Kapitel 1
Auf meinem Bildschirm erschien die Erinnerung an das Meeting, das in zehn Minuten im Konferenzraum stattfinden würde. Ach, verflixt, schon so spät. Rasch setzte ich einen Punkt hinter den letzten Satz meines Artikels über die Frankfurter Clubszene.
Ich reckte mich und gönnte mir einen großzügigen Schluck Kaffee. Die gestrige Nacht hatte Spuren hinterlassen, denn ich hatte mich für die Recherche in die angesagtesten Bars begeben, einige leckere Cocktails probiert und war erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gekommen. Natürlich alles rein beruflich. Aber ich musste mir eingestehen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren nicht mehr so jung und fit war wie mit zwanzig.
Ich stieß mich mit den Händen von dem Schreibtisch ab, erhob mich, strich meine knöchellange Anzughose glatt und fuhr mir mit den Fingern durch meine blonden Haare, die ich jeden Morgen mit dem Glätteisen glattzog. Derweil sah ich aus dem Fenster in einen wolkenlosen Himmel, in dem die Sonne wie aus dem Bilderbuch schien. Laut Wettervorhersage sollte das wohl auch so bleiben. Was für eine Aussicht. Nach Feierabend würde ich es mir auf dem Balkon meiner Wohnung mit Mainblick gemütlich machen und in meinem Liegestuhl den neuen Roman von Sötje Johansson lesen. Ich liebte ihren bildhaften und romantischen Schreibstil und wie sie ihre Protagonisten zum Leben erweckte. Sie schaffte es immer, die Personen durch fast aussichtslose Hindernisse zu lotsen und ihnen zu einem romantischen Happy End zu verhelfen. Nicht umsonst feierte sie internationalen Erfolg. Einige ihrer Bücher waren sogar schon verfilmt worden. Mit ihren siebzig Jahren lebte sie sehr zurückgezogen irgendwo an der Ostseeküste, schrieb weiterhin fleißig und veröffentlichte regelmäßig. Erst vor wenigen Tagen war der erste Band ihrer neuen Ostsee-Reihe herausgekommen, der sofort zum Bestseller geworden und auf Platz eins der Verkaufsliste gelandet war. Ihre Bücher erreichten das Herz, meins ganz besonders. Dafür ließ ich sogar einen Streifzug durch die Clubs sausen.
Seufzend schob ich die Tür in den Flur auf und folgte dem langen Gang zu unserem Konferenzraum. Von einem glücklichen Ende konnte ich nur träumen. Die waren nur für andere reserviert. Nach meiner letzten Enttäuschung vor zwei Jahren, hatte ich beschlossen, mich erst wieder auf einen Mann einzulassen, wenn ich mir wirklich sicher war.
Ich richtete meine Bluse, ehe ich die Schultern straffte und in das Besprechungszimmer marschierte. Gut gelaunt trällerte ich einen »Guten Morgen« in die Runde, setzte mich auf meinen Platz und legte mein iPad vor mich.
»Guten Morgen«, murmelten meine Kollegen gemeinschaftlich zurück.
Alle waren schon da, außer Tom, unser Mediengestalter. Auch Herr Arend, Chef und Verleger des Magazins Ella, die beste Zeit im Leben, ein Journal für junge Erwachsene, war anwesend. Super, dann konnte es ja bald losgehen, und ich hätte hoffentlich noch Zeit, meinen Artikel fertigzustellen. Gespannt und motiviert, endlich das Brainstorming zu starten, öffnete ich die Notiz-App.
»Du kannst einem echt auf den Sack gehen mit deiner morgendlichen guten Laune«, warf mir Patrick mit finsterer Miene entgegen und vergrub gleich darauf seine Nase in einem Pott Kaffee. Seine dunklen Haare standen wirr nach allen Seiten ab, und die Länge seines Dreitagebartes war längst überschritten.
»Du solltest vielleicht einfach mal früher ins Bett gehen«, gab ich als Tipp zurück und zwinkerte. Patrick war nicht nur unser Marketingexperte, er war auch unser Morgenmuffel, und deswegen nahm ich ihm seine schlechte Laune nicht übel. Bis zum Nachmittag würde er wieder lächeln und sich voller Energie und Freude seiner Arbeit widmen.
Sabine sah mich mit ihren stahlblauen Augen an, die hinter ihren langen Wimpern funkelten. Sie lehnte sich über den Tisch und flüsterte: »Hey, Lilli.«
»Ja?«, antwortete ich leise.
»Ich komme später mal in dein Büro.« Sie ließ ihre perfekt geformten Brauen hüpfen und lächelte verschmitzt.
Sicherlich wollte sie mir von ihrer aktuellen Errungenschaft erzählen. Im Gegensatz zu mir hielt sie nämlich nichts von bedingungsloser Treue und fester Bindung zwischen zwei Menschen. Während ich mich nach einer starken Schulter zum Anlehnen sehnte, nutzte sie diese nur für kurze Zeit, um schnell nach der nächsten zu suchen.
Neben ihr saß Svenja, die für die Rubrik ›Essen & Genießen‹ zuständig war und sich eher im Hintergrund hielt. Brigitte daneben schrieb über ›Gemütliches Wohnen‹. Nebenbei war sie unsere gute Seele und bemutterte jeden von uns.
Wir waren ein richtig gut eingespieltes Team, und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, woanders zu arbeiten. Nach meinem erfolgreichen Volontariat hier in diesem Verlag war mir gleich diese Stelle angeboten worden, die ich dankend angenommen hatte. Seit fünf Jahren war ich hier fest angestellt und wollte auch nirgendwo anders hin. Ich war hier glücklich und fühlte mich pudelwohl.
Herr Arend räusperte sich und erlang so unsere Aufmerksamkeit. »Ich würde sagen, wir fangen jetzt an. Vermutlich hängt Tom in einem Telefongespräch.«
Die Tür flog unvermittelt auf. »Bin schon da.« Abgekämpft und aus der Puste schob Besagter sich auf seinen Platz und klappte seinen Laptop auf. Erwartungsvoll blickte er in die Runde. »Wir können dann.«
»Gut«, fing Herr Arend ein zweites Mal an und stoppte auch schon wieder. Es schien, als würde er nach den richtigen Worten suchen, die ihm einfach nicht über die Lippen kamen. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm er den verlorenen Faden wieder auf. »Was soll ich sagen? Wie ihr alle mitbekommen habt, ist die letzte Ausgabe gefloppt.«
Betretenes Schweigen und Blicke in Richtung Boden. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, und ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Natürlich hatte es sich schon rumgesprochen, dass es dem Verlag schlecht ging und die letzte Ausgabe sich als Ladenhüter herausgestellt hatte. Genauso wie die Male davor und davor und … Zu meinem flauen Gefühl gesellte sich nun auch eine Welle der Panik, denn Herr Arend war ein sehr kooperativer und geduldiger Chef. Er sprach ernste Angelegenheiten erst dann an, wenn es kurz vor knapp war. Und wie es schien, war es nun so weit. Dem Verlag ging es wohl schlechter, als ich vermutet hatte.
