Leseprobe Mein Leben mit Anna von IKEA – Verlobung

Freitag, 01. Dezember

Weihnachten ist ein Fest der Freude.
Leider wird dabei zu wenig gelacht.
Jean-Paul Sartre, französischer Schriftsteller

Da hängt er nun. Und verhöhnt mich mit seiner ganzen unerbittlichen Pracht. Anna steht daneben und lächelt erwartungsvoll.

Und was hab ich? Nichts. Nada. Oder inget, wie man auf Schwedisch sagt.

Klar, ich hatte eine Menge zu tun, erst mein Umzug aus Deutschland nach Göteborg, dann die Eröffnung unseres kleinen Bed & Breakfasts und schließlich habe ich ja noch einen Job bei Kemal Industries, dem Klempner-Fliesenleger-Dachdecker-Konglomerat meines Freundes Kemal, der ständig neue Geschäftsideen hat, für die er Werbekampagnen benötigt.

Andererseits hatte Anna die letzten Tage auch sehr viel um ihre hübschen Ohren, irgendeine Projektwoche in ihrer Schule für irgendeine Klimakonferenz, die wahrscheinlich irgendetwas beschließt, das am Anfang alle ganz toll finden und an das sich am Ende trotzdem niemand hält.

»Gefällt er dir nicht?«, fragt Anna und schaut mich immer noch lächelnd, aber mit einer Spur von Skepsis an.

»Doch, doch«, sage ich. »Er ist super.«

Genaugenommen ist er viel zu super, ihr Adventskalender. Eine mit grünem Flies bezogene, s-förmige Stange, an der vierundzwanzig kleine Geschenke hängen und wie es sich in Schweden bei Weihnachtsgeschenken gehört, alle mit einem persönlichen Wachssiegel verschlossen.

Und ich hab inget.

Aber vielleicht stelle ich uns erst einmal vor. Ich bin Matthias Käfer, Mitte dreißig, ehemaliger Bankkaufmann, ehemaliger Single und ehemaliger Oggersheimer.

Anna habe ich in Deutschland bei IKEA kennengelernt – sowohl virtuell wie auch in echt – und als sie nach Schweden zurückgezogen ist, weil sie dort als Deutschlehrerin arbeiten konnte, bin ich einfach mitgegangen.

Okay, ganz so schnell und unkompliziert lief es nicht, aber inzwischen sind wir – Matthias Käfer und Anna Svenson – ein glückliches Paar.

Bis eben.

Denn jetzt steht sie mit diesem perfekten Adventskalender vor mir und mein schlechtes Gewissen frisst mich auf.

Schließlich hatte Anna mir mehrere Winke mit dem Zaunpfahl, dem Gartentor und der Garage gegeben, dass sie sich einen Adventskalender wünscht. Und ich hab das erstens verstanden – aus meiner Sicht eine beachtliche Leistung für einen Mann – und es mir zweitens aufgeschrieben, hab sogar drittens drei Kringel darum gemacht und es viertens dann wieder vergessen.

Das liegt daran, dass ich mich voll auf Annas Weihnachtsgeschenk konzentriert habe. Aber das kann ich jetzt schlecht als Ersatz oder Ausrede verwenden.

Außerdem gab es, als ich noch ein Kind war, bei uns daheim in Ludwigshafen-Oggersheim immer nur die Adventskalender aus dem Aldi für 89 Pfennige. Deren einziger Reiz bestand darin, herauszufinden, welches Motiv sich heute hinter dem Türchen versteckt. Klar, da war auch Schokolade drinnen, aber die schmeckte wie aus hinterrücks eingeschmolzenen Osterhasen hergestellt. Was wahrscheinlich auch so war. Hätte man so einen 89-Pfennig-Adventskalender damals seiner Freundin geschenkt, hätte die einen sofort vor den Europäischen Gerichtshof für Frauenrechte geschleppt und dann Schluss gemacht.

Deswegen war von Anfang an klar, dass ich Anna keinen Adventskalender kaufen kann. Dummerweise bin ich in diesem Stadium der Problemlösung steckengeblieben und hab mich neuen Aufgaben gewidmet.

