Leseprobe Love in the Dark

Blutdurst

Ihr Handy klingelte. Der Klingelton, Assassin von Muse, sagte ihr nur zu deutlich, wer sie da anrief. Es war Boss, ihr Mentor, ihr Auftraggeber. Hin und wieder betrachtete er sie auch als seine Blutsklavin. Obwohl sie mit dieser Angelegenheit ganz und gar nicht einverstanden war, musste sie sich seinem Befehl beugen. Sie stand ihm zur Verfügung. Jederzeit.

Wenn er sie anrief, ging es um eine heikle Angelegenheit. In solchen Fällen war sie seine erste Adresse. Sie war bekannt und berüchtigt für ihre speziellen Fähigkeiten in Sachen Überzeugung. Leider … denn sie war nicht immer so gewesen.

Sie legte die zehn Kilo Kurzhantel auf den Boden und nahm den Anruf entgegen. Den Knoten, der sich in ihrer Magengegend gebildet hatte, ignorierte sie.

„Ja“, meldete sie sich.

„Ich habe einen Auftrag für dich. Komm zum Club“, sagte Boss.

„Gib mir fünfundvierzig Minuten“, antwortete sie und legte auf. Eisige Kälte breitete sich in ihr aus, während sie versuchte, nicht daran zu denken, was ihr bald bevorstand.

Nachdem sie den Trainingsraum verlassen hatte, ging sie zwei Türen weiter ins Bad. Die 6-Zimmer-Attikawohnung lag hoch über Zürich. Es war November und dichter Nebel verhüllte sowohl die Hochhäuser als auch den Nachthimmel.

Als sie geduscht hatte, öffnete sie den Kleiderschrank. Die Leere darin schrie sie an. Dieselbe Leere, die auch in ihrem Leben herrschte und sie manchmal zu ersticken drohte. Sie griff nach einer schwarzen, eng anliegenden Stretch-Hose, einem schwarzen engen T-Shirt und ihren fast kniehohen Schnürstiefeln mit den stahlverstärkten Kappen. Der Blockabsatz verlieh ihr trotz allem Weiblichkeit und bot Standsicherheit, wenn sie diese brauchte.

Nachdem die Kleidung saß, holte sie das Schulterholster vom Haken und streifte es über. Dann nahm sie ihre SIG Sauer P226 aus dem Waffenschrank, überprüfte um der Routine willen das Magazin und steckte sie in das Holster unter ihrem linken Arm. Danach folgten zwei Reservemagazine, welche unter ihrem rechten Arm in den Magazintaschen Platz fanden. An ihrem Hosengürtel befestigte sie den Dolch, den sie immer bei sich trug, gut verborgen an ihrem Rücken unter dem Mantel. Ein weiteres Messer, ein Seal Pup Elite, fand in einer versteckten Scheide im Stiefelschaft seinen Platz. Danach griff sie in die Schublade im Waffenschrank und holte einen Satz Schlagringe heraus, die in die Manteltaschen wanderten. Als Letztes nahm sie die Ledermanschetten aus der Schublade, zog sie sich über die Handgelenke und schnürte sie straff. Sie gaben ihr im Notfall Stabilität.

Bevor sie das Schlafzimmer verließ, warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Das schwarze Haar fiel glänzend bis zur Taille. Die tiefblauen Augen leuchteten ihr aus dem blassen Gesicht entgegen. Das schwarze Shirt hatte einen tiefen V-Ausschnitt und verdeckte ihr großes Tattoo kaum. Die feinen Ranken begannen tief zwischen ihren Brüsten auf dem Brustbein und zogen auf beiden Seiten zu ihren Schulterspitzen. Von da nach hinten über die Schulterblätter, vereinigten sich und verliefen als ein Strang über die Wirbelsäule bis zum Kreuzbein.

Ja, das war sie: Blue. Früher, vor jener verhängnisvollen Nacht, war sie Mia Müller gewesen. Ein Mädchen, das niemandem auch nur ein Haar hatte krümmen können. Doch das war jetzt vorbei. Mia Müller starb, als Blue geboren wurde. Blue, eine Auftragskillerin, Geldeintreiberin, Security-Angestellte eines Clubs und die rechte Hand des Bosses der Unterwelt, der sich selbst als König bezeichnete.

