Kapitel 1
Kaki, Dates und Katastrophen
„Ich bin Romy, mein Lieblingsobst ist die Kaki und ich lese gerne Bücher“, murmelte ich vor mich hin, während ich einen unauffälligen Blick in Richtung des nächsten Schaufensters riskierte. Mit einem aufgesetzten Lächeln, das mich minimal grenzdebil aussehen ließ, starrte mein Spiegelbild zurück. Kopfschüttelnd beeilte ich mich, meine entgleisten Gesichtszüge ein wenig zu entspannen. Jemanden zu vergraulen oder dem Clown aus „ES“ Konkurrenz zu machen, stand schließlich nicht auf meinem Plan.
Prüfend glitt mein Blick weiter über meinen Körper. Ich hatte ein locker fallendes marineblaues Sommerkleid, eine dunkle Leggins und furchtbar niedliche Sandalen mit Pfennigabsätzen angezogen, deren Karamellton ideal zu der Tasche über meiner Schulter und dem Haarband auf meinem Kopf passte. Meine hellblond durchgesträhnten Haare fielen mir in leichten Wellen fast bis zum unteren Rücken. Dass ich dafür, für mein Make-up und für das Stylen meines schräg geschnittenen Ponys eine gute Stunde gebraucht hatte, passte gar nicht zu meiner eigentlichen Lebenseinstellung. Aber dieses Date musste einfach perfekt werden.
Es musste.
Starte locker-flockig, erinnerte ich mich an Ediths Worte vom Vortag, erzähl ihm etwas über dein Hobby oder dein Lieblingsobst – irgendwas, über das ihr noch nicht geschrieben habt und woraufhin er selbst etwas erzählen kann, ohne viel nachzudenken. Leg dir am besten einen Satz zurecht, den du zur Begrüßung sagen kannst.
„Ich bin Romy, mein Lieblingsobst ist die Kaki und ich lese gerne Bücher“, wisperte ich erneut, bevor ich einen letzten tiefen Atemzug tat und das Café, in dem wir uns verabredet hatten, betrat. Meine Hände waren vor Aufregung so schweißnass, dass mir die Türklinke beinahe aus den Fingern glitt. Ein hell klingendes Glöckchen über meinem Kopf verkündete mein Eintreten und eine Geruchsmischung aus Kaffee, frischem Käsekuchen und Keksen schlug mir entgegen.
Mit einem verlegenen Lächeln und glühenden Wangen ließ ich meinen Blick über die Handvoll Menschen gleiten, die sich überall in dem romantisch anmutenden kleinen Raum, der mit Marmorfliesen ausgelegt war, verteilt hatte. Ein älteres Ehepaar, eine müde aussehende Frau mit Kleinkind, ein paar lachende Mittvierziger und … dort saß er, Loui Benjamin, seines Zeichens Erdkundelehrer, Teetrinker und Radiohead-Fan. Obwohl er weniger sportlich aussah als auf seinem Profilbild, das offenbar schon einige Jahre alt war, und auch nicht mehr ganz so volles Haar hatte, erkannte ich ihn sofort. Er war groß, sonnengebräunt und trug eine schlichte Lesebrille, die ihm mitsamt dem gebügelten Kragen seines Poloshirts ein seriöses Äußeres verlieh. Rein logisch betrachtet passten Loui Benjamin und ich zueinander wie Topf und Deckel.
Als unsere Blicke sich trafen, hob er die Hand und winkte mir lächelnd zu, wobei er zwei Reihen strahlend weißer Zähne entblößte.
Ich bin Romy, mein Lieblingsobst ist die Kaki und ich lese gerne Bücher, rief ich mir meinen hübsch zurechtgelegten Satz ein letztes Mal wie ein Mantra ins Gedächtnis, während meine Schritte mich viel zu langsam auf ihn zutrugen. In meinem Bauch begannen leise Zweifel zu rumoren. Zweifel, die mir nicht unbekannt waren. Warum genau tat ich mir das eigentlich immer wieder an? Die letzten Dates, die ich gehabt hatte, waren alle miteinander, milde gesagt, eine Vollkatastrophe gewesen und dass ich in der Gegenwart von Männern, die ein ernsthaftes Interesse an mir zeigten, schüchtern und unsicher war, konnte man ohne Bedenken als absolutes Understatement bezeichnen.
Dabei wollte ich doch so gerne! Ich wollte so gerne jemanden an meiner Seite haben, jemanden, mit dem ich mein Leben teilen konnte. Und als hätte das Schicksal Spaß daran, erkannte ich just in diesem Moment das Lied, das im Hintergrund aus dem Radio vor sich hinplätscherte: Lonely Girl von Sandi Thom. Als hätte das Leben mir spontan einen Soundtrack verpasst.
„Guten Abend, Romy.“ Als ich endlich an seinem Tisch ankam, erhob Loui sich, schob einladend den freien Stuhl zurück und drückte mir zur Begrüßung unerwartet einen Kuss auf die Wange. Er roch nach Rasierwasser, Seife und einem leicht blumigen Parfum, das mir mit einem derart intensiven Kribbeln in die Nase stieg, dass ich niesen musste. Als wäre er darauf vorbereitet gewesen, zog Loui ein Taschentuch aus der Tasche seiner beigefarbenen Stoffhose und reichte es mir.
„Äh … hi … und danke“, stammelte ich überrumpelt, nachdem ich mir die Nase geputzt hatte. Krampfhaft durchsuchte ich mein Gehirn nach meinem planvoll zurechtgelegten locker-flockigen Gesprächseinstieg à la Edith, bevor es atemlos aus mir herausbrach: „Ich lese gerne Romy, mein Lieblingsobst sind Bücher und ich bin die Kaki!“
Kapitel 2
Soulmate
„Ich bin die Kaki!“ Edith putzte sich geräuschvoll die Nase, während sie nur kurz das laute Lachen unterbrach, das ihr bereits eine Rotfärbung ins Gesicht und Tränen in die Augen getrieben hatte. „Das hast du nicht ernsthaft gesagt!“ Wie eine dressierte Robbe klatschte sie zum wiederholten Male in die Hände und wippte vor lauter Lachen ein wenig vor und zurück.