»Ich bitte um Vorschläge, damit das endlich ein Ende hat.«
»Wir können doch mal andere Themen ansprechen, statt immer nur Frisuren- und Make-up-Tipps«, schlug Tom vor.
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wenn es nach dir geht, würden wir nur noch Harleys veröffentlichen, auf denen sich ölige Frauen räkeln, anstatt eine breite Palette von Nagellackfarben.«
Tom zeigte seine weißen Zähne, die sich von seiner gebräunten Haut abhoben. »Kann man wohl sagen.«
»Bitte zielgruppenorientiert denken«, erinnerte Herr Arend und klatschte seine Kladde auf die Tischplatte. Er sah mit wachem Blick in die Runde. »Unsere Leserinnen sind alle Mitte zwanzig bis Anfang fünfzig. Höchstens. Was könnte außer trendige Lippenstifte, Gesundheit und Reisen noch interessieren? Ich sage ja schon seit Monaten, dass wir einen Knüllerartikel veröffentlichen müssen. Einen, der ans Herz und unter die Haut geht. Der berührt. Kein Bericht, der sich hinterher als Ente herausstellt.« Herr Arend warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Bei der Erinnerung zuckte ich leicht zusammen. In der vorletzten Ausgabe hatte ich über einen recht bekannten Fußballspieler berichtet, den ich in einer angesagten Bar aufgespürt hatte. Obwohl ich mich so gar nicht für Sport interessierte, hatte ich die Gelegenheit genutzt, Fotos von ihm zu machen und ihn zu interviewen. Freundlicherweise hatte er mir dann auch erlaubt, die Bilder und das Gespräch in der Zeitschrift zu veröffentlichen. Und ich hatte gedacht, einen tollen Artikel abliefern zu können. Lilli Schäfer berichtet über das Nachtleben eines berühmten Fußballstars in einer bekannten Bar. So in meiner Fantasie.
Später hatte es das böse Erwachen gegeben. Der Mann war kein Superstar, sondern ein Doppelgänger, der sich einen Spaß mit mir erlaubt hatte. Als Tom mich auf meinen Fehler hingewiesen hatte, war es viel zu spät gewesen, den Artikel herauszunehmen. Die Zeitung war bereits gedruckt gewesen. Mir war das unendlich peinlich. Mich tröstete nur, dass sich die Ausgabe sowieso schlecht verkaufte und nur wenige Leserinnen den Patzer bemerkten. Zähneknirschend hatte ich mich in einer Richtigstellung entschuldigt. Daraufhin hatten sich die Gemüter beruhigt und das Thema war vergessen gewesen. Seitdem schwor ich mir, nie wieder über vermeintliche Berühmtheiten zu berichten. Außerdem musste jeder von mir verfasste Artikel auf den Prüfstand, bevor er freigegeben wurde.
»In der nächsten Ausgabe dreht sich alles um den Herbst. Vielleicht könnten wir über eine Halloweenparty, und wie man sie umsetzt, schreiben«, schlug Herr Arend vor.
»Hatten wir letztes Mal schon«, erinnerte Sabine.
»Das wäre ja so, als würden wir Weihnachten ignorieren, weil wir es schon letztes Jahr gefeiert haben«, gab ich zu bedenken. »Darüber können wir ja trotzdem berichten. Aber niemand wird uns deswegen die Hefte aus der Hand reißen. Was wir brauchen, ist eine Sensation.«
»Wir könnten ja auch mal Freizeitparks testen«, warf Brigitte ein.
Herr Arend nickte nachdenklich. »Ja, finde ich ganz gut. Wie wäre es denn, wenn wir mal Schwimmbäder und Thermen unter die Lupe nehmen? Auch den Spa-Bereich.« Er zog seine Kladde wieder näher an sich heran und kritzelte etwas hinein.
»Das würde ich dann glatt übernehmen«, schlug ich grinsend vor.
»Du auf der schnellsten Achterbahn? Das will ich sehen.« Tom hob spöttisch eine Augenbraue.
»Nee, ich meine die Wellnessabteilung. Allerdings glaube ich, dass das auch niemanden vom Hocker hauen wird.«
»Dann machen Sie doch mal einen Vorschlag. Egal was, auch einen Besuch auf der Hühnerfarm. Ich notiere mir erst einmal alles.«
Die Missstände eines Mastbetriebs aufzudecken, womöglich mit Gummistiefeln und Taschenlampe im Gepäck, war jetzt nicht das, was ich mir vorstellte, und das Thema hatte außerdem wenig Bezug zu unserem Magazin.
Nun war aller Augenmerk auf mich gerichtet. Nervös leckte ich mir über die Lippen. Wegen meiner Zeitungsente hätte ich nichts lieber getan, als meinen Chef mit meinen Talenten zu beindrucken. Ach, die Protagonisten in den Liebesromanen wüssten, was jetzt zu tun wäre. Die wurden immer in die richtige Richtung geführt. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Natürlich, dass ich nicht gleich darauf gekommen war. »Man könnte doch das Geheimnis von Sötje Johansson aufdecken.«
»Was denn für ein Geheimnis? Woher sie die Ideen nimmt, diese rührseligen Schnulzen zu schreiben?« Toms Brust bebte vor Belustigung.
Herr Arend hob die Hand und mahnte ihn zur Ruhe. Beleidigt zog er den Kopf ein und lümmelte sich in die Rückenlehne.
»Erzählen Sie ruhig weiter«, forderte mein Chef mich auf.
Mein Herz klopfte mir bis in den Ohren, zumal niemand etwas sagte und die ganze Aufmerksamkeit auf mir lag.