Drogen, Spiel und Prostitution gehörten zu ihrem Alltag, oder besser gesagt Allnacht. Und doch, trotz allem, was sie bis jetzt getan hatte, war sie nicht stolz darauf und würde sich nie daran gewöhnen. Ihr einziges Ziel galt der Suche nach dem Arschloch, das ihr das angetan hatte. Wie lange war das her? Schätzungsweise zehn Jahre, welche sich jedoch wie hundert anfühlten.

Sie wurde verdammt, ohne dass sie sich dagegen hatte wehren können. Sie hatte ihr Schicksal nicht selbst gewählt. Bis zu jener Nacht hatte sie nicht einmal geahnt, dass eine Welt wie diese überhaupt existierte. Natürlich wusste sie von Drogen, Mord und Prostitution. Aber sie hatte keine Ahnung von der Existenz jener Wesen, zu denen sie nun gehörte. Sie waren Kinder der Nacht, überaus stark und hatten sich die Dunkelheit Untertan gemacht.

Ihr Boss fand sie, nachdem sie überfallen worden war. Verwirrt, blutend … an einem Montag kurz vor Sonnenaufgang. Am Freitag zuvor war sie ins Zentrum gefahren, um sich mit Freunden zu treffen. Sie war nie angekommen. Das Nächste, was ihr Gehirn gespeichert hatte, war, wie Boss sie in seinen Audi R8 geladen hatte und davongefahren war.

Er hatte ihr alles erklärt. Was mit ihr geschehen war, was sie jetzt war und wie ihr Leben von nun an aussah. Erst hatte sie ihm nicht geglaubt. Dachte er wäre ein totaler Spinner. Die Wesen, von denen er sprach, gab es nur in Mythen und Legenden. Erst, als sie brennenden Durst bekommen hatte, und den verlockenden, feuchten Herzschlag der Menschen im Haus nebenan hören konnte, war sie überzeugt gewesen. Vorsichtig hatte sie gewagt, mit der Zunge über die obere Zahnreihe zu fahren und fand, wovor sie sich gefürchtet hatte: Spitze, scharfe Fänge. Vampir, schoss es ihr durch den Kopf, unmöglich!

Boss hatte ihr die ganze Geschichte erklärt und mit allen Klischees aufgeräumt. Menschen werden nicht automatisch zum Vampir, wenn sie von einem solchen gebissen werden. Es ist vielmehr so, dass ein Mensch ein latentes Gen in sich tragen muss, um zu einem Blutsauger zu werden. Dieses Gen kommt bei ungefähr einem von tausend Menschen vor. Solche Menschen werden Träger genannt.

Wird ein Träger von einem Vampir gebissen, aktiviert ein spezielles Enzym im Vampirspeichel das Gen und die Mutation beginnt wenige Minuten später. Die gesamte Transformation dauert nur ein paar Stunden und ist äußerst schmerzhaft. Danach ist man komplett verändert. Nicht wiederzuerkennen.

Entgegen allen Mythen verbrennen Vampire nicht in der Sonne. Nur ihre Augen, die auf Nachtsicht eingestellt sind, schmerzen. Das ist auch der einzige Grund, warum sie selten bei Tageslicht draußen sind. Das lächerliche Gerede über Pfählen, Knoblauch, Kreuze und so weiter … totaler Bullshit. Jedes Lebewesen stirbt, wenn man ihm einen Pfahl durch das Herz rammt. Und sie sind nicht untot. Sie fühlen, atmen und ihre Herzen schlagen.

Nur zwei der vielen Gerüchte sind teilweise wahr. Es stimmt, dass Vampire langlebiger sind als ihre menschlichen Verwandten. Bei Weitem nicht unsterblich, aber sie haben eine etwa zehnfache Lebenserwartung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Vampire das tausendste Lebensjahr erreichen. Und ja, sie trinken Blut. Sie töten dafür jedoch keine Menschen. Sie haben Blutkonserven. Sie lieben es zwar, normale Nahrung zu sich zu nehmen, ihr Körper kann jedoch nicht alle Nährstoffe daraus gewinnen, um auf Dauer gesund zu bleiben.