Mein gequälter Blick schien ihr als Antwort zu genügen.
„Ach, Romy, herrlich.“ Ein letztes Mal prustend rieb sie sich die Tränen aus dem Gesicht und nahm einen Schluck Kaffee. „Du könntest echt Bücher schreiben. Andere Bücher … über dein Leben, meine ich.“ Sich Luft zufächelnd, schlug sie ihre in einem karierten Hosenanzug steckenden Beine übereinander, nahm kurz ihre Brille zum Putzen ab und sah mich an, als wäre ich das unterhaltsamste Individuum, das ihr je untergekommen war.
„Wenn ich über mein Leben schreiben würde, wäre ich aber heute wahrscheinlich keine Bestsellerautorin, sondern ein ziemlich armer Schlucker“, gab ich zu bedenken und rührte kopfschüttelnd in meinem mit Karamellsirup gesüßten Latte Macchiato. „Und mein einziger Fan wäre meine Mutter.“
„Also, ich würd’s auf jeden Fall auch kaufen“, gluckste Edith, die Wangen immer noch knallrot vor Vergnügen.
„Niemand will schräge Dinge über langweilige Otto Normalverbraucher lesen, Edith.“ Ich wies auf die Wand über meinem Schreibtisch, an der die Fotos all meiner bisher veröffentlichten Bücher in einem übergroßen goldfarbenen Bilderrahmen prangten – ganz oben die Cover meiner fast abgeschlossenen und heiß begehrten Romance-Trilogie. „Die Royal Lovers Reihe wäre nie so erfolgreich geworden, wenn Catherine Bürokauffrau wäre und Jace einen Waschbärbauch und haarige Zehen hätte.“
„Da magst du recht haben.“ Edith stellte seufzend ihre Tasse ab, verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete mich plötzlich so, als wäre ich die bemitleidenswerteste Kreatur, die ihr je untergekommen war. Das Lachen war ihr gänzlich aus dem Gesicht gewichen, nur die roten Wangen blieben. „Was machen wir denn jetzt mit dir?“
„Vielleicht einfach akzeptieren, dass ich für immer Single sein und einsam sterben werde?“, antwortete ich mit einer Mischung aus Belustigung und Bitterkeit in der Stimme. „Ich sollte wohl langsam damit anfangen, mir eine Menge Katzen, mindestens sechs, besser acht, anzuschaffen, damit ich das Klischee endlich komplett erfülle.“
„Du bist doch allergisch gegen die Viecher“, wandte Edith ein.
„Ich mag sie trotzdem. Ich schreibe auch Geschichten über die Liebe, die sich millionenfach verkaufen, und schaffe es selbst nicht, auch nur über das erste Date hinauszukommen“, entgegnete ich schulterzuckend. „Widersprüche liegen mir vielleicht einfach.“
Edith leerte ihre Tasse, zupfte sich eine widerspenstige Locke aus ihrem unordentlich zusammengefassten Dutt und wickelte sie nachdenklich um ihren Finger.
„Also kein zweites Date mit Mr. Kaki?“, hakte sie forsch nach.
„Er heißt Loui Benjamin und nein, nach diesem ersten Treffen gibt es ganz bestimmt kein zweites“, stellte ich mit abwehrend erhobenen Händen klar. „Abgesehen von meinem ach so lustigen Versprecher …“, mit einem ernsten Blick erinnerte ich sie an ihren Lachflash von vorhin, „… hat auch einfach die Chemie zwischen uns nicht gestimmt.“
Edith seufzte. „Die alte Leier wieder.“ Kopfschüttelnd erhob sie sich vom Stuhl und brachte ihre Tasse in die Küche, wo sie sie geräuschvoll in der Spülmaschine verstaute. Als sie zurückkam, bedachte sie mich mit einem prüfenden Blick. „Du bist zwar erst fünfundzwanzig und hast noch eine Menge Zeit, den Richtigen zu finden, aber vielleicht solltest du deine Ansprüche dennoch allmählich ein wenig herunterschrauben, Süße. Es gibt keinen Jace O’Kelly da draußen, der nur darauf wartet, dich auf Händen durch die Welt zu tragen.“
Trotzig schob ich die Unterlippe vor. „Er muss ja auch nicht ganz genau so sein wie Jace“, murmelte ich in meinen Latte Macchiato, sog den herrlichen Karamellduft ein, der von ihm ausging und dachte schwärmerisch an die männliche Hauptfigur meiner vielfach gelobten Bücherreihe, die noch vor Kurzem auf Instagram zu einem der beliebtesten Book-Boyfriends des Jahres gewählt worden war.
Im Hintergrund dudelte Natasha Bedingfiels Soulmate aus dem Radio – wie passend.
Somebody, tell me why I’m on my own
If there’s a soulmate for everyone.
Abwartend musterte Edith mich über den Rand ihrer Brille hinweg. In ihren braunen klugen Augen lag etwas Wissendes – ein Blick, den ich nur allzu gut kannte. Dass sie zwölf Jahre älter und demnach wesentlich lebenserfahrener war als ich, ließ sich manchmal einfach nicht verbergen.
„Nur so charmant, gutaussehend, wohlriechend, sensibel, stark und humorvoll wie er“, fügte ich mit einem Seufzer verlegen hinzu. „Und gegen einen Dreitagebart, muskulöse Oberarme, die Fähigkeit, beim Holzfällen umwerfend auszusehen und stahlblaue Augen hätte ich auch nichts einzuwenden.“
Ediths rechte Augenbraue wanderte ein ganzes Stück in die Höhe. „Es wird echt Zeit, dass du dich mal mit anderen Menschen umgibst“, merkte sie dann mit einem besorgten Unterton in der Stimme an und schnalzte mit der Zunge. „Mit echten Menschen, Romy.“
„Mache ich doch! Erst vorgestern hatte ich ein Date. Und jetzt gerade treffe ich mich mit dir“, verteidigte ich mich.