»Sötje Johansson ist eine bekannte Liebesroman-«
»Ja, ja, das wissen wir«, unterbrach mich Sabine und rollte mit den Augen. »Jeder kennt sie, und jeder liest ihre Romane.«
»Seit geraumer Zeit lebt sie sehr zurückgezogen«, nahm ich den Faden wieder auf und ignorierte die Blicke, die interessiert an mir klebten. »Sie hat schon lange kein Interview gegeben und keinen Kontakt zu ihren Fans gesucht. Dabei hat sie gerade wieder einen Bestseller geschrieben.«
Patrick zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Das ist doch ihr gutes Recht. Fans können sehr penetrant und aufmüpfig sein.«
»Früher hat sie sehr wohl in der Öffentlichkeit gestanden und Autogramme gegeben. Sie hat es geliebt, mit ihren Lesern in Kontakt zu treten.«
Herr Arend sagte nichts, stattdessen nahm er seinen Kugelschreiber auf und drehte ihn gedankenverloren in der Hand.
»Was heißt denn früher? Wie alt ist denn die Frau?«, fragte Tom, der wohl der Einzige war, der sie nicht kannte. Vermutlich witterte er eine gut aussehende Autorin hinter dem Pseudonym.
»Siebzig, wenn ich mich nicht täusche.«
»Okay, der Fall gehört dir.« Er zwinkerte und widmete sich wieder seinem Handy, das gerade einen Ton von sich gab.
Wusste ich es doch, dass er nur taufrischen Schriftstellerinnen ein Interview entlocken würde. Abgesehen davon war er ohnehin der Mediengestalter und hatte mit dem Textschreiben eher wenig zu tun.
»Ich notiere mir das mal. Weiß denn irgendjemand, wo genau Sötje wohnt?«
Ja, irgendwo an einem abgelegenen Ort, an dem es nur Sand und Meer gab. Unvorstellbar für mich dort zu leben. Trotz aller Liebe zu ihren Büchern, würde ich es genau aus diesem Grund ablehnen, eine Story über sie zu schreiben. Ich schaute mich um und traf auf ratlose Gesichter. Wusste es sonst keiner? Selbstbewusst richtete ich mich auf und sagte: »An der Ostsee.«
Herr Arend nickte zufrieden. Es dauerte einen Moment, als würde er nachdenken, dann richtete er wieder das Wort an uns. »Wer hat noch andere Vorschläge?«
Wir beratschlagten uns und sammelten Anregungen, bis Herr Arend den Blick von seiner Kladde hob und in die Runde blickte. »Gut, das ist ja schon mal was. Die Achterbahn testet Patrick. Bis zur nächsten Ausgabe sollten Sie mindestens drei bis vier Vergnügungsparks unter die Lupe genommen haben.«
Patrick warf seine Arme in die Höhe und rief ein »Yeah« aus.
»Sie müssen dann auch den Artikel schreiben. Das ist ja klar.«
Pff. Attraktionen waren ohnehin nichts für mich. Ich betete für die Saunalandschaft. In gebannter Erwartungshaltung lächelte ich Herrn Arend an.
»Den Artikel über Bioprodukte, und ob der Inhalt das verspricht, was auf dem Etikett steht, übernimmt natürlich Svenja.«
Sie war weniger überrascht und kritzelte sich gleich ein paar Notizen in ihren Block.
Nun blickte Herr Arend mich an. Ich war voller Hoffnung. Bestimmt bekam ich das Spa-Hotel. So musste es ganz einfach sein. Er kannte mich und wusste, dass ich sehr viel Wert auf mein Äußeres legte und Masken und Thalasso-Therapie liebte.
»Frau Schäfer, Sie fahren an die Ostsee und versuchen ein Interview mit Frau Johansson zu vereinbaren.«
Ich stellte sofort das Atmen ein. »Was? Wieso ich?«
Herr Arend zuckte mit den Schultern. »Es war doch Ihre Idee. Außerdem dachte ich, dass Sie Fan sind. Oder wenigstens ihre Bücher lesen.«
»Ja, das tue ich. Aber nach dem Artikel mit dem falschen Fußballer, haben Sie mir doch verboten, über Promis zu schreiben.« Hatte er das etwa vergessen? Du meine Güte, Herr Arend wollte mich in die Walachei schicken, weit weg von der Stadt, wo es nichts gab außer einem kleinen Tante-Emma-Laden, ganz zu schweigen von einem Nachtleben. Das musste ich zu verhindern versuchen. Ich hob gerade zum Protest an, aber Herr Arend gar mir keine Chance.
»Eine gute Gelegenheit, mir zu zeigen, was in Ihnen steckt und dass es sich beim letzten Ausrutscher um geistige Umnachtung gehandelt hat.«
Er meinte es tatsächlich ernst. »Aber ich will nicht weg«, sprudelte es aus mir heraus. Schon gar nicht in die Pampa.
»Warum denn nicht?«, erkundigte sich Patrick interessiert. »Du bekommst sozusagen einen Gratisurlaub hinterhergeschmissen.«
»Na ja. So würde ich es nicht sehen. Sie hat schon eine Aufgabe zu erledigen«, entgegnete Herr Arend.
»Ihr braucht mich doch hier. Außerdem muss ich mich doch um meine Reihe kümmern. Dafür benötige ich noch einiges an Recherche«, gab ich zu bedenken und nickte betont, sodass meine Haare durcheinanderwirbelten.
»Die Nachforschung kann ich für dich übernehmen. Ich schreibe dir alles auf, und du fasst zusammen.« Patrick grinste vielversprechend.
Ich streckte ihm die Zunge heraus. Das hätte er wohl gern. Nein, eine andere Ausrede musste her. Und das ganz schnell. Nur welche? Wenn ich Herrn Arend sagen würde, dass ich schlichtweg nicht in die Einöde geschickt werden wollte, würde er mir nur einen Vogel zeigen. »Ich bin in den Sommerferien immer mit meinen Eltern nach Südfrankreich ans Meer zum Campen gefahren. Das reicht für ein Leben. Ich finde, jemand anderes hat die Reise verdient.« Jemand, der die Abgeschiedenheit liebte. Ich wusste, wie albern sich meine Ausrede anhören musste. Herr Arends Gesichtsausdruck bestätigte mir dies noch einmal. Aufgewühlt leckte ich mir über die Lippe und überlegte mir auf die Schnelle irgendetwas Fadenscheiniges. Aber mir fiel beim besten Willen nichts ein.
