Kapitel 1
„Bettina Frei.“
„Philippe Nemours.“
„Amelie Berger“, sagte ich, ohne mich von meinem Stuhl zu erheben. Die zum Schütteln dargebotenen Hände ignorierte ich. Das höfliche Getue der beiden änderte nichts daran, dass sie mich und meinesgleichen lieber heute als morgen tot sehen würden. Wieso also dieses Treffen? Was führten sie im Schilde?
Doch anstatt mich aufzuklären, saßen die beiden Abgesandten nur da, musterten erst mich, dann den Raum. Ihre Blicke schweiften abschätzig über die künstlichen Spinnweben an den Fenstern, die Plastiktotenköpfe an den Wänden und die Vintage-Kronleuchter, die von der Decke hingen. Was hatten sie von einem Café mit dem Namen Hexentreff anderes erwartet?
Eine der Kellnerinnen, trat an unseren Tisch. Ihr rotes, mit goldenen Mustern besticktes Samtkleid im Mittelalter-Stil wippte noch einen Augenblick nach, dann lag es still.
„Wenn Sie das erste Mal hier sind, empfehle ich Ihnen eine unserer Gewürz-Kaffee-Kreationen“, schlug sie den beiden vor. Die abfälligen Blicke, die nun ihr und ihrem Kleid galten, ignorierte sie. „Das ist eine Spezialität unseres Hauses.“
„Wir nehmen je ein Glas Wasser“, forderte Bettina Frei kühl.
„Für dich das Übliche?“ Diese Frage war an mich gerichtet.
Ich nickte.
Die Kellnerin lächelte ein letztes Mal gut gelaunt in die Runde, dann verließ sie unseren Tisch.
„Ein höchst … wunderliches Etablissement“, kommentierte Frei, die mit ihren blonden Locken und der hellen Haut wie eine Porzellanfigur aussah. Die kalten blauen Augen verhalfen diesem Bild zur Perfektion.
Ich zuckte mit den Achseln und richtete den Blick auf Nemours. Außer seinem Namen hatte der glatzköpfige Mann noch kein Wort gesagt. Stattdessen fixierte er alles und jeden mit seinen stechenden braunen Augen. Ich sah kühl zurück, gespannt, ob ich auf diese Weise eine Reaktion provozieren könnte. Als wir das Spiel mehrere Minuten lang gespielt hatten und immer noch nichts passiert war, wandte ich mich wieder Bettina Frei zu. „Was wollen Sie?“ Ich wusste nichts von den beiden. Außer, dass sie dem Bund angehörten. Jener Gemeinschaft aus Menschen, die nur ein Ziel hatten: Alle Vampire auszurotten.
„Wir hörten, Sie seien eine Hexe?“, fragte sie mit gehobenen Augenbrauen.
Typisch Vampirjäger. Sie wussten über übernatürliche Wesen nur, was sie für wichtig hielten: Wie man einen Vampir schwächt, ihn tötet und verhindert, ebenfalls einer zu werden. Hexen und Zauberer und die Tatsache, dass die einen nichts mit den anderen gemein hatten, interessierte sie nicht. Warum auch? Bisher hatten sich Hexen und Zauberer wohl zu wenig zu Schulden kommen lassen, um in ihren Aufmerksamkeitsfokus zu rücken. Obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass der Bund am liebsten jedes übernatürliche Wesen beseitigt hätte. Leider kamen da die schlechte Wirtschaftslage und der Fachkräftemangel ins Spiel.
„Ich bin eine Zauberin“, startete ich wider besseren Wissens einen Erklärungsversuch. „Hexen und Hexer besitzen nicht wirklich magische Kräfte. Sie sind ganz normale Menschen, wenn Sie so wollen, und nutzen lediglich magische Gegenstände sowie Rituale, um Magie zu erzeugen. Zauberer hingegen werden schon mit magischen Kräften geboren, sie –“
„Besitzen Sie echte Macht oder nicht?“, unterbrach mich Nemours unwirsch. Er sprach mit einem solch schweren französischen Akzent, dass ich ihn kaum verstand.
„Das tue ich. Aber bevor wir weiter von mir sprechen, würde ich gerne erfahren, was Sie von mir wollen. Wieso vereinbaren gerade Sie ein Treffen mit einer Zauberin?“
„Gerade wir? Wie meinen Sie das?“, fragte Frei kühl.
„Das wissen Sie ja wohl selbst am Besten.“
„Wir haben nichts gegen Zauberer.“ Sie lächelte mich einnehmend an. Doch da war etwas in ihrer Stimme, das ihre Worte Lügen strafte. „Und wir wollen Ihnen helfen.“
„Sie wollen mir helfen?“
„Im Gegenzug wollen wir natürlich Hilfe von Ihnen. Wir hörten, Sie seien auf der Suche nach dem Zauberer Christopher Margraf?“
Äußerlich blieb ich gelassen. Nur innerlich durchfuhr mich dieser wohlbekannte Schmerz, der jedes Mal in Verbindung mit seinem Namen aufkam. „Woher wissen Sie das?“
Bettina Frei zuckte elegant mit den Achseln. „Wir sind eine große, einflussreiche Organisation. Wir wissen vieles.“
„Wissen Sie, was mit ihm passiert ist? Wo er ist?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.
„Nein“, gab sie zu. „Noch nicht. Aber wir werden ihn finden. Wenn Sie das wollen.“
Die Enttäuschung ließ meine Stimme bitter klingen. „Ich suche ihn jetzt schon seit zwei Jahren, ohne Erfolg. Warum sollte es Ihnen anders ergehen?“
„Wie ich bereits sagte: Wir sind eine große Organisation mit vielen Mitteln und Möglichkeiten. Wer weiß … vielleicht haben wir bereits Informationen über Margrafs Aufenthaltsort, denen wir lediglich nachgehen müssten.“ Frei lächelte mich vieldeutig an.
Ich durchforstete ihre eisblauen Augen. Sie spielte mit mir, das war klar. Es gab keine Garantie, dass der Bund tatsächlich derartige Informationen besaß. Doch sie hatte es geschafft, einen Funken Hoffnung in mir zu wecken. „Was soll ich für Sie tun?“
Sie schwieg einen Moment, schien über ihre Antwort eingehend nachzudenken. „Was wissen Sie über Vampire?“, fragte sie schließlich.
„Nur das Übliche.“ Die Wendung, die dieses Gespräch nahm, gefiel mir überhaupt nicht. „Wenn es hier um Vampire geht, haben Sie sich die Falsche ausgesucht. Ich hatte noch nie mit welchen zu tun.“
„Erfahrung ist für diese Aufgabe nicht von Bedeutung.“
„Was soll ich tun?“, wiederholte ich.