„Und wen gibt es, abgesehen von deinen Eltern, deinen halbjährlichen Date-Katastrophen und mir in deinem Leben?“, bohrte Edith mit der Unnachgiebigkeit eines Schuldeneintreibers nach.
„Na ja. Also …“, setzte ich an und zog das O in die Länge wie Kaugummi. Mein Blick schweifte kurz durch das Innere meines weitläufigen Bungalows, durch die offene Küche mit Kochinsel, das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer und die weit offen stehende Schlafzimmertür, die einen Blick auf mein Boxspringbett offenbarte, über das ich am Morgen eine roséfarbene Tagesdecke geworfen hatte. „Okay, okay, du hast recht. Zugegebenermaßen verbringe ich einen Großteil meines Lebens hier. Allein. Aber die meisten Autoren sind doch ein bisschen introvertiert“, setzte ich zu meiner Verteidigung hinzu.
„Es gibt aber einen gewaltigen Unterschied zwischen introvertiert und realitätsfern.“ Edith stemmte die Hände in die Hüften. „Und immer nur zu Hause zu hocken und darauf zu warten, dass der Traumprinz an die Tür klopft, ist realitätsfern, Romy.“
„Ich hocke nicht, ich arbeite“, korrigierte ich und nahm den letzten Schluck aus meiner Tasse, ehe ich genüsslich den Restschaum auslöffelte. „Die Deadline rückt immer näher und mir fehlen noch gute zwanzigtausend Wörter. Das müsstest du als meine Verlegerin eigentlich wissen.“
„Da hast du natürlich recht.“ Mit einem abschließenden Nicken machte Edith sich in Richtung Haustür auf. „Aber sobald das Buch fertig ist und bei der Lektorin liegt, tust du etwas für dein Sozialleben! Geh aus und lerne ein paar nette Leute kennen. Schließe Freundschaften. Hab Sex. Du bist erst fünfundzwanzig, nicht fünfundneunzig. Als ich in deinem Alter war …“ Sie ließ den Satz unvollendet und blickte eine Weile gedankenverloren ins Leere, bevor sie sich selbst mit einem leichten Kopfschütteln zurück ins Hier und Jetzt beförderte. „Ich liebe deine Geschichten, Romy, wirklich. Die ganze Welt liebt die Bücher von dir alias Suri Lilianna. Das Problem dabei ist bloß, dass man sich leicht in Geschichten verliert. Und ich glaube, das passiert dir gerade. Also versprich mir, dass du nach der Verabschiedung von Jace und Catherine ein bisschen anfängst zu leben. In der realen Welt.“
Ich nickte träge.
„Versprochen?“, hakte sie nach.
„Versprochen“, seufzte ich widerwillig.
Als ich am späten Abend am Schreibtisch saß und die letzten Zeilen, die ich geschrieben hatte, überflog, um genau dort wieder anzusetzen, wollten Ediths Worte nicht aus meinem Kopf verschwinden. Hatte sie am Ende womöglich doch recht damit, dass mein Denken realitätsfern war? Dass ich auf etwas wartete, das nie eintreten würde?
Mit Jace O’Kelly hatte ich unter dem Autorenpseudonym Suri Lilianna den perfekten Mann erschaffen. Groß, gut gebaut, mit breiten Schultern, dunklem Haar und unfassbar blauen Augen brachte er nicht nur meine Protagonistin Catherine Beaumont, sondern auch Leserinnen weltweit zum Schwärmen. Er war höflich, kultiviert, humorvoll und loyal, hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und konnte gut zuhören. Jede interessante Eigenschaft und all das, was ich an einem Mann attraktiv fand, hatte ich genutzt, um meine Hauptfigur wie einen Rohdiamanten zu schleifen, bis sie so perfekt war, dass es ein Ding der Unmöglichkeit wurde, ihr nicht zu erliegen.
Sobald ich an Jaces und Catherines Geschichte schrieb, war ich mittendrin, glaubte beinahe, seine Stimme hören und sein sanftes Lächeln vor mir sehen zu können. Leider war Jace O’Kelly, neben all den anderen Eigenschaften, die ihn zum Traummann prädestinierten, aber vor allem eines: fiktiv. Er war logisch betrachtet das Höchstlevel eines imaginären Kindheitsfreundes und ich wusste, dass es mir schwerfallen würde, mich im Leben mit weniger zufrieden zu geben. Was wahrscheinlich mit ein Grund (oder der Hauptgrund) dafür war, dass ich in meinem Alter immer noch Single war, während viele meiner gleichaltrigen ehemaligen Klassenkameradinnen schon in Langzeitbeziehungen steckten, verlobt oder verheiratet waren und teilweise sogar schon Nachwuchs erwarteten. Meine längste Beziehung war nach drei Monaten in die Brüche gegangen und die Männer, mit denen ich bisher intim geworden war, konnte ich nach wie vor an einer Hand abzählen. An zwei Fingern, um genau zu sein. Das konnte nicht alles gewesen sein.
Entschlossen legte ich meine Hände auf die Tastatur, um eine besonders heiße Nacht mit durchgeschwitzten Laken und nackten Körpern niederzuschreiben.
Ich würde ihm schon irgendwann begegnen und dann würde Edith dumm aus der Wäsche gucken. Ihm, meinem persönlichen Jace O’Kelly.
