der alleinige Vormund für seine vier Schwestern.
Royston, der Butler der Stanwoods, öffnete ihr die Tür und fast wurde Dotty von dem Meer aus Kindern und Daisy, der Dänischen Dogge der Carpenters, umgerannt.
»Wir haben deine Kutsche vorfahren sehen«, rief eines der Kinder.
Daisy versuchte sich gerade um Dottys Beine zu wickeln, als Charlotte und eine junge Dame mit dunklem, kastanienbraunem Haar, bei der es sich vermutlich um Louisa handelte, auf sie zu eilte. Dotty lachte. »Mit einer so überschwänglichen Begrüßung hatte ich nicht gerechnet.«
Ein tiefes Bellen ertönte auf der anderen Seite der Eingangshalle.
»Das ist Duke«, erklärte ihr Charlotte über den Lärm hinweg.
»Das reicht.« Lord Worthingtons strenger Tonfall ließ alle, bis auf Charlotte und Louisa, von der Tür zurückweichen. »Lasst sie eintreten.«
Als die jüngeren Kinder Platz gemacht hatten, kam seine Lordschaft – ein hochgewachsener, breitschultriger Herr mit dem gleichen dunklen Haar wie seine Schwester – mit Grace an der Hand auf sie zu. Sie waren ein wirklich hübsches Paar. Mit ihren goldenen Locken war Grace der perfekte Kontrast zu ihrem Ehegatten.
»Ich hatte doch gesagt, dass wir uns auf dich freuen.« Grace lachte und schloss Dotty in die Arme.
»Das stimmt.« Sie grinste. Es war so schön, wieder mit den Carpenters zusammen zu sein. »Das war eine sehr beeindruckende Begrüßung.«
Charlotte schlang die Arme um Dotty. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Das ist Louisa, Matts und jetzt auch meine Schwester.« Charlotte verzog das Gesicht. »Natürlich nicht wirklich, aber irgendwie mussten wir uns ja nennen.«
Dotty reichte Louisa die Hand, doch diese gab ihr stattdessen einen Kuss auf die Wange.
»Ich freue mich sehr, dich endlich kennenzulernen.« Louisa lächelte. »Wir drei werden die besten Freundinnen werden und eine schöne Zeit zusammen haben.«
Dotty bemerkte, dass sie seine Lordschaft noch nicht begrüßt hatte. Er nahm die Hand, die sie ihm reichte, doch als sie knicksen wollte, hielt er sie aufrecht. »Wir wollen hier mal nicht auf Formalitäten bestehen. Nenn mich doch Matt. Das tun die anderen Kinder auch alle.«
»Ich danke dir, Sir. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich bin, hier sein zu dürfen und dass du meinem Vater geschrieben hast.«
Ehe er antworten konnte, griff Charlotte nach Dottys Hand. »Wir zeigen dir dein Zimmer. Es liegt neben meinem. Dort kannst du dich frisch machen und umziehen. Danach werden wir den Tee zu uns nehmen, ehe wir im Park spazieren gehen. Louisa und ich haben unseren eigenen Salon, und jetzt gehört er auch dir.«
Dotty folgte ihrer Freundin die Treppen hoch. »Nach zwei Tagen in einer Kutsche wäre ein Spaziergang genau das Richtige.«
»Das verstehe ich vollkommen.« Louisa hakte sich bei Dotty unter. »Mir ist schleierhaft, weshalb man sich ausruhen wollen würde, wenn man länger als einen Tag in einer Kutsche eingepfercht gewesen ist.«
Charlotte und Louisa zeigten ihr, wo sich der kleine Salon befand, und geleiteten sie dann zu ihrem Schlafgemach. Dort angekommen, zogen die beiden sich zurück, damit Dotty sich Wasser ins Gesicht spritzen und die Hände waschen konnte.
Polly trat durch eine Tür, die vermutlich in ein Ankleidezimmer führte. »Da sind Sie ja, Miss.« Sie hängte ein rosafarbenes Ausgehkleid aus Musselin und einen Spenzer im Paisleymuster auf. »Wir sollten Sie umziehen.«
Ein paar Minuten später betrat Dotty den Salon, in dem Louisa und Charlotte sich Modezeichnungen ansahen.
»Schau mal, was hältst du davon?« Mit der Handfläche tätschelte Charlotte den Platz neben sich.