„Sie sollen einen Vampir für uns töten.“
Ich starrte sie an, glaubte für einen Moment, nicht richtig verstanden zu haben.
Da kam die Kellnerin mit einem freundlichen Lächeln an unseren Tisch zurück und stellte die Getränke ab. Die beiden Abgesandten des Bundes musterten die Tonkrüge, in denen sie ihr Wasser serviert bekamen.
„Wir wollten zwei Gläser Wasser. Wasser in Gläsern, verstehen Sie?“
„Tut mir Leid, wir servieren alle unsere Getränke in Krügen. Wir haben keine Gläser.“
Den Dialog zwischen Frei und der Kellnerin, sowie den irritierten Blick, den Erstere ihr noch hinterherschickte, bekam ich nur am Rande mit. Abwesend entnahm ich der Schale, die auf dem Tisch stand, drei Stück Würfelzucker und ließ sie in meinen Kaffeekrug fallen. Dieses Treffen, die ganze Situation – passierte das wirklich? Bettina Freis Andeutung bezüglich ihrer Informationen über Chris waren zwar nicht viel – aber doch die erste Spur seit zwei Jahren. Die einzige Spur. „Warum töten Sie den Vampir nicht selbst? Sie sind schließlich Vampirjäger.“ Die Frage, warum sie den Vampir überhaupt tot sehen wollten, sparte ich mir. Sie brauchten keinen Grund. In den letzten Jahren hatte der Bund hart an seinem Image gearbeitet, um die Gerüchte, dass sie Jagd auf alle Vampire – ob gut oder böse – machten, aus dem Weg zu räumen. Doch im Grund wusste jeder, dass es hinter der Fassade anders aussah.
Bettina Frei kämpfte sichtlich um ihre höfliche Miene. „Lucian ist nicht irgendein Vampir.“ Der Name klang hart, wie ein russisches oder vielleicht rumänisches Wort. „Er ist über vierhundert Jahre alt und seine Macht sowie seine Fähigkeiten erschweren es uns ungemein, ihn überhaupt aufzuspüren. Deshalb brauchen wir Sie.“
„Wie ich schon sagte: Ich hatte noch nie mit Vampiren zu tun. Sie können also davon ausgehen, dass ich diesen Lucian nicht leichter finden kann als Sie.“
„Sie können ihn finden“, beharrte Frei. „Ihnen wird man Auskunft geben, wenn Sie nach ihm fragen.“
„Warum sollte man das tun? Wenn der Vampir gar nicht gefunden werden will?“ Entweder hörte die Frau mir nicht zu oder es gab da etwas, das sie mir verschwieg. Ich hätte jede Summe darauf gesetzt, dass es sich um Letzteres handelte.
„Oh, Lucian will gefunden werden“, erklärte Bettina Frei sichtlich zufrieden. „Nicht von uns, aber von Ihnen schon. Denn Lucian ist in ebendiesem Moment auf der Suche nach einer Zauberin. Nach einer mächtigen Zauberin, die ihm helfen kann, dem Bund zu schaden.“
Ich nickte langsam.
„Wir wissen, dass er etwas plant. Im Grunde hat er wohl schon immer davon geträumt, aber nie gewusst, wie er es anstellen sollte. Jetzt allerdings sieht es so aus, als hätte er endlich einen Weg gefunden.“
„Einen Weg, um was zu tun?“
„Den Bund zu vernichten.“
Ich nahm einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. „Ist das nicht ein wenig melodramatisch?“ Der Bund war eine uralte Institution und seine Mitglieder über ganz Europa verteilt. Und solch eine Organisation fühlte sich nun von einem einzelnen Vampir bedroht?
„Sie kennen Lucian nicht“, sagte Frei nur. „Er hatte mehrere hundert Jahre Zeit, sich zu überlegen, wie er am effektivsten vorgeht. Wir beobachten ihn schon sehr lange und die meiste Zeit hat er sich unauffällig verhalten.“
„Bis auf die Leichen“, warf Nemours mit tiefer, knurrender Stimme ein.
„Bis auf die Leichen“, stimmte Frei zu.
„Welche Leichen?“ Ich musste fragen. Obwohl ich mir sicher war, dass Nemours Einwurf genau das zum Ziel gehabt hatte.
„Lucian hatte eine Phase, in der er willkürlich Jagd auf unsere Mitglieder machte und sie uns tot vor unsere Stützpunkte legte. Durch diese … Laune von Lucian haben wir über zwanzig treue Anhänger verloren. Jedenfalls“, nahm Frei den Faden wieder auf, „hat Lucian sich, bis auf diese Zwischenfälle, in den letzten dreißig Jahren verdächtig ruhig verhalten. Er hat etwas geplant. Und genau das setzt er nun in die Tat um. Er ist eine Gefahr für jedes einzelne Mitglied unserer Organisation. Wenn wir nichts unternehmen, werden unzählige Menschen sterben.“
„Ist das eine Vermutung oder haben Sie Beweise dafür?“
„Lucian hat bereits eine große Zahl Unschuldiger auf dem Gewissen. Denken Sie nicht, dass das seinen Tod rechtfertigt?“, fragte Bettina Frei scharf. Das Lächeln war nun endgültig aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Doch. Aber ich bin kein Racheengel. Und auch keine Auftragsmörderin. Sie können nicht erwarten, dass ich einfach so jemanden töte, ohne die Hintergründe zu kennen. Nur, weil Sie eine schwammige Vermutung haben.“ Ich kramte zwei Euro aus meinem Portemonnaie und legte sie neben meinen fast vollen Kaffeekrug auf den Tisch.
„Wenn es um Ihre Sicherheit geht: Natürlich verstehe ich, dass jemandem, der noch nie einen Vampir getroffen hat, das bloße Wort einen Schauer den Rücken hinunter jagt, aber –“
„Darum geht es nicht“, unterbrach ich. Tatsächlich löste die Vorstellung, einem echten Vampir zu begegnen, nichts als Neugierde in mir aus.
„Seltsam“, sagte Frei nachdenklich, als ich gerade aufstehen wollte. „Uns wurde gesagt, dass Sie Christopher Margraf um jeden Preis finden wollen.“
„Nicht um jeden Preis“, stellte ich klar und stand auf.