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage des Hochhauses, in dem sie wohnte und stieg in ihren Chevrolet Camaro. Die Nacht gehörte den Vampiren, aber sie lockte auch den Abschaum auf die Straßen. Menschen und anderes. Es gab eine Vampirgruppe, die sie die Outlaws nannten. Sie hielten sich nicht an die Regeln und betrachteten Menschen als Freiwild. Blue und die Sippe, der sie angehörte hingegen, hielten ihre Existenz bedeckt, obwohl sie natürlich auch alles andere als eine weiße Weste hatten. Der Anführer der Outlaws, Igor, war darauf aus, Boss’ Platz einzunehmen. Er wollte der König der Nacht und des Milieus werden, weswegen es immer wieder zu Konfrontationen mit ihm und seinen Leuten kam.

Blue parkte ihren Wagen am Hintereingang des Clubs. Vorn im legalen Teil tanzten sich die Gäste wahrscheinlich die Füße wund und waren auf der Suche nach unverbindlichem Sex. Der hintere Teil gehörte der einschlägigen Klientel. Ein Treffpunkt eben jenes Abschaums.

Tom, der Türsteher, öffnete ihr die Tür und nickte. Er war groß und definitiv als Schrank zu bezeichnen. Toms grüne Augen musterten sie unmissverständlich. Er stand auf sie, das wusste sie schon lange. Leider gaben ihr menschliche Männer nichts. Wäre da nicht die Nervosität gewesen, die sie stets erfüllte, wenn Tom in ihrer Nähe war … Selbst ihre Coolness, die sie immer als Schutzschild vor sich hertrug, bekam in seiner Gegenwart mikroskopisch kleine Risse. Sie konnte sich nichts vormachen, sie mochte den Mann. Vor ihrer Wandlung war sie total grün in Sachen Sex gewesen und danach war Boss ihre einzige Erfahrung. Aber selbst mit ihm war es nie bis zum Ende gekommen. Tom war definitiv ein Mensch ohne Vamp-Gen. Sie konnte es meistens riechen, wenn einer das darwinsche Los gezogen hatte. Menschen, die das Gen in sich trugen, rochen leicht metallisch mit einer Prise Pfeffer. Für sie zumindest. Andere Vampire berichteten auch schon über andere Geruchseindrücke.

Sie durchquerte den Gastraum in Richtung ihres Büros. Vorbei an den Huren und deren Kunden. Schon auf halber Strecke konnte sie das nervöse Schlagen des Herzens hören, dessen Besitzer sie eine Lektion erteilen sollte. Er war definitiv ein Mensch. Vampire waren nicht so schnell aus der Fassung zu bringen.

Sie betrat den Raum und ließ ihren Blick über die Runde schweifen. Mit dem Rücken zu ihr saß Richi, die Hände nach hinten an die Stuhllehne gefesselt. Neben ihm stand einer der Sicherheitsleute des Clubs. Er nickte ihr zu und trat zur Seite. Betont langsam ging sie zum Schreibtisch und setzte sich auf die Tischkante.

„Hallo, Richi“, sagte sie leise.

Richi hob den Kopf und funkelte sie überheblich mit seinen schwarzen Augen an. Das dunkle Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht.

„Blue. Erledigst du mal wieder die Drecksarbeit für Boss?“

Der Hohn in seiner Stimme ließ sie müde lächeln. Diesem kleinen Wurm würde seine Überheblichkeit schnell vergehen. „Ach Richi. Wenn Leute wie du ihre Schulden termingerecht begleichen würden, müsste ich meine Zeit nicht mit solchem Mist verschwenden.“ Seufzend stand sie auf und zog ihren knöchellangen Ledermantel aus. Nachdem sie ihn abgelegt hatte, drehte sie sich wieder zu Richi um und sah ihn an.

„So, wann sagst du, zahlst du die zwanzigtausend Mäuse zurück? Du bist mehrfach gewarnt worden und trotzdem hältst du dich nicht an die Abmachungen.“ Während sie das sagte, ließ sie provokativ ihre Fingerknöchel knacken. Ihre Maske saß perfekt, verrutschte keinen Millimeter. Niemand bemerkte ihren Abscheu gegen solche Dinge.