»Mieten Sie sich eine hübsche Ferienwohnung. Ich habe ja nichts von Camping gesagt.«
Es schien, als wäre ich chancenlos.
»Hast du es gut«, sagte Sabine etwas neidisch. »Da gibt es sicherlich heiße Surfer und nackte Oberkörper am Strand.«
»Sabine will unbedingt fahren. Sie kann das genauso gut machen.« Ich zeigte auf meine Arbeitskollegin, während ich mit meinem Chef redete.
Herr Arend blätterte in seiner Kladde und fuhr sich dabei mit der anderen Hand über die Wange. »Frau Bell sehe ich eher in den Wellnesshotels.«
Waaas?, schrie ich innerlich.
Sabine setzte sich kerzengerade hin und lächelte selig. »Joa, da sehe ich mich auch, zwischen dem Bademeister in knappen Shorts und dem Masseur mit den großen Händen.«
»Und die heißen Surfer?«
Sabine zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.
»Brigitte, du fühlst dich doch sicherlich an der Ostsee wohl.«
»Wann soll denn die Reise beginnen?«, fragte sie interessiert und drehte ihren Kopf zu Herrn Arend.
»Ich würde dann auch deine Rubrik übernehmen und ein Billy Regal aufbauen«, flüsterte ich ihr zu.
»So bald wie möglich. Heute buchen, morgen fahren. Der Artikel sollte in der nächsten Ausgabe auf jeden Fall erscheinen.«
»Ja, nein. Tut mir leid. Mein Rainer hat am Wochenende Geburtstag. Er wird fünfundsechzig. Da habe ich allerhand zu tun.«
Mein Herz rutschte eine Etage tiefer. Da fiel mir etwas ein. »Meine Schwester und ich, wir haben eine Tour durch Frankfurt geplant. Sie ist ein Jahr in Neuseeland gewesen und gerade ganz frisch zurückgekommen. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Tut mir leid. Aber ich bin auch schon verplant.«
»Sie wollen allen Ernstes den Verlag wegen eines Ausflugs im Stich lassen? Also das wird mir jetzt zu bunt, Frau Schäfer. Sie fahren. Und die Versammlung ist somit beendet. Falls jemand noch kurzfristig eine Idee hat, immer her damit. Ansonsten wünsche ich einen erfolgreichen Arbeitstag.« Herr Arend schloss seine Kladde und klemmte sie sich unter den Arm.
Alle anderen Anwesenden erhoben sich und stoben durch die Tür.
»Ist doch toll. Freu dich doch. Ist wie ein Kurzurlaub.«
Sabine fuhr mir freundschaftlich über den Arm und verließ den Raum.
Seufzend schlurfte ich in mein Büro. Hätte ich das mit Sötje mal für mich behalten. Aber wie hätte ich ahnen können, dass der Chef sich gegen seine eigene Anweisung stellen würde, mich keine Promis mehr interviewen zu lassen? Jetzt hatte ich sowieso verloren, da konnte ich gleich mal damit anfangen, mich zu motivieren. Vielleicht hatte er recht und es war eine gute Gelegenheit, mich zu beweisen. Eine andere Wahl blieb mir sowieso nicht.
Zurück am Schreibtisch durchforstete ich gefühlt Hunderte Portale, in denen man seine Traumferienwohnung mieten konnte. Wenn ich wenigstens wüsste, wo Sötje genau wohnte. Das würde die Suche viel einfacher machen. Nachher wohnte ich am ganz falschen Ende der Ostsee.
Die Tür sprang auf und Tom kam bester Laune hereinspaziert. »Ich habe mal meine Kontakte spielen lassen und herausgefunden, wo deine neue beste Freundin wohnt.«
Mein Kopf fuhr hoch. Juhu. Soeben war ich ein Stück weitergekommen. Dann stutzte ich und verengte meine Augen. »Möchte ich wissen, woher du die Adresse hast, oder bekomme ich womöglich selbst Schwierigkeiten, nur weil du sie mir verraten hast? Soviel ich weiß, ist ihre Anschrift geheim.«
Tom zuckte unbeeindruckt mit den Achseln. »Wenn du sie nicht willst. Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen.« Er drehte sich bereits um, da hielt ich ihn am Arm fest.
»Schon gut. Es interessiert mich nicht, mit wem du illegale Sachen drehst. Gib sie mir einfach, und ich halte dicht.«
Auf seinem Gesicht erschien ein selbstzufriedenes Grinsen. »In Heartnitz. Das liegt …«
Meine zu Halbmonden gefeilten Fingernägel flogen über die Tastatur, und sofort erschien ein Einhundert-Seelen-Dorf mit süßen Reetdachhäuschen direkt am Meer. Auweia. Dort wollte noch nicht einmal der Hund begraben liegen. Gab es dort, abgesehen von den Feriengästen, überhaupt Einwohner außer Sötje?
Tom stellte sich direkt neben mich und beugte sich in Richtung Bildschirm. Mit dem Finger deutete er auf das Satellitenbild. »Soll das die Hauptstraße sein?«
Ich lehnte mich ebenfalls etwas näher an den Monitor und begutachtete den braunen Faden, der nun wirklich nicht lang war.
»Da wird bestimmt noch zwischen zwölf und fünfzehn Uhr die Mittagsruhe eingehalten, und abends um halb neun werden die Bürgersteige hochgeklappt.«
Innerlich verkrampfte ich, aber blieb tapfer. Per Befehl suchte ich nach freien Ferienwohnungen. Nichts.
»Du musst die Suche erweitern. Gib mal Ferienhaus ein.«
Gesagt, getan. Prompt erschien ein uriges Reetdachhaus mit weißer Fachwerkfassade auf dem Bildschirm. Das Grundstück war von einer bunten Blumenwiese umgeben. Das Haus erinnerte mich an ein Gemälde auf Leinwand von einem Künstler aus dem Jahr achtzehnhundertirgendwas, der die Einsamkeit und die Abgeschiedenheit mit seinen hauchzarten Pinselstrichen einzufangen versucht hatte. Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Na prima.
»Gibt es denn auch Fotos von der Inneneinrichtung?«, fragte Tom wissbegierig, als wollte er gleich einziehen.
Ich klickte auf die Bilder. Das Symbol für Loading erschien, aber mehr passierte nicht, auch nicht nach weiteren Versuchen. Hm. Ein Zeichen?