„Sie finden unseren Preis zu hoch?“, fragte sie ungläubig. „Einem Vampir, der unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hat, ein bisschen Theater vorzuspielen, um sein Vertrauen zu gewinnen, und ihm dann einen Pflock ins Herz zu jagen, wenn er nicht damit rechnet?“
Ich konnte über so viel Unverständnis nur den Kopf schütteln. „Es geht mir nicht um das Leben dieses Vampirs. Sondern darum, dass Sie mir Informationen verweigern.“
„Also gut“, lenkte die Vampirjägerin ein und sogar ihr altes, einnehmendes Lächeln meldete sich zurück. „Setzen Sie sich. Ich erkläre Ihnen, was Lucian vorhat.“
Unschlüssig blieb ich stehen, obwohl ich mir ein Lächeln kaum verkneifen konnte. Denn dieses Angebot hatte mein Interesse geweckt. Von Anfang an.
„Bitte. Danach können Sie immer noch gehen.“
Wortlos setzte ich mich wieder.
„Lucian sucht eine Zauberin, die für ihn Dämonen beschwört.“
„Wozu braucht dieser Vampir Dämonen?“ Ich wusste nicht besonders viel über das Thema, denn ich hatte noch nie einen Dämon beschworen. Dämonenbeschwörungen ordnete man der dunklen Seite der Magie zu und waren somit nicht meine Baustelle.
„Nun, offensichtlich wird er die Dämonen beauftragen, führende Mitglieder des Bundes zu töten.“
„Morddämonen?“, fragte ich ungläubig. „Braucht man für deren Beschwörung nicht Blut?“ Wie gesagt, ich kannte mich damit nicht aus. Aber ich hatte Gerüchte gehört. Und laut derer war für die Beschwörung eines Morddämons – oder vielmehr für dessen Kontrolle – Blut nötig, und zwar eine ganze Menge. So viel, dass kein Mensch das überleben konnte. Kurz und bündig: Wer einen hübschen, gehorsamen Morddämon wollte, brauchte dafür ein Opfer.
„Mit solcherlei Dingen beschäftigen wir uns nicht“, antwortete Bettina Frei spitz. „Das ist ja wohl Ihr Metier.“
Diesmal unterdrückte ich den Impuls, die Sache mit der weißen und schwarzen Magie zu erklären. Stattdessen fragte ich. „Woher sind Sie eigentlich so gut über diesen Vampir informiert?“
Um ihren Mund bildete sich ein selbstzufriedenes Lächeln. „Es gibt da jemanden, der Lucian nahe steht und dem wir, ähnlich wie Ihnen, etwas bieten können, das er unbedingt haben will.“
„Ein Spion?“
Sie nickte.
„Und warum tötet der nicht einfach diesen Lucian, wenn er ihm so nahe steht?“
„Aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht näher erläutern möchte. Allerdings haben wir den Spion angewiesen, sich Ihnen beim ersten Kontakt zu erkennen zu geben. Dann können Sie seine Motive selbst ergründen.“
„Danke.“ Ich war mir nicht sicher, ob die Ironie in meiner Stimme richtig zur Geltung kam. Jedenfalls reagierte Bettina Frei nicht darauf. Nun blieb noch die Klärung einer wichtigen Frage: „Warum gerade ich?“ Zwar gab es Zauberer und Zauberinnen nicht wie Sand am Meer, aber es gab sie. Und der Bund war schließlich nicht nur auf Deutschland beschränkt, er hätte aus vermutlich hunderten Zauberern in ganz Europa wählen können.
„Nun, wir hörten, Sie seien mächtig“, sagte Bettina Frei langsam. „Und das wird Lucian zweifelsfrei wissen, wenn er Ihnen gegenüber steht. Mit einer schwachen Zauberin kann er schließlich nichts anfangen.“
Ich nickte. Das war einleuchtend. Trotzdem war ich nicht die einzige mächtige Zauberin und genau das wollte ich gerade einwenden, als Frei weitersprach: „Außerdem haben Sie einen Herzenswunsch, den der Bund zu erfüllen imstande ist. Die Sache mit Christopher Margraf.“
„Woher wissen Sie eigentlich davon?“
„Wie ich schon sagte …“
„Sie sind eine große Organisation“, führte ich den Satz zu Ende. „Trotzdem würde ich gerne wissen, wer den Informanten gespielt hat. War es jemand von hier?“
Sie sah mich lange an, schien an ihrer Antwort zu feilen. „Das könnte man so sagen, ja“, gab sie schließlich zu. „Aber sicher verstehen Sie, dass wir den Namen unseres Informanten nicht preisgeben können. Würden wir das tun und es spräche sich herum, würde wohl kaum jemand noch Informationen an uns weitergeben wollen.“
Ich nickte nur. Trotzdem hätte ich zu gern gewusst, wer da hinter meinem Rücken über mich plauderte. Im Grunde konnte es jeder einzelne meiner Kunden sein. All jene, die sich regelmäßig von mir die Zukunft voraussagen ließen, wussten auch von Chris. So etwas sprach sich herum. Gut möglich, dass auch andere, die meine Dienste als Zauberin nie in Anspruch genommen hatten, Bescheid wussten.
„Damit ist es also entschieden?“, riss mich Frei aus meinen ohnehin sinnlosen Grübeleien. „Sie nehmen den Auftrag an?“
Alles sprach dafür, mich darauf einzulassen. Nun gut, alles außer dem Teil, in dem ich einen Vampir töten musste. Wie wahrscheinlich war es, dass ich das schaffte, ohne selbst getötet zu werden? Aber selbst bei dem Gedanken an meinen möglichen Tod spürte ich keine Angst. Wenn ich ehrlich zu mir war, war mein Leben ohnehin sinnlos geworden – und zwar in dem Moment, in dem Chris verschwunden war. Seitdem hatte ich ausschließlich für die ständig geringer werdende Hoffnung gelebt, ihn doch eines Tages wiederzufinden. Für eine Chance wie diese. „Ich mache es.“
Einige Sekunden herrschte Stille. Dann: „Hier.“ Frei schob mir einen Zettel über den Tisch entgegen. „Diese Nummer rufen Sie an, wenn Sie mit Lucian Kontakt aufgenommen haben. Am Telefon werde ich Ihnen dann das weitere Vorgehen erklären.“
Etwas an ihrem Ton gefiel mir ganz und gar nicht. „Und das können Sie nicht sofort tun, weil …?“
Sie lächelte liebenswürdig. „Weil Sie uns erst einmal beweisen müssen, dass Sie der Sache gewachsen sind. Indem Sie Ihre erste Begegnung mit Lucian überleben.“
Nun wurde mir doch ein wenig mulmig, doch nicht genug, um mich von meinem Entschluss abzubringen. „Sie haben nicht …“ Ich musste mich räuspern, um weitersprechen zu können, „… nicht zufällig irgendwelche Tipps für mich, oder? Für das erste Treffen?“
Bettina Freis Lächeln wurde breiter. Ihr machte das Ganze einen Heidenspaß, das war nicht zu übersehen. „Überzeugen Sie ihn, dass Sie auf seiner Seite stehen. Dass Sie uns ebenso hassen wie er. Bringen Sie ihn dazu, Sie als seine Komplizin anzuheuern.“
Ich schluckte. „Und wie soll ich das anstellen?“
„Seien Sie kreativ, aber vor allem überzeugend. Nur so können Sie überleben. Und nur so haben Sie eine Chance, ihn zu töten. Er muss Ihnen bedingungslos vertrauen, dann können Sie ihn in einem unachtsamen Moment erwischen.“
Ich nickte und wischte die tausend Zweifel und Fragen, die plötzlich in mein Bewusstsein drangen, beiseite. Die beiden Vampirjäger würden mir nicht mehr helfen, als sie unbedingt mussten, das war offensichtlich. Wenn ich versagte, war es in ihren Augen schließlich nur ein weiteres wertloses, übernatürliches Leben, das beendet wurde.