Kapitel 3
Zum Urlaub verdonnert
Mit einem schalen Geschmack im Mund, dröhnenden Kopfschmerzen und eingeschlafenen Beinen wachte ich auf, als die Sonne durch das Fenster über meinem Schreibtisch schien und mich unbarmherzig blendete. Mein Laptop hatte sich selbst in den Ruhemodus befördert. Auf dem Boden lagen neben meinem Notizbuch, einem Kugelschreiber und der leeren Verpackung eines Müsliriegels auch unzählige zusammengeknüllte Papiere. Dem Druckgefühl nach zu urteilen musste mein Kopf auf die harte Schreibtischplatte gesackt und dort während der gesamten Nacht liegen geblieben sein. Mein Körper fühlte sich an, als wäre ich vollkommen verkatert.
Mit einem ächzenden Geräusch reckte und streckte ich mich, ehe ich in die Küche schlurfte, um erstmal die Kaffeemaschine anzuschalten. Dabei entging mir das rote Sternchen im Kalender nicht, das den 31. Juli markierte, den Abgabetermin für Royal Lovers 3.
Geduscht, im Bademantel und mit einem frisch aufgebrühten, mit Karamellsirup verfeinerten Latte Macchiato in meiner Lieblingstasse setzte ich mich zurück an den Schreibtisch, fuhr den Laptop wieder hoch und überflog die letzten beiden Abschnitte des Manuskripts.
Jace und Catherine erholten sich gerade ebenfalls von ihrer Nacht, der Grund hierfür war jedoch ein anderer als meiner, wie ich mit einem Schmunzeln feststellte.
Wo war denn nur wieder meine Liste? Kopfschüttelnd suchte ich sie auf meinem Schreibtisch und zog sie endlich zwischen ein paar vom Verlag weitergeleiteten Fan-Zeichnungen und neuen Notizbüchern hervor, die ich ständig kaufte, um neue Ideen darin zu notieren.
„Heldenhafte Rettung vor dem maskierten Entführer. Heiße Liebesnacht“, las ich mir mit gedämpfter Stimme selbst vor und setzte zwei Haken hinter die beiden Punkte. „Steht als Nächstes die überraschende Wendung mit der geheimen Zwillingsschwester auf dem Plan.“
Genüsslich nahm ich einen Schluck aus meiner Tasse. Nichts ging über köstlichen Kaffee und einen Schreibtag. Wie automatisch legten meine Finger sich nach dem Abstellen der Tasse auf die Tastatur. Bereit, wieder in die Geschichte einzutauchen, entspannte ich meine Schultern und wollte am halb beendeten Satz anknüpfen, während dem ich am Vorabend eingeschlafen war.
Doch auf einmal war mein Kopf wie leergefegt. Unsicher überflog ich den halben Satz nochmal.
Als sie erwachte und in seine tiefblauen Augen sah, wusste sie tief im Inneren, dass sie in ihnen all das finden würde, was sie je gesucht hatte, all das, was ihr je gefehlt hatte, während sie …
Während sie was tat? Kopfschüttelnd ließ ich die Hände von der Tastatur sinken. Schwer fielen sie mir in den Schoß. Nichts. In meinem Kopf herrschte eine Leere, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Ich scrollte einige Seiten hoch, las die gesamte Liebesszene erneut und stolperte wieder über den angefangenen Satz. Kurzerhand löschte ich ihn. Mit einem rhythmischen Klicken ließ ich Buchstabe um Buchstabe verschwinden. Dennoch gelang es mir nicht, an die Schreibsession des letzten Abends anzuknüpfen. Es schien fast, als wäre meine Verbindung zur Geschichte blockiert.
Frustriert stand ich auf, nahm meine Kaffeetasse mit und trat ans Fenster. Als ich es öffnete, stieg mir ein vertrauter Geruch nach frisch gemähtem Rasen und Sommer in die Nase. Es war Anfang Juli und schon ziemlich warm. Von fern drangen Vogelgezwitscher, Motorengeräusche und das Lachen spielender Kinder an mein Ohr. Sofort ploppten in meinem Kopf Erinnerungen wie kleine Seifenblasen auf. Obwohl ich selbst nie ein Kind gewesen war, das viel draußen gespielt oder mit anderen getobt hatte, erinnerte ich mich an das wohlige Gefühl im Bauch, das die Sonnenstrahlen sowie die Geräusche und Gerüche der warmen Jahreszeit in mir ausgelöst hatten. Wie ich lesend auf einer Picknickdecke im Garten gelegen, selbstgemachte Limonade getrunken und mich völlig in der Welt der Bücher verloren hatte.
Mit einem unterdrückten Seufzen machte ich mich schließlich daran, den Haushalt zu erledigen, bevor ich mich wieder ans Manuskript setzte. Normalerweise verging keine Minute, bis ich völlig in die Welt von Royal Lovers vertieft war und meine Finger wie ferngesteuert über die Tasten flogen, um die Geschichte fortzusetzen. Nun jedoch fiel mir nicht einmal ein einziger Satz ein, den ich hätte schreiben können. Sollte das etwa der Beginn einer echten, ausgewachsenen Schreibblockade sein? In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen, von denen ich gehört hatte, hatte mich nie zuvor eine ereilt. War es naiv gewesen, deshalb anzunehmen, dass ich grundsätzlich davor geschützt war?
Auch am Folgetag und am Tag darauf gelang es mir nicht mehr, in die Geschichte einzusteigen. Im Gegenteil. Es fühlte sich sogar so an, als würde ich mich mit jeder Stunde, die verstrich, ein Stück weit mehr von ihr entfernen. Ich tippte ein paar platte Sätze ein, die mir nicht gefielen, löschte sie wieder und fühlte mich nur noch unsicherer und frustrierter. Zorn auf mich selbst stieg in meinem Inneren auf – und ein erster leiser Anflug von Panik. Was, wenn ich das Manuskript bis zur Deadline nicht fertiggestellt haben würde? Die Grafikerin hatte längst das Cover erstellt, der Klappentext stand und den Pitch, also die Zusammenfassung des Gesamtwerkes in bloß zwei bis drei Sätzen, hatte ich unter meinem Pseudonym längst mit meinen Lesern geteilt. Das Manuskript verspätet abzugeben, würde bedeuten, dass das Lektorat später beginnen würde, was das Korrektorat verzögern und sich schlussendlich unwiderruflich auf den Termin der Veröffentlichung auswirken würde. Den Aufschrei der Bücherwelt konnte ich förmlich hören.
