New Goals
Jack
Heute war der Tag. In knapp einer Stunde würde sich mein Leben und das der anderen von Grund auf ändern. Daran musste ich einfach glauben. Ich musste daran festhalten und alles in meiner Macht Stehende tun, damit es sich auch bewahrheitete. Und der nächste Punkt auf dem Weg dorthin war, Finch rechtzeitig aus dem Bett zu kriegen. Vielleicht überraschte er mich ja ausnahmsweise einmal und würde, wie verabredet, vor dem Eingang des Studentenwohnheims auf mich warten. Das wäre ein willkommenes Wunder.
Natürlich tat er das nicht. Vor dem Eingang der Wohnhausanlage standen lediglich Kev und Ty. Und Tys unterschwellig aggressivem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war Finch wieder einmal nicht erreichbar. Dieser Vollidiot machte mich verrückt! Die ganze letzte Woche hatte ich ihm eingebläut, wie wichtig dieses Spiel sein würde.
Zwar hatte ich keinem der Jungs verraten, warum, trotzdem war ich der Meinung, dass es Finch ausreichend motivieren würde, gegen Shiny und seine Truppe anzutreten. Finch hasste diesen Kotzbrocken wie die Pest, weil er ihm bei unserem letzten Spiel seinen Schläger in die Kniekehlen gerammt hatte. Vollkommen unbeabsichtigt, versteht sich. Ich zählte darauf, dass Shiny oder ein anderer Kerl aus seinem Team auch heute auf unfaire Mittel zurückgreifen würden. Sie waren stark und schnell, unbestreitbar gute Spieler, dennoch hatten sie solche Tricks nötig, um zu gewinnen.
Wir nicht. Wir waren besser und hatten in den letzten Wochen wie blöde trainiert, damit wir noch besser wurden. An diesem Tag würden wir ihnen zeigen, dass sie keine Chance gegen uns hatten, und nebenbei Jeff Paxton beweisen, dass wir ein Ticket in die Profiliga verdienten. Doch das würde nur passieren, wenn unser Right Wing langsam in die Gänge kam.
„Hey.“ Ty hob eine Hand.
Ich schlug ein. Kev hielt ich wie immer die Faust hin, er boxte mit seiner dagegen.
„Ich geh mal Finch holen.“ Damit stemmte ich mich gegen die Eingangstür des Studentenwohnheims, die ächzend aufschwang und mir Eintritt in das muffige Foyer gewährte.
Die Peacock Halls, wie sie scherzhaft von den Studenten genannt wurden, bestanden aus mehreren lächerlich bunt gestalteten Gebäudekomplexen, die mindestens so alt waren wie die berühmtesten Eliteunis Amerikas. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass sie nicht elitär waren oder den vielversprechendsten Studenten unseres Landes ein Zuhause gaben. Hier war alles einfach nur abgenutzt und billig. Und die wahrscheinlich günstigsten Zimmer im ganzen Bundesstaat konnte man in Gebäude E beziehen, das nach dem Wasserrohrbruch vor einigen Jahren trotz Renovierung noch immer nach Kanal roch. Ungeachtet dessen marschierte ich zielsicher über den ausgeblichenen Linoleumboden, nickte auf meinem Weg zum Treppenhaus ein paar Studentinnen zu, die sich neben einer durchgesessenen Sitzgruppe geschart hatten und mir im Vorbeigehen zulächelten.
Finchs Zimmer lag im fünften Stock, und da die Zeit knapp wurde, hieß es, keine Müdigkeit vorschützen. Die Treppe mündete in einem engen, mit fleckig grauem Teppich ausgelegten Korridor, von dem aus unzählige Türen in die Studentenzimmer abgingen. Forschen Schrittes näherte ich mich der Tür mit der Nummer 527, hinter der Finch gleich sein blaues Wunder erleben würde.
Ohne mich mit einem Klopfen aufzuhalten, das ohnedies ungehört geblieben wäre, drückte ich die ausgeleierte Türschnalle über den Anschlag nach unten und betrat den Raum. Ein Potpourri aus verschiedenen Gerüchen begrüßte mich. Schales Bier, Zigarettenrauch, getragene Kleidung und eine feine Note Weed, die ohne Zweifel von Finchs Mitbewohner stammte. Der war ein Stoner erster Klasse und hatte es ungeachtet dessen irgendwie aus seinem Bett und in eine Vorlesung geschafft. Ganz im Gegensatz zu meinem Right Winger.
Er lag mit dem Rücken zu mir auf seinem Bett. Das Kopfkissen zu seinen Füßen ließ vermuten, dass er sich in der Nacht zuvor verkehrt herum niedergelassen hatte, was wiederum Grund zur Annahme gab, dass er zu viel getrunken hatte. Von der Bettdecke fehlte jede Spur, und da Finch ausschließlich nackt schlief, blieb mir der unbedeckte Anblick seines Hinterteils nicht erspart.
Auch die unzähligen Narben, die sich von dem leicht verfilzten und mit blauen Strähnen durchzogenen Haar über seinen Rücken und die Oberarme zogen, konnte ich sehen. Ich wusste, woher sie rührten. Und bei der Erinnerung daran, wie Finch mir davon erzählt hatte, war ich kurz davor, ihn einfach weiterschlafen zu lassen. Was er hatte durchmachen müssen, wünschte ich niemandem. Trotzdem oder gerade deswegen war es so wichtig, dass er seinen Arsch aus dem Bett schob und aufs Eis trat. Also schluckte ich alles herunter, was mich davon abhielt zu tun, was getan werden musste.
„Scheiße noch mal, Finch!“, rief ich lauter, als eine Begrüßung oder ein gewöhnlicher Fluch hätten ausfallen müssen.
Er grunzte, und seine Pobacken zogen sich zusammen, ansonsten reagierte Finch mit vollkommener Reglosigkeit.
Na schön. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich damit abmühen durfte, meinen Freund und Teamkollegen nach einer durchzechten Nacht aus dem Bett zu holen. Ich hatte schon alles mit ihm durch. Anschreien, rütteln, kräftige Schläge, laute Musik und so weiter und so fort. Mit diesen Methoden würde es ewig dauern, ihn wach zu bekommen. Da die Zeit drängte, verzichtete ich gänzlich auf derlei sanfte Weckversuche und ging stattdessen zu den effektiveren Mitteln über. Selbst schuld, mein Bester.
Ich schnappte mir den alten Putzeimer, der unter Finchs Schreibtisch stand und vor Müll überquoll, kippte den Inhalt in die Duschtasse im Bad und füllte ihn mit eiskaltem Wasser. Harte Situationen erforderten harte Maßnahmen. Mit dem vollen Eimer trat ich an Finchs Bett und gab ihm eine letzte Chance, dem morgendlichen Bad zu entgehen. Ich stieß ihm ein Knie in den Rücken und rief seinen Namen, wobei etwas von dem Wasser auf seine Beine schwappte. Er zuckte zusammen, grummelte etwas Unverständliches und ließ dann ein Schnarchen hören, das jedem Sägewerk Konkurrenz gemacht hätte.
„Es tut mir ja wirklich leid, Mann, aber das muss jetzt sein“, sagte ich mehr zu mir selbst, trat einen Schritt zurück und kippte ihm das eisige Wasser über den Kopf.
Mit einem Satz katapultiert sich Finch von der Matratze und landete unsanft auf dem fusseligen Bettvorleger. Gehetzt sah er sich um, bis er mich entdeckte. Sein schockierter Gesichtsausdruck wurde von einem schiefen Grinsen abgelöst.
Er wischte sich die triefenden Haare von der Stirn. „Hey, Jack. Sag bloß, ich hab schon wieder verpennt.“
Zehn Minuten später verließen Finch und ich das Studentenwohnheim. Seine Haare waren noch feucht, immerhin war er wach, und übel nahm er mir meine Aktion auch nicht. Finch war ein lebensfroher Typ, der das Beste aus jeder Situation machte und selten nachtragend war. Was man von Ty nicht behaupten konnte.
Sobald sich Finch zu ihm gesellt hatte, versetzte Ty ihm einen Schlag gegen die Schulter. „Verdammt, Finch, wegen dir haben wir kaum noch Zeit, uns aufzuwärmen, bevor das Spiel losgeht.“
„Dir auch einen guten Morgen, mein Freund“, erwiderte Finch mit einem breiten Grinsen und rieb sich die Schulter.
Tys Augen blitzten zornig auf.
Ich ging dazwischen, ehe wir noch mehr Zeit mit unnötigen Streitereien verplemperten. „Leute, Leute, hebt euch das für die Siegesfeier auf. Jetzt wollen wir Shiny und seiner Bande erst mal richtig den Arsch versohlen!“
Klay wartete neben den Müllcontainern, die den Personaleingang der Eishalle säumten. Die Hände hatte er in der Bauchtasche seines Hoodies vergraben, sein von der Kapuze bedeckter Kopf war gesenkt.
„Hey, Kleiner, was geht?“, rief Finch ihm aus vollem Hals zu, was Klay aufblicken ließ.
Er war definitiv nicht klein, sondern überragte alle aus dem Team, mit Ausnahme von Kev. Doch mit seinen vierundzwanzig Jahren war er der Jüngste in unserer Truppe, und wenn man nicht wusste, wie alt er tatsächlich war, hätte man ihn jünger geschätzt.
„Wo wart ihr denn? Ich stehe mir seit einer halben Stunde die Beine in den Bauch.“
„Finch“, knurrte Ty. Er verzichtete auf weitere Ausführungen, weil allen auch so klar war, dass Finch verschlafen hatte.
Während Finch den allgemeinen Ärger, den er ausgelöst hatte, gekonnt ignorierte und Klay zur Begrüßung an sich zog, schloss Kev die Tür zur Eishalle auf. Er arbeitete seit ungefähr drei Jahren hier, was uns einen ultimativen Trainingsvorteil verschaffte. Da der Besitzer der Halle ziemlich knauserig war, was die Bezahlung anging, hatte Kev mit ihm ausgehandelt, dass wir die Halle außerhalb der Öffnungszeiten nutzen konnten. Das war das Mindeste, denn er hatte alle Hände voll zu tun. Er zog das Eis ab, hielt die Tribünen, Umkleiden und Sanitäranlagen sauber und kümmerte sich um die Instandhaltung des Gebäudes, das aus in die Jahre gekommenen Metallstreben und Blechplatten bestand.
Finch ließ von Klay ab, während sich Ty schon hinter Kev durch die Tür schob. Ich blieb neben den Müllcontainern stehen und nahm gereizt das Ende der Gasse ins Visier. Eigentlich hatte ich gedacht, es würde mein einziges Problem sein, Finch rechtzeitig hierherzuschaffen. Offensichtlich hatte ich mich getäuscht. Denn zu meinem Leidwesen waren wir noch immer nicht komplett. Ich kramte in der Hosentasche nach meinem Handy. Keine Nachricht. Wo, zum Teufel, blieb …?
Ich hatte den Gedanken nicht beendet, da erschienen zwei Gestalten am Ende der Straße. Auch ohne sie im Detail erkennen zu können, wusste ich, wer sie waren. Die beiden hielten sich an der Hand und liefen uns entgegen. Camilles helles Lachen schallte durch die Gasse. Andrews Kopf war ihr zugeneigt. Ich verdrehte die Augen. Fehlten bloß Schmetterlinge, die um sie herumtanzten, und eine satte Blumenwiese unter ihren Füßen. Ein Stück weit vor uns verlangsamten sie ihre Schritte, und Andrew zog Camille in einer schwungvollen Bewegung an sich. Ihr Lachen wurde sogleich von seinen Lippen verschluckt.
„Junge Liebe.“ Finch seufzte angetan. Er war hinter mich getreten und hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt. „Würde dir im Übrigen auch nicht schlecht bekommen“, ergänzte er trocken.
Die ewige Leier. Aufs Neue verdrehte ich die Augen und schüttelte Finchs Hand ab. Ich hatte andere Sorgen als mein Liebesleben. Na ja, Sexleben, um genau zu sein. Von Liebe war da nie die Rede, was mich nicht im Mindesten störte. Finch aus unerfindlichen Gründen dagegen schon.
„Andrew Jason Rutherford!“, bellte ich.
Er klebte an seiner Freundin, ohne den Anschein zu erwecken, sich irgendwann von ihr losreißen zu wollen. Dabei wusste ich, dass sein Herz genauso sehr für Eishockey schlug wie für Camille. Ein letztes Mal sah ich ihre Zungen in dem innigen Kuss zwischen ihren Lippen aufblitzen, dann endlich hörten sie mit dem Blödsinn auf.
