Leseprobe Meeresrauschen und Inselküsse

1

„Ich hasse die Großstadt.“ Veronica umklammerte ihr Handy, während ihre Blicke durch das kleine, nur schlecht besuchte Lokal schweiften. „Keiner fühlt sich an irgendetwas gebunden oder verpflichtet.“

„Du siehst das alles zu schwarz“, entgegnete Angelina, ihre beste Freundin, die sie damals durch Zufall auf Sizilien kennenlernte. Eine Einheimische, die vor elf Jahren mit ihrer Freundin am Strand unterwegs gewesen war, an den sich auch Veronica zurückgezogen hatte.

Um etwas Ruhe vor meinen Eltern zu haben, dachte sie kurz und blickte sich dann im Lokal Amaretto um.

„Ich sehe ihn nicht“, meinte sie und hatte sich noch nicht entschieden, ob sie sich setzen oder stehen bleiben sollte.

„Was erwartest du von einem Blind Date, Mäuschen? Dass der Typ an einem Tisch sitzt, eine Rose in einem zugeklappten Buch, und nur darauf wartet, dich im Sturm erobern zu können? Im Internet sind so viele Schwätzer und Idioten unterwegs, dass man doch gar nicht mehr weiß, wem man da vertrauen, geschweige denn Glauben schenken soll. Ich habe dir doch gleich gesagt, dass du das lassen sollst mit diesen albernen Apps. Die Liebe ist nicht planbar. Die kommt. Manchmal tritt sie einfach neben einen, tippt dir auf die Schulter und überrascht dich. Ist doch auch viel romantischer.“

Veronica holte tief Luft. Sie ahnte, dass Angelina auf eine unangenehme Art und Weise recht hatte. Dazu begriff sie, dass sie vorgeführt worden war. Ausgenutzt von einem mit Worten umgehenden, mit leisen Süßholzraspeleien ihr Herz schneller zum Klopfen bringenden Idioten.

Wirklich. Echt. Mit Freude.

Das ist es, was mich so verletzt, dachte sie, während ihr weiterhin Angelinas Worte und das Tohuwabohu, das auf der Zitronenplantage herrschte, in den Ohren dröhnte. Ich wollte Björn kennenlernen. Ich wollte mit ihm hier am Gänsemarkt im Amaretto sitzen und sein markantes Kinn und seine blonden Locken betrachten. Mich vergewissern, ob er wirklich so charmant ist, wie er schreibt. Ich habe sein Profilbild wieder und wieder angesehen. Habe mich regelrecht …

„Kann ich Ihnen helfen?“, wurde Veronica von einer jungen, blondierten Kellnerin aus ihren Gedanken gerissen. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen, schaute die in dem eng sitzenden, bis zu den Knien reichenden schwarzen Rock sie an.

„Ist … ist jemand hier, der nach Veronica Wyss gefragt hat?“ Allmählich bekam sie Bauchschmerzen, während der Druck schlimmer wurde, der in ihrer Brust aufstieg. Obwohl sie merkte, dass sie sich gedanklich in etwas verrannte, war da etwas in ihr, das den Gedanken zu Ende spinnen wollte. Der ausgesprochen und auf die Welt losgelassen werden wollte, um sie …

… was?

Mich zu verletzen? Der mir noch einmal ordentlich einen Schlag zwischen die Hörner versetzen will? Der mit dem Finger auf mich zeigt und mir sagt: Ha, ha, habe ich dir doch gesagt. Ich wusste es. Ha, ha, du hast immer das falsche Händchen bei Männern.

Immer.

„Ist mir bis jetzt nicht bekannt gewesen. Aber setzten Sie sich doch. Ich frage einmal am Tresen nach. Dort am Fenster ist frei!“

„Danke“, sagte Veronica, die mit Unbehagen feststellte, dass sie den hämischen Gedanken in ihrem Kopf allmählich Glauben schenkte. Es war ihr, als würden alle diese Ahnungen und Erkenntnisse, die sie seit Jahren begleiteten, nun Wirklichkeit werden.

Ich wollte mich ernsthaft auf eine neue Geschichte einlassen, in der mein Herz ein wenig wilder schlägt als sonst. Sodass es in meinem Magen kribbelt, wenn ich sehe, dass Björn mir eine Nachricht geschrieben hat. Ich wollte leise seufzend in meinem Schreibtischstuhl zurücksinken und dieses geheime, dieses stille Lächeln auf den Lippen haben, wenn er mir sagt, dass ich nicht nur niedlich, faszinierend und sexy für ihn bin, sondern auch wenn er mir versichert, ich sei die Einzige für ihn.

„Frau Wyss?“

Veronica blickte auf. „Ja?“

„Nein, nach Ihnen ist nicht gefragt worden. Tut mir sehr leid“, sagte die junge Frau, deren Lächeln nicht nur Mitleid ausdrückte. Da war noch etwas anderes. Etwas, das Veronica nur zu gut lesen und verstehen konnte.

Vertrautheit.

So, als ob die freundliche Frau genau wusste, wie es gerade in ihr aussah.

Veronica schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Fällt absagen denn so schwer?“

„Einigen schon“, meinte die Kellnerin.