Zum ersten Mal seit meiner Laufbahn als hauptberufliche Autorin wurde mir bewusst, wie lang so ein Tag eigentlich war und wie viele Stunden davon ich generell vor dem Laptop verbrachte. Die Tage verflogen nur so, wenn ich schrieb und in fremde Welten eintauchte, in denen es keine peinlichen Dates, keine Steuererklärung und keine Bad-Hair-Days gab. Gelangweilt und mit einem Gefühl von Leere schlich ich wie eine Fremde durch meinen eigenen Bungalow, als das Klingeln des Telefons mich zusammenfahren ließ.
„Ja?“, meldete ich mich träge, ohne auf das Display zu blicken.
„Romy Evelina Devon!“, donnerte die Stimme meiner Mutter vom anderen Ende der Leitung an mein Ohr. „Du sollst dich doch nicht einfach nur mit Ja melden! Die rufen dich an und haben dir schnurstracks ein Abo angedreht!“
„Ein Abo?“, wiederholte ich belustigt.
„Das ist wirklich nicht witzig, junge Frau.“
Ich sah förmlich vor mir, wie sie den Kopf schüttelte und warnend mit dem Zeigefinger wedelte.
„Ich habe neulich noch gelesen, dass die deine Stimme sogar aufzeichnen und dich dann etwas sagen lassen können, was du gar nicht wirklich gesagt hast! Mit künstlicher Intelligenz. So kommen die an deine ganzen Geheimnummern und so weiter. Das geht ganz flott“, echauffierte sie sich weiter.
Ich verkniff mir die Frage, wer genau denn die waren und gelobte stattdessen Besserung.
„Man kann nicht vorsichtig genug sein“, setzte sie noch ermahnend hinzu, bevor ihre Stimme etwas weicher wurde. „Wie sieht’s aus mit Jack und Caitlin, Schätzchen?“
„Jace und Catherine“, verbesserte ich. „Was du wissen würdest, wenn du die Bücher gelesen hättest.“
Obwohl ich ihr diese Tatsache immer wieder unter die Nase rieb, war ich insgeheim ziemlich froh darüber, dass sie nie einen meiner Romane gelesen hatte. Allein schon die Vorstellung, dass sie die nicht gerade rar gesäten, aber dafür sehr expliziten Sexszenen lesen und wissen würde, dass sie meiner Fantasie entsprungen waren, ließ mich vor Scham im Erdboden versinken.
„Du weißt doch, dass ich keine Zeit zum Lesen habe, Schätzchen. Aber ich kaufe sie alle“, tröstete sie mich. „Gestern hatte ich einen Termin beim Optiker und bei der Fußpflege, vorgestern war Betty zum Kaffee und Kuchen hier und morgen wird Timmy geimpft. Und dein Vater ist immer noch mit der Terrasse zugange. Wenn du mich fragst, ist er viel zu alt für solche Projekte, aber damit darf man dem Herrn ja nicht kommen.“ Sie schnaubte verächtlich Luft durch die Nase, bevor direkt neben dem Hörer ein tiefes Bellen erklang. „Oh, willst du Romy Hallo sagen, Timmy?“ Die Stimme meiner Mutter schoss einige Oktaven in die Höhe und wurde butterweich. „Romy, sag du ihm mal Hallo“, befahl sie.
„Er ist ein Hund, Mum.“ Ich musste lachen. „Er checkt nicht, wie man telefoniert!“
Meine Mutter schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sie meint es nicht so“, tröstete sie ihr Fell tragendes Kind, seines Zeichens ein Pullover tragender, verwöhnter wie verfressener Kurzhaardackel.
Ich seufzte.
„Okay … hallo, Timmy. Viel Spaß bei der Impfung morgen!“
In meiner Hosentasche klingelte in dem Moment mein Handy mit dem Song All of me von John Legend, jenes Lied, das für mich insgeheim stets der Titelsong für Royal Lovers gewesen war.
„Wer ist das?“, erkundigte meine Mum sich neugierig. „Ein Mann?“
„Ähm … nein, sicher nicht“, murmelte ich.
„Schade.“ Sie seufzte vernehmlich. „Wir werden ja nicht jünger, Schätzchen. Melanie vom Bingo hat schon drei Enkelkinder, wusstest du das?“
„Wusste ich nicht.“ Den Namen Melanie hörte ich außerdem zum ersten Mal. Ich biss mir auf die Unterlippe. Das Handy klingelte derweil penetrant weiter. „Keine Ahnung, wer das ist. Wahrscheinlich Edith.“
„Und? Willst du nicht rangehen?“
Ehrlich gesagt – nein!
„Doch … will ich“, antwortete ich stattdessen.
„Na gut, Schätzchen, dann reden wir morgen nochmal. Ich muss jetzt Timmy und deinem Vater ihre Tabletten geben und Kaffee kochen“, verabschiedete sie sich mit einem geschäftigen Unterton in der Stimme. Schon unterbrach ein langgezogener Piepton unser Gespräch. Wahnsinn. Immer diese vielbeschäftigten Rentner.
Kopfschüttelnd zog ich mein Handy aus der Tasche, das tatsächlich immer noch klingelte. Wie eine unheilvolle Warnung prangte Ediths Name auf dem Display.
„Hallo?“, meldete ich mich zaghaft.