„Ich warte auf der Tribüne“, sagte Camille atemlos und wandte sich grinsend zum Gehen.
Drew sah ihr einige Herzschläge lang nach, wie sie sich zum Vordereingang von uns entfernte. Als er sich eine gefühlte Ewigkeit später umwandte, klatschte er in die Hände.
„Eiszeit!“, rief er.
Na, zumindest schien er ordentlich motiviert für das Spiel zu sein.
„Los jetzt“, sagte ich.
Hinter Drew und Finch betrat ich den engen Abstellraum, von dem aus man zu den Umkleiden gelangte. Ty, Kev und Klay hatten sich bereits in Schale geworfen, und glücklicherweise musste ich Finch und unseren Romeo nicht extra zur Eile anhalten. Beide schnappten sich sofort ihre Monturen.
Keine fünf Minuten später standen wir auf dem Eis. Die Tribünen zu beiden Seiten der Eisfläche waren rege bevölkert. Hauptsächlich bekannte Gesichter. Die meisten davon würden nicht uns, sondern Shiny und seinen Jungs zujubeln. Ich ließ den Blick über die Reihen schweifen. Schließlich blieb er an einem dunkel gekleideten Mann mittleren Alters hängen, den ich noch nie gesehen hatte. Die meisten Zuschauer saßen paarweise oder in Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Er war allein und sah unverwandt aufs Eis. Das musste er sein.
Die Aufregung, die ich in den letzten Tagen und Stunden einigermaßen gut unter Kontrolle gehalten hatte, traf mich mit voller Wucht und fraß sich einem Lauffeuer gleich durch meine Adern. Seit ich Anfang letzten Monats mit Mr. Paxton telefoniert hatte, fieberte ich diesem Augenblick entgegen, und nun war er eigenartigerweise schneller gekommen, als mir lieb war. Nur mit großer Anstrengung gelang es mir, mich den anderen anzuschließen, die Runden auf dem Eis drehten, um vor dem Spiel wenigstens noch ein bisschen warm zu werden. Viel Zeit blieb uns nicht.
Da meine Konzentration mehr auf meiner Umgebung als auf den Aufwärmübungen lag, registrierte ich sofort, dass sich Charly Backer der Spielfläche in gemächlichem Tempo näherte. Er war ein alter Freund meiner Mom, hatte früher, das hieß, bevor sein Bauchumfang proportional zu seiner Körpergröße gewachsen war, selbst in einem Amateurteam gespielt und trainierte uns seit Jahren. Ihm hatten wir es zu verdanken, dass Trainer Paxton auf uns aufmerksam geworden und heute anwesend war. Während Charly zielsicher auf jenen Mann zusteuerte, in dem ich den besagten Trainer vermutete, verharrte ich unvermittelt auf dem Eis.
„Kommt her“, stieß ich energisch hervor.
Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich den Jungs gegenüber auf dem Eis noch nie einen derartigen Ton angeschlagen und war selbst überrascht davon. Es war nicht meine Art, laut zu werden. Im Gegenteil löste ich Probleme oder Konflikte meist mit einer stoischen Ruhe, egal wie es in mir tatsächlich aussah. Schon als Kind hatte ich diesen Wesenszug an den Tag gelegt und war bislang immer gut damit gefahren.
Offenbar war ich nicht der Einzige, der irritiert war von meinem Verhalten, auch meine Teamkollegen, die sich einer nach dem anderen zu mir wandten, bemerkten meine ungewohnte Anspannung. Ty zog verwundert eine Braue hoch, Finch geriet ins Schlittern, Klay zuckte kaum merklich zusammen, Andrews Lippen wurden schmal, und Kev blickte mich derart durchdringend an, dass ich es sofort bereute, mich nicht ausreichend im Griff zu haben. Komm runter, Jack, sagte ich mir. Wenn es mir nicht gelang, meine Anspannung im Zaum zu halten, würde dieses Spiel garantiert keinen guten Ausgang nehmen. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Zu meinem Glück verschaffte mir das die nötige Ruhe.
„Es geht gleich los.“ Jetzt klang ich um einiges entspannter.
Ich linste in Charlys Richtung. Gerade sagte er etwas zu Paxton und marschierte im Anschluss die Tribüne treppabwärts zum Eis. Nur Kev folgte meiner Geste mit den Augen, die sich danach sofort wieder auf mich hefteten. Natürlich wusste er nicht, warum, aber ihm war klar, dass etwas im Gange war, das sah ich ihm deutlich an. Sein Gespür war unbestreitbar sensibel. Der Rest der Truppe hatte die Härte in meiner Stimme schon wieder vergessen.
„Wollt ihr diesem Puck und seinen Anhängern zeigen, wer den Schläger führt?“, fragte ich bemüht gelassen in die Runde und rang mir bei den Worten, die ich unzählige Male zuvor aus Charlys Mund gehört hatte, ein Lächeln ab.
„Ja“, kam es unisono zurück. Und Finch hängte ein beherztes „Scheiße noch mal“ an.
Ich nickte. Würde ich etwas ergänzen, wäre meine mühsam erkämpfte Ruhe erneut dahin. Meine Jungs würden auch ohne Geschwafel ihr Bestes geben.
Kein einziger Mann auf dem Eis enttäuschte mich. Shiny und die anderen aus seinem Team spielten genauso verbissen, wie ich es erwartet hatte, und scheuten sich nicht, mehr oder weniger versteckt auf miese Tricks zurückzugreifen. Das half ihnen jedoch wenig. Wir waren in Bestform und dominierten das Eis schon nach den ersten Minuten. Obwohl unsere Gegner nur eine geringe Anzahl an Torchancen erhielten, konnte Ty seine Qualitäten als Goalie beeindruckend unter Beweis stellen, was das Stöhnen und Ächzen unter den Zuschauern veranschaulichte, wann immer er die heranschießende schwarze Scheibe abwehrte.
Finch, der sich wie üblich keinen der vorab besprochenen Spielzüge gemerkt hatte, machte diesen vermeintlichen Nachteil allemal wett. Er huschte dermaßen flink übers Eis, dass er jedes Mal freistand. Bald war ich vollends ins Spiel vertieft und vergaß darüber sogar Paxton. Nichts anderes auf der Welt vermochte es, mir diese unnachahmliche Empfindung zu schenken. Ich fühlte mich frei mit dem Eis unter den Kufen. Der Schläger in der Hand verlieh mir Kontrolle, Macht. Und das Zusammenspiel mit den Menschen, die mir neben meiner Mutter und Nonna am wichtigsten auf der Welt waren, gab mir Sicherheit und Halt.
Erst als die Zeitanzeige ihren tiefen Gong hören ließ, kehrten meine Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Wir hatten fantastisch gespielt. Ob es ausreichte, um Paxton zu überzeugen, konnte ich nicht sagen.
Clary
„Etwas mehr nach links. Ja, genauso. Und jetzt die Haare vorfallen lassen. Nice … Absolut Nice! Streck den Rücken mehr durch. Mehr … Mehr … So bleiben … Toll!“
Immer wieder blitzte die Kamera auf, während der Fotograf mir weitere Anweisungen zurief. Ich kannte ihn bereits – mit ihm hatte ich schon vor ein paar Monaten ein ähnliches Shooting gehabt –, daher wusste ich, dass es noch ewig dauern würde. Innerlich seufzte ich lang und ausgiebig. Meine Hüfte meldete sich, und erfahrungsgemäß würde in ein paar Minuten auch mein Rücken zu schmerzen beginnen. Ich verfluchte mich dafür, vor dem Shooting nicht eine weitere Schmerztablette eingeworfen zu haben. Die nächsten Stunden würden die Hölle werden, aber ich hatte bisher nie einen Job abgebrochen. Ich war Schmerzen und Belastung gewohnt. Ich war es gewohnt, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten. Oder, wie in diesem Fall, alles wegzulächeln, was auf den Fotos keinen Platz hatte. Allerdings fiel mir das in letzter Zeit zunehmend schwerer.
Die Eislaufschuhe, in denen meine Füße steckten, waren mindestens zwei Nummern zu klein, und ich fragte mich, ob es zu viel verlangt gewesen wäre, mir eine passende Größe bereitzustellen. Da ich mit den Schuhen nicht auf dem Eis stand, sondern in Unterwäsche fotografiert wurde, hatte sich darüber wohl niemand den Kopf zerbrochen. Warum auch? Für sie war ich ein hübsches Gesicht, ein attraktiver Körper. Sie sahen nur das erfolgreiche Mädchen, mit dem sie Geld verdienen konnten. Nicht die Frau, die ich mittlerweile geworden war. Selbst die Narben, die sich an meinem Rückgrat entlangzogen, ebenso wie über meine linke Hüfte, sahen sie nicht. Sie wurden von eleganten Kleidern verdeckt, unter Schichten von Make-up verborgen oder wegretuschiert. Das war die Tragik meines Lebens. Alles an und in mir, was nicht ins Bild passte, fiel irgendeiner Form der Retusche zum Opfer. Der Unfall hatte vielleicht meine Sportkarriere beendet, dafür konnte man ihn bestens als Werbung verwenden. Ich war die Frau, die nicht aufgegeben hatte. Die Frau, die sich auf den Fotos stolz und voller Lebensmut zeigte. Nur meine Narben zeigte man nicht.
„Fantastisch! Du hast das wundervoll gemacht, einfach wundervoll! Die Fotos werden unglaublich. Eine wahre Eisprinzessin!“, meinte der Fotograf schließlich und sah sich die Bilder im Schnelldurchlauf an.
Ich lächelte ein weiteres Mal, wie es von mir erwartet wurde, stand auf, ignorierte den stechenden Schmerz, der sich von den Zehenspitzen bis hinauf zu meinem Scheitel zog, und marschierte über den dicken Teppich zurück zur Garderobe. Das Gefühl, mich auf Kufen zu bewegen, war zugleich gewohnt und eigenartig. Es weckte Erinnerungen und den Wunsch, heute noch aufs Eis zu gehen.
Ein Bild blitzte vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah mich selbst, wie ich hinter der durchsichtigen Trennwand neben der Eisfläche entlanglief. Jubelschreie begleiteten mich.
„Komm, Clary, lass uns die wahre Schönheit in dir hervorholen.“ Rita klopfte auffordernd auf den Hocker vor sich.
Der typische Satz, den ich immer von ihr nach den Shootings zu hören bekam, ließ mich schmunzeln. Rita war mehr als nur meine Visagistin. Sie war eine meiner besten Freundinnen, und sie wusste, dass ich das viele Make-up hasste.
„Nichts lieber als das, sobald ich aus diesen Schuhen raus bin.“
Ihr Blick begleitete mich von der Tür des Ankleideraums bis zu dem Stuhl neben einem der vielen mobilen Kleiderständer, wo ich mich bemühte, beim Hinsetzen keine Geräusche von mir zu geben. Ich war ein Profi, aber das war Rita auch – ein Profi, wenn es darum ging, hinter meine Fassade zu schauen.
„Du hast Schmerzen“, stellte sie fest.
Das Letzte, was ich wollte, war mit Rita über meine Schmerzen zu sprechen. Es fiel mir wesentlich leichter, sie auszublenden, wenn sie nicht zum Thema wurden.
„Meine Füße bringen mich um. Die Schuhe sind zu eng.“ Mir war klar, dass sie meinen Versuch abzulenken sofort durchschaute, zum Glück beließ sie es dabei.
„Holen wir uns einen Kaffee auf dem Rückweg zum Center?“ Rita befeuchtete ein handtellergroßes Wattepad mit Lotion und rieb mir in routinierten Bewegungen das Make-up vom Gesicht.
Das verschaffte mir ein wenig Zeit zu überlegen, was ich antworten sollte. Ich konnte ihren Verdacht bestätigen und zugeben, dass mir alles wehtat. Vorschieben, dass ich nach Hause und mich ausruhen wollte. Da es im Prinzip keinen vernünftigen Grund gab, ihr nicht von meinen eigentlichen Plänen zu erzählen, fasste ich mir ein Herz, griff nach ihrer Hand und zog sie halb verrichteter Dinge von meinem Gesicht. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein Clown, doch das scherte mich in diesem Moment am wenigsten. Rita hatte mich schon in ganz anderen Zuständen gesehen. Zum Beispiel in Krankenhausbetten, mit Schläuchen in diversen Körperöffnungen oder am Boden, in meinem eigenen Erbrochenen liegend oder …
„Ich habe mir vorgenommen, heute mit meinem Vater zu sprechen“, sagte ich, um die Flut an Erinnerungen zu unterbrechen. „Ich habe die Shootings und Werbefilme satt. Es wird Zeit, dass ich etwas Vernünftiges mit meinem Leben anstelle, und wenn ich schon nicht selbst …“ Ich unterbrach mich. Diesmal waren es nicht ausschließlich unschöne Gedanken, die ich damit verstummen lassen wollte, vielmehr die hastigen Worte, die mir beinahe entschlüpft wären.