„Du weißt doch gar nicht, was mit dem Typen in Wirklichkeit los ist“, sagte Angelina gleichzeitig. „Was, wenn der sich nur einen Spaß daraus gemacht hat, mit dir zu chatten? Du hast ihm aber nicht verraten, wo du wohnst, oder?“ Nun klang sie erschrocken.

„Nein, wo denkst du hin?“, wehrte Veronica ab.

„Puh. Hast du vielleicht schon daran gedacht, dass er dir einen Bären aufgebunden hat? Dass er vielleicht verheiratet ist und nur sehen wollte, ob er noch Chancen bei einer Frau hat? Und dann, als er merkte, dass es dir ernst war mit einem Treffen, einen Schreck bekommen hat? Plötzlich war ihm bewusst, dass er ja verheiratet ist, dass er Kinder hat und dass er in Teufelsküche kommen würde, wenn er sich mit einer bildhübschen, klugen und selbstbewussten Frau trifft. Mäuschen, sei froh, dass du den Armleuchter nicht näher kennengelernt hast. Es ist besser so. Glaub mir.“

„Hier, eine Kleinigkeit“, sagte die Kellnerin, stellte Weißbrot und eine kleine, bis zum Rand mit Aioli gefüllte Schale vor Veronica ab.

Die, verwundert, sagte freundlich: „Danke sehr.“ Sie blinzelte verwirrt und stockte, als jemand neben sie trat. Ein Mann. Das wilde Klopfen in ihrer Brust hasste sie für wenige Sekunden ebenso innig wie ihre freudigen Gedanken: Er ist gekommen. Verdammt noch mal, er ist doch noch gekommen. Und ich habe mich völlig umsonst zum Narren gemacht. Ich hätte Angelina nicht gleich anrufen brauchen; hätte ihr nicht das ewige Lied von der verlassenen und ungeliebten Veronica erzählen müssen. Sie hört seit Jahren die Leier. Die Leier, die ich spiele, seitdem die Scheidung …

In dem Moment, als ihr bewusst wurde, dass der Mann nicht Björn war und ganz und gar nicht so aussah wie auf dem Profilfoto, in das sie sich insgeheim verguckt hatte, ließ sie enttäuscht seufzten.

Als sie sah, dass der Mann vor ihr ein unsicheres, zitterndes Lächeln auf den Lippen trug und nicht zu wissen schien, was er ihr sagen sollte, legte sie den Kopf schief. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie freundlich und deutete auf ihr am Ohr liegenden Handy. „Ich telefoniere.“

„Entschuldigung“, sagte er daraufhin, die Hände entschuldigend in die Höhe gehoben. „Ich wollte Ihnen nur das hier geben.“

Veronica blickte auf die Tulpe in seiner Hand und blinzelte verwundert, von seiner Geste überrascht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Als sie ihren Blick hob und in das nette, freundliche Gesicht des ihr unbekannten Mannes sah, musste sie schmunzeln. Solch eine Geste wie diese kannte sie nur aus den von ihr lektorierten Romanen oder aus Hollywoodfilmen. Jetzt selbst hier zu sitzen, eine Tulpe geschenkt zu bekommen, setzte irritierende Gefühle in ihr frei. Dazu, und das fand sie wirklich, mochte sie diesen Mann. Auch wenn er optisch nicht ihr Typ war, hatte er einen sanften Zug um den Mund.

Und in den Augen einen angenehmen, sympathischen Glanz, dachte sie und fand, dass die unsicher gekräuselten Lippen eine ansprechende Form besaßen, die in zwei niedlichen Grübchen endete, die ihm etwas Jungenhaftes, Freches verliehen.

„Die ist für Sie.“

„Warum?“, wollte Veronica wissen, von solchen Gesten verunsichert, da sie diese nicht kannte.

„Ich wollte Ihr Telefonat nicht belauschen“, sagte er stockend und räusperte sich. „Wirklich nicht. Aber das eine oder andere habe ich mitbekommen.“

„Und jetzt?“

„Ist die hier für Sie.“ Er legte die Tulpe auf den Tisch und schenkte Veronica einen ungewohnten Blick, der in ihrem Magen ein Kribbeln entstehen ließ. Dann machte er einen Schritt zurück. „Weil es mir leidtut.“

„Was tut Ihnen leid?“, fragte sie ihrerseits verunsichert. Sie konnte mit der Situation nichts anfangen. Es war ihr, als würde sie vorgeführt werden. Und erntete zu ihrer Überraschung aus dem Handylautsprecher ein scharfes Einatmen.

„Das mit dem Date.“

„Das ist total süß von Ihnen“, sagte sie. „Seien Sie mir aber bitte nicht böse. Ich wollte nicht, dass jemand mein Gespräch mitbekommt.“

Ihr Gegenüber hob abwehrend die Hände, schluckte deutlich sichtbar, verlor sämtliche Farbe aus dem Gesicht. „Es tut mir wirklich leid.“

Veronica hob die Augenbrauen und traute der Sache nicht, die da über sie hereingebrochen war. Da war ein misstrauisches, aus Unsicherheit und Verletztheit geborenes Gefühl.

Das eben noch Verlegenheit ausstrahlende Lächeln auf den von einem Dreitagebart umrahmten Lippen wich ehrlich empfundener Panik.