Ich blicke wieder auf ihren Adventskalender für mich und versuche, dankbar zu lächeln.

»Willst du nicht das erste Türchen öffnen?«, fragt Anna.

Ich nicke, nehme das Päckchen mit der Nummer eins, es ist flach und groß wie ein Teller. Das Wachssiegel darauf besteht aus einem Geschirrspüler, der von einem Herzchen umrahmt ist.

»Das ist ja kreativ«, sage ich und fühle mich gleich noch schlechter.

Anna hat sich trotz all ihrem Stress Zeit für mich genommen.

Ich löse das Siegel ab, öffne die Geschenkverpackung und halte eine Vinyl-Platte von Boney M. in den Händen, das Christmas Album in der schwedischen Ausgabe.

»Und was hast du für mich?«, fragt Anna und blickt mich so erwartungsvoll wie ahnungslos an. Ich liebe diesen Blick eigentlich, doch nur dann, wenn ich auch etwas anzubieten habe.

Aber ich habe ja nur inget.

In meiner Panik reiche ich Anna einen Umschlag.

Schon im nächsten Moment ahne ich, dass es ein Fehler ist.

»Ist das ein Gutschein?«, fragt Anna.

Bevor ich antworten kann, hat sie den Umschlag schon geöffnet. »Eine Rechnung?« Sie blickt mich konsterniert an. »Für Damenunterwäsche?« Sie deutet auf den Umschlag. »Hast du die gesammelt und ich bekomme jetzt jeden Tag eine? Und dann an Heiligabend einen Offenbarungseid?«

»Du hast gefragt, ob ich was für dich habe«, antworte ich kleinlaut. »Und die Damenunterwäsche ist wohl kaum für mich.«

»Die hab ja auch ich bestellt.« Sie schüttelt den Kopf. »Erinnerst du dich noch, als du mich vor ein paar Wochen gefragt hast, was ich mir zu Weihnachten wünsche?«

Ich nicke und schaue sie zerknirscht an. »Du hast gesagt, du wünschst dir nichts, aber ein Adventskalender wäre schön.«

»Daran erinnerst du dich also?«

»Ja, aber ich hab glatt vergessen, dass schon Advent ist.« Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. »Liegt ja hier schon seit September Schnee.«

»Der war im Oktober wieder weg.«

»Ja, aber nur für zwei Tage.« Ich mag Schweden wirklich, aber das Wetter ist echt eine Katastrophe, wenn man nicht auf Schneematsch, vereiste Autoscheiben und abgefrorene Zehen steht. Ich dürfte das Anna gegenüber ja nie sagen, aber im speziellen Fall von Schweden finde ich die globale Erwärmung gar nicht so schlimm.

»Du hast also nichts für mich?«, fragt sie und zieht eine enttäuschte Schnute.

»Ich schenke dir morgen einen Adventskalender«, sage ich und nehme sie in den Arm. »Und das Beste daran ist, dass du dann gleich zwei Türchen auf einmal aufmachen darfst.«

Und dann endlich lächelt Anna zufrieden.

Samstag, 02. Dezember

Auch beim Streichholz ist das Wichtigste der Kopf.
Klaus Peter Erxleben, Werbeprofi

Obwohl heute Samstag ist, muss Anna zur Arbeit, denn wie sie mir am Morgen extra noch einmal erklärt hat, leitet sie die Aktion der schwedischen Schulen zur demnächst in Grönland stattfindenden Weltklimakonferenz. Zwar würde ich mich freuen, wenn die anwesenden Politiker an der Meinung schwedischer Schüler interessiert wären, aber wahrscheinlich hören die lieber auf die Meinung der schwedischen oder deutschen Autoindustrie. Aber vielleicht wird ja aus einem der Schüler mal ein Politiker, der nicht vergisst, wo er herkommt und wofür er einmal eingestanden ist.

Allein schon deswegen unterstütze ich Anna.

Außerdem bleibt mir so der ganze Tag, um ihren Adventskalender zu basteln.