Es war zu spät. Ich sah das Blitzen in Ritas Augen und wusste, dass ich aus der Nummer nicht mehr rauskommen würde, ohne meinen Satz zu beenden. Also schloss ich kurz die Make-up-verschmierten Augen, um mich zu sammeln, und schluckte schwer, damit der Kloß in meinem Hals verschwand.
„Eislaufen ist mein Leben. Das war es immer schon.“ Es war völlig unnötig, das zu betonen, dennoch tat ich es. „Ich kann vielleicht nicht mehr meine Karriere vorantreiben, aber ich kann anderen dabei helfen.“
Ritas Muskeln spannten sich unter meinen Fingern an. Ihre großen grünen Augen, um die ich sie beneidete, weiteten sich, als ihr klar wurde, was ich da von mir gab.
„Du willst in der Agentur mitarbeiten?“ Nun war sie es, die hart schluckte. „Und andere Läufer managen?“
Genau das war mein Plan.
„Jetzt tu nicht so überrascht, und schmink mich fertig ab, bevor sich dieses glitzernde Rouge für immer in meine Haut brennt.“ Demonstrativ drückte ich ihre Hand mit dem Wattepad auf meine Wange.
Mechanisch nahm sie die kreisenden Bewegungen wieder auf, deutlich fahriger als zuvor. Gleichzeitig sah sie mich dermaßen verblüfft an, dass ich meine Ehrlichkeit sofort bereute. Würde mein Vater ähnlich reagieren? Vor der Unsicherheit, die Rita aus jeder Pore drang und mir verdeutlichte, dass sie sich keineswegs sicher war, ob ich das schaffen könnte, hatte ich mich gefürchtet. Ich war mir ebenso wenig im Klaren, ob es tatsächlich der richtige Weg für mich war. Ob ich es aushalten würde, anderen ins Rampenlicht zu verhelfen, während ich nur neben dem Eis stehen konnte. Doch was blieb mir anderes übrig?
„Ich finde, das ist eine großartige Idee“, sagte sie mit einiger Verspätung. Die Skepsis war verschwunden und ihr Lächeln breit und echt.
„Ja wirklich?“ Ich hätte mich für diese Frage ohrfeigen können. Wenn ich so vor meinem Vater auftrat, konnte ich die Sache gleich wieder vergessen.
Rita lachte herzlich und legte endlich das Wattepad weg.
„Ja wirklich“, bekräftigte sie. „Kaum eine ist besser dafür geeignet. Du kennst durch deine Tätigkeiten der letzten Jahre wahrscheinlich mehr Fotografen und die ganzen anderen wichtigen Leute als Cheston selbst. Das wird toll!“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände, wie nur sie es konnte, ohne dabei vollkommen bescheuert auszusehen.
Ihr Enthusiasmus gab mir Aufwind.
„Danke, Rita“, erwiderte ich aus vollem Herzen.
„Nichts zu danken.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und jetzt zieh dich um. Oder willst du in Dessous vor deinen Vater treten?“
***
Das Clark Center war eine der größten Eishallen in der Gegend. Es dominierte Banff in jeglicher Hinsicht. Sei es durch die Lage, die fulminante Bauweise oder durch die Läufer, die dort trainierten. Mein Onkel Cameron, dem diese Schönheit aus Stahl, Glas und Eis gehörte, pflegte immer zu sagen, dass hier Träume geboren wurden. Er hatte recht. Auch meine Träume hatten hier ihren Anfang genommen. Auf der Eisfläche, die hinter den hohen Fenstern hervorblitzte. Ihr Ende hatten sie auf einer ganz anderen Eisfläche gefunden. Einer unbefestigten, auf einer Straße, die meine Mom und ich vor Jahren entlanggefahren waren.
Ich riss den Blick von der Südfront des Centers los. Es wurde Zeit für neue Träume.
Wie immer war mein Vater in seinem Büro zu finden, das ähnlich einer Galerie halb über der Eisbahn schwebte. Auch hier beherrschten Wände aus Glas den Raum, und wie in der Vorhalle war der Boden von einem eisblauen Teppich bedeckt. Unzählige Male war ich mit meinen Eislaufschuhen über diesen Teppich gegangen. Jetzt hatte ich High Heels an den Füßen, trug einen Bleistiftrock mit passender Bluse, und meine Haare lagen über der Schulter.
Dads Konzentration war auf den Bildschirm seines Computers gerichtet. Er sah erst auf, nachdem ich mich auf den Lederstuhl ihm gegenüber gesetzt hatte. Sein Blick huschte über mein Gesicht, suchte wahrscheinlich nach dem Grund für meinen Aufzug und mein unangekündigtes Erscheinen in seinem Büro. Zugegeben, seit er mir vor sechs Wochen das Angebot gemacht hatte, an seiner Seite in der Agentur zu arbeiten, war ich nicht so oft wie gewöhnlich hier gewesen. Ehrlich gesagt, kein einziges Mal. Wir waren uns zwar gelegentlich über den Weg gelaufen und hatten kurz miteinander gesprochen, aber die Stimmung zwischen uns war eigenartig gewesen.
„Wie geht es dir?“, erklang seine tiefe Stimme, die in Verhandlungen stets einen dominanten Effekt hatte.
Diese Frage. Ich hatte sie in den letzten Jahren viel zu häufig gehört, dennoch wusste ich, dass sie aus seinem Mund keine Höflichkeitsfloskel war.
„Gut.“ Was man von meiner Erwiderung nicht gerade behaupten konnte. Ich war aufgeregt wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht.
Sofort verengten sich seine Augen. Es gab nicht besonders viele Menschen, die mich wirklich kannten. Um genau zu sein, waren es drei. Rita, Lauren, mit der ich von Kindesbeinen an gemeinsam auf dem Eis gewesen war, und meinen Vater. Obwohl das auf Dad erst seit dem Unfall zutraf und seit Mom …
„Warum bist du hier, Clarissa?“ Er klang nicht unfreundlich, trotzdem schwang eine Portion Skepsis in seiner Frage mit – berechtigterweise.
„Steh gerade. Spannung. Ausstrahlung“, hallte die Stimme meiner Trainerin in meinen Ohren wider. Wenn man über Jahre hinweg wieder und wieder dasselbe gesagt bekommt, wurde man es nie wieder los. Also richtete ich mich auf, straffte die Schultern und setzte einen Gesichtsausdruck auf, von dem ich hoffte, dass er von Entschlossenheit und Vernunft zeugte.
„Ich habe mir deinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen und denke, es ist der einzig richtige Weg für mich, in die Agentur einzusteigen.“
Mein Herz tat ein paar schnelle Schläge, während die Miene meines Vaters unbeweglich blieb. Ich wand mich innerlich. War es möglich, dass er seinen eigenen Vorschlag inzwischen bereute? Oh, jetzt komm schon, Cheston Clark, heb dir dein Pokerface gefälligst für deine Geschäftspartner auf, und spann mich nicht länger auf die Folter!
Neben uns schwang die Tür auf und auch ohne hinzusehen wusste ich, wer es war. Dad erlaubte nur einer einzigen Person neben mir auf dieser Welt, einfach so in sein Büro zu platzen.
„Hi, Onkel Cam!“, rief ich, ohne mich von meinem Vater abzuwenden.
„Ches, er ist da.“
Dad sah seinen Bruder an, dann wieder mich und zurück zu Onkel Cameron, bevor ein Tausend-Watt-Gewinnerlächeln auf seinen Lippen erschien. „Sag ihm, er soll hereinkommen.“
Cameron formte seine Hand zu einer Pistole und schoss breit grinsend imaginäre Kugeln auf Dad ab, so wie er es immer tat, wenn er besonders von etwas begeistert war. Was immer diese Angelegenheit sein mochte, sie hatte meinen Vater erfolgreich von unserem Gespräch abgelenkt, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es würde warten müssen. Enttäuscht erhob ich mich von meinem Stuhl und wollte mich gerade von Dad verabschieden, als er die Braue hochzog.
„Wohin willst du? Wir sind noch nicht fertig.“ Sein Blick zuckte zu dem Stuhl, von dem ich gerade aufgestanden war.
Jawohl, Sir.
Zu meinen ohnehin durchgewirbelten Gefühlen mischte sich eine nicht zu verachtende Portion Verwirrung. Wer war auf dem Weg zu uns ins Büro? Und warum sollte ich hierbleiben, um über eine Sache zu sprechen, die ich nur mit Dad unter vier Augen klären wollte?
Kaum einen Atemzug später war Cameron zurück und hatte einen Mann im Schlepptau, der so grimmig dreinschaute, als hätte ihn eben seine Frau verlassen. Oder als hätte er seinen Lottoschein mit den sechs Richtigen darauf verlegt. Oder …
„Clarissa, das ist Mister Jeff Paxton, ein alter Schulfreund von mir und der neue Trainer unserer Dynamites“, verkündete Cameron.
Ich erhob mich, obwohl ich mich wegen Dads unmissverständlicher Geste wieder hingesetzt hatte.
„Willkommen“, sagte ich freundlich und schüttelte Mr. Paxton die Hand. Und viel Erfolg mit diesen Losern, fügte ich in Gedanken hinzu.
Die Dynamites waren Camerons Eishockeyteam, das er vor fünf oder sechs Jahren gegründet hatte. Seither hatten die Jungs, wenn überhaupt, nur eine Handvoll Spiele gewonnen. Schon möglich, dass es im Grunde Profispieler waren, doch es fehlte ihnen an Biss, an Durchsetzungsvermögen auf dem Eis und an Teamgeist. Dafür waren sie umso besser, wenn es darum ging, einen draufzumachen oder in diversen Boulevardmagazinen in kompromittierenden Situationen abgelichtet zu sein. Das Team war berühmt-berüchtigt, aber von Erfolg weit entfernt.
Mr. Paxton nickte mir zu. Sein unnahbares Gehabe passte ebenso perfekt zu einem Trainer wie der dunkelblaue Sportanzug, den er trug, und die kurz geschorenen Haare auf seinem Kopf, die an den Schläfen bereits ergraut waren. Ein harter Knochen durch und durch. Mit ihm würden die Jungs bestimmt viel Freude haben. Nicht.
Unwillkürlich wurde mein Lächeln breiter, als ich mir ausmalte, wie sie von ihm übers Eis gescheucht wurden.
Dad, der sich aus seinem Lederdrehstuhl geschwungen hatte, schüttelte als Nächster Trainer Paxtons Hand. „Schön, dass Sie sich entschlossen haben, Cam mit seinem Team unter die Arme zu greifen. Umso mehr freut es mich, dass ich Ihnen Clarissa als neue Managerin der Dynamites zur Seite stellen darf. Ich bin überzeugt, zusammen werdet ihr den Jungs zu neuem Glanz verhelfen.“
Ich hatte ein Klingeln im Ohr. Hatte Dad da gerade in seinem gönnerhaftesten Ton verlautbart, dass ich die Dynamites managen würde? Hatte er heute Morgen zu heiß geduscht? Ich hatte keine Ahnung von Eishockey! Mein schadenfrohes Grinsen verwandelte sich binnen Sekunden in einen Gesichtsausdruck, der ohne Zweifel das volle Maß meines Schreckens widerspiegelte. Onkel Cameron schien überrascht. Paxton musterte mich kühl und ausdruckslos, dabei konnte ich mir denken, dass er mindestens genauso skeptisch sein musste wie ich. Nur Dad sah als Einziger in der Runde reichlich zufrieden aus. Seine zum Himmel schreiende Selbstgefälligkeit brachte das Fass zum Überlaufen.
Ich zwang mir ein Lächeln auf, diesmal das wohl falscheste in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren, die mein Leben mittlerweile umfassten, und das sollte etwas heißen.
„Wenn uns die Gentlemen bitte einen Moment entschuldigen würden, ich muss ein paar Details meiner neuen Funktion mit Mister Clark besprechen.“ Mein Tonfall ließ keine Widerrede zu, während ich Onkel Cam demonstrativ am Arm nahm und ihn zur Tür begleitete.