Das Portemonnaie, das er mit der Tulpe festgehalten hatte, rutschte ihm aus den Händen, als er sich mit schnellen Worten „Ich wollte nicht stören“ verabschieden wollte. Eine Flut an Zetteln, Bildchen und Karten ergoss sich über den feinsäuberlich polierten Tisch.

Karten verschwanden in der Rosenvase.

Bilder trudelten auf die weiße Tischdecke.

Der Personalausweis landete in ihrem Wasserglas.

„Entschuldigung“, stieß er hastig hervor.

„O Mann“, lachte Veronica und hielt die Hand vor den Mund.

„Was ist los?“, wollte Angelina wissen.

„Ich werde gerade mit Kreditkarten beworfen“, kicherte Veronica und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Die heute Morgen einberufene Konferenz hatte sich unendlich in die Länge gezogen, und nun überforderte sie das hier gerade massiv. Sie wusste nicht, ob sie genervt oder heiter reagieren sollte.

Lachen oder weinen.

Sie starrte den in Hektik ausbrechenden Mann entgeistert an.

„Das wollte ich wirklich nicht“, sagte der entschuldigend und griff nach ihrem Teller mit der sorgsam am Rand platzierten Aiolicreme. Ein Foto hatte seinen neuen Platz daneben gefunden.

„Das wäre ja noch schöner gewesen“, zickte sie, ohne dass sie es wollte, um dann zu bemerken, dass sich das Bild in ihr Unterbewusstsein brannte. Es zeigte ein kleines Mädchen sowie eine auf einem Mauersims sitzende, mit halb geöffnetem Mund lächelnde Jugendliche, deren dunkles, dichtes Haar dem des Mannes glich, der die Fotografie rettete, indem er dem Teller aus Versehen einen Stoß versetzte und ihn in die Höhe springen ließ. Die Creme spritzte Veronica ins Gesicht und verteilte sich über ihre Bluse.

„Passen Sie doch auf“, schimpfte sie und griff nach der Serviette. Am liebsten wäre sie explodiert.

„Entschuldigung“, rief er wieder, nahm die Fotografie und tat etwas, das Veronica verwunderte. Da war diese Geste, die sich in ihr Hirn brannte und die sie nicht näher beschreiben konnte. Die ihr aber einen heißen, innigen Stich versetzte. So ähnlich fühlte sie sich, wenn sie an ihren eigenen Jungen dachte.

Er beschützt das Bild, dachte sie in einem Anflug verwirrten Interesses und beobachtete, wie der Mann es energisch an seiner Brust abwischte. Es ist ihm wichtig. Die zwei Mädchen sind ihm das Liebste auf der Welt.

Wären sie es dir nicht auch?, fragte plötzlich die Mutter in ihr, die sie seit elf Jahren war. Ich meine, hast du nicht die Kleine gesehen? Die mit den schwarzen Locken, den dunklen Augen und dem selten frechen, niedlichen, herzerweichenden Lächeln? Und das geblümte Kleid, in dem sie steckt? Komm schon, dieses Kind kannst du nicht übersehen haben. Wie niedlich es verschmitzt dasteht, die Hand auf dem Knie der Schwester, während die das Eis hält, das einen süßen Milchbart um ihre Lippen hinterlassen hat.

„Ich bin so ungeschickt“, entschuldigte sich der Mann und griff nach den verstreuten Unterlagen, Zetteln und Karten. „Das ist mir noch nie passiert.“

Veronica, noch immer von dem Foto fasziniert, das der Mann wie ein kleines Heiligtum in die Brusttasche seines Hemdes schob, schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang schneidend hart, als sie meinte: „Soll ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Nein, nein. Nicht nötig.“

„Sarkasmus kennen Sie auch nicht?“

„Äh.“

„Schon gut!“ Sie winkte ab. „Ich warte, bis Sie fertig sind.“

Als der Mann nach der Tulpe griff, sah Veronica ihn verwirrt an. „Die wollen Sie auch wieder mitnehmen?“

„Nicht?“

„Es war ein Geschenk.“ Sie musste lachen, fand es niedlich, wie ihrem Gegenüber die Schamesröte ins Gesicht schoss; wie er dastand, die Hand nach der Blume ausgestreckt, nicht sicher, was er tun und lassen sollte.

„Äh.“

Veronica hielt sich das Handy wieder ans Ohr und seufzte.

„Wie sprichst du eigentlich mit dem armen Kerl?“, fragte Angelina.

„Keine Ahnung!“, antwortete sie hilflos und verkniff es sich, hinterher zu schieben, dass sie ebenso unsicher war wie ihr Gegenüber.

„Wenn ich alles richtig verstanden habe, hat der dir gerade was schenken wollen.“

„Er hat mich mit Aioli bespritzt.“

„Er hat dir Aufmerksamkeit geschenkt!“, hielt ihre Freundin ihr entgegen. „Total lieb von ihm. Sei nett. Bedank dich, und wenn er weg ist, kannst du ihm gerne den Mittelfinger zeigen.“

„Ach, Angelina.“

„Was denn?“, wollte ihre Freundin wissen. „So wie du drauf bist, hast du gerade zehn Mittelfinger an deinen Händen.“

„Ich lege auf.“

„Mach das. Und“, schob Angelina nach, als Veronica gerade das Telefonat beenden wollte.