In dem Moment wich alle Arroganz aus Richis Gesicht und machte einer ungesunden Blässe Platz. Nervös begann er, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Seine Augen blitzten immer wieder zu ihrer linken Seite. Die SIG Sauer im Schulterholster machte ihn sichtlich nervös.

„Ich … ähm … ich hab’s nicht.“

Er räusperte sich verlegen und blickte sie mit großen Hundeaugen an. Da sie mit dieser Antwort gerechnet hatte, war sie vorbereitet. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und ließ ihn ihre Fänge sehen.

Richi sprang auf und verlor das Gleichgewicht, weil er noch immer an den Stuhl gebunden war. Er wollte fliehen, stolperte aber über seine Füße und fiel mit der Nase voran auf den Betonboden. Ein ekelerregendes Knacken war zu hören und in der gleichen Sekunde keuchte Richi auf. Blut lief in Strömen aus seiner Nase und versaute sein weißes Designer-Seidenhemd.

Ein Brennen erfüllte Blues Kehle und verursachte einen Tunnelblick. Sie hasste diese Reaktion ihres Körpers: Blutdurst. Doch sie war selbst schuld daran. Sie wartete immer zu lange, bevor sie Blut zu sich nahm. Ein durchschnittlicher Vampir trank alle ein bis zwei Wochen Blut. Je nach Gesundheit und Belastung. Sie zog es vor, die Zeit dazwischen zu vervierfachen. Der Gedanke Blut zu trinken, verursachte ihr auch nach all den Jahren noch immer Übelkeit.

Als sie Richis Blut roch, schoben sich ihre Fänge schmerzhaft pochend aus ihrem Oberkiefer und ihre Zunge leckte unwillkürlich über die Lippen. Geschockt drehte sie sich kurz weg, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Voller Wut auf Richi und erfüllt von Selbsthass knurrte sie den Security-Mann an, er solle Richi auf die Beine helfen und seine Fesseln lösen.

Sie griff brutal in Richis Schritt, erhöhte den Druck und blickte ihm ins Gesicht. „Fangen wir noch einmal von vorn an. Wann bezahlst du?“

Er keuchte, wand sich und wimmerte. Wie erbärmlich. Sie erhöhte den Druck erneut.

„Bitte! Aufhören! Ich werde bezahlen. Zwei Wochen, ich brauche zwei Wochen.“

Sie versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, sodass er rückwärts mitsamt Stuhl zu Boden ging. „Du hast zwei Tage. Keine Minute länger. Und damit du dir die Konsequenzen von gebrochenen Abmachungen auch vorstellen kannst, wirst du dich jetzt von deinem kleinen Finger verabschieden. Du hast von Anfang an gewusst, dass Boss sich nicht verarschen lässt und wie er mit Leuten wie dir verfährt. Ich will das nicht tun, aber ich habe keine andere Wahl. Es wird schnell gehen.“

Sie ging in die Hocke, zückte ihr Messer und schnitt ihm mit einem Ruck den kleinen Finger ab. Richi hatte sie die ganze Zeit fassungslos angestarrt. Er war unfähig, zu schreien. Obwohl sie Mühe mit ihrer Selbstbeherrschung hatte, sah sie ihn noch einen Moment eindringlich an, bevor sie sich umdrehte. Sie entschuldigte sich in Gedanken bei ihm.

„Bring ihn raus“, sagte sie heiser zum Security-Mann und an Richi gewandt: „Denk daran, du hast zwei Tage. Falls du bis dahin deine Schulden nicht bezahlt hast, wirst du für den Rest deines erbärmlichen Lebens jemanden brauchen, der dir den Hintern abwischt.“

Das Nächste, was sie hörte, war Rascheln von Kleidung und kurz darauf fiel die Tür zu. Sie schloss einen Moment die Augen. Sie hasste, was sie tat, sie hasste sich und sie hasste ihr beschissenes Leben. Aber noch mehr hasste sie den Typen, der sie damals gebissen hatte. Wenn es doch nur einen Weg gäbe aus dieser Misere, die ihr Leben war, zu fliehen. 