Trainer Paxton folgte stumm unserem Beispiel. Die beiden wussten offenbar, was gut für sie war. Was man von meinem Vater nicht behaupten konnte. Er grinste nach wie vor freudig. Dieser Mann war der Teufel in Person. Absolut passend für seinen Job – fürchterlich für seine Tochter.
Nachdem die Tür hinter meinem Onkel und dem Trainer geschlossen war, kehrte ich zu Dads Schreibtisch zurück und drückte meine erhitzten Handflächen auf die kühle Glasplatte.
„Sag mir, dass du eben nur einen blöden Scherz gemacht hast!“, rief ich.
„Ich scherze nie. Schon gar nicht, wenn es ums Geschäft geht“, erwiderte er seelenruhig.
Am liebsten hätte ich mir einen meiner High Heels ausgezogen und den Absatz zu einer Mordwaffe umfunktioniert. Stattdessen stieß ich geräuschvoll die Luft aus.
„Und wie genau stellst du dir das, bitte schön, vor? Warum kann ich nicht einen der Läufer managen? Ich habe jede Menge Know-how, wenn es um Eiskunstlauf geht, aber so gut wie keines in Bezug auf Eishockey.“ Es war völlig unnötig, ihm das zu erklären, er wusste es haargenau. Eigentlich. Trotzdem schlug er diese irrwitzige Aktion vor.
„Du machst das schon, Clarissa.“
Ich knurrte voller Ärger und Verzweiflung. Dieser Laut war mir seit Jahren nicht mehr über die Lippen gekommen – das letzte Mal vor meinem Unfall, als ich auf dem Eis irgendeinen Sprung nicht zu meiner Zufriedenheit hinbekommen hatte. Er überraschte Dad und mich gleichermaßen. Sein Grinsen verschwand für einige Herzschläge, dann legte sich ein warmes, wenn auch trauriges Lächeln auf sein Gesicht.
„Ich habe vollstes Vertrauen in dich.“ Seine Stimme war ungewohnt sanft, und in seinen Augen strahlte derselbe Glanz wie damals, wenn er mir beim Laufen zugesehen hatte.
Das war zu viel für mich.
„Schön“, presste ich hervor und wandte mich zur Tür. Ich musste raus hier und mich sammeln, bevor ich Gefahr lief durchzudrehen. Dad meinte, ich würde das schaffen. Keine Ahnung was ihn ritt, ich war definitiv nicht davon überzeugt. Ganz im Gegenteil. Ich bereute, hergekommen zu sein. Ich bereute, seinen Vorschlag auch nur in Erwägung gezogen zu haben. Und ich bereute Tausende andere Entscheidungen aus meiner Vergangenheit, die in diesem Moment über mich hereinzubrechen drohten.
***
„Auf uns“, sagte Lauren und prostete mir mit ihrem giftgrünen Drink zu.
Ich hob mein Glas, in dem im Gegensatz zu Laurens Alkohol war, und stieß mit ihr an. Sofort führte sie ihr Getränk an den Mund und fing den Trinkhalm mit den Lippen ein. Ich nippte an meinem Cocktail und genoss die süßliche Schärfe, die meine Geschmacksknospen umschmeichelte, der fantastischen Kombination aus Sirup, Sahne und Hochprozentigem sei Dank.
„Willst du auch mal?“ Lauren hielt mir ihr Glas entgegen.
Vehement schüttelte ich den Kopf. Niemals würde ich das trinken.
„Ich trinke nichts, wo Spinat drin ist.“
Lauren grinste, weil sie genau wusste, dass es mich vor ihren Drinks ekelte, meinte aber unschuldig: „Da ist kein Spinat drin. Nur Ananas, Zitrone, Ingwer und Avocado.“
Würg. Die Zusammensetzung überraschte mich nicht. Lauren war die disziplinierteste Person, die ich kannte. In ihren Verdauungstrakt gelangten ausschließlich nährstoffreiche Lebensmittel, was sie konsequent bis hin zu den Drinks beim Ausgehen durchzog.
„Niemals“, erwiderte ich trocken und genehmigte mir einen großen Schluck aus meinem Glas der Sünde.
Lauren lachte und leerte ihr Getränk, bevor sie auf stilles Mineralwasser umstieg. Sie war fanatisch präzise, was ihren Speise- und Trainingsplan anging. Genau diese Disziplin, die sie in jeder Lebenslage an den Tag legte, war es, die sie so erfolgreich auf dem Eis machte. Sie war schlank, jeder Muskel fest und stets einsatzbereit, was man von mir mittlerweile nicht mehr behaupten konnte.
„Hi, Girls“, erklang es hinter mir. Nur Sekunden später legten sich Ritas Hände auf meine Schultern, und sie drückte mir von hinten einen Kuss auf die Wange.
Nachdem sie Lauren auf ebenso herzliche Weise begrüßt hatte, schwang sie sich neben ihr auf die Polsterbank und winkte einem der Kellner. Das Lokal war gut gefüllt, aber weil wir hier einen gewissen VIP-Status genossen – immerhin war es die Bar von Onkel Cams Hotelanlage –, dauerte es keine zwei Minuten, bis Ritas Bestellung aufgenommen wurde.
„Und?“, fragte sie strahlend, kaum war der Kellner abgerauscht.
„Und was?“, wollte Lauren wissen.
Nun sahen sie mich beide an. Na toll. Wie hatte ich einen Augenblick glauben können, ich würde diesen Abend in Ruhe verbringen, ohne dass das heiße Thema auf den Tisch kam? Eigentlich wollte ich die Begegnung mit meinem Vater und das desaströse Resultat lieber gänzlich aus meinem Geist verbannen. Da ich so dämlich gewesen war, Rita in meine Pläne einzuweihen, wollte sie jetzt wissen, wie es gelaufen war.
Weil ich zögerte, verwandelte sich ihr begieriges Lächeln in einen besorgten Ausdruck. „Sag bloß, es hat nicht geklappt.“
Na, jedenfalls nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte.
„Was denn?“, rief Lauren. „Könntet ihr mir bitte endlich sagen, worum es hier geht!“
Ich seufzte. „Ich war gestern bei meinem Vater und habe ihm meine Zustimmung zu seinem Vorschlag gegeben, dass ich in der Agentur mitarbeite.“
Lauren riss die großen blauen Augen auf. „Was? Das ist ja fantastisch! Oh, Clary, das war eine gute Entscheidung!“
Ich konnte Laurens überschwängliche Freude nicht teilen. Sie und Rita erkannten sofort, dass ich keine Begeisterung an den Tag legte.
„Oder nicht?“, fragte Lauren unsicher.
Auch Rita legte die Stirn in Falten.
„Doch“, brachte ich lahm heraus, was die beiden in Jubelschreie ausbrechen ließ. Die ebbten allerdings rasch wieder ab.
„Warum freust du dich denn nicht?“ Rita sah mich verständnislos an. „Ich dachte, du wolltest das.“
Ja, das hatte ich auch gedacht. Ich hatte mich der ohnehin großen Herausforderung stellen wollen, neue Wege zu beschreiten. Dass diese Wege mich zur Managerin der Dynamites machen würden, hatte ich bei meinem Entschluss nicht mit einkalkuliert.
Frustriert fuhr ich mir übers Gesicht. „Ich soll Camerons marodes Eishockeyteam managen.“
Nach meiner Enthüllung war es still am Tisch. Laurens Gesicht war bleich. Rita hatte die Unterlippe zwischen die Lippen gezogen und kaute darauf herum. Die solidarische Betroffenheit der beiden, ihr Mitleid und ihre Anteilnahme weckten unerwartete Gefühle in mir. Ehrgeiz. Entschlossenheit. Und eine unbändige Wut.
„Verdammt noch mal!“, stieß ich hervor. „Ich habe keinen blassen Schimmer von Eishockey, aber ich werde meinem Vater beweisen, dass ich sogar diese Bande von Verlierern ins rechte Licht rücken kann.“ Hoppla! Wo kam das denn plötzlich her?
In Ritas Augen erschien ein Glanz, und auch Lauren setzte ihr Siegerlächeln auf.
„Natürlich“, bekräftigte Rita voller Inbrunst meine Kampfansage.
„Du rockst das!“ Lauren tätschelte meine Hand.
Wie gerufen, wurde in diesem Moment Ritas Drink serviert. Sie hob ihr Glas.
„Auf Clary!“, sagten sie gemeinsam.
Ich zwang mir ein Lächeln auf, weil ich ihnen dankbar war. Obwohl ich meine Entschlossenheit, den Job anzunehmen, ausgedrückt hatte, war ich mir noch immer nicht sicher, wie ich diese Aufgabe meistern sollte.
***
Prinzipiell war ich die Mischung aus Schmerztabletten und Alkohol gewohnt. Um genau zu sein, hatte ich mich in der Vergangenheit mit diesen beiden Substanzen am Laufen gehalten. Nicht dass ich in den letzten Monaten sonderlich viel Alkohol konsumiert hätte. Auch meine tägliche Dosis an Schmerzmitteln war für die Verhältnisse der zurückliegenden Jahre nicht der Rede wert. Trotzdem steckte mir der gestrige Abend, allem voran die Drinks, heute in den Knochen.
Ich hatte mir gleich nach dem Aufstehen sämtliche Unterlagen zu den Spielern der Dynamites von Onkel Cameron aushändigen lassen. Im Gegensatz zu mir war er mindestens genauso begeistert von der Idee, dass ich nun die neue Managerin seines Eishockeyteams sein würde, wie Dad. Das hatte ihn nicht daran gehindert, mir zu den Akten einen dicken Stapel Bücher über Spielregeln, Taktik und was weiß ich noch mit auf die Arme zu packen.
Ich saß seit Stunden über den Unterlagen und hatte den ein oder anderen Blick in die Bücher über Eishockey geworfen. Mein Schädel brummte, und obwohl ich in meinen eigenen vier Wänden, die im Ostflügel der Hotelanlage untergebracht waren, jede Möglichkeit nutzte, mich der Lektüre in einer bequemen Position zu widmen, hielt das die Schmerzen nicht lange fern.
Jede Akte sah aus wie die andere, und sie lasen sich alle gleich. Brauner Karton, ein Deckblatt, das die Eckdaten der Spieler beinhaltete. Name, Alter, Adresse, Funktion auf dem Eis, ein Abriss der bisherigen Spielerfolge. Bei kaum einem reichte die Beschreibung über die Hälfte des Blatts. Sie hatten in jungen Jahren mit dem Eishockey begonnen, jeder hatte eine gute und fundierte Ausbildung erhalten, soweit ich das beurteilen konnte. Die meisten hatten bereits in anderen, weit erfolgreicheren Teams gespielt, was nur unterstrich, wie gut Cam seine Spieler bezahlte. Auf diesem Geld ruhten sich die Herren der Schöpfung offensichtlich seit Jahren aus, denn Ruhm und Ehre hatte dem Team kein einziger von ihnen eingebracht.
Ich verglich ihre Spieldokumentation, eine unspektakuläre Aneinanderreihung von geschossenen oder abgewehrten Toren und herausragenden Spielzügen, mit denen erfolgreicher Spieler und Mannschaften. Das Ergebnis war ernüchternd. Der einzige Spieler im Team, der eine einigermaßen gute Bilanz vorzuweisen hatte, war Hudson. Er war Center und Team Captain. Selbst ernannt, versteht sich. Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass ich bis zu diesem Augenblick keine Ahnung über seine Qualitäten als Spieler gehabt hatte. Meine Informationen zu Hudson Bolder beschränkten sich bis dato auf rein sexuelle Aspekte. Abgesehen davon, dass er unheimlich attraktiv war, was er nur allzu genau wusste, war er einer der wenigen Menschen gewesen, die nach meinem Unfall und dem anschließenden Ende meiner Karriere auf dem Eis noch Interesse an mir gezeigt hatten. Klar, er war nicht gerade der sensibelste Kerl auf dem Planeten, aber er hatte sich in einer Zeit, die für mich die Hölle auf Erden gewesen war, als Konstante in meinem Leben erwiesen und sich niemals an meinen Narben oder Eskapaden gestört. Ungeachtet dessen hegte ich keine tieferen Gefühle für diesen Mann und glaubte nicht daran, dass er mehr von mir wollte als gelegentlichen Sex. Gelegentlichen Sex, der mit dem heutigen Tag Geschichte sein würde. In Wahrheit war ich Hudson seit Monaten überdrüssig, und da ich von nun an in beruflicher Verbindung zu ihm stand und den Teufel tun würde, meine neue Position als Managerin des Teams, und sei sie auch noch so ungewollt, in Gefahr zu bringen, galt unsere Bettgeschichte für mich als beendet.