»Dir muss man wirklich alles aus der Nase ziehen. Lies doch mal die Beschreibung vor.«
Augenrollend las ich ohne jegliche Begeisterung in meiner Stimme vor: »Leben wie die Einheimischen früher. Die Ostsee ist bekannt für den natürlichen und landestypischen Charme ihrer Reetdachhäuser. Buchen Sie jetzt Ihr komplett eingerichtetes Traumhaus in unmittelbarer Strandnähe mit Blick auf das Meer. Es gibt eine schöne Sonnenterrasse mit Gartenmöbeln. Ein Fahrrad zum Erkunden steht Ihnen ebenfalls zur Verfügung. Bla, bla, bla. Einkaufsmöglichkeiten sind vorhanden.«
Tom winkte ab. »Siehst du. Einen Aldi gibt es doch überall.«
»Sie sind ja schon fündig geworden. Ich wusste, auf Sie ist Verlass.«
Ich zuckte leicht zusammen, als ich Herr Arends Stimme vernahm. Wo kam der denn her? »Oh, Herr Arend. Ich habe Sie gar nicht reinkommen hören. Ja, also. In manchen Bundesländern sind ja schon Ferien, und deswegen wird das Haus bestimmt viel zu teuer sein.«
»Für eine Woche gerade mal dreihundert Euro. Wow, das ist geschenkt«, las Tom vor und nickte beeindruckt.
Ich mochte ihn gerade nicht besonders, und am liebsten hätte ich ihm einen Tritt gegen das Schienbein verpasst.
Sein Handy gab einen Ton von sich. »In welcher Straße steht das Haus?«, fragte er, ohne den Blick von dem Smartphone zu nehmen.
»Heideweg 8«, sagte ich knapp.
»Was für ein Glück. Sötje wohnt 10 bis 12.« Grinsend hob er sein Handy. »Gut, wenn man Kontakte hat.«
Woher auch immer er diese Informationen hatte, es konnte mir egal sein. Wenn ich in direkter Nachbarschaft wohnte, würde es ganz leicht sein, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
»Jetzt buch doch endlich. Worauf wartest du denn?« In der Zwischenzeit hatte sich Sabine in mein Büro geschlichen. Sie stand ebenfalls hinter mir und begutachtete das Objekt. Wenn das so weiterging, würde bald ganz Frankfurt mich anfeuern.
»Meinen Segen haben Sie. Eine Woche sollte genügen, damit alles rechtzeitig zur nächsten Ausgabe abgedruckt werden kann«, hörte ich Herrn Arend sagen.
Ich wusste, dass ich keine Chance hatte, dieser ausweglosen Situation zu entkommen. Also klickte ich auf Buchen und stellte mich innerlich auf eine sehr einsame Zeit ein.
Kapitel 2
Pünktlich zum Wochenendstart stand ich am Frankfurter Hauptbahnhof und wartete auf den verspäteten Zug, der mich an die Ostsee fahren sollte. Ich hielt mich an meinem Trolley fest und checkte die Anzeigetafel, während ich das Handy an mein Ohr drückte und mit Pia telefonierte. Meine vier Jahre jüngere Schwester war ständig auf Achse und bereiste die Welt. Sie nahm jeden Job an, den sie finden konnte, und hütete sogar eine Rinderherde, wenn es nötig war. Wir sahen uns viel zu selten, und jetzt, da sie in Frankfurt war, wurde ich weggeschickt. Ich hatte mich wirklich auf die Zeit mit ihr gefreut. Sie endlich wieder in die Arme zu schließen und über alte Zeiten zu sprechen, bevor die Reiselust sie gepackt hatte.
»Wie oft soll ich es dir eigentlich noch sagen? Ich bin dir nicht böse. Wir holen unsere Tour ganz einfach nach.«
»Aber wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen, und außerdem wolltest du mir doch endlich mal deine Reisebilder zeigen.«
»Die laufen doch nicht weg. Ich finde das richtig gut, dass du aus deinem Kokon befreit wirst und mal was anderes siehst.«
»Wie meinst du das denn? Ich bin ständig unter Leute, ich kenne ganz Frankfurt. Einmal im Jahr gönne ich mir eine Woche Hotelurlaub in Madrid oder London. Von einem Kokon bin ich weit entfernt. Ich strotze nur so vor Tatendrang.«
Ich hörte sie leise glucksen, bevor sie wieder ernst wurde. »Vielleicht ist das mal eine gute Gelegenheit, dich nicht jeden Abend ins Getümmel zu schmeißen. Das ist nämlich nur eine Flucht vor deiner Einsamkeit.«
»So ein Quatsch«, widersprach ich energisch. Doch ganz Unrecht hatte sie nicht. Manchmal fühlte ich mich tatsächlich einsam, seit Gabriel mich vor einem Jahr ohne Erklärung verlassen hatte. Dann warf ich mich in Schale und stürzte mich ins Nachtleben. Denn dort fand ich Gleichgesinnte.
»Natürlich tust du das.«
Abgekämpft wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Es war ungewöhnlich heiß für Mitte Juni. Ich war froh, dass ich mich für das luftige Sommerkleid entschieden hatte, das ich im Sale einer teuren Modemarke gekauft hatte. Der dünne Stoff schmiegte sich an meine Taille. Die Spaghettiträger zeigten viel Haut, die von der Sonne gebräunt wurde. Nur über die Wahl meiner Riemchensandalen mit Absatz ärgerte ich mich. Sie waren zwar hübsch und passten hervorragend zu meinem Outfit, aber nicht sehr bequem für die lange Reise. Trotz meiner sommerlichen Kleidung schwitzte ich wie verrückt. Was allerdings auch daran lag, dass Pia den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ich reckte den Hals und blickte entlang des Gleises. Der Lokführer ließ sich wirklich verdammt viel Zeit. »Es ist gut so, wie es ist. Ich bin glücklich.«
»Und was ist mit der starken Schulter, nach der du dich so sehnst?«
Möglicherweise hatte ich mich nach der Trennung etwas melodramatisch aufgeführt und viel zu viele Taschentücher verbraucht. Das lag längst hinter mir.
»Wie soll ich denn die Liebe meines Lebens finden, wenn ich Hunderte Kilometer von zu Hause weg arbeiten muss? Die Bars in Heartnitz schließen bestimmt alle um zwanzig Uhr.« Wenn es denn überhaupt welche gab.
