1. Kapitel
„Da ist etwas schiefgegangen“, sagte Walt Stratham, Viscount Greaves. „Ich verlange, dass wir das Spiel sofort wiederholen!“
„Wir reden unter vier Augen darüber.“ Damien hatte die neugierigen Blicke mehrerer Klubmitglieder bemerkt, die auf dem Flur standen. Er schob den wütenden Mann in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür.
In dem großen Raum befand sich ein Schreibtisch mit krummen Beinen, der auf dem prächtigsten Perserteppich stand, den man für Geld kaufen konnte. Zu dieser späten Stunde spiegelte sich schon das Licht der Kerzen in den Fenstern. Die ledergebundenen Bücher im Regal hinter dem Schreibtisch verströmten ihren Duft. Auf der gegenüberliegenden Seite knisterte ein Feuer und wehrte tapfer die Kälte des Februars ab.
Damien hatte bei der Einrichtung keine Kosten gescheut. Er hatte lange und schwer gekämpft, um sich so einzurichten, wie die oberen Zehntausend. Seine Kommilitonen in Eton hatten ihren Reichtum geerbt, doch er hatte bei null anfangen müssen. Er hatte sein Vermögen selbst angehäuft, zunächst als guter Spieler und dann mit klugen Anlagen – Schifffahrt, Grundstücke und diesem Klub.
Mit rücksichtsloser Entschlossenheit hatte er aus Demon’s Den das angesagteste Spielcasino in London gemacht. Hier floss das Geld in Strömen aus den Taschen der Aristokraten in seine Schatztruhe. Wenn die Adligen ihn nicht in ihre Salons ließen, mussten sie dafür zahlen, dass sie sein Etablissement betreten durften.
Vor allem dieser Mann.
Damien ignorierte die Stühle am Kamin, ging zum Schreibtisch, zog einen braunen Lederbeutel aus der Tasche und warf ihn auf die polierte Tischplatte. Die Spielmarken aus Elfenbein, die sich darin verbargen, klirrten verheißungsvoll.
Der Viscount starrte den Beutel finster an. Kein Wunder. Sein Verlust entsprach fünf Jahren Taschengeld von seinem Vater, dem Earl of Pennington. Der Earl hatte den Ruf, ein schroffer, geiziger Mann zu sein. Es würde ihn teuer genug zu stehen kommen, seine Tochter in der nächsten Saison in die Gesellschaft einzuführen. Lord Pennington würde nicht begeistert davon sein, noch tiefer in die Tasche zu greifen, um seinem verschwenderischen ältesten Sohn zu helfen.
Walt stand vor einer düsteren Zukunft, in der ihm die Gläubiger auf den Fersen sein würden. Nicht einmal seine Stellung als Erbe eines Earls würde ihn retten. Für ihn gab es nur einen Ausweg – er musste auf die Bedingungen eingehen, die Damien ihm diktieren würde.
Aber vorher wollte Damien seinen Sieg auskosten.
Er ließ sich absichtlich Zeit dabei, den Beutel zu öffnen. Walt hatte sich seit ihrer Schulzeit kaum verändert; er strahlte immer noch die angeborene Überlegenheit der Oberschicht aus. Doch jetzt sprach aus den haselnussbraunen Augen unter dem Schopf roter Haare ein Hauch Panik. Im Laufe der Jahre hatte Damien gelernt, die Gedanken eines Mannes zu lesen. Ein leichter Tick oder eine Geste der Nervosität, trommelnde Finger oder eine hochgezogene Augenbraue, waren deutliche Signale.
Damien hatte dieses Talent heute Abend genutzt, um seine Beute einzukreisen. Seit über fünfzehn Jahren sehnte er sich nach diesem Moment. Aber anders als der hitzköpfige Schuljunge, der er einst gewesen war, setzte er eine Pokermiene auf und beherrschte seine Gefühle.
Er schüttete die kleinen Plättchen auf den Tisch und fing an, sie zu ordentlichen Stapeln aufzutürmen. Er brauchte gar nicht nachzuzählen, er wusste schon genau, wie viel er gewonnen hatte. Es ging ihm eher darum, Walts Nerven noch weiter zu strapazieren.
„Es ist Zeit, dass du deine Schulden bezahlst“, sagte Damien. „Hier hast du Feder und Papier, damit du mir einen Scheck ausstellen kannst.“
Walt machte keine Anstalten, nach der Feder und dem Tintenfass in der Ecke des Tisches zu greifen. Er reckte hochnäsig das Kinn. „Was du nicht sagst! Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du mir eine Chance geben, meine Verluste zurückzugewinnen.“
„Ich fürchte, so haben wir nicht gewettet. Es galt, dass der Gewinner alles bekommt.“
„Aber nur, weil ich dachte …“
„… dass ich kein ernst zu nehmender Gegner wäre.“ So wie in Eton. Damien war für sein Alter klein gewesen, allein auf der Welt, ein Stipendiat unter all den Jungen aus besten Familien.
Walter befingerte nervös die Aufschläge seines flaschengrünen Wamses. „Es ist dein Klub. Du hast die Spielmarken manipuliert.“
Damien schenkte ihm ein sarkastisches Lächeln. Walt neigte von jeher dazu, die Schuld für sein eigenes Versagen anderen in die Schuhe zu schieben, vor allem Leuten, die auf der gesellschaftlichen Leiter unter ihm standen. Er hätte es nie gewagt, einem Mann seines Standes so etwas an den Kopf zu werfen. Damien hätte gern die Fäuste sprechen lassen, doch er wusste, dass er sich damit ins eigene Fleisch schneiden würde.