„Wieso gehst du nicht ans Handy? Ich dachte, du wärest tot.“
„Nein, ich habe nur … viel am Laptop gesessen“, erklärte ich. Und das war nicht einmal gelogen. Viel davor gesessen hatte ich. Nur eben nichts geschrieben.
„Okay.“ Edith klang skeptisch. „Und bist du fertig geworden?“
„Nicht ganz.“ Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, alles zu leugnen, was in den drei Tagen nach ihrem Besuch mit mir geschehen war. „Ich glaube, ich habe eine Schreibblockade“, brach es dann aus mir heraus. „Ich sitze fast rund um die Uhr da und starre auf den weißen Bildschirm. Aber mir fällt nicht ein Wort ein. Es ist fast so, als hätte ich das Schreiben verlernt!“ Es auszusprechen, machte es um so vieles realer als es ohnehin schon war. Es erschütterte mich bis ins tiefste Mark. Dennoch tat es gut, mit jemandem darüber zu sprechen und mit diesem Gefühl der Ungewissheit nicht mehr allein sein zu müssen.
Eine ganze Weile lang schwieg Edith. Völlig unsicher, was mich erwarten würde, immerhin war sie nicht nur meine mütterliche Freundin, sondern auch meine Verlegerin, hielt ich den Atem an. Würde sie einen Ratschlag für mich haben, mich beruhigen, mich tadeln?
„Ich glaube, dass du einfach eine Pause brauchst“, sagte sie schließlich sehr viel sanfter als erwartet.
„Eine … Pause?“, wiederholte ich lahm.
„Ja, eine Pause von allem“, erklärte sie. „Von deinem Laptop, von deinem Haus, vom Schreiben. Du veröffentlichst jetzt seit fünf Jahren, Romy. Wann hast du das letzte Mal etwas anderes gemacht als zu schreiben?“
Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.
„Abgesehen von deinen komischen Date-Katastrophen“, kam Edith mir zuvor.
„Okay. Dann … keine Ahnung. Nie?“
Edith lachte.
„Romy Devon, hiermit verurteile ich Sie zu einer Woche Urlaub.“ Ich hörte, dass sie zur Verdeutlichung irgendwo draufklopfte.
„Urlaub?“ Ich lachte ungläubig. „Edith, du bist meine Verlegerin! Gerade du solltest wollen, dass ich das Manuskript pünktlich fertigstelle.“
„Versteh mich nicht falsch. Ich will ja, dass du das Manuskript pünktlich lieferst. Selbstverständlich“, erklärte Edith geduldig. „Und ich weiß, dass du das pünktlich schaffen wirst. Aber ich möchte, dass du dabei entspannt, glücklich und motiviert bist und dir nicht voller Verzweiflung irgendetwas aus den Fingern saugst, was dem Rest der Geschichte nicht gerecht wird. Das haben Jace und Catherine nicht verdient.“
Zustimmend und wohl wissend, dass sie mich nicht sehen konnte, nickte ich.
„Summerkiss Nightmares ist das letzte Buch der Trilogie“, fuhr Edith sanft fort. „Ich würde alles tun, was nötig ist, um dieser Story das Ende zu geben, das sie verdient hat. Aber gerade ist es vor allen Dingen nötig, dass die Schaffende dieses Werks Urlaub macht. Buch’ dir ein hübsches Hotel“, schlug sie vor.
„Ach, ich weiß nicht …“ Unwohl zog ich die Nase kraus. „In Hotels sind so viele Menschen.“
Edith seufzte. „Dann eben in einem abgelegenen Motel. Oder in einem Ferienhaus. Irgendwo, wo du mal zur Ruhe kommen, gut essen, lange schlafen und spazieren gehen kannst. Vielleicht …“ Abrupt unterbrach sie sich selbst. „Oh mein Gott! Ich habe die Idee!“
„Ach ja?“
„Little Goldcoast!“ Edith betonte jeden einzelnen Buchstaben dieses Namens, als würde sie über etwas absolut Göttliches sprechen. So sprach sie sonst nur über Sushi und Ryan Gosling.
„Little was?“
„Little Goldcoast“, wiederholte sie mit einem plötzlichen Enthusiasmus in der Stimme, von dem ich mir unsicher war, ob er mir gefiel. „Das schmuckste kleine Küstenstädtchen, das du dir vorstellen kannst. Meine Familie hat dort ein Ferienhaus, ein mehr oder weniger kleines Cottage, habe ich das nie erzählt?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Allzu oft sind wir alle nicht mehr dort, seit der Familienverlag so gut läuft. Aber ich bin dort aufgewachsen. Als mein Vater damals den Verlag gegründet hat und wir nach LA ziehen mussten, hat er in Little Goldcoast ein Cottage gekauft, sodass wir jederzeit dorthin zurück können. George und ich waren damals schon erwachsen und haben anfangs fast jeden Urlaub dort verbracht. Aber irgendwann entwächst man der Kleinstadt.“
Ich konnte mir Edith und auch ihren ernsten Bruder George beim besten Willen nicht als Kleinstadtmenschen vorstellen.
„Tolle Geschichte, aber was genau hat das mit mir zu tun?“ Frustriert schielte ich in Richtung Schreibtisch, auf dem mein immer noch aufgeklappter Laptop stand. Bald würde er Staub ansetzen.
„Was das mit dir zu tun hat? Alles, Romy! Du brauchst Urlaub und ich habe ein Ferienhaus. Das passt doch perfekt. Ich buche dir einen Flug und bringe dich zum Flughafen. Und wenn du zurückkommst, bist du so erholt und inspiriert, dass du das Manuskript innerhalb einer Nacht fertigstellst, wetten?“
Ediths ausufernde Begeisterung brachte mich zum Lachen.
„Das ist ein liebes Angebot, danke, aber ich kann hier wirklich nicht weg“, entgegnete ich. „Eine ganze Woche ohne Schreiben kann ich mir gerade so kurz vor dem Abgabetermin echt nicht leisten.“
„Romy … ob du zu Hause rumtigerst und nicht schreibst oder dir ein paar schöne Tage machst und nicht schreibst, ändert doch an der Wörterzahl rein gar nichts“, versuchte Edith mich weiterhin zu überzeugen.