Und der muss gut werden, denn in meinem Türchen habe ich heute Morgen ein Bio-Rasierwasser gefunden, in einem edlen gläsernen Flacon. Nun könnte man sich fragen, warum Rasierwasser biologisch sein muss, schließlich will ich das Zeug nicht essen, aber seit die Kosmetikindustrie angefangen hat, Aluminium, Plastikteilchen und Mineralöle in allen möglichen Produkten zu verwenden, bleibt einem offensichtlich nur Bio-Kosmetik, wenn man nicht herumlaufen möchte wie ein wandelndes Chemiewerk.

Kaum hat Anna die Wohnung verlassen, gehe ich in den Keller und hole einen Umzugskarton hervor, der seit zwanzig Jahren verschlossen ist. Trotz mehrerer zwischenzeitlicher Umzüge weiß ich noch genau, was sich darin befindet. Ich stelle den Karton auf den Werktisch, blase den Staub vom Deckel und öffne ihn. Mein Herz pocht. Als ich diesen Karton verschlossen habe, war ich noch jung und unbedarft.

Jetzt bin ich nur noch unbedarft.

Jedenfalls versprüht dieser Karton einen Hauch Geschichte. In Deutschland gab es nämlich zwischen 1930 und 1983 ein Zündholzmonopol. Beim Abschluss des entsprechenden Vertrages war Deutschland hochverschuldet und der Preis für den Kredit des schwedischen Industriellen Ivar Kreuger bestand darin, dass es 53 Jahre lang erst im Deutschen Reich und dann in Westdeutschland nur noch Welthölzer zu kaufen gab.

Weil ich vor zwanzig Jahren angesichts der soundso vielten Finanzkrise vermutet habe, dass es aufgrund der Überschuldung in Europa erneut zu einem Zündholzmonopol kommt, habe ich damals bei einem Sonderangebot zugeschlagen und diesen Umzugskarton mit Streichhölzern gefüllt.

Im Nachhinein betrachtet vielleicht ein etwas gewagtes Investment, insbesondere für einen Fünfzehnjährigen, aber hätte ich stattdessen in Aktien der deutschen Telekom investiert, besäße ich jetzt nur noch einen Bruchteil meiner Anlage, während mein Zündholzbestand stabil geblieben ist. Und aus denen werde ich jetzt einen Adventskalender bauen, der Anna umhauen wird.

Jedenfalls, wenn keine Borkenkäfer die Zündhölzer verspeist haben.

Schnell öffne ich den Karton, blicke freudig auf die unzähligen Weltholzverpackungen, die mangels Sonne kaum verblichen sind, öffne eine und halte perfekt aussehende Zündhölzer in meinen Händen. Ich mache die Becker-Faust, würde im Überschwang am liebsten eines der Dinger anzünden, doch ich kenne mich zu gut und halte mich zurück. Wahrscheinlich brennen die gut getrockneten Zündhölzer wie Zunder.

Daher beschließe ich, erst einmal im feuerfesten Keller zu bleiben und erst am Ende alles nach oben zu transportieren.

Damit ich nicht wieder mit inget dastehe.

Zum Glück weiß ich schon, was ich baue: Annas Lieblingsort in Göteborg, die Fischkirche. Genaugenommen heißt das Gebäude Feskekörka und ist eine Fischmarkthalle, aber weil sie im Stil einer gotischen Kirche gebaut wurde, sagt man im Volksmund eben Fischkirche dazu.

Aber selbst wenn es eine Kirche für Fische wäre, fände ich das immer noch besser, als eine von einem Science-Fiction-Autor gebaute, in der prominente Hollywood-Schauspieler irgendwelchen Unsinn erzählen, um möglichst einfältigen Leuten möglichst viel Geld abzuknöpfen.

Angesichts meines Baumaterials wäre es sicher passender gewesen, den Zündholzpalast in Stockholm nachzubauen, aber Anna mag nun mal die Fischkirche und so bekommt sie diese. Außerdem passen die hellen Klinkersteine der Fischkirche perfekt zu meinen Zündhölzern und sie ist relativ einfach aufgebaut: Sie sieht aus wie ein Kirchenschiff mit großen erkerähnlichen Rundbogenfenstern an den Seiten. Einen Turm besitzt sie keinen, dafür mehrere kleine Dachspitzen, die wie der Aufsatz auf einer Pickelhaube aussehen. Lediglich die Anzahl der Fenster muss ich von sieben auf jeder Längsseite erhöhen, sodass mein Nachbau vierundzwanzig Fenster haben wird, für jeden Tag eines.