In Gedanken versunken stapelte ich die Spielerakten fein säuberlich aufeinander. Eine Pause musste her, in der ich mir die Beine vertreten und meinen müden Geist ein wenig von der Thematik befreien konnte. Ich stemmte die Arme auf die Tischplatte des Schreibtischs, um möglichst viel Gewicht beim Aufstehen von meinen Beinen zu nehmen. Mein Blick blieb an einem Detail auf der Seite eines aufgeschlagenen Buchs hängen. Obwohl die halb aufgerichtete Position alles andere als gemütlich, ja, im Gegenteil, äußert unbequem und anstrengend war, verharrte ich einige Momente darin. Mein Hirn ratterte wie eine alte Zamboni mit Getriebeschaden, in dem Bemühen, die Anzahl der beiseitegelegten Spielerakten und jene Zahl in dem Buch, die beschrieb, wie viele Teammitglieder ein Eishockeyteam zu haben hatte, in Einklang zu bringen. Mit einem dumpfen Ächzen senkte ich meinen halb erhobenen Hintern zurück auf die gepolsterte Sitzfläche des Stuhls und zog das Buch zu mir heran, las den Absatz, der erklärte, welche und vor allem wie viele Spieler in einen Kader gehörten.
Dem Ratgeber zufolge sollte jede Mannschaft aus vier Sturmreihen und wenigstens drei Verteidigungsreihen bestehen. Hinzu kamen mindestens zwei Goalkeeper. Hastig blätterte ich einige Seiten weiter, wo ich mir die Abbildung eines Spielfeldplans ansah. Die Aufstellung benötigte zwei Verteidiger, den Torwart und drei Stürmer. Ich überschlug die Zahlen, und Hitze kroch mir das Rückgrat hinauf. Im Grunde wusste ich bereits, was Sache war, trotzdem langte ich nach den Spielerakten und sortierte sie der Funktionen der einzelnen Teammitglieder nach auseinander, bis sie der Spieleraufstellung auf dem Eis gleich vor mir auf dem Tisch lagen.
Die Dynamites bestanden aus nur einem Goalkeeper, vier Verteidigern und sechs Stürmern, wobei Hudson als einziger Center des Teams fungierte. Das durfte nicht wahr sein! Wie bescheuert war Onkel Cam eigentlich! Er hatte vor, sein Team aus abgehalfterten Partyhengsten auf Vordermann zu bringen. Selbst wenn Jeff Paxton dieses Wunder als neuer Trainer vollbringen könnte, blieb da immer noch das grundlegende Problem, dass die Mannschaft gut ein Drittel zu wenig Spieler hatte. War dieses essenzielle Detail tatsächlich niemandem aufgefallen?
Ich musste es wissen. Ich musste wissen, ob Cameron und Cheston Clark vorhatten, mich ein Team mit zu wenig Spielern managen zu lassen. Getrieben von Unglauben, Skepsis und dem Gedanken, dass mein Vater mir mit voller Absicht eine Aufgabe gestellt hatte, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, machte ich mich auf den Weg in Dads Büro.
Hinter den Milchglaswänden meinte ich, die Silhouette einer Person zu erkennen, die im Raum hin und her lief. Dumpfe Stimmen drangen zu mir heraus auf den Flur. Entgegen meiner ersten Intention klopfte ich an die Tür. Die Silhouette näherte sich der Tür, einen Herzschlag später senkte sich der Türgriff. Camerons angespanntes Gesicht erschien vor mir im Türspalt. Dieser Ausdruck passte nicht zu meinem toughen, stets bestens gelaunten Onkel. Er war so gut wie nie aufgebracht, besorgt oder anderweitig negativ gestimmt. Dieser Mann war normalerweise die pure Lebensfreude, jederzeit zu Späßen aufgelegt oder zumindest optimistisch.
„Clary, gut, dass du da bist.“ Damit ließ er mich ein und schloss die Tür hinter mir.
Trainer Paxton saß meinem Vater gegenüber an dem länglichen Verhandlungstisch, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaute ähnlich finster drein wie bei unserem Kennenlernen. Er nickte mir zu, bevor er sich Onkel Cam zuwandte und offenbar das Gespräch dort weiterführte, wo es durch mein Erscheinen unterbrochen worden war.
„Cameron, du hast mich hergeholt, damit ich mich deines Teams annehme. Mag sein, dass es sich verbessern kann, und glaube mir, ich bin in der Lage, jedes Quäntchen spielerischen Könnens aus diesem Haufen Faulpelze herauszuholen …“ Der Trainer hielt inne.
In Onkel Cams Blick konnte ich erkennen, dass er hin und her gerissen war zwischen Hoffnung und Unsicherheit, zwischen der Aussicht, mit Paxton die ultimative Lösung für die Rettung seines Teams gefunden zu haben, und einer undefinierbaren Sorge, die höchstwahrscheinlich aus dem Teil der Unterredung resultierte, den ich verpasst hatte.
„Doch es fehlt ihnen an Herz. An Motivation. An Natürlichkeit. An Instinkt. Und an Freude am Spiel.“ Während der Aufzählung, die den Schlägen eines Richterhammers gleich aus seinem Mund schoss, streckte Paxton zu jedem Punkt einen Finger seiner Linken aus und schloss sie schließlich zu einer Faust, mit der er auf die chromglänzende Armlehne seines Stuhls schlug.
Trotz, nein, gerade wegen seines resoluten Auftretens begann ich, den steinernen Coach, wie er meiner kurzen, aber beeindruckend ergiebigen Internetrecherche zufolge in Fachkreisen genannt wurde, allmählich zu mögen. Seine Einschätzung traf zu hundertzehn Prozent zu und beschrieb meinen eigenen Eindruck der Dynamites.
Onkel Cam atmete tief ein, setzte zum Sprechen an, nur um geräuschvoll die Luft auszustoßen und ein weiteres Mal stumm seinen Mund zu öffnen. Erst beim dritten Anlauf drang etwas über seine Lippen.
„Du hast recht, Pax“, gab er zähneknirschend zu. „Und natürlich habe ich dich nicht angeheuert, um mir Honig ums Maul schmieren zu lassen. Allerdings empfinde ich dein Urteil nach nur einem Probetraining mit meinen Jungs als voreilig und zu hart. Ich kann nachvollziehen, dass du das Team ausdünnen musstest …“
Also hatte Paxton schon Mitglieder aussortiert, die seiner Meinung nach nicht länger für die Dynamites spielen sollten. Ein mutiger Schritt, vermutlich der einzig Richtige. Mich beeindruckte, dass Paxton keine Zeit vergeudet hatte.
„Du könntest dich genauso gut nach ein paar neuen Spielern in der Umgebung …“
„Nein“, fuhr Trainer Paxton meinem Onkel dazwischen, was Dad, der die Unterhaltung im Stillen beobachtete, zum Schmunzeln brachte.
Cameron blieb das nicht verborgen, kein Hilfe suchender Blick in Richtung meines Vaters entlockte ihm jedoch eine Reaktion.
„Sie sind Amateu…“, begann Onkel Cam und wurde sofort wieder von Paxton unterbrochen.
„Voller Potenzial!“
„Haben keine fundierte Ausbil…“
„Genau das, was den Dynamites fehlt!“
„Sind aus Ameri…“
„Unumgänglich, wenn du dieses Team zum Erfolg führen willst!“
Während Onkel Cam mit jedem Mal, mit dem er erfolglos der Debatte ein weiteres Argument beifügen wollte, immer kleinlauter wurde und ich ihm seine Erschöpfung und seinen Überdruss deutlich anmerken konnte, sprach Paxton energischer und ein kämpferischer Schimmer trat in seine Augen.
Dieser Schlagabtausch wirkte gleichermaßen verwirrend und unterhaltsam auf mich. Noch hatte ich keinen Schimmer, worum es eigentlich ging, hoffte aber inständig, dass sich dieser lästige Umstand demnächst ändern würde.
Schließlich seufzte Cameron tief und versuchte erneut, Dad als Befürworter miteinzubeziehen.
„Sag doch auch mal was dazu, Ches.“ Er klang wie ein quengeliges Kind, dem nicht erlaubt wurde, länger aufzubleiben.
Mein Vater räusperte sich, kaschierte damit mehr schlecht als recht ein weiteres amüsiertes Zucken seiner Mundwinkel. „Der Mann weiß bestimmt, was er tut, obwohl ich gestehen muss, dass mich dieses Vorgehen ebenso überrascht hat wie dich, Cam.“
Meinen Vater überraschte etwas? Dann stand unweigerlich die Apokalypse bevor. Ich hatte nämlich nur ein einziges Mal erlebt, dass er von etwas überrascht worden war, und das war wohl das Schlimmste, was ihm jemals passiert war. Und mir.
Meine Neugierde legte einen doppelten Toeloop hin, und dann war es endgültig vorbei bei mir mit Geduld und höflicher Zurückhaltung. Ich wollte, zur Hölle noch eins, wissen, was hier vor sich ging.
Onkel Cam drehte sich schwungvoll und mit einem beeindruckend theatralischen Gesichtsausdruck zu mir herum. „Alles klar. Ich beuge mich diesem Wahnsinn. Jeff, du bist der Trainer, und ich will die Sinnhaftigkeit deines Entschlusses nicht länger infrage stellen. Clary, du als Managerin des Teams sollst wissen, dass wir bald sechs neue Spieler bei den Dynamites willkommen heißen dürfen.“
Gut. Und warum verursachte der Spielerwechsel solche eine weitreichende Debatte?
„Und weiter?“ Ich wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte.
Obwohl Onkel Cam noch vor wenigen Sekunden mehr als erpicht darauf gewesen war, seinen Unmut kundzutun, schwieg er nun demonstrativ und sah auffordernd zu meinem Vater. Der wiederum blickte erst Trainer Paxton an, ehe sich seine Aufmerksamkeit auf mich richtete.
Mann, die machten es aber spannend.
„Bei den neuen Spielern handelt es sich nicht um Kanadier. Sie kommen aus Missoula“, sagte Dad.
Wow. Okay. Darüber zerbrachen sie sich die Köpfe? Dann waren es eben Amerikaner. Immerhin war Kanada bekannt dafür, weltoffen zu sein. Ich sah darin kein Problem.
„Und es sind Amateurspieler.“
Amateure? Ein Glucksen entfuhr mir, ohne dass ich es hätte aufhalten können. Rasch hustete ich, um von meiner dezent unprofessionellen Lautäußerung abzulenken. „Wie Amateurspieler?“ Verarschten die mich?
„Amateurspieler im Sinne von noch nie in einem richtigen Team gespielt, keine einschlägige Ausbildung genossen, weit entfernt von Ligaerfahrung.“ Jetzt war es Onkel Cam, der mir antwortete, und er schaffte es bei Weitem nicht so gut, seine Unzufriedenheit zu verbergen.
Am liebsten hätte ich gelacht, das erschien mir in diesem Moment allerdings unmöglich. Paxton holte also wahrhaftig Amateure in ein Team, das ohnedies nur aus Nullen bestand? Fantastisch.
Jack
Mom zog mich so fest an sich, dass sich der Kugelschreiber in der Brusttasche ihres rosa-weiß gestreiften Kleids, mit dem sie die Bestellungen notierte, schmerzhaft in meine Rippen drückte. Dennoch erwiderte ich ihre Umarmung klaglos und schlang die Arme um sie. Ich wusste, wie schwer es ihr fiel, mich ziehen zu lassen. Es war vollkommen egal, dass ich achtundzwanzig Jahre alt und längst über einen Kopf größer war als sie, in ihren Augen würde ich wohl immer ihr kleiner Junge bleiben.
„Pass auf dich auf, Jacky“, murmelte sie in mein Shirt.
„Miss“, ertönte es irgendwo hinter uns.
Mom schniefte kaum hörbar, löste sich ein Stück von mir und ließ es sich nicht nehmen, mir einen Kuss auf die Wange zu drücken, ehe sie sich von mir verabschiedete, um weiter zu bedienen. Der Diner, in dem sie arbeitete, war gut besucht. Von allen Seiten verlangten die Gäste nach Kaffee und Eiern mit gebratenem Speck.