„Du hast doch die Marken verteilt“, sagte er. „Wenn jemand betrogen hat, dann warst du es.“
„Was für ein Unsinn! Du hast die Marken irgendwie präpariert!“
„Und du hast den Tisch inspiziert, bevor das Spiel begann. Und jetzt Schluss mit den Ausflüchten.“ Damien schob ihm Papier und Feder hin. „Schreib die Bankanweisung!“
Walt trat von einem Bein aufs andere. „Das hat keinen Sinn“, sagte er mürrisch. „Ich habe nicht genug Geld auf dem Konto.“
Sie machten Fortschritte. Immerhin behauptete Walt nicht mehr, er sei betrogen worden. Er würde bald begreifen, dass Damien kein Interesse hatte, ihn auszunehmen, jedenfalls nicht finanziell.
Damien ging zu dem Stuhl hinter dem Schreibtisch. „Dann leih dir etwas von deinem Vater.“
„Unmöglich! Er verachtet das Glücksspiel.“
„So? Dann sitzt du wohl sehr in der Klemme.“
Walter nahm die Feder und tauchte den angespitzten Kiel in das silberne Tintenfass. „Ich schreibe dir einen Schuldschein, wenn es sein muss“, sagte er zähneknirschend. „Das muss reichen.“
„Nein, es reicht nicht. Lass dir gesagt sein, dass ich noch diese Woche bezahlt werden will.“
„Zum Teufel!“ Walt warf die Feder hin, sodass schwarze Tinte auf das Papier spritzte. „Wenn du erwartest, dass ich meine Seele an irgendeinen Geldverleiher verkaufe, vergiss es!“
Damien setzte sich auf den Schreibtischstuhl und faltete die Hände unter dem Kinn. Jetzt war die Zeit gekommen, die Frage zu stellen, die in ihm brannte. „Nun gut“, sagte er. „Da du kein Geld hast, kannst du mich auf andere Weise bezahlen.“
„Wie? Sag es mir.“
Der Hauch verzweifelter Hoffnung in Walts Stimme war eine Genugtuung für Damien. „Du hast dir etwas angeeignet, das mir gehört. Wenn du es mir zurückgibst, erlasse ich dir alle Schulden.“
Walt runzelte die Stirn. „Etwas, das dir gehört? Wir haben uns doch kaum gesehen, seit wir Eton vor über zehn Jahren verlassen haben!“
„Du hast es mir gestohlen, als wir noch zur Schule gegangen sind. Denk mal gründlich nach, vielleicht erinnerst du dich dann.“
Damien erinnerte sich nur zu gut. Der Gedanke an jene lange zurückliegende Zeit fraß wie ein Krebsgeschwür an ihm. Als verarmtes Waisenkind war er von den anderen Jungen ständig gepiesackt worden. Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn er aus einer vornehmen Familie gestammt hätte, die in finanzielle Not geraten war. Doch seine Herkunft war – immer noch – ein ungelöstes Rätsel.
***
Eine mütterliche Frau, die er Mimsy genannt hatte, hatte ihn in einer winzigen Wohnung im Londoner Stadtteil Southwark großgezogen. Mrs. Mims hatte ihm beigebracht, sich gewählt auszudrücken, und ihm eine fundierte Bildung zukommen lassen. Vielleicht hatte Damien deshalb schon als kleiner Junge gespürt, dass er anders war. Er passte nicht zu den zerzausten, ungebildeten Kindern, die in der Nachbarschaft herumtobten. Manchmal hatte Mimsy angedeutet, sein Vater sei von königlichem Geblüt. Sie erzählte ihm von heldenhaften Prinzen, die Drachen töteten, und sagte ihm, dass auch er immer tapfer sein müsse. Als er älter wurde, fing er an, nach seinen Eltern zu fragen, die nicht da waren. Mimsy gab ihm nur die vage Erklärung, dass man ihn ihr anvertraut hatte, damit sie auf ihn aufpasste.
Wenn er zu hartnäckig nachbohrte, machte sie ein besorgtes Gesicht, und das brachte ihn zum Schweigen. Er wollte Mimsy keinen Kummer bereiten, nicht einmal, um seine Neugier zu befriedigen. Er hatte ja nur noch sie.
Eines Tages bestiegen sie die Postkutsche nach Windsor und besuchten das Eton College. Dort saß er in einem stickigen Raum und legte eine lange Prüfung ab. Er schrieb Aufsätze und löste Mathematikaufgaben. Danach beriet sich Mimsy mit einem der Direktoren in einem efeubewachsenen Gebäude, und Damien wartete draußen auf der Treppe. Er sah zu, wie die älteren Jungen in Gruppen vorbeigingen und redeten. Sie sahen in ihren Uniformen elegant und unnahbar aus, und ihm war bewusst, wie schäbig er selbst gekleidet war. Als Mimsy wieder herauskam, sagte sie ihm, er sei als Schüler aufgenommen worden. Er protestierte heftig dagegen, bei Fremden zurückgelassen zu werden, doch Mimsy blieb hart.
Beim Abschied legte sie ihm eine goldene Kette um den Hals. Daran hing ein kleiner eiserner Schlüssel, und sie schärfte ihm ein, diesen unter seinem Hemd zu verbergen. „Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, dir das hier zu geben, mein kleiner Prinz. Als ich dich als Baby aufgenommen habe, steckte es in deiner Decke.“
Damien nahm den Schlüssel fasziniert in Augenschein. „Gehörte der meinem Vater?“, fragte er. „Wo ist das Schloss, in das er passt?“
„Eines Tages wirst du alles erfahren. Es steht alles in einem Brief. Bis dahin musst du auf den Schlüssel aufpassen. Du darfst ihn niemals jemandem zeigen. Lern fleißig, damit ich stolz auf dich sein kann.“ Nach einer tränenreichen Umarmung und dem Versprechen von Ferienbesuchen verschwand Mimsy durch das Schultor.
Sie kam nie wieder.
Kurz vor Weihnachten teilte der Schulleiter Damien mit, dass Mrs. Mims an einer plötzlichen Krankheit gestorben sei. Er sagte es kalt, ohne einen Gedanken daran, dass Mimsy die einzige Mutter gewesen war, die Damien je gekannt hatte.