Pia stöhnte. »Unter Umständen könnten in dem Ort Männer wohnen, die auch gern mal in eine Kneipe gehen. Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht?«
Eine Kneipe? »Du meinst einen dunklen Raum im Keller, der ganz aus Holz besteht und an dessen Wänden Wimpel von diversen Fußballclubs und der Freiwilligen Feuerwehr hängen? Nein, also wirklich. Da tummeln sich, wenn überhaupt, die Opis herum. Die jungen Leute sind doch bestimmt längst in die Großstadt gezogen, um zu studieren und zu arbeiten.« Im Grunde konnte es mir auch egal sein, denn ich hatte mir drei, höchstens vier Tage gegeben, Sötje ein Interview zu entlocken.
Endlich hörte ich den Zug einrollen. Das wurde aber auch Zeit. »Du, ich muss jetzt Schluss machen. Ich melde mich, sobald ich angekommen bin. Ciao.«
Und dann war die Verbindung unterbrochen.
Geduldig wartete ich, bis der Zug stehen blieb und die Türen sich öffneten. Die Passagiere strömten heraus, und als der letzte Gast den Wagon verlassen hatte, stieg ich ein und suchte meinen Platz. Ächzend hievte ich meinen Trolley in das Gepäckfach über dem Sitz, bevor ich mich erleichtert in die blaugelbgepunktete Rückenlehne fallen ließ. Vor mir saß ein Mann mit seinem Sohn. Sie sahen sich sehr ähnlich, und beide schmökerten in einem Wanderführer.
Ich bohrte meine Faust in die Wange und schaute den eilenden Menschen nach, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Die winkenden Leute wurden immer kleiner, und die graue Fassade wechselte zu einem braungrünen Streifen, der immer mehr verschwamm. In der Zwischenzeit versuchte ich, vorab ein paar wichtige Informationen über Sötje herauszufinden. Ich liebte ihre Romane, aber die Person dahinter hatte mich bisher nur am Rande interessiert. Mit ein paar Klicks öffnete ich einen Wikipedia-Eintrag. Ich erfuhr, dass sie aus einem recht ärmlichen Elternhaus stammte und schon immer an der Küste lebte. Mit ihrem bereits verstorbenen Ehemann hatte sie zwei Kinder. Ich überschlug ihr Alter im Kopf – mit Sicherheit waren sie schon erwachsen. Der Eintrag hatte mir nicht mehr Klarheit verschafft. Das meiste wusste ich bereits. Dennoch machte ich mir rasch einige Notizen. Mit der Vergangenheit einzuleiten, war doch schon mal ein Anfang. Mein Blick wanderte aus dem Fenster, während ich mir überlegte, wie ich sie überhaupt zu einem Gespräch bitten sollte.
Ich könnte auch ganz einfach ihren Verlag anschreiben. Warum war ich eigentlich nicht schon viel früher darauf gekommen? Mit wenigen Zeilen stellte ich mich vor, beschrieb ihnen mein Anliegen und verschickte mit freundlichen Grüßen die E-Mail. Zufrieden lehnte ich mich zurück und gratulierte mir selbst, obwohl ich unsicher war, ob ich auf Antwort hoffen konnte.
Die Fahrgeräusche entspannten mich auf seltsame Weise, und je mehr ich mich dagegen wehrte, desto schwerer wurden meine Lider.
***
Als ich am Bein angerempelt wurde, schreckte ich auf. Träge öffnete ich die Augen und stellte fest, dass ich mich an meinem Zielbahnhof befand. Hastig erhob ich mich und angelte nach meinem Koffer. Die kleinen Härchen auf meinem Arm stellten sich auf, sobald ich auf den gepflasterten Bahnsteig trat. Der Wind frischte auf, verfing sich in meinen glattgezogenen Haaren und wirbelte sie durcheinander. Das Glätteisen hätte ich wohl getrost zu Hause lassen können.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Eine tief hängende graue Wolke, die aus ihrem Inneren einen dicken Tropfen verlor, der mich direkt auf der Stirn traf, zog eilig über mich hinweg. Ich seufzte. In Gedanken ging ich den Inhalt meines Gepäcks durch. Hatte ich überhaupt eine Regenjacke dabei? Heute Morgen beim Verlassen meiner Wohnung hatte die Wetter-App den ganzen Tag über Sonne und achtundzwanzig Grad angezeigt. Allerdings für Frankfurt. Eventuell hätte ich Mecklenburg-Vorpommern, beziehungsweise Heartnitz eingegeben sollen. Rasch holte ich das nach und prompt zeigte mir mein Handy Wolken und einen gut gefüllten Tropfen, der den Niederschlag repräsentierte. Etwas lauter als beabsichtigt schnaubte ich aus und wählte die Taxizentrale.
Zehn Minuten später und bis auf die Knochen durchgefroren saß ich auf der Rücksitzbank des gelben Gefährts. »In den Heideweg 8, bitte.«
Ich sah im Rückspiegel die Augenbrauen des Fahrers skeptisch zusammenfahren. »Machen Sie dort Urlaub?«
»Kann man so sagen«, antwortete ich knapp und rang mir ein Lächeln ab, das aber nur mein Handy sah. »Eigentlich bin ich beruflich hier«, murmelte ich auf das Display. Ein Gedanke kam mir, der mich aufblicken ließ. Mein Lächeln wurde nun breiter und echter. »Ich bin Journalistin und möchte einen Artikel über die Bestsellerautorin Sötje Johansson schreiben.« Vielleicht wusste der Taxifahrer etwas über sie.
»Sötje?«, fragte der Mann und schaute mich neugierig im Rückspiegel an.
Ich nickte.
»Hab sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Soviel ich weiß, ist ihr ein Fan zu dicht auf die Pelle gerückt. So stalkingmäßig.«
»Ach? Lebt sie deswegen so abgeschieden?«
Der Taxifahrer zuckte lediglich mit den Achseln und blieb stumm. Erst nach einer langen Pause sagte er: »Manchmal sehe ich sie im Auto sitzen. Ihr Sohn fährt sie meistens.«
»Was heißt denn meistens?«
Der Blick meines Chauffeurs huschte zum Rückspiegel. »Oft oder normalerweise. Überwiegend.«
Innerlich rollte ich mit den Augen. »Wenn sie allein unterwegs ist, fährt sie dann vielleicht einkaufen? Wo genau erledigt sie ihre Besorgungen? In einem Supermarkt, oder bevorzugt sie Bio-Produkte aus einem Reformhaus?« Wäre doch gut zu wissen, wo ich sie finden könnte.