Schließlich riss sie sich zusammen und hob, von Grauen erfüllt, Richis kleinen Finger vom Boden auf. Boss wollte immer einen klaren Beweis für die Erledigung seiner Aufträge.

Als sie mit dem Finger in einem Plastikbeutel vor seinem Büro stand, musste sie all ihren Mut aufbringen, denn sie wusste, was ihr blühte. Mit einem Knoten in der Brust klopfte sie kurz an und trat ein.

Boss saß, selbstgefällig, wie er war, hinter seinem Schreibtisch. Als er sie sah, blitzten seine Augen erfreut auf und jagten ihr kalte Schauer über den Rücken. Er stieß seinen Stuhl vom Tisch weg und lehnte sich zurück. Seine Arme verschränkte er vor seiner Brust.

„Blue“, schnurrte er, „hast du mir was Schönes mitgebracht?“

Sein breites Grinsen löste bei ihr akuten Würgereflex aus. Krampfhaft versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Nachdem sie sich gefangen hatte, machte sie einen Schritt auf ihn zu und warf den Plastikbeutel mit dem Finger auf die Tischplatte. Boss war geradezu entzückt.

„Wie ich sehe, hast du meinen Auftrag wie üblich zufriedenstellend erledigt. Was hast du ausgehandelt?“

Bevor sie antworten konnte, musste sie sich räuspern. Ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen und ihr Mund war staubtrocken. „Er hat zwei Tage Galgenfrist. Als kleine Warnung kann er sich die nächste Zeit nur noch mit links einen runterholen.“

Boss schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und lachte brüllend. „Du bist fantastisch, Blue. Die Härtesten meiner Jungs können dir nicht das Wasser reichen.“

Danke für das Kompliment. Als ob sie stolz darauf sein könnte. Der Gedanke ließ sie ein verächtliches Schnauben ausstoßen.

„Was hast du? Du kannst stolz auf dich sein. Du bist ein Naturtalent im Kämpfen und hast eine wahnsinnige Überzeugungskraft.“ Er grinste verschlagen und fügte hinzu: „Wenn du verstehst, was ich meine.“

Er erhob sich und schlenderte betont gleichgültig um den Schreibtisch herum auf sie zu. Dicht, zu dicht, vor ihr blieb er stehen. Sie wusste erschreckend gut, was jetzt geschah. Er würde sie erniedrigen, seine Macht ausspielen. Seine Hand glitt von ihrem Kinn nach hinten zum Ohr und dann langsam am Hals entlang zu ihrem Schlüsselbein. Angewidert drehte sie den Kopf auf die andere Seite, von ihm weg. Er drückte unterdessen seinen massigen Körper gegen ihren und legte seine Lippen auf die weiche Haut oberhalb ihres Schlüsselbeines. Gleich würde es passieren. Gleich würde er seine Fänge in ihr Fleisch bohren.

Vampire tranken voneinander aus zweierlei Gründen. Zum Ersten bei schweren Verletzungen, um die Heilung zu beschleunigen, denn Menschenblut ernährte sie zwar, war aber schwach und für solche Zwecke nicht dienlich. Klar könnten sie sich auch voneinander nähren, aber das hatte etwas von Kannibalismus.

Zum Zweiten bissen sie einander beim Sex. Es gehörte zur Leidenschaft dazu, hatte sie sich sagen lassen. Da Boss nun aber offensichtlich nicht verletzt war, biss er sie aus dem zweiten Grund. Er tat es immer in solchen Situationen. Es machte ihn scharf, wenn sie auf seinen Befehl hin andere Menschen oder Vampire verletzte oder gar tötete. Er nahm es sich immer von ihr und sie hatte nicht den Mut, sich ihm zu widersetzen. Hätte Feigheit einen anderen Namen, würde sie Blue heißen. Für ihn ging es um nichts anderes als um Machtdemonstration und Erniedrigung.