Und das Beste ist, für die Kirche gibt es eine Bauanleitung im Internet, mit der das angeblich sogar Achtjährige hinbekommen.

Also traue ich mir das auch zu, lege die am Morgen heimlich ausgedruckte Anleitung auf den Kellertisch und fange an, die ersten Zündhölzer zusammenzuleimen. Das klappt überraschend gut und als ich nach einer Stunde das Fundament gelegt habe, bin ich fast ein wenig stolz. Zwar kleben meine Finger aneinander, als wären Magnete dort eingebaut und der Holzleim ist ausgegangen, aber nachdem ich die Hände gewaschen und den nächsten Baumarkt glücklich gemacht habe, geht es sofort weiter.

Beziehungsweise würde es, wenn nicht gerade mein Handy klingeln würde. Es ist Kemal, mein Chef.

Noch mal zur Erinnerung: Wir haben Samstag.

Wochenende.

***

Ich mag Kemal ja gerne, aber seine diversen Diversifikationsprojekte haben mich in letzter Zeit ziemlich gestresst. Ihm reicht es nicht mehr, erfolgreicher Klempner, Fliesenleger und Dachdecker zu sein, er will jetzt die große weite Welt erobern. Es fing mit einem Vor-Ort-Autoreparaturservice an, dann kam eine Fladenbrot-Bäckerei hinzu und schließlich noch ein Ayran-Lieferservice, mit dem von mir erfundenen – aber sicherlich verbesserungswürdigen – Slogan: Frischer Ayran, so schnell wie aus dem Wasserhahn.

Kreativität braucht eben ihre Zeit und die wollte Kemal mir immer weniger geben, weil er stets schon mit der nächsten Idee um die Ecke kam.

Ich beschließe, dass ich mir seinen neuen Geistesblitz auch noch am Montag anhören kann und lasse das Telefon klingeln, bis es aufgibt.

Während ich weiter an meiner Streichholzfischkirche baue, ziehen die Stunden an mir vorbei wie beim Binge-Watching einer spannenden Fernsehserie. Plötzlich ist es schon Nachmittag, ich habe noch nichts gegessen und es stehen schon alle vier Wände der Fischkirche. Nur noch das Dach fehlt.

Ich lege eine kurze Pause ein, backe mir ein paar der wirklich leckeren Fladenbrote auf, die Kemal mir vor ein paar Tagen zugesendet hat, trinke schmackhaften Ayran dazu und dann geht es weiter. Ich überzeuge mich, dass die Wände meiner Kirche ausgehärtet sind und fange an, die Stützen für das Dach zu verlegen, die ich gemäß Bauanleitung zuvor zusammengeklebt habe.

Zwei Stunden später, als ich gerade das Dach auf mein Gebäude setze, sendet Anna mir eine SMS. Sie habe noch einen alten Freund getroffen und komme erst am Abend heim.

Das passt super, denn dann bin ich mit Sicherheit fertig.

Ich verleime das Dach und lasse auch dieses aushärten. Lediglich die kleinen Spitzen auf jedem Erker und dem Dach fehlen jetzt noch, aber die soll man gemäß Anleitung erst aufsetzen, wenn alles ganz stabil steht. Sie bestehen ohnehin nur aus jeweils einem Zündholz, da kann kaum mehr etwas schiefgehen.

Also gehe ich nach oben in die Küche und forme die Wachssiegel für jedes Geschenk aus einem alten Kinderstempel von Anna, der aussieht wie eine Schwarzwälder Kirschtorte. Früher hätte ich das sicher auch im Keller erledigt, aber inzwischen bin ich vorsichtiger geworden, weil ich weiß, dass meine Schusseligkeit und die leichte Entflammbarkeit des Bauwerks keine gute Kombination sind.

Jetzt fehlen nur noch die Geschenke selbst. Im Wesentlichen bestehen sie aus Geschenkpapier.

Ich muss zugeben, das wäre recht suboptimal, würde auf dem Geschenkpapier nicht noch etwas draufstehen.