Sie reichte Dotty ein Bild, auf dem eine Dame in einem cremefarbenen und mit Spitze verzierten Ballkleid zu sehen war. Charlotte hatte die gleiche Haar- und Augenfarbe wie Grace, und Dotty fand, dass es bezaubernd an ihrer Freundin aussehen würde. »Sehr hübsch.«
Der Tee wurde wenige Augenblicke später serviert. Nachdem sie sich alle eine Tasse und einen Teller mit Keksen genommen hatten, berichteten ihr die beiden von all den Bällen und anderen Empfängen, auf die sie sich freuen konnte, darunter auch Louisas und Charlottes Debütantenball.
»Grace und Mutter haben beschlossen, dass der Ball auch dir zu Ehren gilt.« Louisa strahlte und es schien sie kein bisschen zu stören, dass sie ihren Ball mit noch einer weiteren Dame teilen würde.
Dotty aß den letzten Bissen ihres Ratafiaplätzchens. »Es wird so ein Spaß werden. Ich kann es kaum erwarten, alles zu sehen. Ihr beiden habt einen großen Vorsprung zu mir.«
All ihre Träume hatten sich erfüllt. Obwohl sie Briefe von Louisa erhalten hatte, in denen sie ihre Freundschaft kundtat, hatte Dotty es bis jetzt nicht wirklich glauben wollen. Es wäre schwierig geworden, wenn Louisa es sich in den Kopf gesetzt hätte, Dotty nicht zu mögen.
Kurze Zeit später traten sie vor die Tür und machten sich mit drei Bediensteten, die ihnen in taktvoller Entfernung folgten, auf den Weg in den Park.
Dotty ging zwischen ihren beiden Freundinnen. »Mutter hat gesagt, dass sie immer ein Dienstmädchen dabeihatte, wenn sie in der Stadt spazieren ging.«
»Matt sagt, ein männlicher Bediensteter sei da geeigneter«, erwiderte Louisa. »Sollte sich eine von uns verletzen, könnte er uns nach Hause tragen. Das könnte ein Dienstmädchen nicht.«
»Und«, fügte Charlotte hinzu, »wenn wir einen Einkaufsbummel unternehmen, fällt es ihnen leichter, all unsere Päckchen zu tragen.«
Sie erreichten den Weg, der um den Hyde Park führte, welcher wiederum – so erfuhr Dotty gerade – nur als »der Park« bezeichnet wurde.
Charlotte zog eine Grimasse. »Man soll immer so tun, als würde man bereits alles wissen, und Desinteresse vortäuschen, aber ich finde das unsinnig. Warum sollte man so tun, als würde man keinen Spaß haben, wenn man doch welchen hat?«
»Ich kann es mir auch nicht erklären.« Dotty seufzte. »Und ich dachte schon, ich sei vorbereitet, aber ich habe noch so viel zu lernen.«
»Louisa und mir ging es genauso«, versicherte ihr Charlotte. »Du wirst rasch aufholen.«
Ein paar Augenblicke später wurden sie freudig von zwei stilvoll gekleideten Gentlemen gegrüßt, die Charlotte und Louisa offenbar kannten. Sie blieben stehen, damit die Männer sie einholen konnten.
»Miss Stern«, sagte Charlotte sittsam. »Ich möchte dir Lord Harrington und Lord Bentley vorstellen. Milords, Miss Stern ist eine Freundin von daheim. Sie wird die Ballsaison über bei uns residieren.«
Beide Herren verneigten sich über die Hand, die Dotty ihnen reichte. Dem Himmel sei Dank für all die Benimmunterrichtsstunden, die sie und Charlotte besucht hatten. Dotty knickste. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Milords.«
Die Herren begleiteten die Damen eine Weile und baten sie um Tänze auf dem Ball am morgigen Abend. Als sie gegangen waren, schüttelte Dotty benommen den Kopf. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich bereits für zwei Tänze vergeben bin.«
»Sie sind wirklich sehr freundlich, nicht wahr?« Charlotte errötete.
Louisa warf Charlotte einen verstohlenen Seitenblick zu. »Ich glaube, Lord Harrington wird darum bitten, Charlotte zu umwerben.«
»Nun, wie es aussieht, ist Lord Bentley dir recht zugeneigt«, erwiderte diese.