Nach dem Unterricht hatte er sich nach draußen geschlichen, damit ihn niemand weinen sah. Es war schlimm genug, gehänselt zu werden, weil er nicht aus einem reichen Haus kam; sie sollten ihn nicht auch noch für eine Heulsuse halten. Er saß zwischen den verdorrten Rhododendronbüschen mit dem Rücken zur Mauer des Kreuzgangs. Die beißende winterliche Kälte drang durch seinen kurzen Mantel, und als seine Tränen endlich versiegt waren, wischte er sich mit dem Ärmel das Gesicht ab.
Er fasste sich in den Ausschnitt mit dem steifen Kragen, zog den Schlüssel heraus und strich mit dem Finger darüber. Ein Ende hatte drei Zacken und am anderen war eine kleine, Kupferkrone in einem Kreis mit Schnörkeln außenrum eingraviert.
Nach Mimsys Tod war dieser Schlüssel die einzige Verbindung zur Vergangenheit. Aber sie hatte nie erklärt, was er bedeutete. War die Krone der Beweis dafür, dass er königliches Blut in den Adern hatte? Damien wollte es glauben. Er wünschte von ganzem Herzen, er wäre ein Prinz und so reich, dass ihn alle anderen Jungen beneiden würden. Vielleicht passte der Schlüssel in das Schloss der Schatzkammer irgendeines Palastes …
Er sah goldene Kronen und haufenweise Diamanten vor sich. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Vielleicht war sein Vater, der König, dort gefangen und wartete darauf, dass sein Sohn ihn befreite …
Der Klang von Schritten riss ihn aus seinem Tagtraum. Damien erstarrte und umklammerte den Schlüssel.
Walt Stratham kam mit zwei seiner bulligen Freunde auf ihn zu. Sie hatten Damien gleich nach seiner Ankunft zum Prügelknaben auserkoren.
„He“, rief Walt. „Trägst du eine Kette? Du bist wohl ein verkleidetes Mädchen!“
Die anderen Jungen glucksten, und einer machte die zierlichen Schritte eines Mädchens nach. Damien stopfte den Schlüssel wieder in sein Hemd, doch es war zu spät.
Walt griff nach der Goldkette. „Her damit!“
Damien sprang auf und schlug und trat wie wild um sich. Er wollte den kostbaren Schlüssel unbedingt bewahren und kämpfte wie ein Löwe. Die Nase seines Gegners machte Bekanntschaft mit Damiens Faust; Walt taumelte zurück, und Blut lief ihm über das Gesicht.
Es war eine gute Gelegenheit zur Flucht, doch Damiens Kummer hatte sich in rasende Wut verwandelt. Er stürzte sich wie ein wildes Tier auf die beiden anderen Jungen und versetzte ihnen ein paar Schläge, bevor ihn die beiden mit vereinten Kräften überwältigten. Sie warfen ihn auf den harten Boden und hielten ihren zappelnden Widersacher dort fest.
Damien vergaß in seinem Zorn alle Vorsicht und brüllte: „Lasst mich los! Ich bin ein Prinz! Mein Vater ist ein König, und er wird euch die Köpfe abschlagen lassen!“
Einen Moment herrschte verblüffte Stille, dann lachten die drei anderen Jungen.
„König?“, höhnte einer von ihnen. „Du hast ja nicht mal einen Vater.“
Walt mit der blutigen Nase fletschte grinsend die Zähne. „Du bist ein lausiger Bastard.“ Er schnappte sich die Goldkette mitsamt dem Schlüssel. „Dich muss der Teufel gezeugt haben. So nennen wir dich ab jetzt – den Dämonenprinzen.“
***
„Nun, Burke? Raus mit der Sprache! Sag, was du von mir willst!“
Walts Stimme holte Damien wieder in die Gegenwart zurück. Er saß hinter dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers im Klub und hatte endlich die Chance, sich zu rächen, auf die er so lange gewartet hatte. Viscount Greaves stand mit geballten Fäusten da. Sein Blick sagte deutlich, dass er die Frage der Spielschulden klären und verschwinden wollte.
Offenbar erinnerte sich Walt nicht an den Vorfall. Es war nur einer ihrer vielen Zusammenstöße in Eton gewesen, bevor Damien so groß und stark geworden war, dass er es mit jedem Gegner aufnehmen konnte.
„Du hast mir in meinem ersten Jahr einen Schlüssel weggenommen“, sagte er knapp. „Du und zwei deiner Freunde habt mich hinter dem Kreuzgang überwältigt.“
„Schlüssel?“ Man sah Walt an, dass ihm dämmerte, worum es ging. Dann wurden seine Augen schmal und sein Blick wachsam. „Willst du damit sagen, dass du mir meine Schulden erlässt, wenn du ein Kleinod zurückbekommst, das du vor vielen Jahren verloren hast? Du musst verrückt geworden sein!“
„Du wirst es mir trotzdem zurückgeben.“
Walt wich einen Schritt zurück und fuhr sich durch sein rötliches Haar. „Lieber Himmel, Mann, das ist fünfzehn Jahre her! Du erwartest doch nicht, dass ich noch weiß, was daraus geworden ist? Ich habe es wahrscheinlich weggeworfen.“
„Das hast du damals nicht gesagt. Du hast mich damit aufgezogen, dass du den Schlüssel an einer Stelle versteckt hättest, an der ich ihn nie finden würde.“
„So? Wo auch immer er ist, ich habe es vergessen.“
Walt wich Damiens Blick aus – ein klares Zeichen dafür, dass er log. Damien war sicher, dass Walt sehr wohl wusste, wo der Schlüssel war.