Ich seufzte und wollte den Zettel, auf den Bettina Frei ihre Telefonnummer gekritzelt hatte, gerade in meine Tasche stopfen, als ihre eiskalte Hand meinen Arm wie einen Schraubstock umschloss. Ich starrte sie an.
„Keine Beweise“, zischte sie.
Mein Blick wanderte unsicher zu meiner Hand, die noch immer den Zettel umschloss, und wieder zu Freis eisblauen Augen, die sie in diesem Moment verdrehte. „Prägen Sie sich die Nummer ein. Jetzt.“ Sie ließ mich los.
Ich wagte nicht einzuwenden, dass ich noch nie gut darin gewesen war, mir Zahlen zu merken. Stattdessen begann ich kommentarlos, mir die zwölfstellige Nummer immer und immer wieder durchzulesen. Dann gab ich Bettina Frei den Zettel zurück. Im selben Moment hatte ich die letzten beiden Zahlen schon wieder vergessen. Aber das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit Kleinigkeiten aufzuhalten. „Wie soll ich Lucian finden?“
„Sie sind die Zauberin. Sie sind Teil der übernatürlichen Gesellschaft. Wenn wir wüssten, wie wir ihn finden können, bräuchten wir Sie nicht.“ Damit wandte sich Bettina Frei demonstrativ Nemours zu und begann, sich auf Französisch mit ihm zu unterhalten.
Es war alles gesagt.
Ich stand auf.
Als ich auf die Straße trat und die kalte Novemberluft einatmete, fühlte ich mich so frei wie lange nicht mehr. Von einem auf den anderen Moment hatte sich einfach alles verändert. Plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte ich einen Hinweis auf Chris erhalten, eine reelle Chance zu erfahren, was damals geschehen war. Plötzlich hatte mein Leben wieder einen Sinn.
Ich schlug den Weg nach Hause ein und konnte meine Gedanken nur mühsam von Chris weg und hin zu dem Vampir namens Lucian lenken. Damit dieses ganze Unterfangen nicht zu einem Selbstmordkommando wurde, musste ich mehr über Vampire herausfinden. Musste mir einen Plan zurechtlegen, wie genau ich es anstellen konnte, ihn zu töten. Doch zuerst musste ich ihn aufspüren. Aber wie? Erst als ich mein Haus schon fast erreicht hatte, fiel mir Kim ein und ich drehte wieder um.
„Du siehst nicht gut aus, Amelie“, war das erste, das Kim zu mir sagte, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. „Soll ich dir einen Kräutertee machen?“ Sie zog mich ins warme Wohnzimmer und eilte in die Küche. „Ich hab was ganz Neues da“, rief sie mir zu. „Aus dem Zauberbedarfsladen neben dem Hexentreff. Sie sagen, wenn man den Tee weiht, während er zieht, bekämpft er so ziemlich alles, von Kopfschmerzen bis hin zu Depressionen.“
„Aha“, machte ich nur, weil ich wusste, dass es sinnlos wäre, den Tee auszuschlagen.
„Und sie sagen, den gibt es nur hier, exklusiv in der Schauersiedlung! Kannst du das fassen? Ich bin so froh, dass ich hierher gezogen bin!“
Ich bezweifelte, dass sie die Schauersiedlung genauso toll fände, wenn sie hier aufgewachsen wäre. Obwohl, Kim traute ich sogar das zu. In mir dagegen kam inzwischen täglich der Wunsch auf, diese Vorstadtsiedlung, die in den letzten Jahren vollends zu einer Touristenattraktion nach dem Motto „Okkultes und Magisches“ verkommen war, endgültig hinter mir zu lassen. Ich müsste nur das Haus verkaufen und irgendwo ganz neu anfangen. Leider war das viel leichter gedacht als getan.
Ich seufzte und ließ mich auf Kims plüschiges Sofa sinken.
Hier, in der Schauersiedlung, war es einfach, mit Wahrsagerei sein Geld zu verdienen. Ich bezweifelte, dass das irgendwo anders der Fall wäre. Wenn ich wenigstens einen richtigen Beruf gelernt hätte.
„So.“ Kim kam mit einem kleinen Tablett aus der Küche zurück und stellte es auf den Tisch. Sie reichte mir eine dampfende Teetasse. „Ich hab auch selbst gebackenen Käsekuchen da. Ich hole dir ein Stück, ja?“
„Bleib hier, Kim“, hielt ich sie ein wenig unwirsch zurück. „Ich habe nicht viel Zeit, aber ich brauche deine Hilfe. Oder eher: Eine Information. Über Vampire.“ Kim war die einzige, die ich jemals über Vampire hatte sprechen hören. Nämlich jedes Mal, wenn sie zu mir kam, damit ich für sie einen Blick in die Zukunft warf. Obwohl sie eine der wenigen war, die genau wussten, dass meine Zukunftsvorhersagen sich nur auf wage Ahnungen stützten, kam sie mindestens zweimal pro Woche. Und es verging keine Sitzung, in der sie nicht wenigstens ein paar Minuten über Blutsauger brabbelte. Wenn mir jemand weiterhelfen konnte, dann sie.
Kim nahm sich ebenfalls eine dampfende Tasse und setzte sich neben mich. Mit ihren warmen, braunen Augen blickte sie mich an. „Es geht um Chris, nicht wahr? Hast du eine Spur von ihm?“
Ich zögerte, überlegte, wie viel ich ihr erzählen konnte, als Kim hinzufügte: „Du musst es mir natürlich nicht sagen. Eigentlich geht es mich ja auch nichts an. Schließlich sind wir keine Freundinnen.“ Sie lächelte warm.
Ich wappnete mich innerlich, denn ich wusste, was jetzt kam.