Nämlich je ein Gedicht. Die habe ich in den letzten Wochen für Anna geschrieben, mich aber nie getraut, sie ihr vorzulesen. In jedes der Gedichte packe ich Mannemer Dreck, ein auf Oblaten gebackener und mit Schokolade überzogener Lebkuchen aus meiner Heimat, der deutlich besser schmeckt, als sein Name vermuten lässt. Ich hätte hier gerne mehr variiert, aber in einem klassischen Adventskalender ist ja auch immer nur Schokolade drinnen und außerdem ist das Gedicht das eigentliche Geschenk.

Erst als das Wachs der Geschenksiegel so kalt ist wie das Herz von Donald Trump, gehe ich wieder in den feuerfesten Keller und lege die Geschenke in den Turm. Ich finde, alles sieht perfekt aus und bin sicher, Anna ist stolz auf mich.

Jetzt fehlen nur noch die Spitzen auf jedem Dachgiebel über den Fenstern und auf dem Hauptdach.

Ich bin gerade dabei, mit spitzen Fingern das vorletzte Streichholz zu platzieren, als mein Taschentelefon piept. Anna schreibt, sie ist in fünf Minuten daheim, ich schaue auf die Uhr. Verdammt es ist schon Abend! Jetzt muss ich mich aber beeilen, schließlich muss ich noch die Fischkirche verlustfrei in die Wohnung tragen.

Hastig nehme ich ein Streichholz für die letzte Dachspitze aus der Packung, komme dabei mit dem Kopf an die Reibfläche, entzünde das Zündholz, will es mit einer schnellen Bewegung wegwerfen, doch es bleibt an meinen klebrigen Händen hängen, was ich erst bemerke, als ich ein wenig zu nah an die Fischkirche komme.

Der Rest ist ein einziger Feuersturm auf dem Tisch vor mir und in meinem Herzen.

Ersteren kann ich mit dem Feuerlöscher und meinen Tränen löschen, den zweiten nicht.

Im nächsten Moment sehe ich durch das Kellerfenster Anna zur Haustür gehen.

Ich renne die Treppe nach oben, kann im Flur gerade noch die Kellertür schließen und höre hinter der Haustür schon Anna mit dem Schlüssel rascheln.

Schnell renne ich nach oben in die Wohnung, schließe die Tür und wische mir die Tränen aus den Augen.

Ich höre, wie Anna die Treppe hochkommt und öffne die Wohnungstür wieder.

Schon beim Begrüßungskuss fallen ihr meine roten Augen auf. »Was ist denn passiert?«

Wenn ich ihr von dem abgebrannten Turm erzähle, ist die Überraschung verdorben und ich kann ihr den Turm morgen nicht mehr bauen. Also zucke ich nur mit den Schultern. »Hab Zwiebeln geschnitten.«

»Hast du was zu essen gekocht?« Sie rümpft ihre Nase. »Hat es deswegen im Treppenhaus so verbrannt gerochen?«

»Nein, ich dachte, ich schneid die Zwiebeln einfach schon mal vor.«

Anna blickt mich skeptisch an. »Und was hast du so den ganzen Tag gemacht?«

»Na, Zwiebeln geschnitten.« Ich merke selbst, dass dies jetzt nicht gerade die beste Ausrede ist. »Und ich hab mir überlegt, was ich alles in den Adventskalender packen könnte.«

Jetzt lächelt sie. »Du hast einen Adventskalender für mich?«

»Man wartet nie zu lange, wenn man auf etwas Gutes wartet«, antworte ich mit einem schwedischen Sprichwort, das wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation wie meiner erfunden wurde. »Morgen ist er fertig«, sage ich schließlich und lege meinen Arm um Annas Schulter. »Und das Beste daran ist, dass du dann gleich drei Türchen auf einmal aufmachen darfst.«

Anna lächelt, aber selbst ich merke, sie ist nicht mehr ganz so zufrieden.

Sonntag, 03. Dezember, 1. Advent

Der, der keine Hose hat, muss mit dem nackten Popo gehen.
Schwedisches Sprichwort

Früh am Morgen werde ich von Kemals Anruf geweckt. Ich drücke ihn einfach weg, schließlich ist Montag auch noch ein Tag. In der Nacht ist mir eingefallen, dass ich nicht mehr genügend Streichhölzer besitze, um die gesamte Fischkirche erneut zu bauen. Und weil Sonntag ist, kann ich auch keine einkaufen.