„Dann solltest du gründlich nachdenken“, sagte Damien. „Es ist deine einzige Chance, deine Spielschulden erlassen zu bekommen.“
Walt sah ihn vorwurfsvoll an. „Was willst du mit einem verdammten Schlüssel?“, fragte er. „Passt er in irgendeinen Tresor? Es würde mich nicht wundern, wenn du schon damals Diebesgut gehortet hättest!“
Damiens Miene blieb ausdruckslos. „Du wirst mir den Schlüssel beschaffen. Ich gebe dir bis morgen Abend Zeit!“
„Es könnte länger dauern“, sagte Walt. Seine Augen funkelten hinterlistig.
„Versuch ja nicht, mich reinzulegen. Ich weiß noch genau, wie der Schlüssel aussah. Ich sehe, ob es der richtige ist.“ Damien hielt inne, um die dramatische Wirkung seiner Worte zu erhöhen. „Wenn du deinen Teil der Abmachung nicht erfüllst, sehe ich mich gezwungen, deine Schulden auf andere Weise einzutreiben – und zwar auf eine Art, die dir ganz und gar nicht gefallen wird!“
„Was soll das heißen?“
Damien gestattete sich ein kaltes Lächeln. „Du hast eine Schwester, die kurz vor ihrem Debüt steht. Unschuldige, behütete Mädchen sind oft empfänglich für die Reize eines schneidigen Fremden.“
Der Viscount wurde so blass, dass seine Sommersprossen hervortraten. „Bei Gott! Du würdest es nicht wagen, dich an Beatrice heranzumachen!“
„Dann tu, was ich dir sage. Bring mir den Schlüssel.“
Walts Brust hob sich unter seinem flaschengrünen Wams, und seine Nasenflügel bebten. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die ordentlichen Stapel mit Spielkarten ins Wanken gerieten. „Du Bastard! Du führst dich auf wie ein Gentleman, aber du wirst immer ein Emporkömmling aus der Gosse bleiben!“
Er drehte sich auf dem Absatz um, riss die Tür auf und stürmte hinaus.
Bastard.
Damien stand auf, ging zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Das Wort gab ihm immer einen Stich ins Herz. Seine Ahnentafel war immer leer gewesen. Tief in ihm brannte der Wunsch, seinen Hintergrund zu erforschen, zu erfahren, wer er wirklich war. Und das nicht nur für sich selbst, sondern auch für Lily.
Ihm wurde eng ums Herz. Seine Tochter war erst sechs, aber eines Tages würde sie nach ihren Großeltern fragen, die sie nicht hatte. Sie würde wissen wollen, wer sie gewesen waren, woher sie gekommen waren, warum sie ihn verlassen hatten. Mimsy hatte einen Brief erwähnt, der alles erklärte und der wohl von seinen Eltern stammte, doch nach ihrem Tod hatte man ihm ihre Sachen nicht ausgehändigt. Auch Jahre später, als er seine alte Nachbarschaft wieder aufgesucht hatte, um herauszufinden, was aus ihren Habseligkeiten geworden war, hatte er den Brief nicht gefunden. Mimsy war der einzige Mensch gewesen, der ihm Antworten hätte geben können. Ohne sie hatte er keine Verbindung zu seiner Vergangenheit.
Bis auf diesen Schlüssel.
Hinter ihm ertönten schlurfende Schritte. In der Fensterscheibe sah er einen kleinen Diener mit krummen Beinen ins Arbeitszimmer kommen. Das Licht der Gaslampe fiel auf einen Kopf, der so kahl war wie eine Billardkugel. Finn MacNab war früher ein Faktotum in Eton gewesen – und Damiens einziger Verbündeter in der Schule. Er und seine Frau waren die Einzigen gewesen, denen Damien seine Geheimnisse anvertraut hatte.
Im Moment war Damien jedoch nicht nach Gesellschaft. Er wandte sich um und sagte kurz: „Ich hoffe, Sie haben nicht an der Tür gelauscht!“
Finn grinste. „Vielleicht doch, aber ich habe nicht alles mitbekommen“, sagte er mit seinem breiten schottischen Akzent. „Ist Seiner Lordschaft eingefallen, was mit dem Schlüssel passiert ist?“
„Er hat um den heißen Brei herumgeredet. Aber ich bin sicher, er weiß es.“
„Dann bringt er ihn Ihnen morgen?“
„Er hat keine andere Wahl.“
Finn zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Entschuldigen Sie, Sir, aber diese hochwohlgeborenen Herren sitzen immer am längeren Hebel.“
„Diesmal nicht.“ Damien hielt inne. Er war fest entschlossen, seinen kühnen Plan auszuführen. „Wenn er nicht mitspielt, entführe ich seine Schwester – und verlange den Schlüssel als Lösegeld.“
2. Kapitel
Der Diener eilte die Treppe in der Eingangshalle hinauf. Miss Eloise stand in der Tür des Vorzimmers und hatte das Gefühl, einen schrecklichen Fehler zu machen. Sie schauderte, weil es kühl war, und ärgerte sich, dass sie ihren Umhang dem Diener übergeben hatte. Warum hatte sie sich überreden lassen, diesen Besuch zu machen?
Weil sie überrumpelt worden war.
Ihre Cousine hatte dem Kutscher aus heiterem Himmel befohlen, anzuhalten. Ellie war nicht dazu gekommen, zu widersprechen.
Der Diener verschwand oben, und sie wandte sich an ihre jüngere Cousine, die durch das elegante Zimmer schlenderte und die Kunstwerke in Augenschein nahm.