»Ich wünschte, das wäre er nicht.« Louisa richtete den Blick zum Himmel. »Er ist ein guter Mann, aber keiner, den ich zu heiraten wünsche.«
Die kurze Zeit, in der Dotty Louisa nun kannte, reichte aus, um zu erkennen, dass der arme Lord Bentley nicht mit ihr würde mithalten können. Sie bedurfte eines etwas älteren Herrn mit mehr Selbstsicherheit.
Dotty nahm Charlottes Hand in ihre und drückte zu. »Was hältst du von Lord Harrington?«
Das Rot in Charlottes Wangen verdunkelte sich. »Er ist überaus charmant, aber Grace sagt, dass ich mir Zeit lassen soll.«
Sie setzten ihren Spaziergang fort. Plötzlich brach hinter ihnen ein Tumult aus und es ertönte ein Schrei. Dotty wirbelte herum. Ein kleiner Hund hatte sich an der Troddel eines Herrenstiefels festgebissen und wich knurrend und mit wedelndem Schwanz zurück, in dem Bestreben, seine Beute loszureißen. Törichterweise versuchte der Mann mehrfach, nach dem Hund zu treten, wodurch das Tier glaubte, er würde mitspielen.
Sie legte sich eine Hand über den Mund, um sich das Lachen zu verkneifen, doch als er seinen Gehstock hob, um dem armen, kleinen Ding eins auszuwischen, hastete sie zu ihnen. »Aber, Sir! Was haben Sie vor?« Sie bückte sich zu dem Hund hinunter, der sich als harmloser, kleiner Welpe entpuppte. Sie wandte sich an den Mann und funkelte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Sie sollten sich schämen.«
Dotty machte sich daran, die Troddel aus den Fängen des Welpen zu befreien, doch jedes Mal, wenn der Mann sein Bein schüttelte, um das Tier loszuwerden, biss der Welpe fester zu, knurrte und warf den Kopf hin und her. »Hören Sie auf, sich zu bewegen. Sind Sie zu stumpfsinnig, um zu erkennen, dass der Hund glaubt, Sie wollen spielen?«
»Nehmen Sie ihn weg«, rief der Mann und die Angst ließ seine Stimme immer höher werden. »Dafür wird jemand büßen. Gehört das Biest Ihnen?«
Entschlossen, ihn zu ignorieren, zählte sie bis zehn, atmete tief ein und schaffte es endlich, die goldene Troddel zwischen den scharfen Zähnen des Welpen hervorzuziehen. »Na also.« Sie hob den Hund hoch und streichelte ihm über das drahtige Fell. »Wo ist dein Herrchen?«
Just in diesem Moment kamen zwei Jungen im Schulalter auf sie zugeeilt. »Oh, Miss. Vielen Dank. Wir haben schon überall nach Bennie gesucht. Er ist uns ausgebüxt.«
In der Zwischenzeit hatte Bennie begonnen, nach den Schleifen ihrer Haube zu schnappen. Dotty lachte und versuchte, sie zu befreien. »Aber, aber, kleiner Mann. Die sind auch nicht für dich.« Sie rettete ihre Schleifen und überreichte den Welpen an einen der Jungen.
»Wir bezahlen Ihnen den Schaden, Miss.«
»Unsinn.« Sie schenkte den beiden ein Lächeln. »Benutzt das Geld lieber, um eine Leine zu kaufen. Das wird Bennie davon abhalten, wieder davonzulaufen.«
»Er ist erst zwölf Wochen alt«, verkündete der andere Junge stolz. »Wir wussten nicht, dass er so schnell laufen kann.«
»Oder so weit«, fügte der andere hinzu.
»Wir danken Ihnen«, sagten beide im Chor.
Ach, nun. Welpen waren eben Welpen, und Jungs eben Jungs. »Los, ab mit euch, und dass ihr mir Bennie ja vor Schwierigkeiten bewahrt.«
»Moment mal«, knurrte der Mann mit den Troddeln. »Sie schulden mir Schadenersatz. Ihr bissiger Köter hat meine Stiefel ruiniert.«
»Ach, papperlapapp.« Dotty schloss einen Moment lang die Augen, ehe sie den Mann mit einem strengen Blick bedachte. »Es war ganz und gar Ihre eigene Schuld. Wenn Sie sich wie eine vernünftige Person verhalten und den armen Welpen einfach hochgehoben hätten, dann hätten Ihre Stiefel auch keinen Schaden davongetragen.«
Inzwischen waren Charlotte und Louisa neben Dotty aufgetaucht. Die Bediensteten waren ihnen dicht auf den Fersen.