„Ja?“

„Sei lieb zu dem Typ. Er wollte nur freundlich sein. Was nicht oft vorkommt, habe ich mir sagen lassen, in dieser beschissenen, grausamen und von Egoisten regierten Welt.“

2

Am liebsten hätte sich Andreas geohrfeigt.

Allein dafür, dass er sich wie der letzte Trottel benommen hatte, wäre er gerne im Erdboden versunken. Dass er dann auch noch den Inhalt seines Portemonnaies über den ganzen Tisch der jungen Frau verstreute, hatte dem Fass den Boden ausgeschlagen.

Und das alles, weil ich freundlich sein wollte. Weil ich es nicht ertragen habe, dass sie da sitzt und ins Telefon plärrt, wie gemein die Welt ist und dass sie von den Männern verlassen worden ist. Ich bin ein Idiot. Ein Trottel. Ein Blödmann. Wäre ich doch bloß einfach weitergegangen. Ich hätte mich an meinen Platz gesetzt, hätte mir meine Pizza bestellt, meine Cola Light getrunken und mich über den kurzen Anflug der Ruhe gefreut. Aber nein, ich musste mich ja aufspielen. Ich musste so tun, als könnte ich mit einer einfachen Geste die Welt retten. Ich …

Hörst du dich eigentlich selbst manchmal reden?, fragte ihn eine nur zu vertraut klingende Stimme, die ihn immer dann heimsuchte, wenn er sich selbst beschimpfte und als größten evolutionären Fehler der Menschheit betrachtete. Du hättest weitergehen sollen? Einfach so? Während jemand in der Nähe traurig ist? Dazu noch eine Frau … die dir vom ersten Moment an, als du ins Lokal getreten bist, gefallen hat? Das passt nicht zu dir.

Andreas seufzte über sich selbst. Während er die Serviette in den Händen hin und her drehte, den Kopf gesenkt hielt, weil er glaubte, niemals wieder in das fein geschnittene Gesicht der dunkelhaarigen Frau blicken zu können, nickte er sich selbst zu.

Natürlich war es nicht seine Art, einfach an jemandem vorbeizugehen und ihn zu ignorieren, wenn er am Boden zerstört dasaß und meinte, von nichts und niemandem geliebt zu werden.

Schon in seiner Schulzeit war es ihm schwergefallen, Menschen ihrem Schicksal zu überlassen.

Mit vielen Jahren Abstand und dem Wissen von heute begriff er, warum er war, wie er war. Warum er Menschen nicht traurig sehen konnte.

Dabei kam ihm seine eigene Vergangenheit wie ein drohendes Schwert vor, das über ihm hing. Das herabzurasen drohte, während er daran dachte, wie er einst in den Hausflur getreten war, mit dem mulmigen, unsteten Wissen, einer nie gewollten Wendung gegenüberzustehen.

Eigentlich hat sich doch nichts geändert. Es sind noch immer die gleichen Geschichten. Oder?

Das zögerlich nachgeschobene Oder hatte eine so unangenehme Wirkung auf ihn und seine Gedanken, dass er bitter schlucken musste.

Du versuchst, dich abzulenken, mein Freund, sagte ihm plötzlich eine Stimme, die verdächtig nach seinem Bruder klang. Du willst nicht darüber nachdenken, dass dein Ego gerade einen weiteren Dämpfer bekommen hat, während du der festen Überzeugung warst, dass man durch Freundlichkeit alle Probleme lösen kann.

Am liebsten hätte er zu sich selbst gesagt Halt die Schnauze und tat es nicht, weil ein Schatten auf ihn fiel. Ein Schatten, wie er erschrocken feststellte, der zu einer schlanken, dunkelhaarigen Gestalt gehörte, auf deren Bluse ein beinahe handgroßer Aiolifleck zu sehen war.

Er schluckte.

In solchen Momenten, wo sich Probleme unaufhaltsam auf ihn zubewegten und er keine Chance fand, ihnen zu entkommen, wünschte er sich, auf einen Menschen zu treffen, der ebenso dachte und fühlte wie er. Der sah, dass er sich in einer Misere befand, aus der er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte.

Eine der Personen im Lokal könnte sich doch erheben und rufen: „Alter. Mensch, was machst du denn hier? Hab dich ja gar nicht gesehen. Komm, setz dich zu mir. Lass uns was zusammen trinken.“

So jemand tauchte aber nicht auf. Es blieb unangenehm still in dem von einer lauschig weichen, aus den gut versteckt angebrachten Boxen dringenden karibischen Musik erhellten Lokal.

Andreas lächelte unsicher.

Als er sah, wie die Frau von einem auf das andere Bein trat und dabei demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte, kam er nicht drumherum zu fragen: „Ja?“

„Man hat mir gesagt, ich sei unhöflich gewesen“, sagte sie barsch, sah an Andreas vorbei und presste die Lippen aufeinander. „Das soll jetzt keine Entschuldigung sein.“

„Natürlich nicht“, sagte er, nahm die Serviette und tupfte sich die Lippen.