„Wir sollten nicht hier sein“, zischte Ellie. „Du bist einfach zu dreist!“
Lady Beatrice Stratham musterte gerade einen Alabasterteller, der auf einem Tisch stand. Jetzt blickte sie auf. In ihrem pastellblauen Kleid mit dem Spitzenbesatz sah sie aus wie eine Prinzessin. Sie winkte mit ihrer behandschuhten Rechten ab und sagte: „Quatsch keine Opern, Ellie. Wir sind hier und damit basta.“
„Aber es ist einfach unmöglich, eine Dame zu besuchen, der man nie begegnet ist, noch dazu eine, die eine Stütze der Gesellschaft ist. Offiziell drückst du noch die Schulbank.“
„Ach, Unsinn. Ich habe mein Debüt doch in ein paar Wochen.“ Beatrice ging zu einem goldgerahmten Spiegel und sah sich an. Sie nahm ihren Hut ab, warf ihn auf einen Tisch und zupfte ihr rotblondes Haar zurecht. „Da wir beim Thema sind – ich will mir die glänzendste Partie der Saison sichern. Lady Milford kann mir dabei behilflich sein.“
Der Eifer, der aus den blauen Augen ihrer Cousine sprach, war für Ellie ein schlechtes Omen. Beatrice war eigensinniger, als gut für sie war. Wenn sie etwas wollte, erreichte sie es immer mit List und Tücke. Das Mädchen bereitete Ellie Kopfzerbrechen, seit sie selbst ihre Eltern verloren hatte und im Haus ihres Onkels, des Earls of Pennington, lebte.
„Wenn Seine Lordschaft von diesem Besuch erfährt, wird er wütend“, warnte Ellie. „Du weißt, welchen Wert er auf Benimm und Etikette legt. Du bist erst siebzehn, vielleicht beschließt er, dein Debüt um ein Jahr zu verschieben.“
Beatrice lachte gurrend. „Sei nicht albern. Ich kann Papa immer um den Finger wickeln. Außerdem ist er bei White’s und wird erst in ein paar Stunden nach Hause kommen.“ Der Streit langweilte sie sichtlich, und sie ging zu einem Podest in der Ecke. „Hast du je so eine erlesene chinesische Vase gesehen? Lady Milford hat wirklich einen tadellosen Geschmack.“
Ellie blieb an einer der grünen Marmorsäulen neben der Tür stehen. Sie hätte dieses Haus am liebsten Hals über Kopf wieder verlassen, um in den wartenden Brougham zu steigen und Beatrice ihrem Schicksal zu überlassen.
Leider konnte sie nichts davon tun. Onkel Basil verließ sich darauf, dass sie sich um seine mutterlose Tochter kümmerte. Im Laufe der Jahre hatte Ellie die Rolle einer Gouvernante für die beiden jüngeren von Onkel Basils drei Kindern übernommen. Sie erfüllte die Aufgabe mit Hingabe und erledigte auch noch alles Mögliche für ihre Großmutter. So hatte sie das Gefühl, ihrem Onkel nicht zu sehr zur Last zu fallen.
Ihr war immer klar gewesen, dass der Earl die Schulden seines jüngeren Bruders, ihres verstorbenen Vaters, hatte begleichen müssen. Und Ellie arbeitete schwer, um es ihrem Onkel durch Leistung zu danken. Doch jetzt war Cedric im Internat, und sie musste nur noch Beatrices Debüt organisieren.
Es war keine gute Idee, der erhabenen Lady Milford jetzt mit Bitten in den Ohren zu liegen. Ein Fehler, eine gedankenlose Bemerkung, und schon war das dumme Mädchen nicht mehr gesellschaftsfähig. Und Ellie fürchtete, dass man ihr die Schuld geben würde.
Schlimmer noch, wenn Beatrice’ Saison verschoben würde, würden sich auch Ellies Zukunftspläne um ein Jahr verzögern. Nichts war deprimierender als die Aussicht, für immer von der Wohltätigkeit ihres Onkels abhängig zu sein. Mit sechsundzwanzig wollte sie endlich ihr eigenes Leben führen und sich ihre geheimen Träume erfüllen.
Der Diener kam wieder herunter, ging an Ellie vorbei und verbeugte sich vor Beatrice. „Die Lady ist bereit, Sie zu empfangen. Würden Sie mir bitte folgen?“
Ellie hatte gehofft, Lady Milford wäre nicht zu Hause. Resigniert folgte sie der Prozession die Treppe hinauf. Der Diener hatte sie keines Blickes gewürdigt, doch Ellie war es gewohnt, dass man sie übersah. Ihre schäbige Kleidung zeigte, dass sie mittellos war. Es war ihr ganz recht, unbemerkt zu bleiben, denn wenn keiner sie beachtete, konnte sie die Leute ungestört beobachten. Sie blieben ihr in Erinnerung.
Niemand ahnte, wie sie ihre Beobachtungen nutzte. Und es würde auch niemand je erfahren. Ellie hatte das Projekt geheim gehalten, an dem sie jeden Tag bis tief in die Nacht arbeitete, wenn sie allein in ihrem Zimmer war. Die Familie würde es erst erfahren, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Nach Beatrice’ Verlobung und Hochzeit.
Oben an der Treppe sagte sich Ellie, dass sie sich keine Sorgen machen sollte. Vielleicht würde dieser Besuch Beatrice etwas bringen. Lady Milford galt tatsächlich als große Kupplerin; sie hatte auf ihre diskrete Art eine ganze Reihe glücklicher Ehen in Adelskreisen gestiftet.
Ellie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie über die Frau gehört hatte. Die Leute sprachen voller Ehrfurcht und Bewunderung über Lady Milford. Sie war eine legendäre Schönheit, der Premierminister lieh ihr sein Ohr ebenso wie die Königsfamilie. Gerüchten zufolge war sie einst die Geliebte eines der vielen Söhne des verrückten Königs George gewesen.
Diese skandalöse Geschichte weckte Ellies Neugier. Die Dame genoss trotz ihrer haarsträubenden Vergangenheit Respekt in den höchsten Kreisen. Wie war es ihr gelungen, die Klatschmäuler zum Schweigen zu bringen? Ellie wusste es nicht, aber eines war sicher: Lady Milfords Leben musste weitaus aufregender gewesen sein, als es das von Ellie zurzeit war.