„Obwohl ich manchmal denke, dass dir eine Freundin sehr gut tun würde.“
Mindestens einmal im Monat führten wir dieses Gespräch. Sie sagte, jedenfalls sinngemäß, immer das Gleiche und ich antwortete ihr stets das Gleiche: „Ich komme bestens allein zurecht.“
„Bist du sicher? Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber …“
Ich hob die Augenbrauen. Diese Wendung war neu.
„Amelie, du hast dich verändert. Seit Chris fort ist.“
Einige Minuten vergingen in unangenehmem Schweigen. Was sollte ich auch sagen? Ja, ich hatte mich verändert? Aber keine Lust, darüber zu diskutieren? Ich war kurz davor, sie auf letzteres hinzuweisen, als Kim auf einmal seufzte. „Du brauchst also Infos über Vampire?“
Tatsächlich wusste Kim über die Vampiraktivitäten in der Schauersiedlung bestens Bescheid. Sie erzählte mir, dass es nur einen einzigen echten Vampir gab, der hier sein Zuhause gefunden hatte.
„Dario …“, wiederholte ich seinen Namen nachdenklich. „Kenne ich ihn?“
Kim schüttelte lachend den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Du registrierst Menschen doch erst, wenn sie durch deine Haustür kommen und verlangen, dass du für sie einen Blick in die Zukunft wirfst. Ich bezweifle, dass Dario das jemals getan hat.“
Außerdem verriet sie mir, dass der Vampir sich nach Einbruch der Dunkelheit meistens im Singenden Zombie aufhielt, einer Karaoke-Bar am Rande der Schauersiedlung, die vor allem von Touristen frequentiert wurde und in der ich noch nie gewesen war. Auf meine Frage, ob Dario sich dort auch seine Mitternachtssnacks aussuchte, erhielt ich keine Antwort. Aber ich kannte Kim und wusste ihre Mimik bestens zu deuten. Ich hatte ins Schwarze getroffen.
Als ich Kims Haus verließ, war es bereits vier Uhr nachmittags. Der Sonnenuntergang ließ nicht mehr lange auf sich warten. Da ich die ganze Sache schnellstmöglich hinter mich bringen wollte, machte ich mich geradewegs auf zum Singenden Zombie. Das Lokal befand sich passenderweise im Keller und war zu einer Art Gewölbe ausgebaut worden. Die Atmosphäre war hier um einiges düsterer als im Hexentreff, was nicht nur an der stark heruntergedimmten Beleuchtung lag. Im Hintergrund lief Gothik–Musik, anscheinend wurde die Karaoke-Maschine erst später am Abend angeworfen, wofür ich mehr als dankbar war. Die vielleicht achtzehnjährige Kellnerin, bei der ich ein Glas Wasser bestellte, trug ein rotes Korsett mit einem passenden Minirock, sowie zehn Zentimeter hohe Plateau–Stiefel. Kunstblut zierte ihren Hals und sollte wohl einen Vampirbiss imitieren.
Mein Blick glitt über die Köpfe der Gäste hinweg. Obwohl die meisten anscheinend Touristen waren, entdeckte ich auch einige bekannte Gesichter. Kunden, denen ich entweder schon mal die Zukunft vorausgesagt oder für die ich die Geister verstorbener Familienmitglieder herbei gerufen hatte.
Ich setzte mich an einen freien Tisch und hoffte, dass mich niemand ansprechen würde. So traurig es war: Es gab nicht eine einzige Person in diesem Raum, mit der ich gerne ein Gespräch geführt hätte. Früher, als Chris noch da gewesen war, hatten wir einige Siedlungsbewohner zu unseren Freunden gezählt. Doch in den letzten zwei Jahren war der Kontakt eingeschlafen, was zugegebenermaßen meine eigene Schuld war.
Ich nippte an meinem Wasser und behielt die Eingangstür im Blick. Kim hatte mir den Vampir genau beschrieben. Groß, dunkles, kurzes Haar und – welch Überraschung – blass. Keine besonders spezifische Beschreibung. Trotzdem: Einen Vampir würde ich ja wohl erkennen, oder? Auch ohne Darios Erkennungszeichen, das mir Kim verraten hatte: Ein Muttermal rechts über der Oberlippe.
Eine halbe Stunde später war die Sonne endlich untergegangen, zumindest wenn man sich auf die Info verlassen durfte, die ich aus dem Internet abrief. Selbst überprüfen, ob es draußen schon dunkel war, konnte ich in diesem fensterlosen Keller schließlich nicht. Mein Wasser hatte ich bereits geleert und ich spielte mit dem Gedanken, mir ein zweites zu bestellen. Oder doch lieber einen Kaffee? Wer wusste schon, wann genau dieser Vampir sich hier blicken lassen würde? Da nahm ich plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Jemand kam die Treppe der Eingangstür herunter. Gespannt lehnte ich mich vor. Der Mann, der den Singenden Zombie betrat, hatte weibliche Begleitung dabei und außerdem hellblondes Haar. Ich seufzte enttäuscht, da kam hinter dem Pärchen eine weitere Person zum Vorschein. Dieser Gast kam dem beschriebenen Vampir schon näher. Er war allein und dunkelhaarig. Allerdings sah er nicht besonders gut aus. Die Nase war zu groß, der Mund zu unsymmetrisch. Wenn das ein Vampir war, dann wusste ich wirklich nicht, wo die ganze Faszination an diesen Geschöpfen herrühren sollte. Ich wollte schon den Blick abwenden, da entdeckte ich das kleine, unauffällige Muttermal. Das war … einigermaßen unerwartet. Bisher hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie so ein echter Vampir wohl aussehen mochte, aber irgendwie hatte ich damit nicht gerechnet. Unattraktiv war ein Adjektiv, das ebenso wenig zu dem Wort Vampir passte wie vegan. Ich sollte ein Foto von diesem Dario machen und es an die Presse weiterleiten. Was die Twilight-Fans wohl dazu sagen würden?
Der Vampir schien sich seiner mäßigen Attraktivität nicht bewusst zu sein. Selbstsicher schlenderte er durch die Bar, bis er sich aufwendig an einem freien Tisch niederließ. Auch seine Kleidung war enttäuschend normal. Er trug blaue Jeans, einen grünen Pullover und gewöhnliche braune Turnschuhe. Kein altmodischer Mantel, kein Umhang, keine auffälligen Accessoires, nicht mal ein Tupfen Schwarz.