Meine Mutter nahm die Bestellung eines Paars auf und verschwand durch die Schwingtür in die Küche.
Nonna hatte ich bereits am Morgen Lebewohl gesagt. Nun da unsere Abfahrt unmittelbar bevorstand, klangen mir ihre Abschiedsworte wieder in den Ohren. „Du bist ein guter Junge, Jackson. Es wundert mich nicht, dass dir das Schicksal unter die Arme greift.“
Ich wusste, dass sie sich für mich freuten, mir gönnten, welche Chance sich mir bot, und meinen Weg unterstützen. Doch mit Nonnas Gerede von Schicksal konnte ich nichts anfangen.
Schwerfällig drehte ich der geschlossenen Schwingtür den Rücken zu.
Tyler stand neben der Tür, die Hände in die seiner Mutter gelegt. Leise sprachen sie miteinander. Sandra trug das gleiche rosa-weiß gestreifte Kleid wie meine Mom und die anderen Bedienungen. Ich hatte beide schon unzählige Male in dieser Montur gesehen, ebenso Ty, da wir praktisch in diesem Diner groß geworden waren. An Tisch 6 hatten Tyler und ich als Kinder jeden Tag gesessen und unsere Schularbeiten erledigt. Das hieß, wenn er nicht gerade im Krankenhaus gewesen war. Vermutlich fiel es seiner Mutter um einiges schwerer als meiner, ihren einzigen Sohn ziehen zu lassen. Schließlich war es nicht selbstverständlich, dass Ty stolze sechsundzwanzig Jahre alt geworden war und sein Leben nun auf diese Weise führen konnte. Oder überhaupt am Leben war. Trotzdem und wahrscheinlich gerade deshalb hörte ich, wie sie ihm alles Gute wünschte und sich wieder an die Arbeit machte.
„Los geht’s!“ Ty wackelte mit den Brauen.
Er strahlte Freude und Tatendrang aus, aber mir entging das verräterische Glänzen in seinen blassblauen Augen nicht. Es gab wohl kaum einen Menschen auf der Welt, der hinter Tylers Houstons Fassade blicken konnte. Ich glaubte, einer von diesen Menschen zu sein. Ein Mensch, dem Ty sein Vertrauen entgegenbrachte so wie ich ihm meines. Darüber hinaus fühlte sich ein nicht zu verachtender Teil von mir für ihn verantwortlich. Ebenso wie für Kev, Drew, Finch und Klay. Zu der Freude und Aufregung über den neuen Weg, den wir gemeinsam einschlagen durften, mischte sich Sorge, die einen schalen Beigeschmack erzeugte. Sie lauerte in mir, seit Trainer Paxton nach unserem Spiel zu uns in die Umkleide getreten war. Er war ein stocksteifer und reichlich undurchsichtiger Mann. Ein harter, äußerst professioneller Coach, dessen Talent, das Beste aus jedem Spieler unter seinem Kommando herauszuholen, laut Charly seinesgleichen suchte. Wir konnten uns über alle Maßen glücklich schätzen, dass er mehr in uns sah als junge Männer, die darauf aus waren, ihren Traum zu leben. Ersteres taten wir ohne Zweifel und Zweiteres war nun in greifbarer Nähe. Doch wir waren noch nicht dort. Wir hatten einen langen, steinigen Weg vor uns, und ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, was uns in Kanada erwarten würde.
Ein Abenteuer? Bestimmt. Eine bessere Zukunft, als Missoula sie für uns bereithielt? Das hoffte ich aus vollem Herzen.
„Jack? Kommst du?“, wollte Ty wissen, weil ich mich nicht von der Stelle bewegt hatte. „Oder willst du dir einen letzten Kuss von deiner Mommy holen?“
Meine Mundwinkel zuckten nach oben.
„Ein Kuss von deiner Mommy wäre mir lieber“, antwortete ich, woraufhin Ty mir gegen die Schulter boxte.
Nacheinander begaben wir uns nach draußen, und ich unterdrückte den Impuls, mich noch einmal nach dem Diner umzudrehen, ging zu meinem Wagen, einem in die Jahre gekommenen Toyota Previa. Auf der verbeulten Motorhaube saßen Kev und zu meiner Überraschung Finch.
„Bereit?“
Kev nickte auf meine Frage hin und erhob sich schweigend. Er war kein Mann vieler Worte. Er war ein Mann der Tat. Nicht nur, wenn er auf dem Eis war. Dieser Wesenszug war bezeichnend für den ehemaligen Corporal und hatte ihm und dem ihm anvertrauten Trupp im Krieg in Afghanistan das Überleben gesichert. Es war gut zehn Jahre her, dass sich Kev, gerade erst volljährig, dem Dienst an unserem Land verschrieben hatte. Gedankt hatte man es ihm nicht. Unwillkürlich kam die Erinnerung an unser erstes Zusammentreffen in mir auf. Damals hatte ich eine Heidenangst vor ihm gehabt. Zu Recht. Er stand mir im Ring gegenüber und war einer der wenigen Gegner, die es schafften, mich zu besiegen. Und der einzige, der mir nach dem Kampf die Hand gereicht, mir auf die Beine geholfen und mich gefragt hatte, ob es mir gut ging. Seit dieser Nacht waren wir Freunde.
„Es geht los!“, flötete Finch mir ins Ohr, begleitet von einer Umarmung, die mir die Luft aus den Lungen presste. In seiner Hand blitzte ein in durchsichtige Folie gewickelter Blumenstrauß auf, den er mir nun unter die Nase hielt. „Jedenfalls sobald ich die hier abgeliefert habe.“ Er wartete keine Erwiderung meinerseits ab, sondern stapfte los und verschwand im Diner.
Ty stöhnte genervt auf, dabei wusste er genauso gut wie ich, aus welchem Holz Finch geschnitzt war.
„Lasst uns im Wagen auf ihn warten“, meinte ich unbeeindruckt von Tys Gehabe, schnappte mir Finchs löchrigen Rucksack, den er an den Radkasten gelehnt hatte, und verfrachtete ihn gemeinsam mit Kevs ebenso spärlichem Gepäck im Kofferraum.
Kaum dass ich den Deckel zugeknallt hatte, trat Finch wieder auf die Straße. Anstelle des Blumenstraußes hielt er eine Papiertüte mit dem Logo des Diners in der Hand und wedelte damit freudig in unsere Richtung.
„Na, hast du dich auch von deiner Mommy verabschiedet?“, spottete Ty.
Dieser Vollidiot konnte es einfach nicht gut sein lassen. Tyler war nie mit Finch warm geworden, obwohl dessen Herz bestimmt größer war als alle unsere zusammengenommen. Finch war nicht viel Gutes in den knapp siebenundzwanzig Jahren seines Lebens widerfahren. Trotzdem kümmerte er sich um andere, größtenteils sogar Fremde, wo er nur konnte. Soweit ich wusste, waren die einzigen Menschen, die sich jemals um ihn gekümmert hatten, meine Mutter und ich gewesen, zumindest bis er Teil unseres Teams geworden war. Ich sah eine jüngere Version von Finch vor meinem geistigen Auge, die halb erfroren und verhungert vor eben jenem Diner hockte, vor dem er jetzt stand. Ich, wie ich in Begleitung meiner Mutter den Diner spät abends verließ und mich über den Jungen in dem schmutzigen Sweater wunderte, der den einzigen Schutz gegen die klirrende Kälte darstellte. Ich blieb vor ihm stehen und fragte ihn, wie er hieß und warum er allein war. Wir hatten ihn nach einem kurzen Gespräch mit nach Hause genommen. Ohne die Hilfe meiner Mutter wäre seine Zeit auf der Straße vermutlich nicht gut ausgegangen.
Finch ließ die Hand mit der Tüte sinken, gleichzeitig verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht.
„Beth ist nicht meine Mutter, sondern Jacks“, erwiderte er mit rauer Stimme. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch er schloss den Mund, und nur einen Augenblick später hoben sich seine Mundwinkel. Erst als er zum Wagen trat und Ty die Tüte in die Hand drückte, ergänzte er in gewohnt heiterem Tonfall: „Reiseproviant. Für uns alle.“
Zehn Minuten später lenkte ich meinen klapprigen Toyota in die Zufahrtsstraße zu Andrews Elternhaus. In dieser Gegend der Stadt reihte sich ein gepflegtes Haus ans andere und eine sauber getrimmte Rasenfläche an die nächste. Zwar war es kein Villenviertel, trotzdem brauchte man das nötige Kleingeld, um sich hier niederlassen zu können. Drews Eltern waren renommierte Ärzte und besaßen genug Kohle. Als Einziger von uns kannte er keine Geldsorgen, wusste nicht, was es bedeutete, jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen, um sein Leben zu bangen oder gar auf der Straße zu sitzen.
Das hieß nicht, dass Drew es im Vergleich zu uns anderen leichter hatte. Auch er musste um seinen Traum kämpfen. Geld zu haben, ermächtigte einen nicht automatisch dazu, frei entscheiden zu können. In Drews Fall traf das Gegenteil zu. Seine Eltern hielten nichts von seinen Ambitionen, von Eishockey oder Sport an sich. Sie hatten Drews Zukunft klar vor Augen. Und bei dem von ihnen angestrebten Werdegang trug ihr Sohn bestimmt kein Trikot und hatte keinen Schläger in der Hand, sondern war in einen weißen Arztkittel gekleidet, mit einem Stethoskop um den Hals wie sie.
Kaum hatte ich den Toyota am Ende der Zufahrt zum Halten gebracht, preschte Drew um die Ecke. Er hatte seine Sporttasche geschultert und die Lippen aufeinandergepresst. Ohne eine Begrüßung stieg er in den Wagen und verzog sich auf den freien Platz in der hinteren Sitzreihe neben Ty.
„So schlimm, Mann?“, fragte Ty vorsichtig, nachdem wir rückwärts aus der Einfahrt gerollt waren.
Die Antwort war ein tiefes Brummen. Von uns allen kannte Tyler Andrew am längsten. Die beiden hatten sich im Krankenhaus getroffen, wo Drew ein Praktikum absolviert und Ty als freiwilliger Helfer die Kinder auf der onkologischen Station bespaßt hatte.
Es dauerte eine Weile, bis Drew mehr von sich gab. Über den Rückspiegel sah ich, dass er seine Tasche auf dem Schoß umklammert hielt und den Blick aus dem Fenster gerichtet hatte.
„Ich bin enterbt“, stieß er hervor und ließ ein freudloses Lachen folgen.
Zwei, drei Sekunden lang herrschte Stille im Wageninneren, dann klopfte Ty ihm auf die Schulter.
„Glückwunsch!“ Er bemühte sich, einen lockeren Tonfall anzuschlagen, und tatsächlich klang Drews Lachen jetzt eine Spur weniger verkrampft, wenn auch reichlich trocken.
„Mach dir nichts draus“, sagte Finch. „Klar ist es schade um die ganze Asche, aber das Wichtigste ist, dass wir spielen können, nicht wahr?“
„Yep“, gab Drew einsilbig zurück.
Obwohl Finch den Nagel ohne Zweifel auf den Kopf getroffen hatte, steckte sicherlich mehr hinter Drews mieser Stimmung als der bloße Verlust seiner Erbschaft. Ich kannte ihn nicht so gut wie Ty, dennoch hatte ich mitbekommen, dass ihm die mangelnde Unterstützung seiner Eltern zu schaffen machte. Es war nicht das Geld, das ihm fehlen würde, sondern die Gewissheit, dass die Menschen, die ihm am nächsten standen – oder stehen sollten – ihn und seine Wünsche ablehnten. Mochte sein, dass ich nicht die gleichen Chancen im Leben hatte wie er. Meine Mutter hätte mir niemals ein Studium finanzieren können. Dafür hielt sie zu mir, komme, was da wolle, und würde mir nie eine Richtung aufzwingen oder sich von mir abwenden.
Leise unterhielten sich Ty und Drew über Drews Freundin Camille. Während wir uns einem wesentlich ungemütlicheren Fleckchen der Stadt näherten und ich meinen eigenen Gedanken nachhing, drangen gelegentlich Gesprächsfetzen zu mir nach vorne. Offenbar war auch der Abschied von Camille alles andere als einfach gewesen. Trotzdem war Andrew hier. Er hatte eine sichere, womöglich aussichtsreichere Zukunft in den Wind geschossen, seine Freundin zurückgelassen, die er innig liebte. Alles, um mit uns auf dem Eis zu sein. Um die Sache zu tun, für die sein Herz am lautesten schlug.