Sie durchschritten einen langen, prächtigen Korridor und betraten einen Salon, der ganz in Hellgelb und Rosa gehalten war. Dort saß eine Frau am Fenster und las. Ein Strahl der Wintersonne glänzte auf ihrem hochgesteckten schwarzen Haar und brachte das dunkle Rot ihres Seidenkleides zum Leuchten.
Ellie begriff sofort, dass das Hörensagen sie nicht richtig auf Lady Milford vorbereitet hatte. Das glatte Gesicht und die schlanke Gestalt hatten etwas Altersloses. Beim Anblick der hohen Wangenknochen und der faszinierenden Züge juckte es Ellie in den Fingern, zum Bleistift zu greifen und die klassische Schönheit auf Papier zu bannen.
Der Diener kündigte sie an, und Lady Milford legte ihr Buch beiseite und stand auf. Mit katzenhafter Anmut kam sie ihnen entgegen. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, aber ihr würdevolles Auftreten sprach eher für tadellose Manieren als für ein warmes Willkommen.
Sie fragte sich wohl, warum zwei Fremde einfach bei ihr hereinplatzten. Ellie war sich dessen schmerzlich bewusst, und sie sah auch, dass Lady Milford mehr Menschenkenntnis besaß als Beatrice. So eine Frau würde sich nicht so leicht von einem Mädchen um den Finger wickeln lassen, das gerade noch die Schulbank gedrückt hatte.
Beatrice teilte die Bedenken ihrer Cousine anscheinend nicht. Sie machte einen anmutigen Knicks. „Mylady, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich, weil ich hergekommen bin!“
„Ich gestehe, dass Sie mich neugierig gemacht haben“, murmelte Lady Milford. „Nehmen Sie beide Platz und wärmen Sie sich auf. Es ist ein kühler Tag.“
Sie führte die beiden zum Kamin. Unter dem Sims aus kunstvoll gemeißeltem Marmor brannte ein Feuer. Beatrice setzte sich mitten auf eine Chaiselongue und warf Ellie aus schmalen Augen einen warnenden Blick zu. Ellie kannte diese Miene. Beatrice wollte, dass ihre Cousine sich woanders hinsetzte – und den Mund hielt.
Die Frechheit des Mädchens ärgerte Ellie. Aber sie konnte sie jetzt nicht zurechtweisen, denn dann würde es eine Szene geben und der Besuch katastrophal verlaufen. Sie kniff die Lippen zusammen und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand. Von dort aus konnte sie die Vorgänge gut beobachten. Falls Beatrice sich auf dünnes Eis begab, würde Ellie eingreifen.
„Sie müssen Penningtons Tochter sein“, sagte Lady Milford zu Beatrice und nahm ihr gegenüber Platz. „Diese rotgoldene Haarfarbe hätte ich überall erkannt. Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass sie sehr schön und unverwechselbar ist?“
Ein Anflug von Neid überkam Ellie. Auch sie hatte das berühmte Haar der Strathams, doch bei ihr war es eher kastanienbraun als golden und hatte auch noch die unglückliche Neigung, sich bei feuchtem Wetter wild zu ringeln. In ihren jüngeren Jahren hätte sie gern Beatrice’ milchweißen Teint gehabt – statt Sommersprossen auf der Nase.
Beatrice zupfte eine Locke zurecht, die sowieso schon perfekt saß. „Ich hoffe wirklich, dass es mir nicht zum Nachteil gereicht. Manche Herren mögen Rotschöpfe nicht, und ich gestehe, dass ich entschlossen bin, mich in meiner ersten Saison zu verloben.“
Ellie unterdrückte ein Stöhnen. Feingefühl war wirklich nicht Beatrice’ Stärke. Und das Funkeln in Lady Milfords Augen sagte deutlich, dass sie den Zweck dieses Besuches erraten hatte.
„Ich verstehe“, murmelte Lady Milford. „Nun, das ist ein würdiges Ziel für eine junge Dame von Stand.“
„Ich freue mich, dass Sie mir zustimmen, Mylady.“ Beatrice faltete ihre behandschuhten Hände im Schoß und sah geradezu engelhaft unschuldig aus. „Himmel, in den nächsten Wochen werden wir mit den Vorbereitungen alle Hände voll zu tun haben. Anproben, Tanzstunden, Anstandsunterricht … Ein Mädchen fragt sich zwangsläufig, ob all die Mühe etwas bringen wird … oder eben nicht und kein Heiratsantrag kommt.“
„Seien Sie sicher, dass die Herren eine Schönheit wie Sie umschwirren werden wie die Motten das Licht. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, Verehrer zu finden.“
Beatrice neigte scheinbar bescheiden den Kopf. „Die Lady ist sehr gütig. Ich habe jedoch gehört, dass sehr viele Mädchen in dieser Saison ihr Debüt haben. Ich fürchte, ich werde nur ein Gesicht unter vielen sein. Deshalb bin ich hier und bitte Sie um Unterstützung.“
Lady Milford zog kühl eine Augenbraue hoch. „Hat Ihr Vater bei der Mitgift gegeizt? Soll ich mit Pennington reden?“
„O nein, Mylady! Das ist es ganz und gar nicht. Wenn es nach mir geht, erfährt er nicht einmal, dass ich hier bin …“
In diesem Moment schob ein Diener einen Teewagen herein. Zum Glück hatte Beatrice wenigstens genug Takt, in Gegenwart eines Dienstboten den Mund zu halten.
Lady Milford stand auf, nahm die Kanne und goss drei Porzellantassen ein. Ellie ging zu ihr, um ihrer Gastgeberin die Arbeit zu ersparen, ihr die Tasse zu bringen. Dabei nutzte sie die Gelegenheit, die Frau zu mustern.