Als aber die Kellnerin an Darios Tisch trat, bekam ich die Gewissheit, dass Kim doch die Wahrheit gesagt und sich nicht nur einen Scherz mit mir erlaubt hatte. Denn der Blick, mit dem der Vampir das Mädchen musterte, war nicht derselbe, mit dem ein Mann eine Frau ansieht. Sondern eher, wie ein Mann ein saftiges Steak beäugt, bevor er sich darüber hermacht. Nachdem die Kellnerin seinen Tisch verlassen hatte, wandte sich Dario seiner Umgebung zu. Jede Frau, die sich im Singenden Zombie aufhielt, fixierte er mit dem gleichen hungrigen Blick. Ich wartete geduldig und als sich die wasserblauen Augen endlich auf mich richteten, antwortete ich mit einem schüchternen Lächeln, bevor ich den Blick scheinbar ertappt senkte. Ich zählte im Geiste bis zehn und als ich wieder hochsah, stand Dario bereits an meinem Tisch. „Würde es Sie sehr stören, wenn ich mich setzte und an Ihrer Anwesenheit erfreute?“
Ich schüttelte den Kopf und gab mir alle Mühe, aufgrund seiner gestelzten Sprache nicht das Gesicht zu verziehen.
„Sind Sie Dario?“, fragte ich, kaum dass der Vampir Platz genommen hatte.
„Sie haben also schon von mir gehört?“ Ein selbstzufriedenes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus.
„Ja, allerdings bin ich keine Touristin, die eine Nacht mit einem echten Vampir verbringen will.“
Das Lächeln in Darios Gesicht erlosch.
„Ich brauche eine Information“, fuhr ich fort. „Über einen Vampir namens Lucian.“
Dario musterte mich. Dann beugte er sich mit einem falschen Lächeln vor, so dass ein willkürlicher Beobachter denken musste, dass er mir Schmeicheleien ins Ohr flüsterte. „Wer bist du?“, zischte er.
Ich versuchte, keine Miene zu verziehen, und die unwillkommene Nähe auszuhalten. „Ich bin Amelie Berger, eine Zauberin. Und ich weiß, dass Lucian auf der Suche nach jemandem wie mir ist.“
Dario zog sich ein wenig zurück. Gerade weit genug, dass er mich mit seinem bohrenden Blick betrachten konnte.
Ich wartete, hielt dem unausgesprochenen Kräftemessen stand. Wenn er mich nervös machen wollte, musste er sich schon etwas Besseres einfallen lassen.
Ich bereute den Gedanken, kaum dass ich ihn zu Ende gedacht hatte, denn plötzlich trat ein gefährliches Glitzern in Darios Augen. „Ich will wissen, woher du diese Information hast, Zauberin!“
Meine Gedanken rasten, überschlugen sich auf der Suche nach einer glaubhaften Antwort. Doch so sehr ich mir das Hirn zermarterte, mir fiel keine plausible Lüge ein. Stumm starrte ich in Darios Augen, konzentrierte mich auf die Person, auf den Untoten, der mir gegenüber saß. Genauso, wie ich es tagtäglich tat, wenn ich versuchte, ein Gefühl für die Zukunft meiner Kunden zu bekommen, sandte ich meinen Geist aus, auf der Suche nach irgendetwas, einer Ahnung, einer Information über Dario, die mir weiterhelfen könnte. Und plötzlich sah ich etwas, oder vielmehr spürte etwas. Selbstzweifel. Das Gefühl der Minderwertigkeit, das hinter einer Fassade zur Schau gestellten Selbstbewusstseins verborgen wurde. Dario war kein mächtiger Vampir. Er war schwach, viel schwächer als ich.
Ich blinzelte überrascht. Bisher war mir nicht einmal klar gewesen, dass man die Macht eines Vampirs mit der einer Zauberin vergleichen konnte. Und doch hatten mir meine Fähigkeiten, mein kurzer Blick in Darios Inneres, genau das verraten. Eine Information, die Gold wert war.
Ich hob das Kinn und bedachte Dario mit einem überheblichen Blick. „Hältst du es für klug, so mit mir zu sprechen?“
Darios Augen weiteten sich. Ich sah das Widerspiel der Emotionen in seinen Augen: Unsicherheit, Wut, Angst.
Doch ich ließ ihm keine Zeit, sich für eine davon zu entscheiden: „Lucian wird mir diese Frage selbst stellen. Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig.“ Ich legte eine kleine Effektpause ein.
Dario beobachtete mich noch immer aufmerksam, doch machte keine Anstalten, mir zu widersprechen. Innerlich atmete ich auf. „Da wir das nun geklärt haben, lass uns nicht weiter unser beider Zeit verschwenden.“
Dario lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. „Lass mich dir sagen, dass ich in diesem Moment nichts lieber täte, als dir deinen hübschen Hals umzudrehen. Außer vielleicht, dich bis auf den letzten Tropfen leer zu saugen.“
Ich hätte etwas darauf erwidert, doch traute meiner Stimme nicht.
„Dennoch gebe ich gern zu, dass ich in der Rangordnung zu tief unter Lucian stehe, als dass ich es riskieren könnte, ihn zu verärgern.“
„Bringst du mich jetzt zu Lucian?“ In dem Moment, in dem ich die Worte aussprach, hoffte ich, dass Dario verneinen würde. Ich hatte mich noch gar nicht vorbereitet. Wenn ich Lucian so gegenüber trat, würde ich mit Sicherheit alles vermasseln und als blutleere Leiche enden.
„Ich werde Lucian dein Anliegen vortragen. Bist du ihm wirklich so viel wert, wie du sagst, wird er dich finden.“ Der Vampir erhob sich.
Ich hatte keine Zeit, mich an meiner Erleichterung zu erfreuen. Von Lucian zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Ort gefunden zu werden, war fast noch schlimmer, als direkt zu ihm gebracht zu werden. „Warte! Wieso sagst du mir nicht einfach, wie ich Lucian erreichen kann?“
„Leider kenne ich weder seine Nummer noch seine E-Mail-Adresse“, meinte Dario trocken.
„Aha“, machte ich nur. War das als Scherz gemeint? Selbst Vampire mussten doch irgendwie erreichbar sein. „Dann sag mir doch einfach, wo ich ihn finden kann.“
Doch Dario schüttelte nur den Kopf.
Ich seufzte innerlich. Musste ich also abermals auf dem Rangunterschied zwischen uns beiden herumreiten.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, grinste Dario plötzlich: „Ich ahne, was du sagen willst, aber spar dir deinen Atem. Verzeih, dass ich das so unverblümt sage, aber obwohl du mächtiger sein magst als ich, so bist du doch ein hilfloser Säugling im Vergleich zu Lucian.“
Er übertrieb. Ganz sicher übertrieb er maßlos. Meine Stimme zitterte leicht, als ich fragte: „Kannst du mir dann wenigstens einen Anhaltspunkt geben, wann und wo er mich finden wird?“
„Nein.“ Damit drehte sich Dario um und ließ mich einfach stehen. Ich sah ihm nach, wie er den Singenden Zombie verließ.