Ich verdrehte die Augen. Wieso war sie plötzlich so versessen darauf, mich in den Urlaub zu schicken? Ich hatte seit Jahren keinen gemacht und es hatte sie nie interessiert.
„Das ist mir viel zu spontan, Edith“, erklärte ich entschieden. „Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber nein danke. Ich werde definitiv nicht nach Little was auch immer fliegen!“
Kapitel 4
Auf dem Weg nach Little Goldcoast
Drei Tage später fand ich mich im Flugzeug wieder. Mit einem Brief in der Hand, den ich laut Ediths expliziten Anweisungen erst öffnen durfte, sobald wir in der Luft waren, und einem mulmigen Gefühl im Bauch, war ich tatsächlich auf dem Weg nach Little Goldcoast. Oder eher gesagt nach Belbridge, der nächstgrößeren Stadt, denn in Little Goldcoast direkt gab es offensichtlich weder einen Flughafen noch einen Bahnhof. Neugierig wie ich war, hatte ich im Internet nach dem Küstenstädtchen gesucht, war aber auf kaum mehr als einige für mich uninteressante geografische Daten sowie einen älteren Zeitungsartikel über einen verstorbenen Jugendlichen gestoßen.
Als der Steilflug endete, alle Passagiere ihre Gurte lösten und eine Reihe hinter mir ein Baby zu schreien begann, hielt ich es nicht mehr aus vor Spannung. Ohne mich abzuschnallen, riss ich neugierig Ediths Umschlag auf. Zwei handgeschriebene Briefe fielen heraus. Mit einem Stirnrunzeln entfaltete und überflog ich beide.
To-Do-Liste
- Wein trinken (bediene dich gerne an Dads Vorrat, ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hat)
- den Stress wegtanzen (glaube mir, es bewirkt Wunder!)
- nackt oder in Unterwäsche rumlaufen (befreiend ohne Ende)
- am Golden Lake sitzen und einfach nur atmen
- schlafen (viel und lange!)
- gut und ausreichend essen (besuche unbedingt das Diner und grüß den großen, bösen Wolf von mir)
Not-To-Do-Liste
-
keine Dates
-
auf keinen Fall schreiben
-
kein verfrühtes Abreisen
-
kein Stress
Den großen, bösen Wolf? Mit einem ungläubigen Kopfschütteln las ich beide Listen erneut, bevor ich sie wieder zusammenfaltete und im Umschlag verstaute. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich mich dazu hatte breitschlagen lassen, diesen Zwangsurlaub anzutreten ‒ an einem fremden Ort, in einem fremden Haus, zu einer Zeit, in der es mir kaum hätte weniger in den Kram passen können. Andererseits hatten meine eigenen vier Wände mich in den letzten Tagen beinahe verrückt werden lassen. Mir war ohne das Schreiben, das normalerweise der Hauptbestandteil jedes Tages war und mir nun paradoxerweise von meinem eigenen Kopf verwehrt wurde, die Decke auf den Kopf gefallen. Die Entscheidung, trotz meines anfänglichen Widerwillens nach Little Goldcoast zu gehen, war demnach eine Art Flucht gewesen. Außerdem hatte Edith mich mehr oder weniger dazu gezwungen.
Als ich aus dem Fenster blickte und dabei zusah, wie alles, was wir zurückließen, kleiner und unbedeutender wurde, zogen Erinnerungen an die Zeit vor Royal Lovers und meinen vier anderen Romanen in meinem Kopf vorbei. Mit Suri Lilianna hatte ich nicht nur ein melodisch klingendes Pseudonym, sondern auch die Möglichkeit gefunden, meine Kreativität ungezügelt und ungefiltert ausleben zu können. Kaum jemand wusste, wer hinter dem Namen stand, aus dessen Feder die Worte, die so viele berührten, wirklich flossen. Ich hatte nie bereut, unter einem anderen Namen als Romy Evelina Devon veröffentlicht zu haben. Auf die Aufmerksamkeit, das im Mittelpunkt stehen und die direkte Konfrontation mit den Lesern und der Presse konnte ich gut verzichten. Alles, was mich an Fanpost erreichte, bekam ich vom Verlag weitergeleitet und ich fühlte mich insgeheim geschmeichelt, wenn ich im Internet oder in Zeitschriften Artikel über meine Bücher las. Es gab Charakterkarten, Bücherkerzen, Lesezeichen und Schlüsselanhänger sowie jede Menge anderen Bücher-Merchandise, außerdem erstellten viele Leser Pinnwände auf Pinterest und diskutierten hitzig in diversen Foren über das mögliche Ende der Romance-Trilogie.
Das Gefühl im Bauch beim Anblick eines Buchhandlungsschaufensters, das komplett mit Plakaten der Royal Lovers Reihe gepflastert war, würde ich nie vergessen. Ein Kribbeln war nichts dagegen. Es war eher ein Brennen, das Gefühl, fast zu platzen, eine innere Wärme, die mich mehr ausfüllte, als ich glaubte aushalten zu können. So, und dessen war ich mir bis in die letzte Faser meines Körpers sicher, musste sich Liebe anfühlen. Echte, pure, reine Liebe. Liebe wie die zwischen Jace und Catherine. Wie traurig wäre denn die Welt, wenn es eine solche Liebe nicht gäbe?
Erschrocken fuhr ich in die Höhe, als mich eine Hand an der Schulter berührte.
„Die Ampel war wirklich grün! Der Hase lügt!“, brach der Rest meines wirren Traums aus mir heraus und verursachte einen verdutzten Ausdruck im Gesicht der hübschen Stewardess, die sich leicht über mich gebeugt hatte. Einen Moment lang starrten wir einander sprachlos an.