Lady Milfords Erscheinung war noch faszinierender, wenn man sie aus der Nähe sah. Sie hatte tiefblaue Augen mit dichten schwarzen Wimpern und nur feinen Fältchen in den Winkeln. Ihre zierliche Gestalt gab keinen Aufschluss über ihr Alter.
Dann merkte sie, dass Lady Milford sie ihrerseits musterte. Sie sah das schlecht sitzende graue Kattunkleid mit den langen Ärmeln und dem hochgeschlossenen Kragen. Ellie wand sich nicht unter dem ungenierten Blick. Sie war ein grauer Spatz neben dem schönen Pfau namens Beatrice – na und? Es war keine Schande, eine arme Verwandte zu sein.
„Sie sind auch eine Stratham“, sagte Lady Milford zu Ellie. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Tochter des verstorbenen Bruders des Earls sind?“
„Ja. Lady Beatrice und ich sind Cousinen.“ Ellie merkte, dass Beatrice auf der Chaiselongue die Stirn runzelte, und fügte hinzu: „Wenn Sie mich entschuldigen würden, Mylady.“
Sie wandte sich um und ging wieder zu ihrem Stuhl an der Wand. Es war besser, wenn sie vermied, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Beatrice würde schnippisch werden, wenn sie nicht im Mittelpunkt des Interesses stand, und Ellie wollte ihr Schmollen auf dem Nachhauseweg nicht ertragen müssen.
Die heiße Tasse wärmte ihre kalten Finger. Sie nippte daran und sah, dass Lady Milford sich wieder Beatrice gegenüber setzte.
„Nun“, sagte Lady Milford, „Sie sagten gerade, Sie hofften, vor den anderen Mädchen zum Altar zu kommen. Und ich sagte, dass ein so hübsches Mädchen, wie Sie es sind, sicher zig Bewerber finden würde.“
„Oh, aber ich brauche nicht zig. Darf ich Ihnen etwas beichten, Mylady?“ Beatrice stellte ihre Tasse hin und beugte sich vertraulich vor, ohne eine Antwort abzuwarten. „Es gibt einen Mann, der mich besonders interessiert. Vielleicht kennen Sie ihn. Es ist der Duke of Aylwin.“
Ellie gelang es, nicht zusammenzufahren. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Cousine schon einen Heiratskandidaten im Auge hatte. In den letzten Monaten hatten Beatrice und ihre Großmutter stundenlang die Namen begehrter Junggesellen aufgezählt, im Debrett’s nachgeschlagen und über die Finanzen all dieser Männer spekuliert. Ellie fand es ermüdend. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu und hing ihren eigenen Gedanken nach, die meistens um ihren geheimen Plan kreisten.
„Aylwin?“, sagte Lady Milford nachdenklich. „Ich kannte seinen verstorbenen Vater. Aber der jetzige Duke zeigt sich nicht gern in der Öffentlichkeit. Er ist ein Einzelgänger, und ich muss Sie warnen – er hat bisher keine Neigung zum Heiraten gezeigt.“
„Das habe ich gehört“, sagte Beatrice mit einem Seufzer. „Seine Gnaden lebt zurückgezogen im Aylwin House und beschäftigt sich mit Relikten aus dem Alten Ägypten. Es muss ein sehr einsames Leben sein. Ich glaube, er braucht eine Frau, die ihm Gesellschaft leistet.“
Lady Milford nippte mit amüsierter Miene an ihrem Tee. „Mädchen fühlen sich oft zu geheimnisvollen Herren hingezogen. Sie haben romantische Vorstellungen und glauben, der Mann sehne sich nach Liebe. Aber die Wirklichkeit ist meistens ganz anders als der Traum. Aylwin ist zwanzig Jahre älter als Sie und ein Gelehrter, der keinen Spaß versteht. Ich würde Ihnen raten, sich jemanden zu suchen, der Ihnen im Alter näher steht.“
„Vielleicht haben Sie recht, Mylady. Aber wie soll ich sicher sein, ohne ihm je begegnet zu sein?“ Beatrice schob die Unterlippe vor, wie sie es oft tat, wenn sie bei ihrem Papa etwas erreichen wollte. „Ich werde den Rest meines Lebens grübeln, ob ich vielleicht das Mädchen gewesen wäre, das Aylwin geliebt hätte. Können Sie mir gar nicht helfen?“
Lady Milford schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nein, meine Liebe“, sagte sie in festem, aber mildem Ton. „Ich kenne Aylwin nur flüchtig. Ich bin nicht so gut mit ihm befreundet, dass ich ihn zu irgendetwas überreden könnte.“
„Aber was wäre, wenn … wenn Sie eines Ihrer Feste geben würden? Die Leute reißen sich doch darum, hierherzukommen. Wenn Sie ein Fest geben und uns beide einladen, hätte ich wenigstens die Chance, ihn zu bezaubern.“ Beatrice griff sich ans Herz. „Oh, bitte, Mylady, sagen Sie nicht nein! Sie sind meine einzige Hoffnung!“
Das war für Ellie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ihre Cousine benahm sich unmöglich! Was sollte Lady Milford nur denken?
Ellie stellte ihre Teetasse auf einen Tisch und stand auf. „Wir haben die Zeit der Lady lange genug beansprucht, Beatrice. Ich denke, wir sollten gehen.“
Ihre Cousine sah unzufrieden zu ihr auf. „Noch nicht. Lady Milford und ich unterhalten uns gerade sehr nett miteinander.“
Ellie sah die Gastgeberin an. „Entschuldigen Sie bitte, Mylady. Wir haben heute noch einiges zu erledigen, und ich fürchte, wenn wir zu lange bleiben, sind wir nicht rechtzeitig zu Hause, um uns fürs Abendessen umzuziehen.“
„Zu erledigen?“, fragte Beatrice, rümpfte ihre kleine Stupsnase und ließ sich von Ellie hochziehen. „Was meinst du damit?“
„Das erkläre ich dir in der Kutsche. Jetzt müssen wir gehen, also sag der Lady Auf Wiedersehen.“
Beatrice kam der Aufforderung widerwillig nach, und Ellie fiel auf, dass Lady Milfords Blick auf ihr ruhte, nicht auf ihrer Cousine. Die schmalen dunklen Brauen hoben sich fragend, als würde sie über etwas nachdenken.