Abermals traf mich sein Blick.
»Wie gesagt, ich habe sie schon Ewigkeiten nirgends gesehen. Auch nicht beim Einkaufen.«
Dem Anschein nach waren meine Bemühungen umsonst. Etwas enttäuscht, dass die Unterhaltung schon beendet war, sah ich aus dem Fenster. Ich wollte nicht aufdringlich wirken, deswegen beließ ich es dabei und betrachtete im Vorbeifahren die windschiefen Bäume, die am Straßenrand wuchsen. Wir verließen den Ort, und je weiter wir das Städtchen hinter uns ließen, desto seltener wurden die Häuser, bis nur noch weite Wiesen zu sehen waren. Als mich erneut die Monotonie übermannte, tauchte das Ortsschild von Heartnitz auf und meine Lider schossen wach in die Höhe. Nun packte mich meine Neugier, was mich hier erwartete. Einige Häuser lugten neben den schmalen Straßen zwischen hochgewachsenen Kiefern hervor. Eigentlich wirkte alles sehr idyllisch auf mich, doch auch sehr einsam. Keine Menschenseele war hier zu entdecken. Nach der nächsten Kreuzung bog das Taxi ab und blieb neben einer sich endlos erstreckenden Hecke stehen.
»Wir sind da.«
Neugierig sah ich mich um, aber außer einem Haus vor mir und der meterhohen Buchenhecke neben mir entdeckte ich nichts.
Nachdem ich meine Fahrt bezahlt und der freundliche Mann die Kofferraumklappe geschlossen hatte, umfasste ich den Griff meines Trolleys. Der Regen rieselte weiter leise vor sich hin, sodass meine Haare die Feuchtigkeit aufsogen, sich unkontrolliert aufplusterten und kraus abstanden. Na ja. War auch egal. Hier würde mich ohnehin niemand sehen.
Hinter der bunten Blumenwiese lag fast schon schüchtern das urige Reetdachhaus und schien sich vor mir zu verstecken, oder zu schämen. Es sah unheimlich alt und verwittert aus, doch auch irgendwie herzlich, wie eine betagte Oma. An dem Putz, der an manchen Stellen abblätterte, wand sich ein Stock gelber Rosen hinauf, die im Kontrast zum Lavendel standen.
Ich öffnete das rostige Türchen. Es quietsche furchtbar laut in meinen Ohren, dass mich eine Gänsehaut überbekam. Dann folgte ich dem geschlängelten Weg bis zur Haustür. Das Holz wirkte fahl und ausgelaugt und hätte garantiert nichts gegen eine auffrischende Lasur.
In der Mietbeschreibung stand beschrieben, dass der Haustürschlüssel in einem Tresor aufbewahrt wurde. Ich suchte das Kästchen, das laut Schilderung neben dem Briefkasten sein sollte, und wurde fündig.
Die Kombination war recht einfach, ich hatte sie mir gleich gemerkt. Geschickt drehte ich an den Zahlenrädchen, bis sich die Klappe öffnete. Siegessicher nahm ich den Schlüssel und schloss auf. Mein Herz setzte für mehrere Schläge aus, als ich die Tür aufschob.
Argwöhnisch setzte ich einen Fuß auf die dunklen Dielen. Eine schwere Bauernvitrine stand an der Stirnseite und beherbergte blau-weißes Geschirr. Die Wände waren mit einer Ornament-Tapete versehen, als wäre ich einhundert Jahre zurück in die Zeit gereist. Vier Stühle, die furchtbar unbequem aussahen, luden nicht gerade zum Verweilen ein. Neben ihnen standen ein Sofa mit beigem Stoff und ein passender Sessel mit Holzarmlehnen. Ein Tischchen vervollständigte die Sitzgruppe. Ich musste an ein Spitzendeckchen denken, das hier gut passen würde. Aber immerhin war alles sauber und spinnenfrei.
Ich ließ den Blick weiter schweifen und entdeckte ein Regal mit einem Fernglas. Daneben befand sich ein Kamin, der im Winter bestimmt eine gemütliche Atmosphäre erschuf. Einige Holzscheite lagen in einem Weidenkorb, und eine Tür führte in den nächsten Raum. Unter mir knarzten die dunklen Dielen ganz fürchterlich, wie in den Gruselfilmen, in denen das Haus lebendig wurde. Vorsichtig schob ich die nächste Tür auf und trat in die Küche. Der Boden war schwarz-weiß gefliest, wie ein Schachbrett. An der Wand standen Küchenmöbel und ein Buffetschrank. Ich atmete erleichtert auf, als ich eine Spülmaschine neben einem Backofen entdeckte. Über mir hing eine weiße Glasschirmlampe mit winzigen blauen Blümchen darauf. Plötzlich verspürte ich den Drang, das Licht anzuknipsen. Wahrscheinlich nur um zu testen, ob es hier tatsächlich elektrisches Licht gab. Erwartungsvoll schaute ich zur Lampe und drückte den Schalter.
Funktionierte.
Danke, lieber Gott!
Nach dem ersten Schrecken nahm ich das Schlafzimmer genauer unter die Lupe. In gespannter Erwartungshaltung umschloss ich den Treppenhandlauf mit den Fingern und sah hinauf. Was mich wohl dort oben erwartete? Ich setzte den Fuß vor und nahm Stufe für Stufe. Ab der dritten knarrte das Holz unter mir und wurde lauter, je höher ich ging. Bestimmt zog der Wind durch alle Ritzen und würde mir den Schlaf rauben. Ich dachte lieber nicht daran.
Als ich oben angekommen war, musste ich mich entscheiden, ob ich nach rechts oder links gehen wollte. Ich entschied mich für Letzteres und landete im Schlafzimmer. Es wirkte recht freundlich, schlicht eingerichtet, ebenfalls im Bauernstil. Die Wände hier waren hell gestrichen, vor dem Fenster hing eine in Falten gelegte Gardine, die an den Seiten mit einem Raffhalter hochgehalten wurde. Ich trat an das Fenster und bewunderte die herrliche Aussicht. Mein Grundstück grenzte an einen weiten Sandstrand, der zum Meer führte. Obwohl mich das Panorama faszinierte, löste ich mich davon, denn das Nachbarhaus zog meinen Blick magisch an. Mit den zugezogenen Vorhängen sah es etwas verwaist aus, was mir aufzeigte, wie sehr Sötje ihre Privatsphäre schätzte. Doch einige Blumentöpfe und die Gartenmöbel verrieten, dass dort gelebt wurde. Ich drehte mich weg und begab mich weiter auf Erkundungstour.