„Ich war nur sehr ärgerlich.“

„Das hab ich gemerkt.“

„Sie waren sehr ungeschickt.“

„Ja.“

„Ich habe telefoniert.“

„Das war nicht zu überhören.“

„War ich zu laut?“, fragte sie mit einem Unterton in der Stimme, der ihr etwas Weiches verlieh. Die Härte verschwand, als sie die Augen aufriss und die Hand peinlich berührt vor den Mund nahm.

„Nein. Nur sehr deutlich“, versuchte er, ihre Unsicherheit nicht noch zu vergrößern.

„Wie peinlich!“

Andreas nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Passiert.“

„Aber warum denn immer mir?“, fragte sie und winkte ab. „Ich habe mich echt über Sie geärgert.“

„Was möchten Sie dann noch von mir? Ich habe mich entschuldigt.“

Mit der Frage hatte die Frau nicht gerechnet. Die Maske, die ihr nicht gestanden hatte, fiel plötzlich in sich zusammen. Plötzlich war da eine ihn studierende, weichgezeichnete Frau, die ihm viel besser gefiel.

Das längliche, von Schminke verdeckte Gesicht hatte plötzlich etwas Weiches, Zartes, das Andreas zum Lächeln brachte. So wie sie da vor ihm stand, den Mund leicht geöffnet, in den Augen einen erschrockenen Ausdruck, war es ihm, als könnte er kurz in ihr wahres Gesicht blicken.

Seine eben noch empfundene Scheu löste sich zum Teil auf und ließ ihn ein wenig Mut fassen. „Wenn Sie sich setzen wollen?“

Der Wunsch, jemand könnte ihn retten, regte sich erneut. Er deutete auf den freien Platz. „Ich habe schon bestellt.“ Es klang in seinen Ohren hilflos.

Sie zuckte mit den Schultern, musterte Andreas weiterhin. „Ich noch nicht.“

„Es stört mich nicht, wenn Sie sich dazu setzen“, meinte er und lächelte.

„Brot ist ja schon da“, sagte sie schulterzuckend und zog den Stuhl ein Stück zurück.

Erneut wirkte sie unsicher. Warum sie sich so verhielt, wusste Andreas nicht. Und wenn er ehrlich war, wollte er es auch gar nicht wissen.

Sie sieht nach Problemen aus, dachte er, während er weiterhin lächelte. Sie ist zu kompliziert. Zerdenkt alles, anstatt auf den Bauch zu hören. Sie sucht an Stellen nach Schwierigkeiten, wo gar keine sind.

Während ihm der eine oder andere Gedanke durch den Kopf huschte und er sich fragte, was die Frau mit ihrem plötzlichen Auftauchen bezweckte, begriff er erschrocken, dass sie ernsthaft dabei war, sein Angebot anzunehmen.

Obwohl er gar nicht lächeln geschweige denn so tun wollte, als wäre er glücklich über ihre Entscheidung, konnte er nicht über seinen Schatten springen. Dass viele Anfänge schwer waren – da musste er nur an die Arbeit an seinen Artikeln denken –, wusste er. Deshalb erhob er sich noch einmal und reichte der Frau die Hand.

„Andreas“, stellte er sich vor und war erleichtert, als sie ihn nicht zu eingehend musternd. Dass sie nicht versuchte herauszufinden, wer er war.

Sie griff nach seiner Hand. „Veronica, hi.“

„Schön dich …“, er zögerte, „Sie kennenzulernen.“

„Du ist schon okay, nachdem wir uns gegenseitig bekleckert und angeschimpft haben“, meinte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Und jetzt?“ Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, verschränkte die Hände ineinander und sah sich schulterzuckend um. „Was machen wir? Lernen wir uns kennen und fangen an, uns zu mögen?“

„Wäre die freundlichste Variante“, gab Andreas zurück. „Von der ich aber nicht ausgehe.“

„Hoffen wir mal, dass wir das irgendwie hinbekommen.“

„Zu wünschen wäre es uns ja.“

„Auf jeden Fall.“

„Gut.“

„Toll.“

Andreas hatte schon während sie sich setzte gewusst, dass ihm schnell die Gesprächsthemen ausgehen würden. Dass sich keinerlei Gemeinsamkeiten finden ließen, über die man zwanglos und oberflächlich reden konnte. Die ganze Situation hatte etwas so Verkrampftes, etwas unangenehm Steifes, dass er ernsthaft mit dem Gedanken spielte, ihr zu sagen, dass er auf die Toilette musste, um dann eiligst das Lokal zu verlassen. Eine ausgesprochen reizende und verführerische Vorstellung! Willst du wirklich so ein Arsch sein? So ein niederträchtiger, kleiner Penner, der eine Frau einfach so sitzen lässt? Nein, willst du nicht.

Andreas lächelte, während er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und sich entspannte, als er die Ruhe in sich spürte. Er nickte Veronica zu. „Was machst du in Hamburg? Du lebst nicht hier, oder?“

„Noch wohne ich in etwas außerhalb von Hamburg. Vielleicht bald hier. Überlege ich noch. Keine Ahnung, wie es weitergeht“, gab sie zur Antwort.