Ellie errötete bei dem Gedanken, dass man vielleicht ihr die Schuld für Beatrice’ schlechtes Benehmen geben würde. Als Gouvernante war es ihre Aufgabe, ihrer Cousine Manieren beizubringen.
„Miss Stratham“, murmelte Lady Milford an Ellie gewandt, „bitte gehen Sie noch nicht. Ich habe etwas, das für Sie von Nutzen sein könnte. Warten Sie bitte hier.“
Ellie starrte Lady Milford, die anmutig aus dem Salon schwebte, mit offenem Mund nach. Etwas von Nutzen für sie? Was konnte das sein?
Beatrice erschien mit raschelndem Rock und stemmte die Hände in die Hüften. Die rotblonden Locken rahmten ein hübsches Gesicht ein, das jetzt allerdings einen mürrischen Ausdruck zeigte. „Warum musstest du alles verderben? Ich hatte Lady Milford schon fast überredet, mir zu helfen. Stattdessen will sie nun dir etwas geben.“
„Sicher ein Benimmbuch“, sagte Ellie. „Sie denkt wohl, dass ich deine Erziehung vernachlässigt hätte.“
Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihr vor. Wie peinlich, dass man sie für pflichtvergessen hielt! So musste es auf ihre Gastgeberin gewirkt haben. Es würde eine Demütigung sein, doch Ellie würde das Lehrbuch dankbar annehmen.
Beatrice schmollte. „Willst du damit sagen, dass ich mich schlecht benommen habe?“
„Nun, lass uns mal sehen.“ Ellie zählte die Punkte an ihren Fingern ab. „Du wolltest Lady Milfords Gutmütigkeit für deine Heiratspläne ausnutzen. Du hast verlangt, dass sie Zeit und Geld in eine Feier steckt. Du hast sogar vorgeschrieben, wer auf der Gästeliste stehen soll!“
„Es ist ein ausgezeichneter Plan“, erklärte Beatrice. „Wie soll ich sonst Duchess werden? Es gibt keine anderen unverheirateten Dukes!“
„Dann musst du dich eben mit einem Marquess oder Earl begnügen. Außerdem solltest du mehr Wert auf den Charakter eines Mannes legen als auf seinen Rang. Wenn du heiratest, bist du für den Rest deines Lebens an ihn gebunden.“
„Oh! Vielleicht ist ein Titel für eine alte Jungfer ohne Aussichten nicht so wichtig. Aber ich will eine gute Partie machen und von allen beneidet werden!“
Eine alte Jungfer ohne Aussichten. Die taktlosen Worte gaben Ellie einen Stich ins Herz. Es wunderte sie selbst, denn sie hatte ihre Mädchenträume von Liebe und Heirat schon lange begraben und der harten Wahrheit ins Auge gesehen, dass nur wenige Herren bereit waren, eine verarmte Frau zu heiraten. Stattdessen hatte sie sich der Aufgabe gewidmet, die Schulden ihres Vaters zurückzuzahlen, indem sie der Familie nach besten Kräften diente.
Doch sie hatte nicht vor, den Rest ihrer Tage als Sklavin zu verbringen. Keine Menschenseele wusste es, doch Ellie hatte einen kühnen Plan geschmiedet, um ihr Brot zu verdienen. Wenn alles gut ging, würde sie bald von niemandem mehr abhängig sein …
In der Tür bewegte sich etwas. Lady Milford betrat den Salon und hielt einen blauen Samtbeutel in der Hand. Sie fasste in die Tasche und zog etwas heraus. Es glitzerte in dem fahlen winterlichen Licht der Nachmittagssonne, die durch die Fenster schien.
Ellie blinzelte überrascht. Ein Schuh? Es war ein schöner hochhackiger Schuh aus granatrotem Satin, mit winzigen Glasperlen bestickt und mit einer Schnalle verziert.
Lady Milford holte den zweiten hervor und drückte Ellie beide Schuhe in die Hand. „Dieses Paar habe ich in meinen jungen Jahren gern getragen“, sagte sie. „Ich glaube, sie würden auch Ihnen passen, Miss Stratham.“
Ellies Finger schlossen sich automatisch um die Schuhe. Sie hatte ein Buch über die Regeln der Etikette erwartet und war völlig entgeistert. Nie im Leben hatte sie etwas so Schönes gesehen – oder etwas so Unpraktisches. „Sie sind sehr gütig, Mylady, aber … wo sollte ich solche Schuhe tragen? Sie sind viel zu elegant für eine Gouvernante.“
„Ich denke, Sie werden dabei sein, wenn Ihre Cousine in die Gesellschaft eingeführt wird. Sie brauchen sicher Schuhe, in denen Sie auf Bällen und Festen tanzen können.“
„Das mag für die meisten Damen zutreffen“, sagte Ellie. „Aber ich fürchte, meine Kleider sind eher schlicht, und ich habe nichts im Schrank, das …“
„Ellie ist meine Anstandsdame und wird nicht tanzen“, unterbrach Beatrice. Ihr Blick fiel begehrlich auf die Schuhe. „Außerdem sind meine Füße kleiner als ihre. Es ist viel wahrscheinlicher, dass ich die gleiche Schuhgröße habe wie Sie, Mylady.“
Ein rätselhaftes Lächeln überzog Lady Milfords Gesicht. „So? Dann sollten Sie sich beide hinsetzen und sie anprobieren.“