Mit einer zitternden Hand griff ich nach meinem Wasserglas und führte es an die Lippen, als mir einfiel, dass es schon lange leer war. Worauf hatte ich mich hier eingelassen? Und wieso hatte ich mich nicht besser vorbereitet, bevor ich Dario getroffen hatte? Ich musste das schleunigst nachholen. Und zwar, bevor Lucian mich fand. Außerdem durfte er mich unter keinen Umständen zu Hause antreffen. Dieser Ort verriet zu viel über mich, vor allem meine Orientierung an der weißen Magie. Ein paar Minuten in meinem Haus und der Vampir wüsste, dass ich noch nie in meinem Leben auch nur daran gedacht hatte, einen Dämon zu beschwören.
Ich sprang auf. Die Pension! Ich würde mir dort ein Zimmer nehmen, bis die Sache erledigt war. Und wenn Lucian mich unbedingt finden wollte, musste er das dort tun.
Ich kramte etwas Geld aus meinem Portemonnaie, legte es auf den Tisch und stürzte hinaus auf die Straße. Ich musste nach Hause und meine Sachen packen. Und vorher abermals einen Abstecher zu Kim machen.
Als ich das Haus betrat, das ich seit meiner Kindheit bewohnte, blieb ich unschlüssig im Flur stehen. Dann ging ich auf direktem Weg die Treppe hoch und öffnete die Tür auf der rechten Seite. Die Tür, die ich seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet hatte.
Das hier war Chris’ Zimmer gewesen, bis er verschwunden war. Es war sein Zimmer, seit ich denken konnte. Damals, als sowohl seine als auch meine Eltern noch gelebt und gemeinsam in diesem Haus gewohnt hatten. Und auch dann wieder, als Chris und ich nach unserer erreichten Volljährigkeit zurück in das Haus unserer Kindheit gezogen waren. Nur nicht in der Zeit zwischen unserem zehnten und achtzehnten Lebensjahr. Die Zeit, die Chris und ich in einem Heim verbracht hatten, nachdem unsere Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, eines Abends, als sie gemeinsam ausgingen und Chris und ich mit der Babysitterin zu Hause fernsahen. Unsere Eltern hatten sich schon gekannt, als sie selbst noch Kinder gewesen waren. Sie alle waren in der Schauersiedlung aufgewachsen, damals, als diese noch nicht solche Touristenattraktion war. Meine Mutter hatte ebenfalls magische Kräfte, ebenso wie Chris’ Vater. Unsere Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, dass wir uns schon früh mit unseren Fähigkeiten beschäftigten, damit wir sie später einmal für das Gute einsetzen konnten. Das Haus hatte mein Vater von seinen Eltern geerbt und als Chris’ Familie eine vorübergehende Unterkunft gesucht hatten, weil ihr Vermieter ihr Haus zu einem Schauersiedlungs-Souvenirladen umbauen ließ, waren sie bei uns eingezogen. Damals waren Chris und ich noch so klein gewesen, dass ich mich kaum daran erinnern konnte. Das Zusammenleben hatte so gut geklappt, dass sie geblieben waren. Und obwohl Chris nicht mein Bruder war, fühlte er sich doch so an. Auch heute noch.
Für einen Moment stand ich bewegungslos im Türrahmen und ließ das Bild auf mich wirken. Alles sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte: Der vollgestellte Schreibtisch, die Regale, die sich unter der Last von CDs und Videospielen durchbogen und das stets ungemachte Bett. Nur wenn ich genau hinsah, fiel mir die dicke Staubschicht auf. Und die Tatsache, dass einige Dinge fehlten. Zum Beispiel Kleidung, allem voran das hässliche, grün-lila karierte Hemd, Chris’ Lieblingskleidungsstück. Auch in dem CD-Regal klafften ein paar Lücken. Außerdem gab es noch ein paar Kleinigkeiten, die weg waren: Portemonnaie, i-Pod, Sonnenbrille. Doch das Handy lag unberührt auf dem Schreibtisch.
Der Zustand des Zimmers bewies scheinbar, dass Chris freiwillig und geplant gegangen war. Ebenso wie das zurückgelassene Handy zeigte, dass er nicht gefunden werden wollte. Doch ich konnte das nicht glauben. Was, wenn jemand das alles absichtlich inszeniert hatte?
Meine Hand umklammerte die Türklinke so fest, dass die Knöchelchen weiß hervor traten. Übelkeit drohte, mich zu überschwemmen. Ich versuchte, sie zu unterdrücken und dann, als das nicht mehr möglich war, sie niederzukämpfen. Doch ich hatte keine Chance.
Chris und ich, wir hatten Pläne gehabt. Nachdem wir volljährig wurden, hatte sich bei uns alles um die Magie gedreht. Unsere Eltern hatten leider nicht genug Zeit gehabt, uns die vollständige Kontrolle über unsere Kräfte zu lehren, also mussten wir das selbst in die Hand nehmen. Und wir schafften es relativ schnell, die Anwendung der drei grundlegenden magischen Fähigkeiten zu erlernen: Das Illusionieren, die Heraufbeschwörung reiner Energie und den Blick in die Zukunft, was gleichzeitig einen Blick in die Seele des Gegenübers bedeutet. Wir hatten einen Zaubererzirkel gründen wollen: Eine Gemeinschaft von magisch begabten Menschen, die sich gegenseitig im Ausbau ihrer Fähigkeiten unterstützen sollten. Wir hatten am eigenen Leib erfahren, was es heißt, niemanden zu haben, der die Entwicklung der magischen Fähigkeiten fördert. Obwohl Zauberei so lange existierte, wie es Menschen gab, wusste niemand genau, was in der Magie alles möglich war. Jeder Zauberer war anders, so hieß es. Zwar gab es die drei grundlegenden Fähigkeiten, die beinahe jeder, der magische Kräfte besaß, schon sehr früh entwickelte. Einige blieben jedoch ihr Leben lang auf einem sehr rudimentären Level, während andere lernten, Illusionen zu schaffen, die ganze Menschengruppen hinters Licht führten. Immer wieder tauchten auch Gerüchte auf, dass besonders begabte Zauberer noch ganz andere Fähigkeiten entwickelten, doch bisher hatte ich nie jemanden getroffen, der das bewiesen hätte. Unser Zaubererzirkel sollte unser Verständnis, was alles mit Magie möglich war, erweitern. Vor allem für diejenigen, die wie Chris und ich keine Verwandten mehr hatten, von denen sie lernen konnten. Es sollte ein großer Zirkel sein, mit dem Hauptstandort in einer europäischen Metropole und kleineren über den ganzen Kontinent verteilt. Ja, wir hatten große Pläne.