Obwohl es immer noch dunkel ist, stehe ich auf, in der Hoffnung, dass mir eine Lösung für das Adventskalenderproblem einfällt.

Weil dem nicht so ist, mache ich das Frühstück, bringe es Anna ans Bett und stelle ein brennendes Teelicht für den ersten Advent auf das Tablett.

Dann kuschle ich mich noch mal an Anna, denn wenn wir gar nicht erst aufstehen, muss ich meinen Adventskalender nicht öffnen und die Frage nach ihrem bleibt vielleicht aus.

Okay, das ist eher so ein Plan, den Fünfjährige als perfekt bezeichnen würden und spätestens, als Anna fragt, was wir denn heute machen, wird auch mir klar, dass er nicht aufgehen wird.

»Wir könnten auf einen Flohmarkt gehen«, sagt sie.

»Es ist dunkel und kalt«, antworte ich. »Außerdem sind wir schon zu spät für die besten Angebote.«

»Deswegen beginnt der Flohmarkt erst um vierzehn Uhr«, entgegnet sie. »Das ist weniger Stress für alle Beteiligten.«

»Aber kalt ist es trotzdem«, sage ich und ziehe die Decke über meinen Kopf.

»Es ist aber spannend«, sagt sie. »Der Flohmarkt ist nämlich für Besucher bis vierzehn Uhr abgesperrt und erst wenn der Startschuss ertönt, rennen alle los und schauen nach dem besten Angebot.«

»Ich bin dabei«, sage ich und richte mich auf.

Anna schaut mich verdutzt an, doch dann gibt sie mir einen Kuss und lächelt.

Den restlichen Morgen verbringen Anna und ich damit, eine Anzeige für unser Bed & Breakfast in mehreren Reiseportalen aufzugeben. Wir haben es letzte Woche eröffnet, um ein paar internationale Gäste anzulocken, und so die Welt zu uns zu holen, weil wir wegen Annas Job als Lehrerin die meiste Zeit im Jahr nicht zu dieser kommen können. Selbst ich bin moderner geworden und habe mir neben einem Laptop sogar einen Spielzeugroboter angeschafft, der den Gästen das Frühstück ans Bett bringt. Denn wenn ich das machen würde, wäre das wahrscheinlich eher unpassend.

Unser Bed & Breakfast besteht nur aus einem Zimmer, womit es das kleinste Hotel von Göteborg ist. Und wahrscheinlich auch das erfolgloseste, denn bisher hat noch niemand bei uns gebucht.

Verständlich, wie ich finde, denn ich würde im Winter auch nicht nach Schweden fahren, jedenfalls nicht ohne Polarausrüstung. Erst recht nicht nach Göteborg, wo man nicht mal Skifahren kann, jedenfalls nicht in der Altstadt, wo wir wohnen.

Bevor wir gehen, packe ich an der Adventskalenderstange noch eine leckere Schweizer Schokolade aus. Ich breche eine Schokorippe ab und teile sie mit Anna. Trotzdem hab ich dabei wieder ein richtig schlechtes Gewissen.

Heute muss es endlich klappen, sonst hält Anna mich noch für einen unzuverlässigen Versager.

Viel zu früh fahren wir mit einem Carsharing-Smart zum Flohmarkt, was an mir liegt, denn ich möchte aus diversen Gründen möglichst nah am Eingang parken.

Dies gelingt so einigermaßen, denn offensichtlich hatten viele denselben Plan. Als wir an den mit einem langen Seil abgesperrten Eingang des Flohmarkts kommen, ergattern wir immerhin einen Platz in der zweiten Reihe. Ich überrede Anna, dass wir getrennt ausschwärmen, weil wir dann doppelt so hohe Chancen auf ein tolles Angebot haben. Sie findet das zwar unromantisch, aber als sie sieht, dass die Konkurrenz schon mit Ferngläsern nach den besten Objekten Ausschau hält, willigt sie ein.