»Dotty, geht es dir gut?«, fragte Charlotte.
»Ja, alles bestens.« Sie sah zu Louisa, die dem Gefährten des Mannes einen düster wirkenden Blick zuwarf. Dotty hatte ihn bis jetzt gar nicht wahrgenommen.
Der Kontrast zwischen dem Mann und seinem Freund mit den Troddeln war bemerkenswert.
Sie verstand jetzt, was ihr Vater gemeint hatte, als er abfällig über sogenannte Dandys gesprochen hatte. Der Herr, dessen Stiefel Bennie angefallen hatte, gehörte eindeutig zu dieser Sorte. Sein Hemdkragen stand so hoch, dass er seinen Kopf kaum bewegen konnte. Seine Taille war eingeschnürt und seine grell gestreifte Weste war mit so vielen Taschenuhrketten und anderen Accessoires bestückt, dass man den Stoff kaum sehen konnte. Das dunkelblaue Jackett und die braungelben Hosen seines Gefährten hingegen strahlten angemessene Eleganz aus. Seine Stiefel zierten keine goldenen Troddeln, doch sie waren so hochpoliert, dass sie die Sonne reflektierten. Mit seinem modisch frisierten, goldenen Haar und den tiefblauen Augen war er wirklich überaus attraktiv. Doch dann hoben sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln und machten den positiven Eindruck zunichte.
»Merton.« Louisas Stimme nahm einen leicht angeekelten Ton an. »Ich nehme an, dies ist ein Freund von dir.«
Merton räusperte sich. »Ich muss schon sagen, Fotherby, die Lady hat recht. Du hättest in der Lage sein müssen, das Tier aufzuhalten, ehe es zu einem Schaden kam.«
Fotherby wandte sich an Merton und starrte seinen Gefährten ungläubig an, als fühlte er sich betrogen. Dotty vermochte Mertons verschlossenen Gesichtsausdruck nicht zu deuten, doch etwas in seinem Blick schien Fotherby umzustimmen, denn er drehte sich zu ihr und verneigte sich leicht.
»Ladies, es tut mir aufrichtig leid, dass ich nicht umgehend reagiert habe, um einen so unnötigen Vorfall zu vermeiden.«
Dotty, die nie nachtragend gewesen war, neigte den Kopf. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Sir.«
Mit hochgezogener Braue blickte Merton demonstrativ zu Louisa.
»Na schön«, sagte sie unglücklich. »Miss Stern, darf ich vorstellen, der Marquis of Merton, mein Cousin. Merton, Miss Stern ist eine langjährige Freundin der Familie von Lady Charlotte.«
Dom verneigte sich und sah Miss Stern anerkennend bei ihrem anmutigem Knicks zu. Er hatte ihrer Begegnung mit Fotherby keine große Beachtung geschenkt und sie lediglich für eine weitere neumodische Furie gehalten, bis sie sich aufgerichtet und in seine Richtung geblickt hatte. Selbst Botticelli hätte eine solche Perfektion nicht malen können. Die glänzenden, schwarzen Locken, die aus ihrer Haube hervorlugten, umschmeichelten ihr herzförmiges Gesicht. Sie blickte Dom aus leuchtenden, moosgrünen Augen an. Ihm stockte unwillkürlich der Atem. Er hatte in dieser Saison schon viele schöne Frauen gesehen, darunter auch Lady Charlotte, aber keine konnte Miss Stern auch nur annähernd das Wasser reichen.
Aber Dotty, was für ein grässlicher Name. Es musste eine Abkürzung sein. Bei Gott, wie er hoffte, dass es eine Abkürzung war. Wenn nicht, dann würde der Name geändert werden müssen.
Cousine Louisa hatte ihm keinerlei Hinweise zum gesellschaftlichen Rang von Miss Stern gegeben, außer, dass sie eine Lady war. Eine Miss Stern könnte eventuell die Tochter eines Viscounts sein. Das wäre gar nicht so übel. Ein tieferer Rang kam jedoch nicht infrage. Es sei denn, sie entstammte einer adligen Blutlinie. Wenn das der Fall sein sollte, konnte er eine Ausnahme machen. Er musste schließlich das Marquisat bedenken.