„Wir … sind gelandet, Miss“, erinnerte sie sich schließlich wieder an ihre eigentliche Aufgabe und setzte das Lächeln, das ihr aus dem Gesicht gerutscht war, wieder auf. „Willkommen in Belbridge.“
Ein Blick mit verschlafenen Augen durch den Innenraum der Maschine zeigte mir, dass der Rest der Passagiere bereits ausgestiegen war. Wie konnte ich das und die vorausgehende Landung komplett verschlafen haben?
Na ja, immerhin hatte ich endlich mal geschlafen und mich nicht stundenlang von einer auf die andere Seite gewälzt und mich wieder und wieder gefragt, wie es mit Jace und Catherine nach der heißen Nacht weitergehen würde. Falls es überhaupt weitergehen würde …
„Miss, Sie müssen jetzt bitte wirklich aussteigen.“ In der Stimme der Stewardess hielten sich süßliche Höflichkeit und leise Verzweiflung die Waage und mir wurde klar, dass ich immer noch mit leerem Blick dasaß und im Stillen mein ganzes Leben infrage stellte.
„Oh, natürlich.“ Wie aus einer Trance erwachend, schnallte ich mich ab, sprang auf und stieß mir in meinem Eifer den Kopf ‒ so heftig, dass ich Sterne sah. Benommen fasste ich mir an die Stirn.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte die Stewardess sich vorsichtig. Wahrscheinlich hielt sie mich für betrunken, debil oder völlig übergeschnappt. Oder alles zusammen.
„Mit geht’s gut“, log ich unter Schmerzen mit Tränen in den Augen, schnappte mir mein Handgepäck und sah zu, dass ich endlich ausstieg. Übereilt taumelte ich durch das Gate, die Hand über die schmerzende Stelle am Kopf reibend, die in rasanter Geschwindigkeit zu einer wirklich beachtlichen Beule heranwuchs.
Ediths Brief in der einen und meine Tasche in der anderen Hand machte ich mich auf den Weg zum Gepäckband, um meinen Koffer abzuholen. In der steril geputzten, gänzlich weißen Halle herrschte das typische Flughafenklima. Menschen kamen und gingen, fielen einander in die Arme, warteten auf Verwandte, Bekannte, Kollegen, während über die knackenden Lautsprecher Flüge angesagt, Passagiere ausgerufen und Verspätungen mitgeteilt wurden. Fröhliche, verweinte, nervöse, unsichere, resignierte und müde Gesichter pflasterten meinen Weg. Für meinen Geschmack waren hier eindeutig zu viele Menschen unterwegs.
Unauffällig versuchte ich, in einem der vielen hohen Schaufenster einen Blick auf mich selbst zu werfen, was mir vor einem prunkvoll beleuchteten Esprit Shop schließlich gelang. Ich trug ein olivgrünes Jerseykleid mit Flatterärmeln und einem schmalen schwarzen Gürtel, dazu Ballerinas und eine schwarze Leggins. Egal, wie warm es war, ich trug immer Leggins unter meinen Kleidern und Röcken. Meine weißen Beine würden alle Umstehenden ansonsten binnen Sekundenbruchteilen zum Erblinden bringen, zumindest hatte sich diese Vorstellung in meinem Hinterkopf manifestiert und seit Jahren hartnäckig dort gehalten. Meine Haare hatte ich zu einem hohen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden, aus dem sich während des Fluges einige Strähnen gelöst hatten, die mir nun wirr im Gesicht hingen. Meinen Pony hatte ich mit Haarklammern beiseite gesteckt, wie ich es fast immer tat. Ich verfluchte den Tag, an dem ich ihn mir aus einer Laune heraus hatte schneiden lassen und nun musste ich das Ganze aussitzen, bis diese Strähnen wieder lang genug waren, um sie zum Zopf zusammennehmen zu können. Ich sah ziemlich erledigt und ein wenig verwirrt aus und fühlte mich ehrlich gesagt auch so.
Erst als ich eine gute halbe Stunde später den Flughafen verließ, wurde mir so richtig klar, worauf ich mich da eigentlich eingelassen hatte. Die frische, warme Luft, die meine Lungen erfüllte, schien mich ein wenig zur Besinnung zu bringen. Plötzlich war ich ‒ abgesehen von der immer noch heftig schmerzenden Beule ‒ völlig klar im Kopf und realisierte die letzten Stunden. Taxen und Menschenmassen strömten an mir vorbei, während ich einfach so dastand und angestrengt gegen den pochenden Schmerz in meinem Kopf und den stechenden in meinem Herzen atmete. Da war ich also … müde, grenzenlos überfordert, mutterseelenallein und mit etwas, das einem Schädelhirntrauma sehr nahekam, in einer fremden Stadt. Ich, die introvertierte Schriftstellerin, die ihre Tage am liebsten allein hinter verschlossenen Türen, beziehungsweise mit ihren selbst erfundenen Buchfiguren verbrachte. In der stillen Hoffnung, dieses Leben eines Tages mit dem perfekten Mann teilen zu können, der irgendwo da draußen in der großen weiten Welt auf mich wartete.
Auf einmal war mir nach Weinen zumute. Unwillkürlich fühlte ich mich an meine Klassenfahrt in der achten Klasse erinnert, während der ich aufgrund meines Heimwehs so heftig geweint hatte, dass die begleitenden Lehrer mich mit Verdacht auf Bindehautentzündung von meinen Eltern aus dem Schullandheim hatten abholen lassen. Ich zwang mich, die Schultern zu straffen und tief Luft zu holen. Ich war kein Kind mehr, sondern eine fünfundzwanzigjährige erwachsene Frau, die nicht mehr von ihren Eltern irgendwo eingesammelt und anschließend mit einer Wärmflasche und Gummibärchen vor den Fernseher gesetzt wurde. Leider …