Das Ehebett war mit weiß gestärkter Leinenwäsche bezogen, die sicherlich unangenehm kratzte. Ich würde mich darunter ganz bestimmt einsam fühlen.
Ganz vage schüttelte ich den Kopf und seufzte. Drei Tage, höchstens, redete ich mir gut zu und trat zurück in den Flur. Vor einer Tür, die bestimmt ins Bad führte, blieb ich stehen.
Unwillkürlich erschien mir Sabines überaus glückliches Gesicht, wie sie ihre Bahnen in dem angenehm temperierten Badewasser schwamm. Oder wie sie, mit Handtuchturban um den Kopf gewickelt und flauschigem Bademantel um ihren Körper geschlungen, zur nächsten Hot-Stone-Massage flanierte. Meine Augen brannten, meine Kehle schnürte sich zu. Und ich war hier.
»Nein!«, rief ich mich selbst zur Räson. Das war nicht so schlimm wie das Campen mit Pia und meinen Eltern in Frankreich. Da hatten wir jede Nacht mit Insekten zu kämpfen gehabt, die sich in das Zelt verirrt hatten. Das war dann auch der Zeitpunkt gewesen, an dem ich mir im Teenageralter geschworen hatte, stets Urlaube in Sternehotels zu machen. Warum hatte ich das diesmal ignoriert? Ich kannte die Antwort: weil ich die Nähe zu Sötje gesucht hatte und dem Chef zeigen wollte, was in mir steckte.
Meine Finger umschlangen bereits die Klinke, als ich zwischen Tür und Wand einen Vorhang entdeckte. Vorsichtig schob ich ihn beiseite und hielt mir erschrocken die Hand vor den Mund. Eine Gänsehaut legte sich über meine Haut. In einem Eimer lagen eine zerbrochene grüne Fliese, eine verkalkte Wasserhahnarmatur, eine ausgewaschene Farbrolle und einige Pinsel. Entsetzt ließ ich den Vorhang zurückfallen. Wenn das Bad nun eine einzige Baustelle war und ich mir noch nicht einmal die Hände waschen konnte, geschweige denn die Toilette benutzen? Ich verfluchte den schwachen Moment, als ich Herrn Arend von der Idee erzählt hatte, Sötjes Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Da lärmte mein Handy. Es war Pia.
»Hi, Schwesterherz. Wie ist es denn so?«, trällerte sie fröhlich auf der anderen Seite.
»Hey«, begrüßte ich sie und atmete erleichtert aus. »Schön, dass du anrufst. Ich brauche gerade etwas Zuspruch.«
»Was ist denn passiert? Stehst du mit dem Zug im Stau?« Pia lachte, doch mir war nicht danach. Ihre Witze kamen wirklich viel zu flach.
»Ich befinde mich in einem Museum.«
»Wie meinst du das denn? Ist das das einzige Ausflugsziel, das Heartnitz zu bieten hat?«
»Nein, das Haus ist so altmodisch eingerichtet, selbst Oma und Opa würden sich fürchten.«
»Wenn es sauber ist, ist doch alles in Ordnung. Außerdem kommst du spätestens in vier Tagen wieder, so dein Plan.«
»In drei! Vielleicht reise ich sofort wieder ab«, murmelte ich und betrachtete die eichenfarbene Tür, hinter der ein großes Geheimnis versteckt war.
»Warum das denn?«
»Ich weiß nicht, was mich im Bad erwartet. Im Flur lagern Fliesenreste und ein Wasserhahn und …« Ich brach ab und schluckte den großen Kloß hinunter. »Ach, ich will einfach nur nach Hause.«
»Sei nicht albern. Du hast das Meer vor deiner Nase. Tu einfach so, als wärst du im Urlaub. Verbinde das Nützliche mit dem Angenehmen. So heißt es doch immer.«
»Ich sehe hier nichts Angenehmes.«
Pia stöhnte theatralisch. »Mach die Tür auf. Es ist bestimmt nichts.«
»Weißt du noch in Frankreich damals? Die Waschräume auf dem Campingplatz?«
»Natürlich weiß ich das noch. Du hast ein Trauma von den Hockklosetts bekommen und bist drei Tage nicht aufs Klo gegangen.«
Ich schniefte.
»Das wird dir diesmal nicht passieren. Weißt du was? Du machst dir jetzt eine Flasche Rotwein auf und trinkst sie. Und wenn der Alkohol seine Wirkung zeigt, dann linst du einfach mal rein in das Zimmer.«
»Du meinst, ich soll mir Mut antrinken?« Ich kicherte bei dem Gedanken, wie ich angetrunken mit einer Flasche im Bad stehen würde.
»Kann man so sagen.«
»Nein. Keine Chance. Der Wein hat nicht mehr in meinen Koffer gepasst.« Leider!
»Dann geh und kauf dir eine Flasche. Ganz nebenbei erkundest du den Ort. Vielleicht triffst du sogar schon auf Sötje, und umso schneller bist du wieder bei mir und wir holen unseren Tripp nach.«
Diese Aussicht katapultierte meine Laune von ganz unten etwas höher in den mittleren und somit guten Bereich. Mir gefiel der Gedanke, etwas Abstand zu dem Haus zu bekommen. Etwas Warmes in meinem Bauch wäre gar nicht schlecht. Mein letzter Snack lag Stunden zurück. Ob es hier ein Restaurant gab? »Danke, dass du bei mir bist.«
»Nur gedanklich. Wenn du später noch mal Beistand brauchst, dann ruf an.«
»Danke.«
»Kein Ding, bis später.«
Seufzend steckte ich das Handy in meine Handtasche und schürzte die Lippen. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob mein Aufstand zu melodramatisch war. Kein Mensch würde ein Ferienhaus vermieten, in dem das Bad in Schutt und Asche lag. Und wenn die Wände giftgrün gefliest wären, war es doch kein Grund, die Sachen zu packen. Der Chef sollte nicht meinen, ich wäre etepetete. Nun gut, vielleicht war ich das ein klein wenig. Aber das war alles nur die Schuld meiner Eltern und ihrer Campingausflüge.
Mein Bauch knurrte. Dann erst mal etwas futtern. Danach sähe die Welt bestimmt ganz anders aus.