Zumal ich auch mit einem Fernglas dastehe, was ich für eine außerordentlich geniale Idee gehalten habe, bis ich sah, dass es fast alle so machen. Aber das ändert nichts an meinem Plan, eine möglichst antike und möglichst kleine Kommode mit möglichst vierundzwanzig Fächern zu ersteigern, diese heimlich im Smart zu verfrachten und daheim Anna damit zu überraschen. Okay, das sind möglicherweise ein paar Bedingungen zu viel, aber man muss ja auch mal Glück haben im Leben.

Zugegeben, mit Anna hatte ich schon unverschämt viel Glück, aber es gibt ja auch Leute, die zweimal im Lotto gewinnen.

Und hinterher trotzdem nicht alles verprassen.

Außerdem habe ich vorhin mit meinen Fernglas genau diese Kommode entdeckt und damit Anna auch ganz sicher in eine andere Richtung läuft, weise ich sie auf einen antiken Spiegel hin, der so weit wie möglich von meiner Kommode entfernt steht, aber super in unser Bed & Breakfast passen würde.

Mein Herz pocht und ich spüre, dass meine gestrige Pechsträhne nur eine Ausnahme war, so gut wie meine Chancen jetzt stehen.

Ich atme tief durch, spanne meine Muskeln an und dann endlich wird die Startpistole abgeschossen. Nun bin ich als Deutscher genetisch bedingt mit ordentlichen Ellenbogen ausgestattet, die ich in Notfällen auch einzusetzen weiß, aber beim Start werde ich von einigen schwedischen Hausfrauen fast über den Haufen gerannt. Ich muss zur Seite ausweichen und komme erst zur Kommode, als schon drei Hausfrauen vor mir stehen, die unbegreiflicherweise schneller waren als ich.

Vielleicht hätte man die Flohmarktbesucher wie bei den olympischen Spielen in Männer und Frauen aufteilen sollen, damit ich eine faire Chance habe.

Gleich die erste der Hausfrauen kauft die Kommode für einen lächerlichen Preis und obwohl ich ihr in meinem Anfänger-Schwedisch erst das Doppelte, dann das Vierfache und schließlich das Zehnfache biete, lässt sie mich einfach stehen.

Derweil sind an dem Flohmarktstand die restlichen Kommoden ebenso ausverkauft. Außer Atem schaue ich bei den anderen Ständen vorbei, doch sehe ich nichts mehr, das man auch nur im Entferntesten als Adventskalender entfremden könnte.

Bis auf ein Billy-Regal.

Okay, ich könnte auch ein paar Gummispanner kaufen, zwei Tennisbälle und einen Fernseher, aber ich habe keine Idee, wie ich daraus einen Adventskalender bauen soll.

Also kaufe ich das Billy-Regal, vor allem, weil es schon zusammengelegt ist und schleppe es rennend (ja, das geht, wenn man nur will) zum Smart.

Nein, es ist nicht einfach, ein Billy-Regal in einen Smart zu verfrachten und als ich es endlich geschafft habe, steht Anna schon vor mir. Sie hat den antiken Spiegel in der Hand, der mir im Verhältnis zum Smart recht groß erscheint. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«

Meine Antwort besteht aus unschlüssig ausgestoßener Luft. »Äääh, ich hab nichts gefunden.«

»Und was ist das da im Smart? Dein Geschirrspüler?«

»Das ist … äh, dein Adventskalender.«

Anna schaut mich mit einer Mischung aus Vorfreude und Skepsis an, wobei die Skepsis überwiegt. »Und wie bringen wir den Spiegel nach Hause?«

»Dachgepäckträger?«, antworte ich und sehe dann selbst, dass der Smart keinen hat. »Wir könnten den Spiegel mit ein paar Gummispannern auf dem Dach befestigen«, sage ich schließlich.

Da uns nichts Besseres einfällt, besorge ich die Gummispanner und man mag es kaum glauben, nicht einmal dreißig Minuten später stehen wir vor einer Ampel, die recht plötzlich rot geworden ist und kehren ziemlich viele Scherben auf.

»Die bringen Glück, hab ich gehört«, sage ich.

Das ist der Moment, in dem Anna nicht mehr lächelt.