„Aber du arbeitest in Hamburg?“

„Ich bin frei angestellt und wegen eines Verlagstreffens hier. Und wie du mitbekommen hast, etwas unbeholfen, was das Daten angeht. Keine Ahnung, warum ich mir ausgerechnet hier jemanden suchen wollte.“

Andreas überging ihren Einwurf höflich. „Du schreibst?“

„Lektorat. Spannungsromane und so.“

„Klingt gut.“

„Ist gut. Und du? Was machst du so?“

„Journalist. In einer festen Redaktion. Ich habe gerade Mittagspause“, erzählte er schnell und war froh darüber, als die Kellnerin an den Tisch trat und Weißbrot, Dip und Besteck mit einem freundlichen Lächeln darauf platzierte.

„Danke“, sagte Andreas und sah Veronica an. „Möchtest du auch noch was?“

„Eine Cola. Light.“

„Auch was zu essen?“

„Da hab ich noch genug auf meiner Bluse“, sagte sie und hob dann die Hand. „Entschuldigung. Ich komme schlecht aus meiner Haut.“

Andreas schmunzelte. „Wie lange bleibst du in der Stadt?“

„Bis Freitag.“

„Schön.“

„Geht. Ich bin ungerne in einer großen Stadt.“

„Schlecht, wenn man hier vielleicht zu arbeiten beginnt.“

„Mein Dilemma.“

„Das Umland ist schön. Bergedorf zum Beispiel ist ein süßer, im Osten gelegener Stadtteil. Etwas dörflicher. Nicht so hektisch. Da kann man gut leben.“

„Weil du da lebst?“

„Ich wohne noch etwas weiter außerhalb. Im Speckgürtel. In Schleswig-Holstein.“

„Aha.“

Andreas suchte nach einem weiteren Gesprächsthema. „Du wohnst in einem Hotel?“

„Ja.“

„An der Alster?“

„Nein.“

„An der Elbe?“

„City. Heißt zwar Elbblick, aber warum erschließt sich mir nicht. Ich sehe gar keine Elbe.“

„Ist wohl nur der Versuch, irgendwie Hamburg-Feeling einzufangen“, sagte Andreas. Als Veronica schwieg und nur mit den Schultern zuckte, räusperte er sich. „Hast du Kinder?“

„Einen Sohn. Du hast zwei, wenn ich mich recht entsinne?“

Er nickte. „Marie und Jasmin. Vierzehn und sechs.“

„Meiner ist elf. Stephan.“

„Echte Männer machen Mädchen“, lachte Andreas. Es klang unecht.

„Verstehe ich nicht“, sagte Veronica, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, während ihre Fingernägel auf dem Tisch klickten, und schüttelte den Kopf, als Andreas zu einer Erklärung ansetzten wollte. „Schon gut. Ich verstehe sehr wohl. Ich fand es nur nicht lustig. Ich mag meinen Sohn.“

„Es war auch eher auf den Vater gemünzt.“

„Den mag ich nicht.“

Andreas kniff die Augen zusammen und versuchte, in ihrem noch immer starr wirkenden Gesicht zu lesen. „Geschieden?“

Sie hob eine Hand. „Da müssen wir nicht drüber reden. Das sollte sich eigentlich von allein erklären, oder? Ich hatte gedacht, ich habe heute ein Date.“

„Stimmt.“

„Ah, die Cola“, meinte Veronica schließlich, als die Kellnerin kam und Andreas eine Pizza brachte, deren Käse goldgelb zerlief und die Salami so bedeckte, dass sie kaum sichtbar durchschimmerte.

„Fettig“, sagte Veronica.

Andreas presste die Lippen aufeinander. Erst als er die Gabel und das Messer ergriff, zischte er: „Ich mag es.“

„Jedem das seine.“

Dabei warf sie einen kritischen Blick über den Tisch hinweg auf seinen kleinen, sich unter dem Hemd abzeichnenden Bauch. Andreas wusste, dass er in den letzten Jahren zugenommen hatte. Dass er sich ein wenig hatte gehen lassen. Sich hier und jetzt, vor einer Fremden, zu rechtfertigen, fiel ihm nicht ein. So schnitt er den Rand der Pizza ab, nahm ihn in die Hand und biss genüsslich hinein.

„Sei mir nicht böse. Aber ich glaube, ich sollte gehen …“ Als Veronica nach ihrem Portemonnaie griff und es schwungvoll einstecken wollte, ergoss sich ihrerseits der Inhalt über den Tisch: Kreditkarten, ein Personalausweis, Kleingeld.

„Dieser verdammte Knopf. Immer löst er sich“, sagte Veronica, ihrerseits peinlich berührt, die Ohren in ein, wie Andreas fand, niedliches Feuerrot getaucht.

Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Ich helfe dir. Die Hälfte von deinem Kram ist ja in meine Tasche gefallen.“

„Keine Umstände“, schnaufte Veronica. „Ich bekomme das schon ganz gut allein hin.“

„Keine Widerrede, ich helfe.“

Als er einige Geldstücke aus dem Inlay seiner Tasche gefingert hatte und die Schlüsselkarte ihres Hotelzimmers – 314 – in den Händen hielt, meinte er: „Das muss alles gewesen sein.“

Sie seufzte. „Ich habe wohl auch alles. Sollte so stimmen.“ Damit warf sie einen Zehneuroschein auf den Tisch.