Sie schloss die Augen und hoffte, dass er es schnell hinter sich bringen würde. Der Schmerz des Bisses war kurz und scharf. Sein Keuchen zu hören und seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren, war schrecklich. Schließlich ließ er von ihrem Hals ab und sah sie aus schmalen Augen an.

„Dein Blut ist dünn. Du verweigerst dir immer noch das regelmäßige Trinken.“

„Es ist mein Blut! Verdammt! Ich trinke, wann ich es für nötig halte.“

Boss zuckte lediglich mit den Schultern und machte sich weiter an ihr zu schaffen. Sie schauderte.

„Blue, wir haben ein Problem“, ertönte Toms Stimme in dem Mini-Kopfhörer in ihrem Ohr.

Sie hielt inne und auch Boss, mit seinem Vampirgehör, hatte es vernommen. Sie drückte auf den Knopf für das Mikrofon und atmete erleichtert durch. „Was gibt’s?“

„So ein Penner von Freier macht Tamtam wegen einem der Mädchen.“

Sie seufzte. Das Glück schien ihr hold und bot ihr eine Fluchtmöglichkeit. „Bin gleich da.“

Boss stand immer noch vor ihr, seine Fänge ausgefahren. Er schien verärgert, doch er wusste, dass Ruhe und Frieden im Club essenziell waren.

„Los, geh. Das hier können wir später erledigen.“ Er knurrte regelrecht, wischte sich aber den Mund ab.

Freunde

Sie konnte es nicht vermeiden, tief durchzuatmen. Fluchtartig verließ sie Boss’ Büro und nahm noch einmal Kontakt mit Tom auf. „Tom, wo bist du?“ Es knisterte in der Leitung.

„Keine Eile, Blue. Es ist nichts los.“

Nun verstand sie nichts mehr. Eben noch ein Notfall und jetzt … „Was soll das heißen? Was ist mit diesem Freier, der gerade eben noch Terror gemacht hat?“

„Den gibt’s nicht.“

Sie erschrak sich beinahe zu Tode, denn Tom stand direkt hinter ihr. Seine Augen blickten besorgt auf sie herab. Obwohl sie eins achtzig groß war, überragte er sie um mindestens einen halben Kopf. Er nahm sie am Ellbogen und führte sie an die Bar. Als sie nichts entgegnete, sprach er weiter.

„Ich habe dir lediglich eine Fluchtmöglichkeit besorgt. Das ist alles. Ich weiß doch, was dir Boss immer antut, wenn du bei ihm im Büro bist.“

Sie konnte fühlen, wie sie ihren Kopf einzog. Tief zwischen die Schultern. „Danke“, flüsterte sie.

Tom klopfte ihr kumpelhaft auf die Schulter. Dann wurden seine Augen schmal und er schob ihre Haare zur Seite. „Du blutest“, stellte er trocken fest.

Sie nickte und versuchte, das aufkeimende Gefühl von Boss’ Zähnen in ihrer Haut zu verdrängen. Aus einem unerfindlichen Grund schämte sie sich.

„Ich bin zwar kein Experte in vampirischer Physiologie, aber sollte das nicht längst zu sein?“

„Ja, sollte es.“

„Und warum blutet es dann noch? Du trinkst nicht regelmäßig, stimmt’s?“

„Jetzt fängst du auch noch an! Verdammt, du solltest noch nicht einmal davon wissen. Also gib mir keine Ratschläge, okay?“

Er zuckte zusammen und schwieg.

Sie bestellte einen Tequila und labte sich am schlechten Gewissen. Tom hatte es nur gut gemeint. Sie fühlte seinen prüfenden Blick und atmete durch. „Sorry, Tom. Es war nicht so gemeint. Ich bin einfach ein wenig empfindlich, was diese ganze Bluttrinkerei betrifft.“ Mit Schwung schüttete sie den Tequila hinunter und knallte das Glas auf die Theke. Mit erhobenem Finger bestellte sie gleich noch einen.

„Blue, du wirst sterben, wenn du nicht regelmäßig trinkst.“

Sie konnte auf diese Bemerkung nur mit den Schultern zucken. Seine Hand landete wieder auf ihrer Schulter und zwang sie, ihn anzusehen.