Ich lächelte unwillkürlich, als ich mich daran erinnerte, wie Chris und ich darauf gekommen waren. Nachdem wir mit achtzehn in dieses Haus zurückgekehrt waren, ohne Familie, ohne irgendwelche Zukunftspläne oder etwas anderes, das uns in der Schauersiedlung hielt, waren wir auf Reisen gegangen. In beinahe jedem europäischen Land waren wir gewesen, hatten Zauberer getroffen, von ihnen gelernt und uns das, was wir zum Leben brauchten, mit Nebenjobs verdient. Es hatte uns so gut gefallen, dass wir entschieden, niemals mehr anders zu leben. Und so war die Idee mit den Zirkeln aufgekommen. Bevor wir sie in die Tat umsetzten, hatten wir das Haus verkaufen wollen, nur deshalb waren wir in die Schauersiedlung zurückgekehrt. Und dann war Chris plötzlich von einem auf den anderen Tag verschwunden. Und ich hatte es nicht über mich gebracht, die Siedlung wieder zu verlassen. Was, wenn er doch eines Tages zurückkehrte?
Blind vor Tränen taumelte ich in das Zimmer hinein. Ich hob Kleidungsstücke auf, nahm das Handy vom Schreibtisch und starrte auf das schwarze Display. Es schwieg und gab keinerlei Hinweise auf Chris Aufenthaltsort. Ich drehte mich um, suchte zum hundertsten Mal nach weiteren Gegenständen, die mir etwas über Chris Verschwinden verraten könnten. Da fiel mein Blick auf das Bücherregal und auf einen ganz bestimmten Buchrücken: Vampire – Ungeheuer der Nacht oder gequälte Seelen? Ein Ratgeber, der keine Fragen offen lässt.
Ich stand einen Moment bewegungslos da und konzentrierte mich auf meine Atmung. Ein, aus. Ein, aus. Es funktionierte. Als die Trauer auf ein kontrollierbares Level geschrumpft war, zog ich das Buch heraus und blies die Staubschicht weg. Hatte Chris sich mit Vampiren beschäftigt? Darüber hatte er nie ein Wort gesagt.
Meine Augen suchten die anderen Bücher ab, aber sonst war nichts über Vampire dabei. Dafür blieb ich an einem anderen Titel hängen: Beschwörungen Band 1 – So rufen Sie Dämonen für jede Gelegenheit. Wieso hatte Chris dieses Buch? Dämonen gehörten zur dunklen Magie. Weder Chris noch ich hatten uns je für diese Seite interessiert. Mein Blick flog abermals über das Regal und nahm nun noch weitere seltsame Titel wahr, die vereinzelt zwischen den anderen, ganz normalen Büchern standen: Almanach der schwarzen Magie, Magische Gegenstände und wie man den größtmöglichen Schaden mit ihnen anrichtet, Was Morddämonen wirklich können …
Was hatte das zu bedeuten? Wann hatte Chris angefangen, sich für solche Themen zu interessieren?
Ich wusste nicht, wie lang ich dastand und fassungslos auf das Regal starrte. Dann riss ich mich zusammen. Ich hatte keine Zeit dafür. Wenn alles nach Plan lief, würde ich Chris womöglich bald selbst nach diesen Büchern fragen können. Ich zog das Buch über die Dämonenbeschwörungen heraus und klemmte es mir, zusammen mit dem Vampirbuch unter den Arm. Wenn ich vorgeben sollte, eine kundige Dämonenbeschwörerin zu sein, musste ich mich auf dem Gebiet schlau machen.
Mit den beiden Büchern unter dem Arm zog ich mich zur Zimmertür zurück. Ich warf einen letzten Blick hinein, dann schloss ich die Tür.
Ich packte eilig meine Sachen und verließ schließlich mit einer großen Umhängetasche über der Schulter das Haus. Nachdem ich die Eingangstür abgeschlossen hatte, kramte ich die Utensilien aus der Tasche, die ich mir von Kim hatte geben lassen: Zwei getrocknete, verschrumpelte Krähenfüße. Ich platzierte sie je rechts und links der Eingangstür und schaute dann zweifelnd auf sie herab. Mit magischen Gegenständen hatte ich sonst selten zu tun, die fielen eher in das Gebiet von Hexen oder auch in das der dunklen Magie. Ob es funktionieren würde? Zumindest hatte Kim mir versichert, dass sie die Krähenfüße nicht aus dem Ramschladen der alten Barbara hatte, sondern von einem angeblich seriösen Internetanbieter. Aber ob sie deshalb in der Lage wären, das Haus vor Eindringlingen zu schützen?
Ich seufzte und wandte dem Haus den Rücken zu. Mir blieb wohl nicht anderes übrig, als zu hoffen.
Wie auch im Hexentreff und im Singenden Zombie waren Möbel und Accessoires in der Pension künstlich auf Mittelalter und Mystik getrimmt. Da in den Ferien Ströme von neugierigen Touristen in die Schauersiedlung kamen, verfügte die Pension über viele Zimmer. Heute war zum Glück noch etwas frei. Ich bezahlte im Voraus und machte mich auf die Suche nach dem mir zugewiesenen Zimmer mit der Nummer 29. Noch nie zuvor war ich in der Pension gewesen und wahrscheinlich würde ich auch nie wieder herkommen, wenn ich nicht unbedingt musste. Den Hexentreff mit seinen Plastiktotenköpfen und den Singende Zombie mit der Mischung aus Fetisch- und Halloween-Elementen konnte ich gerade noch ertragen. Beiden Lokalen sah man das Unechte auf den ersten Blick an. Aber in diesem Gebäude, das tatsächlich schon uralt war, fühlte ich mich wie in Draculas Schloss. In dem Gang, der zu meinem Zimmer führte, hingen schwere Kronleuchter von der Decke, die dämmriges Licht und seltsam geformte Schatten verbreiteten. Der dicke, rote Teppich, gab unter meinen Schuhen nach. Die düstere Atmosphäre, die über dem gesamten Flur lag, erschwerte mir das Atmen. Oder war es der modrige Geruch, der in der Luft schwebte?
Ich beschleunigte meine Schritte. Als ich den Schlüssel ins Schloss von Zimmer Nummer 29 steckte, bemerkte ich, dass meine Hand zitterte. Das Schloss klickte. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie klemmte. Mit meinem ganzen Gewicht stemmte ich mich dagegen. Quietschend schwang die Tür auf. Blind tastete ich an der Wand nach dem Schalter. Ich knipste das Licht an. Und mein Herzschlag setzte aus.