Er verneigte sich und ergriff ihre Hand. »Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Stern. Ich hoffe, Sie werden es mir erlauben, Sie zu besuchen.«
»Nun«, sagte seine Cousine in einem Tonfall, der darauf ausgelegt war, ihm die Laune zu verderben, »nur wenn du Stanwood House betreten möchtest. Miss Stern residiert diese Saison bei uns.«
Bei dem Gedanken, der Horde wieder gegenüberzutreten – vor allem Theodora, Worthingtons jüngster Schwester – lief ihm ein Schauer über den Rücken. Das Lächeln blieb jedoch auf seinem Gesicht. »Vielleicht werde ich das.«
Die Feindseligkeit zwischen den beiden Familien hatte solche Ausmaße angenommen, dass Worthington Dom deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er keine der Damen zu umwerben hatte, für die er zuständig war. Zu dem Zeitpunkt war natürlich nur von Lady Charlotte und Lady Louisa die Rede gewesen. Er fragte sich, ob das Verbot sich nun auch auf Miss Stern bezog.
Nachdem die Damen sich verabschiedet hatten und sich wieder auf den Weg machten, wandte sich Fotherby an Dom. »Wie konntest du mich zur Witzfigur machen? Diese Miss Stern hatte kein Recht, so mit mir zu sprechen. Unverschämt war sie, und es hat mir nicht gefallen.«
Dom zog sein Monokel hervor und benutzte es, um seinen Freund ins Visier zu nehmen. »Ich habe es getan, um dich davor zu bewahren, noch länger wie ein Narr dazustehen. Also wirklich, Fotherby, es war ein Welpe. Und dann auch noch ein ziemlich kleiner.«
Fotherby starrte auf seinen Stiefel.
Die kaputte und feuchte Troddel baumelte an seinem mittelprächtig polierten Stiefel. Es war Dom ein Rätsel, weshalb Fotherby einen Kammerdiener eingestellt hatte, der seine Stiefel nicht vernünftig polieren konnte.
»Nun, ja.« Fotherby runzelte die Stirn. »Ich schätze, du hast recht. Ich mag einfach keine Hunde.«
»Keine Hunde zu mögen«, Dom konnte seine Geringschätzung nur mit Mühe unterdrücken, »grenzt an Hochverrat. Es ist unenglisch. Jeder hat Hunde. Wie sollten wir sonst auf die Jagd gehen?«
Fotherby schwieg eine Zeit lang, ehe er das Thema wechselte. »Du hast natürlich recht. Wie töricht von mir. Wirst du heute Abend im White’s dinieren?«
»Wo sonst? Kann ich mich auf deine Gesellschaft freuen?«
»Ja, ich werde da sein. Um halb neun?«
Dom neigte den Kopf. »Dann sehen wir uns dort.«
Kurze Zeit später verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zurück ins Hotel. Als er jedoch eintrat und sich einen Tee aufs Zimmer bestellen wollte, wurde Dom mitgeteilt, dass er dort keine Gemächer mehr bewohnte. »Wie bitte?« Er blickte den Angestellten von oben herab an. »Ich denke, ich würde mich wohl daran erinnern, wenn ich meine Gemächer aufgegeben hätte.«
Der Mann verneigte sich und reichte ihm eine Nachricht. »Milord, man hat mir gesagt, dass ich Ihnen dies überreichen soll.«
Er öffnete die Nachricht und erkannte sofort die Handschrift seiner Mutter. Sie war in London und erwartete, dass er unverzüglich nach Merton House umzog. Sie hatte eigentlich vorgehabt, die Saison zu Hause zu verbringen; was sie wohl in die Stadt führte? »Ich danke Ihnen.«
Er machte auf dem Absatz kehrt, schritt wieder aus der Tür und eilte zu seinem Haus. Es würde schön sein, von seiner Dienerschaft umgeben zu sein. Sie kannten seine Routine und behandelten ihn mit angebrachter Hochachtung. Solange es seiner Mutter gut ging, war ihre Ankunft eine angenehme Überraschung.