„Heißt das, du willst sterben? Aber warum?“ Seine Augen waren so grün, dass sie fast leuchteten.

Warum fiel ihr das gerade jetzt auf? „Ich hasse dieses Leben, diese Existenz. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Alles, was ich mir wünsche, ist wieder Mensch zu sein. Mit allen Krankheiten, dem Altern und der körperlichen Schwäche. Und ich hasse diese kranke Abhängigkeit von Boss.“

Inzwischen war auch der zweite Tequila durch ihre Kehle gesickert.

„Aber warum suchst du dir dann nicht einen anderen Job? Weg vom Milieu. Etwas Gutbürgerliches?“

„Und was bitte sollte das sein? Du weißt verdammt gut, dass ich in der Menschenwelt nicht Fuß fassen kann, und abgesehen davon wird mich Boss nicht lebend gehen lassen. Das ist ja wohl total klar.“ Resigniert ließ sie die Schultern fallen und bemerkte in ihrem Selbstmitleid am Rande, wie Tom etwas mit der Barfrau besprach. Dann sah er sie an.

„Was hat Boss gegen dich in der Hand, dass du dir das gefallen lässt? Du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der so leicht unterzukriegen ist.“

Seine Frage überraschte sie ein wenig und sie überlegte, ob sie überhaupt bereit war, zu antworten. „Boss setzt mich unter Druck. Wenn ich ihm nicht gebe oder tue, was er verlangt, verstößt er mich aus der Vampirgesellschaft. Das ist mit der Vogelfreiheit zu vergleichen und die Versorgung mit Blutkonserven ist dann auch nicht mehr so einfach.“

Tom runzelte die Stirn, beschloss aber wohl, nicht weiter nachzufragen.

Im Club verkehrten Menschen und Vampire. Wobei sich die Menschen der Existenz der Letzteren nicht bewusst waren. Die Vampire bekamen artgerechte Verpflegung. Drogen, Huren, menschliche und vampirische, und Blut.

Erst als ein schwarzes blickdichtes Glas vor ihrer Nase auftauchte, begriff sie, was Tom getan hatte. Er hatte um Blut für sie gebeten. Igitt! Wieder begann ihre Kehle zu brennen und die Reißzähne schossen buchstäblich in ihre Mundhöhle.

„Los, trink das.“

Er duldete keine Widerrede. Doch es war undenkbar, das Zeug in seiner Gegenwart zu schlucken. Sie hatte schon Mühe damit, es allein zu tun. „Ich kann nicht. Es ist einfach zu widerlich.“ Sie kam sich weinerlich vor.

Tom drückte ihr das Glas in die Hand. „Halte dir die Nase zu oder was auch immer. Aber das Zeug wirst du zu dir nehmen. Oder willst du, dass ich es dir gewaltsam einflöße?“

Sie drehte das Glas in ihrer Hand. Es war warm. Vampire tranken Konservenblut immer leicht temperiert. Kaltes Blut war noch ekelhafter. Falls das überhaupt möglich war. Seufzend setzte sie es an die Lippen und trank. Sie konnte spüren, wie ihr Körper sich danach verzehrte. Er war ausgehungert. Während der ganzen Zeit strich Toms Hand über ihren Rücken und löste ein Kribbeln in ihrem Inneren aus. Was war nur mit ihr los? Drehte sie langsam durch? Und seit wann ließ sie sich von einem Menschen herumkommandieren? Was war das nur mit ihm?

Als sie das Glas mit verzogenem Gesicht abstellen wollte, sah sie, dass er bereits eine zweite Runde bestellt hatte. Sie sah ihn flehend an und dachte, er möge sie bitte verschonen. Er schien ihre Gedanken zu lesen.

„Ich weiß zwar nicht, wie viel ihr normalerweise trinkt, aber ein Glas scheint mir in deinem ausgehungerten Zustand nicht genug.“

„Warum tust du mir das an? Du quälst mich.“

Er lächelte und drückte ihr das zweite Glas in die Hand. „Ich bin dein Freund, und Freunde sind füreinander da. Auch wenn’s manchmal nervt.“

Nach der zweiten Ladung fühlte sie sich tatsächlich besser. Wärmer. Die klamme Kälte, die sie ausgefüllt hatte, war verschwunden.