Dieser Teil der Stadt war in nichts mit dem zu vergleichen, aus dem wir gerade kamen. Ich kannte die Straßen besser, als mir lieb war, da ich mit meiner Mutter lange genug hier gewohnt hatte. Sobald es Mom, nachdem mein Vater uns von einem Tag auf den anderen im Stich gelassen hatte, finanziell möglich war, packte sie mich und unsere sieben Sachen. Wir zogen in ein ruhigeres Viertel, in dem man vor allem nachts sicherer unterwegs sein konnte. Ich hatte zu niemandem mehr aus dieser Gegend Kontakt, abgesehen von Klay und sporadisch zu seinem älteren Bruder Tucker. Mit Tucker war ich von klein auf in die Schule gegangen, irgendwann hatten wir uns auseinanderentwickelt. Ich war heilfroh gewesen, dem Treiben auf den Straßen den Rücken kehren zu können, wohingegen Tucker immer tiefer darin versunken war. Als Mitglied einer der berüchtigtsten Gangs der Stadt stand er mittlerweile mit einem Bein im Gefängnis und mit dem anderen im Grab.
Jeder von uns profitierte auf die ein oder andere Weise davon, Missoula zu verlassen, aber ich schätzte, dass es für Klay am bedeutungsvollsten war. Er ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Die Kapuze seines Hoodies tief ins Gesicht gezogen, murmelte er „Hey, Leute“, und sah demonstrativ aus dem Fenster. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Klay war ein ruhiger Typ. Fast so ruhig wie Kev. Als Junge war er fröhlich, laut und wild gewesen, dieses Verhalten, die Unbeschwertheit, hatte er längst abgelegt. Trotzdem … Ich fuhr den Wagen nicht wieder an, was nach wenigen Augenblicken zu Fragen und Protestrufen aus den hinteren Reihen führte. Erst als Klay den Kopf drehte und zu mir hinüberschielte, ließ ich langsam die Kupplung kommen und drückte das Gaspedal.
„Nimm die Kapuze ab.“ Ich wollte das volle Ausmaß dessen erfassen, das ich nur erahnen konnte.
Er zögerte, dann tat Klay, was ich von ihm wollte. Hinter uns wurde es still, nachdem Finch durch die Zähne gepfiffen hatte. Klays linke Gesichtshälfte war übel zugerichtet. Seine Unterlippe, auf der ein blutiger Riss prangte, war geschwollen, ebenso die dünne Haut unter seinem linken Auge. Auch die Braue darüber zierte eine Blessur, und trotz Klays dunklem Teint konnte ich einen violetten Schimmer auf seinem Jochbein erkennen.
„Jetzt guckt nicht so betroffen aus der Wäsche. Ein Wichser am Kiosk ist mir blöd gekommen, ich konnte mich nicht zurückhalten. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Der andere musste wesentlich mehr einstecken“, sagte Klay derart abgeklärt, dass ich ihm keine Silbe glaubte. Außerdem waren seine Hände vollkommen unversehrt. Keine Schrammen oder irgendein anderes Zeichen auf seinen Fingerknöcheln, dass er seinerseits zugeschlagen hatte.
Ich biss die Zähne zusammen, umklammerte das Lenkrad und zwang mich dazu, den Mund zu halten und weiterzufahren.
Lieber hätte ich kehrtgemacht. Ich hatte eine Ahnung, wer an Klays Verletzungen schuld war, und meine hart erkämpfte Ruhe schwand beim Gedanken daran, dass es nicht das erste Mal passiert war. Aber es würde das letzte Mal gewesen sein, sobald wir die Grenze hinter uns gelassen hatten und Banff in Sicht kam. Das schwor ich mir. Klay würde nichts mehr mit dieser ganzen Scheiße in seinem Viertel zu tun haben.
Ein Ruck ging durch den Wagen, und einen Herzschlag später steckte Drew den Kopf zwischen den Sitzen nach vorne. Zweifelsohne begutachtete er Klays Gesicht.
„Mach einen Umweg über den Drugstore, Jack“, meinte er. „Wir brauchen Eis, Schmerzmittel und etwas zum Desinfizieren.“
Ich nickte. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Klay schwieg ebenfalls. Es waren auch keine Worte notwendig. Keiner von uns käme auf die Idee, Klays Erklärung anzuzweifeln. Wenn es das war, was er vorschieben wollte, akzeptierten wir das. Wir unterstützen einander. Ohne Ausnahme.
Clary
„Komm schon, Clarissa.“ Hudsons Stimme klang einschmeichelnd und warm.
Davon ließ ich mich nicht erweichen. Anstatt ihm, was er sicherlich gehofft, ach, was sage ich, vorausgesetzt hatte, schenkte ich mein Lächeln der Barista hinter dem Tresen.
„Hi. Ich hätte gerne einen großen Sojalatte mit Karamell.“
Neben mir lehnte sich Hudson an die Theke.
„Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich willst“, sagte er.
Am liebsten hätte ich die Augen verdreht, geschnauft oder ihn weiter ignoriert, wie ich es tat, seit er mir von der Vorhalle des Centers bis hierher in den nächstgelegenen Starbucks nachgedackelt war und ohne Unterlass auf mich eingeredet hatte.
„Die Sache ist ganz einfach. Vorher hatten wir keine berufliche Verbindung. Jetzt haben wir eine. Ergo: kein Sex mehr“, erklärte ich diesmal knapper, damit der Kern meiner Aussage endlich bei ihm hängen blieb.
Sein Blick verfinsterte sich, auch das beeindruckte mich nicht. Konnte sein, dass ich mir nicht viele meiner herausragenden Eigenschaften von der Zeit vor dem Unfall hatte bewahren können, eine zählte definitiv dazu: mein eiserner Wille. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog ich es auch durch. Punkt.
Ich nahm den Latte entgegen und zog meine Karte über das Lesegerät, bevor ich meine Schritte zum Ausgang lenkte. Hudsons tiefes Seufzen, das in einem Knurren endete, folgte mir.
„Ganz einfach, ja. Du trittst uns in die Tonne, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben.“
Autsch. Mit dem Becher in der Hand hielt ich inne. Die Tür des Starbucks schwang hinter mir zu, was ich an dem warmen Luftstoß in meinem Rücken spürte.
Bei seiner eisigen Stimme verflüchtigte sich meine Coolness ein Stück weit und unerwünschte Gefühle stoben in meinem Inneren auf. Ich wollte nicht an unsere gemeinsame Zeit denken, sondern das Gespräch so schnell wie möglich hinter mich bringen. Also zwang ich mich dazu, ruhig weiterzuatmen und Hudson neben mir nicht anzusehen. Würde ich es tun, würde ich alles nur schlimmer machen. Wenn ich ihm erklärte, dass er mir zu wenig bedeutete, als dass ich weiter an einer Beziehung – sofern man das zwischen uns überhaupt so nennen konnte – mit ihm festhalten wollte, würden wir beide die Fassung verlieren, und das konnte ich mir nicht leisten. Nicht jetzt, nicht heute, nicht wenn ich gleich den neuen Spielern, die Trainer Paxton aufgetan hatte, gegenübertreten und mich professionell geben musste.
„Es gibt kein uns“, sagte ich.
„Glaub ja nicht, dass ich dich noch einmal aus dem Dreck ziehen werde, Clary.“ Damit ließ Hudson mich stehen und stapfte davon.
Ganz toll!
Erst als sein breiter Rücken und die hochgezogenen Schultern außer Sicht waren, setzte ich mich in Bewegung. Ich hatte keine Zeit, um weiter hier herumzustehen und über etwas nachzudenken, das ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen war.
Obwohl ich mich redlich bemühte, all den Mist, der sich durch die Szene in mir nach oben drängen wollte, zurückzukämpfen, tauchten wahllos Bilder auf und flirrten vor meinem geistigen Auge, als wäre mein Hirn ein kaputter Fernseher. Egal wie betrunken oder randvoll mit Medikamenten ich gewesen war, ich konnte mich an alles erinnern, wenn auch zum Teil nur verschwommen.
Während ich schwer damit beschäftigt war, düstere Erinnerungen abzuwehren, trugen mich meine Beine immer schneller den Weg zurück zum Center. Ich war dermaßen abgelenkt, dass ich den Wagen erst sah, als er mit quietschenden Reifen und lautstarkem Gehupe eine Armlänge vor mir zum Stehen kam.
Mit einem Mal verpufften alle Bilder der Vergangenheit von einem betrunkenen, zugedröhnten Ich, das mit Hudson im Bett gelandet war. An ihrer Stelle raste eine ganz bestimmte Erinnerung auf mich zu und ließ mein Herz in einen stolpernden Takt verfallen. Mom und ich stritten uns wie so oft. Dabei achtete sie mehr auf meine wilden Gesten und mein von zornigen Tränen nasses Gesicht als auf die Straße, die dunkel und eisglatt vor uns lag.
Ein erneutes lang gezogenes Hupen ließ mich zusammenfahren und vertrieb die schmerzliche Erinnerung. Ich war wieder im Hier und Jetzt, nahm meine Umgebung endlich vollends wahr. Die Passanten, die mich anstarrten, den in die Jahre gekommenen Toyota vor mir, die von Streusalz fleckig weiße Straße unter meinen Schuhsohlen, auf der ich nach wie vor stand und den Verkehr blockierte.
Wieder hupte der Fahrer, der mich mit seinem schäbigen Wrack von einem Auto beinahe umgefahren hätte. Die tief stehende Sonne verspiegelte die Windschutzscheibe des Toyota so weit, dass ich keinen Blickkontakt mit den Insassen herstellen konnte, aber ich meinte, zwei Männer in vorderster Reihe sitzen zu sehen. Was fiel diesen Dreckskerlen eigentlich ein?
Empörung pulste durch meine Adern und vertrieb die letzten Reste des Schreckens. Mit voller Wucht trat ich gegen die Stoßstange, die prompt nachgab und schief hing.
Natürlich war das keine gute Idee gewesen. Aus zweierlei Hinsicht. Erstens schoss bei dem Stoß ein spitzer Schmerz durch mein Bein hinauf bis in die Hüfte. Zweitens hatte ich keine Ahnung, wer da in dem Wagen saß und wie sie auf meine rüde Geste und die damit einhergehende Beschädigung ihres Eigentums reagieren würden.
Ich wollte lieber nicht Gefahr laufen, die Karre und die Schrauben, die meine Knochen zusammenhielten, in meinem Zorn ernsthaft zu demolieren oder herausfinden, wie es um Punkt zwei im Detail bestellt war, deshalb machte ich mich davon.
Dad, Onkel Cam und Trainer Paxton hatten sich bereits im größten der Meetingsäle eingefunden. Anstelle der Stuhlreihen, die gewöhnlich für die Presseleute reserviert waren, wuchsen Stehtische aus dem blank polierten Parkett wie Pilze aus dem Waldboden. Der lange Tisch, der stirnseitig stand und auf dem sonst Mikrofone thronten, war in die Hand der Caterer übergegangen. Mit Fingerfood beladene Tabletts und Etageren wechselten sich darauf ab.
Onkel Cam hatte maßlos übertrieben. Immerhin empfingen wir hier keine Goldmedaillengewinner, sondern Amateurspieler, deren einziger Erfolg es bislang gewesen war, Trainer Paxton zu überzeugen, dass sie es wert waren, fortan Teil des Teams zu sein. Apropos Team. Wo, zum Teufel, waren die anderen Spieler?
Es war geplant, die Neuankömmlinge im Kreis der gesamten Mannschaft willkommen zu heißen, doch von Hudson und der restlichen Bande fehlte jede Spur.
„Na, wie gefällt es dir?“ Cameron strahlte bis über beide Ohren und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter zum Büfett.
„Wo sind die Luftballons, die Girlanden und die Musikkapelle?“ Ich legte eine gehörige Portion Sarkasmus in meine Stimme.
Onkel Cams Grinsen verrutschte, und er kratzte sich am Hinterkopf.
„Clary, lass mir die Freude“, murmelte er verlegen.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, mit ihm über seine verrückten Ideen zu diskutieren. Offensichtlich war ich nicht die Einzige im Raum, die das Tamtam für überzogen hielt. Dad schüttelte mit einem halben Lächeln den Kopf über seinen Bruder, und Trainer Paxton sah so sauertöpfisch wie eh und je drein.
Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr verschwand der letzte Rest an Heiterkeit aus Onkel Cams Zügen. „Hast du Hudson gesehen?“
Ja, das hatte ich. Leider.