„Ich bezahle deine Cola“, bot er an.

„Musst du nicht. Ich bin schon ein großes Mädchen.“ Damit stöckelte sie an ihm vorbei in Richtung Toilette. Andreas atmete erleichtert aus und hoffte, dieser Frau niemals wieder im Leben zu begegnen.

3

„Ich bin echt nicht der Typ, der sich beschwert“, murmelte Andreas, während er fluchtartig die Straße überquerte und aus dem Augenwinkel sah, wie ein Wagen in rasender Fahrt auf ihn zuhielt. „Aber das heute geht auf echt keine Kuhhaut. Karl, das hast du noch nicht erlebt!“

Er redete nicht gerne öffentlich und schon gar nicht laut am Handy über seine Probleme. Jetzt ging es nicht anders. Er musste über Veronica reden.

Ihre Art, die Kühle, das Distanzierte, irritierten ihn. Sie hatte etwas von einem Menschen, der keinen Riss in seiner hochgezogenen Fassade duldete. Und gerade wegen seiner Unsicherheit hatte Andreas sich nicht anders zu helfen gewusst, als seinen Bruder anzurufen.

„Was ist denn passiert?“, wollte Karl wissen und riss Andreas aus seinen Gedanken. Gedanken, die sich um ihn drehten, seine Vergangenheit, das stetige Gefühl der völligen Überforderung.

„Ich habe da eine Frau getroffen, die mich gefragt hat, ob ich immer so bin, wie ich bin.“

„Und was hast du gesagt? Ja, das bin ich?“

„Blödmann!“

„Was denn?“, lachte Karl, während irgendetwas im Hintergrund knarrte. Vermutlich sein Schreibtischstuhl. „Ist doch nichts Schlimmes.“

„Sie hat mich total aus dem Konzept gebracht. Ich war wieder so unsicher. Ich hasse das. Ich hatte richtig zitternde Knie. Ach Mann.“ Andreas seufzte. „Ich hatte einen Flashback. Fühlte mich wieder so klein und hilflos.“

„Wenn du jetzt unbedeutend sagst, weißt du, was auf dich losgelassen wird!“

„Ja, ja, deine quietschende Gewissensstimme, die ich hasse.“

„Die wird dich verfolgen und fertig machen. Du sollst dir nicht solch einen Scheiß einreden“, sagte Karl ernst.

„Ja.“

„Nachher glaubst du den Dreck noch, den du dir da selbst an den Kopf wirfst.“

„Hm“, machte Andreas nur. Er nickte schuldbewusst, presste die Lippen aufeinander, und wünschte sich plötzlich meilenweit weg. Irgendwohin, wo es still war.

„Wie kommst du auf den Scheiß, so etwas von dir zu denken? Alter, hast du einmal an die Mädchen gedacht? Was sollen die denn von dir halten, wenn du ihnen so etwas beim Abendessen erzählst?“ Karl setzte seine Drohung in die Tat um. „Papa ist der größte Loser auf der ganzen weiten Welt“, sagte er mit besagter, quietschender Gewissensstimme. „Ihr habt echt Glück, mit solch einem Verlierer verwandt zu sein. So könnt ihr euch einmal angucken, wie ihr ganz bestimmt nicht werden wollt.“

„Hab verstanden.“

„Loser sind nur dafür da, um kopfüber in die Toilette gehängt zu werden.“

Andreas steuerte einen kleinen, in einem Eckhaus untergebrachten Drogeriemarkt an und stutzte, als Karl plötzlich meinte: „Karl ist genauso blöd. Der hat sich mal wieder mit Carola zerstritten.“

„Das tut mir leid“, sagte Andreas.

„Es ist, wie es ist. Mal sehen, was es wird. Will mit ihr nach Sizilien, wohin ich das Verlagstreffen verlegt habe. Dachte, es wäre eine tolle Idee. Fand sie nicht. Sie denkt, ich würde lieber arbeiten, als mit ihr zusammen zu sein. Dabei haben Richter und ich vieles neu zu strukturieren und zu organisieren. Außerdem möchte ich meine langjährige Lektorin überreden, endlich fest bei mir anzufangen. Ohne die wäre ich hier echt aufgeschmissen. Aber sie zögert noch. Na ja, und Carola meint, sie will nicht mit mir nach Sizilien, während ich an einer hübschen Lektorin herumbaggere, damit sie für mich arbeitet.“ Er seufzte. „Mal sehen, ob sie mitkommt. Gebucht habe ich schon alles und bezahlt auch.“ Dann lachte er bitter. „Sollte mein Versöhnungsversuch scheitern, kannst du ja mit deinen Kids fliegen.“

„Jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Dir alles Gute wünschen oder mir?“

Karl lachte. „Wir werden sehen. Also, sag, was ist es, das dich so fertig macht?“

„Es ist nur … ich habe zurzeit das Gefühl, dass mir alles entgleitet. Marie ist so groß geworden. So …“

„… erwachsen“, beendete sein Bruder den Satz.