„Und überhaupt. Du hast heute frei.“

Sie räusperte sich. „Du hast recht, deshalb werde ich jetzt gehen. Ich wollte sowieso noch trainieren.“ Während sie aufstand, musterte er sie vom Haaransatz bis zum kleinen Zeh.

Tom blickte sie mit aufeinandergepressten Lippen an. Dann schüttelte er den Kopf und stand ebenfalls auf. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Vintage-Jeans und wirkte verlegen.

„Ich wollte dich fragen, ob du noch einen Trainingspartner brauchen könntest. In zwei Stunden wäre ich hier fertig.“

Eigentlich war ihr die Einsamkeit während des Trainings wichtig. Nur so konnte sie ihre Gedanken ordnen und zur Ruhe kommen. Aber andererseits war es vielleicht an der Zeit, einen Freund in ihr Leben zu lassen. Sie war schon zu lange einsam und hielt alle auf Distanz. Und sie konnte noch nie jemandem eine Bitte abschlagen. Vor allem nicht, wenn sie in solch einer attraktiven Verpackung daherkam. Mensch oder nicht. Sie rückte ihren Mantel zurecht und blickte Tom in die grünen Augen.

„Okay, wenn du glaubst, mit mir mithalten zu können, komm nach deiner Schicht zu mir ins Appartement. Du weißt ja, wo ich wohne.“ Dann drehte sie sich mit einem Grinsen um und ging davon. Sie versuchte, das nervöse Flattern in der Nähe ihres Herzens zu ignorieren.

Blue hatte den Club durch den Hinterausgang verlassen und öffnete die Autotür des Camaros, als Boss nach draußen kam. Zuerst drängte sich ihr der Gedanke auf, einfach davonzufahren. Was allerdings keine prickelnde Idee war. Er würde nicht erfreut sein. Niemand widersetzte sich ihm. Als er sie entdeckt hatte, kam er schnellen Schrittes auf sie zu. Hätte sie ihn nicht auf andere Art gekannt, hätte er Eindruck auf sie gemacht. Er war ein Riese, muskelbepackt und mit einer Ausstrahlung, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Definitiv ein Mann, der seine Sippe um jeden Preis beschützen würde. Aber leider hatte er mit seinem Verhalten ihr gegenüber alles kaputtgemacht. Sie konnte ihn nur verachten. Um ihren Unmut zu verbergen, lehnte sie sich gelassen an ihren Wagen.

Boss blieb dicht vor ihr stehen. Seine Augen funkelten sie durch die Dunkelheit an. „Du gehst schon? Ich dachte, wir hätten noch eine Verabredung.“

Ihr Herz kam ins Stocken. Er wusste immer, wann sie das Haus verließ. „Ich fühle mich nicht gut und heute ist mein freier Tag. Warum nimmst du nicht eins der Mädchen? Sie stehen dir liebend gern zur Verfügung.“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich glaube, du vergisst, wen du vor dir hast. Dank mir bist du nicht tot oder in den Händen der Outlaws. Ich denke, ein solch kleiner Dienst hin und wieder ist nicht zu viel verlangt. Und jetzt komm, ich will nicht länger warten.“

Innerlich fluchend verschloss sie das Auto und folgte ihm zurück in den Club, vorbei an den Huren. Sie fühlte sich plötzlich wie eine von ihnen. Nur dass die wenigstens dafür bezahlt wurden und es ihr Job war.

Vorbei an Tanzenden mit verschwitzten Leibern, vorbei an der Bar in Richtung der Privaträume. Sie sah Tom an einer der Säulen stehen. Als er sie entdeckte, bekam er einen besorgten Gesichtsausdruck und wollte ihnen folgen. Mit einem kurzen Kopfschütteln gebot sie ihm Einhalt. Sie wollte nicht, dass er auch nur im Geringsten etwas davon mitbekam, was sich gleich abspielen würde.

Als sich die Bürotür hinter ihnen schloss, hatte sie das Gefühl Regenwürmer im Magen zu haben.

Boss öffnete sein Hemd. „Zieh den Mantel aus.“