„Ich weiß nicht, wo er und die anderen bleiben.“ Ich bemühte mich, den Ärger zu ignorieren, der erneut in mir aufsteigen wollte. Rasch griff ich nach einer gut gefüllten Sektflöte vom nächstgelegenen Stehtisch und nahm einen großzügigen Schluck.
Kaum war der prickelnde Alkohol meine Kehle heruntergeflossen, öffnete sich eine Seite der doppelflügeligen Eingangstür zum Saal, und Thia Wilson, Onkel Cams Assistentin, trat hindurch. Sie näherte sich, zwinkerte mir zu und lächelte spitzbübisch. Obwohl ich mit ihr nicht so eng befreundet war wie mit Lauren und Rita, konnte ich sie gut leiden. Thia war eine Powerfrau durch und durch, allein deshalb hatte sie einen Stein im Brett bei mir. Seit knapp zwei Jahren war sie die Retterin in der Not für Onkel Cams heilloses Bürochaos, nachdem ihre Vorgängerin von einem Tag auf den anderen gekündigt hatte. Darüber hinaus schlug in Thias Brust das Herz einer Sportlerin. Halbtags organisierte sie das Center, den Rest der Zeit sauste sie steile Pisten hinab.
Da Onkel Cam, Dad und Trainer Paxton, die etwas abseits von mir die Köpfe zusammengesteckt hatten, Thia noch nicht bemerkt zu haben schienen, sprach sie zuerst mich an.
„Hey, Clary“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn du die neuen Spieler nach der Sause an meiner Stelle herumführst? Ich kann nicht schon wieder Überstunden schieben. Nächsten Monat findet ein Rennen statt, und auf dem Pokal steht eindeutig mein Name.“
Zwar versetzten mir ihre Worte einen Stich in der Magengegend, trotzdem musste ich schmunzeln. Ich verstand Thias Wunsch nur allzu gut. Hätte ich noch die Möglichkeit gehabt zu trainieren, hätte ich auch nichts lieber getan als das.
„Klar“, erwiderte ich leichthin. Meine neue Aufgabe war es schließlich, andere Sportler bei ihrem Erfolg zu unterstützen. Darum konnte ich gleich bei Thia damit anfangen und ihr Extrazeit fürs Training ermöglichen.
„Du bist die Beste.“ Mit einem dankbaren Lächeln wandte sie sich ihrem Boss zu. „Mister Clark, sie sind da.“
Onkel Cam vollführte einen Satz und rieb sich strahlend die Hände. Er sah drein, als wären heute Weihnachten, Ostern und sein Geburtstag auf einen Tag gefallen. Keine Spur mehr von dem Stimmungsdämpfer, den die Abwesenheit der Stammspieler verursacht hatte.
„Nur herein mit ihnen!“, rief er.
Ich straffte die Schultern und ignorierte das schmerzhafte Ziehen in meiner Wirbelsäule, das stets auf derlei Bewegungen folgte, während Thia nach einem gehorsamen Nicken zurück zur Tür eilte und die Gentlemen einließ.
Das Allererste, was ich von der neuen Hoffnung der Dynamites zu sehen bekam, war ein unfrisierter dunkelblonder, mit blauen Strähnchen durchzogener Schopf. Sein Besitzer, der beim Betreten des Saals über die Schulter nach hinten gesehen hatte, drehte sich nach vorne. Er hatte ein schmales Gesicht, in dem mir sofort drei markante Dinge ins Auge sprangen. Ein Büschel aus zu ungleichmäßig dicken Dreadlocks gedrehten Haaren, von dem seine Stirn bedeckt wurde, die Nase, die leicht schief stand und so die Vermutung zuließ, dass sie mindestens einmal in der Vergangenheit gebrochen worden war, und das vollkommen offene und freundliche Lächeln. Der dicke dunkelblaue Wollpullover und die Jeans, die er trug, waren löchrig. Sein Blick streifte durch den Raum, er erkannte Trainer Paxton, winkte ihm freudig zu und entdeckte das Büfett. Er schaute drein, als wäre er im Wunderland gelandet. Erneut wandte er sich um und sagte etwas zu dem Mann hinter ihm. Heilige Scheiße! Wie sah der denn aus? Anders als der Blauschopf hielt er den Kopf gesenkt und betrachtete das Parkett vor seinen Füßen. Zweifelsohne war ihm bewusst, welches Bild er bot. Sein linkes Auge war blutunterlaufen, die Braue darüber zierte eine Platzwunde, ebenso wie seine Unterlippe. Er hatte einiges abbekommen. Darüber konnte auch die akkurate Versorgung seiner Blessuren mit Nahtklebestreifen nicht hinwegtäuschen. Hatte er sich geprügelt? Oder war er überfallen worden? Was hatte dazu geführt, dass er in einem derart ramponierten Zustand hier aufkreuzte?
Mir blieb keine Zeit, meine Überlegungen fortzuführen, denn hinter ihm trat schon der Nächste durch die Tür.
Der Kerl war ein Bär von einem Mann. Breit gebaut, muskelbepackt, hochgewachsen. Seine Ausstrahlung passte zu dem Bild. Wachsam scannten seine dunklen Augen unter dem raspelkurzen Haar den Saal und ließen dabei keinen Winkel aus.
Nach ihm tauchte ein Typ auf, der mehr mit dem Smartphone in seiner Hand als mit seiner Umgebung beschäftigt war. Hatte er nicht den Anstand, die Nachricht, die er seinen flink über den Touchscreen huschenden Fingern zufolge gerade schrieb, auf einen passenderen Zeitpunkt zu verschieben? Sein Hintermann sah das augenscheinlich genauso, denn er stieß ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite. Das Handy verschwand in der Hosentasche. Ich konnte zwar nicht verstehen, was er sagte, doch sein Tonfall war wenig begeistert, auch wenn er dem anderen einen amüsierten Seitenblick zuwarf. Der hatte seine Aufmerksamkeit längst dem Raum und den Personen vor ihm zugewandt. Er besah sich Onkel Cam, Dad und Trainer Paxton nur flüchtig, dann blieb er an mir hängen. Auf seine unbestreitbar attraktiven Züge stahl sich ein Lächeln, keineswegs so offen und freundlich wie das des Blauschopfs, sondern berechnend und affektiert, ja, arrogant. Ich war es gewohnt, dass mich Wildfremde unter die Lupe nahmen. Schließlich stand ich von Kindesbeinen an immer im Rampenlicht. Zuerst auf dem Eis, dann vor der Kamera. Stoische Kühle war meine einzige Reaktion auf die eingehende Fleischbeschau, egal ob sie mir nun unangenehm war oder nicht. Das Lächeln des Kerls vertiefte sich, er machte einen Schritt zur Seite, um dem Letzten im Bunde Platz zu machen.
Er war groß, hatte glänzendes dunkles Haar und trug eine Lederjacke über einem weißen Shirt und einer Bluejeans. Der Ausdruck in seinem kantigen Gesicht war aalglatt. Im Gegensatz zu den anderen war es mir beinahe unmöglich, darin irgendeine Emotion zu erkennen. Sein Blick wanderte durch den Raum, ließ das Interior völlig unbeachtet und streifte mich nur, bevor er mit uneingeschränktem Fokus auf Paxton lag. Sofort setzte er sich in Bewegung, ging selbstsicher und mit geschmeidigen Schritten auf den Trainer, Onkel Cam und Dad zu und schüttelte ihnen nacheinander die Hand. Die anderen Spieler hatten sich ihm angeschlossen, und mir war klar, dass er der Anführer der Gruppe sein musste.
Ich gab meinen Beobachtungsposten nicht auf und verfolgte, wie der Trainer die neuen Spieler reihum mit ihrem zukünftigen Geldgeber und meinem Vater bekannt machte. Der Hüne mit dem Scannerblick wurde als Kevin O’Hara vorgestellt, Mister Eine-Million-Dollar-Lächeln hörte auf den Namen Tyler Houston, der Blauschopf hieß Samuel Finch und der mit dem ramponierten Gesicht Klay Lewis. Blieben der Typ, dem sein Handy wichtiger gewesen war, als einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, Andrew Rutherford und …
„Jackson Rozsa“, stellte sich der Letzte selbst vor und schüttelte Onkel Cam erneut die Hand.
Es hätte übereifrig, ja, gar lächerlich wirken können, tat es aber nicht. Jackson Rozsa schien höflich und absolut Herr der Lage zu sein. Als wäre es nichts Ungewöhnliches für ihn, die Kleinstadt, aus der er sicherlich stammte, zu verlassen, um in einem anderen Land einen Profispielervertrag zu unterzeichnen.
„Freut mich sehr, Mister Rozsa“, sagte mein Onkel strahlend.
Unverkennbar sah er in den Gentlemen ebenso großes Potenzial wie Trainer Paxton. Für mich hätten sie genauso gut eine Boyband sein können. Daran änderte auch die Attitüde von Jackson Rozsa nichts.
Das waren sie also. Meine ersten Klienten. Die ersten Sportler in meiner Karrierelaufbahn als Managerin. Unwillkürlich ratterte es in meinem Gehirn. Einem Register gleich durchforstete ich es nach möglichen Brands, die zu ihnen passen, und Fotografen, die sie ins rechte Licht rücken können würden.
„Jungs, das ist Miss Clarissa Clark, die Managerin der Dynamites“, drang Onkel Cams Stimme durch den Wirbel aus Überlegungen, ließ sie augenblicklich verstummen und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf mich.
Ich reagierte instinktiv mit einer neutralen Miene und einem professionellen Lächeln. Mechanisch trat ich vor und streckte dem Erstbesten die Hand entgegen. Die formelle Händeschüttelei war eine Sache, die Reaktion der Dynamites in spe eine andere. Sie konnten nicht verbergen, dass sie überrascht waren mich – ach, seien wir ehrlich, eine Frau – als Managerin zu bekommen. Womöglich war allein die Tatsache, überhaupt gemanagt zu werden, für einige erstaunlich. Ihnen war deutlich anzusehen, wie wenig sie mit mir anzufangen wussten. Ich schluckte den Frust darüber herunter.
Nachdem ich Klay Lewis, Andrew Rutherford, Kevin O’Hara, Samuel Finch und Tyler Houston begrüßt hatte, sah ich mich Jackson Rozsa gegenüber. Der Druck seiner Hand war fest, und während er meine schüttelte, neigte er den Kopf nach vorne.
„Du schuldest mir eine neue Stoßstange“, sagte er so leise, dass niemand anders es hören konnte, zumal Onkel Cam die übrigen Anwesenden bereits mit einer seiner zahllosen Anekdoten über seine Zeit als ambitionierter, aber leider völlig talentfreier Eishockeyspieler in Beschlag genommen hatte.
Ich war zugegebenermaßen überrumpelt. Er war also der Wahnsinnige, der mich vorhin beinahe umgenietet hätte. Oh, das hätte er mir lieber nicht sagen sollen.
Wie von selbst formten sich meine Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „In diesem Fall hoffe ich für alle Beteiligten, dass du dich auf dem Eis besser anstellst als hinter dem Steuer deiner Rostlaube.“
Unvermittelt ließ er meine Hand los und zog sich von mir zurück. In seinem kühlen Blick blitzte Verärgerung auf. Also war er doch zu mehr als einer glatten Fassade fähig.
Ich ließ ihm keine Zeit für eine Erwiderung, sah nur, wie sich sein Kiefer anspannte, bevor ich mich an die Runde wandte und lauter sagte: „Willkommen bei den Dynamites.“
Onkel Cam hob die Hände und klatschte den neuen Spielern Beifall. Dad stimmte mit ein. Ich tat es ihnen gleich, und sogar Trainer Paxton schlug einige Male die Hände zusammen. Jackson sah mich an, nun wieder vollends bei sich. Da war keine Spur mehr von Ärger oder irgendeiner anderen Emotion in seinen Zügen zu erkennen. Und obwohl mich seine Beherrschtheit, diese kühle, unerwartet professionelle Haltung aus unerfindlichen Gründen reizte, ihn noch einmal auf seine Stoßstange anzusprechen, musste ich ihm zugestehen, dass es eine nützliche Eigenschaft war. Zumindest auf dem Eis.
Der kollektive Applaus verklang, bis nur noch einzelne, träge aufeinanderfolgende Klatschgeräusche zu hören waren, die nicht versiegen wollten. Überrascht schaute ich an Jackson vorbei. Lässig an den Türrahmen gelehnt, stand Hudson.