„Ja.“

„Das ist der Lauf der Zeit.“

„Alter“ Andreas schüttelte den Kopf, während er an den Vorfall am vergangenen Abend dachte. „Sie hat mir gesagt, dass sie einen neuen BH braucht.“

„Ja und? Sie hat doch Brüste.“

„Ich habe gefragt weswegen!“

Schweigen.

„Ich habe sie gefragt, weswegen sie einen neuen BH braucht. Mensch, ich habe doch Augen im Kopf und kann selbst sehen, was da alles wächst!“

„Du bist halt ein Idiot.“ Karl lachte.

„Sag ich doch!“

„Ich darf das sagen. Du nicht!“

„Wieso?“

„Weil ich dein großer Bruder bin, deshalb“, brachte Karl das Totschlagargument Nummer eins. Andreas atmete genervt aus und riss gleichzeitig die Tür der Getränkekühlung auf. Er nahm sich eine Schorle heraus, betrachtete sie missmutig und überleget sich, dass er gar keine Lust auf was Fruchtiges hatte.

„Lass dir keine grauen Haare wachsen“, sagte Karl. „Manchmal gerät man an die falschen Menschen. Ist so. Back dir ein Ei drauf.“

„Mich ärgert so, dass ich gedacht habe, wenn ich sie anspreche und nett zu ihr bin, würde ich ihr was Gutes tun. Aber wirklich ernstgenommen hat sie mich nicht.“

„Ich finde gut, dass du sie wirklich angesprochen hast. Auch wenn es etwas nach hinten losgegangen ist. Alles ist besser als deine Einsamkeit, seit damals, als Karin euch …“

„Schon gut“, sagte Andreas heiser und hob den Finger in Richtung Kassiererin, nachdem er bemerkt hatte, dass er kein Bargeld bei sich hatte. „Mit Karte bitte.“

„Nur bei einem Einkauf ab zehn Euro“, sagte die freundlich lächelnde, junge Frau mit den blonden Haaren, deren Fingernägel ungewöhnlich lang und unangenehm künstlich aussahen.

„Okay, dann nehme ich noch …“, sagte Andreas, drehte sich herum und suchte fieberhaft nach etwas, das er noch gebrauchen könnte. Er bat die Kassiererin um Entschuldigung, als er um die Kasse herum ging, für Marie zwei Proteinriegel und für Jasmin eine Figur kaufte, die vier ihre Lieblingsfernsehserienfolgen abspielte.

„Jetzt sollte es passen“, sagte er zu der Kassiererin, die die Ware über den Scanner zog.

„Wir müssen dein Selbstvertrauen aufbauen“, meinte Karl plötzlich und wechselte damit auf eine unangenehme Ebene. „Ich habe dir schon mehrmals angeboten, für mich zu schreiben.“

„Jahaaa“, sagte Andreas, der es nicht übers Herz brachte, seinem Bruder zu sagen, dass die Art der Geschichten, die er verlegte, nicht ganz das Spektrum abdeckte, in dem er erzählen wollte. Allein der Gedanke daran, dass er irgendwelche Horrorgeschichten, Western oder Sci-Fi-Romane schreiben sollte, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. In all diese Genres, all diese Themengebiete fiel nicht das, was er sich unter einer guten, tiefgehenden und interessanten Geschichte vorstellte. Das, was er brauchte, waren Figuren und Menschen, mit denen er fühlen, leiden und einen gemeinsamen Weg gehen konnte.

„Die PIN bitte“, sagte die junge Frau, während Andreas noch immer nach einer Ausrede suchte, um das Angebot seines Bruders schonend aber bestimmt abzulehnen.

„Ich habe in der Redaktion echt viel zu tun“, sagte er. Was nicht gelogen war. „Ich hätte gar keine Zeit für einen Roman.“

„Ich baue eine Abteilung mit Short Storys auf. So siebzig bis achtzig Normseiten. Mehr nicht. Sollte für einen Schreiberling wie dich doch leicht und locker zu schaffen sein.“

„Die PIN war falsch.“

„Entschuldigung.“ Erneut gab er seine vier Ziffern ein. „Ich schreibe keinen Horror oder Sci-Fi, Karl.“

„Das sind frei wählbare Short Storys. So ein bisschen Krämerladen, wenn du verstehst, was ich meine. Genres spielen keine Rolle. Was meinst du? Eine kleine Lovestory oder ein Schicksalsroman wäre doch was für dich. Und dich würde ich sogar am Verkauf beteiligen und die dazu gehörende kleine Garantiesumme sofort überweisen. Was sagst du?“

„Wieder falsch“, sagte die junge Frau.

„Kann doch nicht sein.“ Andreas betrachtete das VISA-Zeichen der im Lesegerät steckenden Kreditkarte und schüttelte dann den Kopf, als er sie wieder hervorzog. „Ist ja komisch. Aber die Nummer ist doch immer …“ Er ging die einzelnen Ziffern noch einmal durch, die er sonst immer eintippte. „Die muss richtig sein.“

„Vielleicht vertauscht. Das kommt manchmal vor“, sagte die Kassiererin noch immer freundlich.

„Vielleicht“, Sein Blick fiel auf den in die Karte eingestanzten Namen. „Scheiße.“

Veronica Wyss.