Leseprobe Mein Nachbar, Weihnachten und ich

Prolog

Sommer 1997

Das Blau des Himmels wirkte wie die Oberfläche eines spiegelglatten Sees. Wattebäuschen gleich zogen die luftig zerrissenen Wolken über Yuna hinweg. Wenn sie lange genug hinsah, schienen sie die Formen von Tieren und magischen Wesen anzunehmen. Es brauchte nur die nötige Geduld, bis sich das Tor zu dieser Traumwelt öffnete. Yuna lag auf dem Rücken im kurzen Gras und rollte den Stängel eines Gänseblümchens zwischen den Fingern. Sommerferien. Eine schier endlose Folge an Tagen, an denen sich Yuna nach Herzenslust draußen herumtrieb und abends mit dreckigen Kleidern und einem breiten Lächeln nach Hause kam. Jetzt, am Nachmittag, machte sich allmählich Erschöpfung in ihr breit und so genoss sie die kleine Auszeit auf der Spielplatzwiese. Selten war es hier so ruhig wie in diesem Moment.

Ein näherkommendes Rascheln im Gras riss Yuna aus der Beobachtung der Wolken und ein Schatten schob sich über sie. Auch ohne den Blick vom Himmel abzuwenden, wusste sie, wer neben ihr stand. Seine Schritte, zielstrebig und leicht staksend, hatten es ihr verraten. Obwohl sie ihn aufgebracht atmen hörte, ignorierte sie ihn weiterhin.

„Warum hast du das getan?“, platzte es aus ihm heraus.

Das Wolkentier, das sie eben entdeckt hatte, löste sich vor ihren Augen auf. Stöhnend rappelte Yuna sich auf und stellte sich vor ihn. „Was habe ich jetzt schon wieder getan, Tristan?“

„Mein Schläger …“ Er fuchtelte mit einem Tennisschläger vor ihrem Gesicht herum. Lose hingen einige der Kunststofffäden heraus.

„Das war ich nicht.“

Mit roten Wangen sah er sie starr an. „Du hattest ihn vorhin in der Hand, das habe ich genau gesehen. Und als ich ihn eben geholt habe, war er kaputt. Sei wenigstens ehrlich, Yuna.“

„Ich bin ehrlich“, zischte sie.

„Und wie soll es dann passiert sein?“ Er baute sich vor ihr auf. Mit seinen zehn Jahren überragte Tristan Hoffmann sie um mehr als einen Kopf.

„Das war ich nicht“, wiederholte sie und fixierte wütend sein Gesicht. Wie er sie nervte. Und wie lächerlich dieses weiße Poloshirt und die kurze hellblaue Hose aussahen. Aber diese Aufmachung passte zu Tristan. „Du kannst eh nicht schnell genug rennen, um gut Tennis zu spielen“, setzte sie herausfordernd hinzu.

„Du willst es nur nicht zugeben. Trotzdem werden deine schrägen Eltern es bezahlen müssen!“, schrie er.

„Sie sind nicht schräg!“, brüllte Yuna zurück und ungewollt ballte sich ihre rechte Hand zur Faust.

„Hast du eine Ahnung, wie teuer der war? Vermutlich habt ihr nicht einmal das Geld, um den zu bezahlen.“ Grinsend sah er auf sie hinab.

Der Faustschlag kam unvermittelt. Tristan schrie auf und seine Brille fiel zu Boden. Augenblicklich rann Blut aus seiner Nase und tropfte auf den weißen Stoff seines Hemdes. Einen Moment betrachtete Yuna, wie das Material die Flüssigkeit aufsaugte, dann verengte sie ihre Augen zu Schlitzen. „Ich sage immer die Wahrheit“, spie sie aus, drehte sich um und stapfte davon.

 

Mit verschränkten Armen saß Yuna auf der Spielplatzbank, möglichst weit weg von Tristan, der wie ein Häufchen Elend auf der anderen Seite hockte. Ihre Mutter betrachtete sie kopfschüttelnd, während Helen ihrem Sohn ein weiteres Taschentuch reichte. Schauspielerisch einwandfrei jammerte Tristan noch immer, und Yuna bereitete es große Mühe, beim Anblick der vielen dunkelroten Flecken auf seinem Hemd, ein Lachen zu unterdrücken.

„Also, was ist schon wieder passiert?“, wollte ihre Mutter wissen und beugte sich zu ihr hinunter. Yuna betrachtete das Muster der weiten Batikhose, die im sanften Wind leicht flatterte. Schließlich sah sie auf und in das gutmütige Gesicht von Gitta. An ihren Ohren baumelten lustige Ohrringe mit bunten Federn, die zu den langen und offenen Haaren passten. Ganz sicher war ihre Mutter die schönste Frau der Welt.

„Ich höre?“, hakte Gitta nach.

„Er hat es verdient“, murmelte Yuna. „Weil er behauptet, ich würde nicht die Wahrheit sagen.“

„Um was ging es dieses Mal?“, wollte Helen wissen und ein Seufzen entwich ihren akkurat nachgezogenen Lippen. Aufgebracht stand sie in ihrem Nadelstreifenrock vor ihnen und zerrte das nächste Taschentuch aus der Handtasche.

„Yuna hat meinen Schläger kaputtgemacht“, erklärte Tristan überzeugt.

„Hast du das?“ Gitta legte die Hand unter Yunas Kinn und sah ihr in die Augen.

Yuna schüttelte den Kopf und schob die Unterlippe ein Stück vor. „Wie immer meint er, ich sei an allem schuld.“

„Ihr zwei könnt einen wirklich in den Wahnsinn treiben“, hörte sie Helens Stimme. „Warum könnt ihr euch nicht einfach aus dem Weg gehen?“

„Weil diese Siedlung für uns zu klein ist“, presste Yuna heraus.

„Warum kannst du dich nicht wie ein Mädchen verhalten? Mädchen prügeln nicht.“ Mit stechenden Augen sah Tristan zu ihr hinüber.

„Warum kannst du nicht wie dein Bruder sein und nicht so ein Arsch?“, gab sie laut zurück. Im Gegensatz zu Tristan konnte man mit Kon wunderbar spielen. Sie verbrachten den Großteil der Tage zusammen und trieben sich im Viertel rum. Aber Tristan war anders. Er nervte. Das tat er schon seit sie denken konnte.

„Das bringt alles nichts. Wie immer.“ Helen stemmte die Hände in die Hüften. „Ihr haltet euch jetzt endlich voneinander fern, wenn ihr es nicht hinbekommt, euch zu vertragen.“

„Und mein Schläger?“, jammerte Tristan leidvoll und Yuna verkniff es sich, mit den Augen zu rollen.

„Wir haben noch einen, so schlimm ist das nicht. Das kann repariert werden. Genauso wie die Brille“, seufzte Helen und betrachtete den Riss in einem der Gläser.

„Wir sollen alle unsere Mitmenschen lieben und mit Güte behandeln“, säuselte Gitta und kniete sich vor Yuna auf den Boden.

Yuna kannte diesen Satz zu gut. Wie oft hatte ihre Mutter ihr diesen wohl schon vorgesagt? „Aber ich hasse Tristan!“, rief sie.

„Hass ist ein starkes Wort. Ein starkes Gefühl. Ihr hasst euch nicht.“

„Ich hasse sie auch“, pflichtete Tristan Yuna bei. Wenigstens in einer Sache waren sie sich einig.

Gitta fuhr mit den Händen unter ihre langen Haare und löste eine ihrer vielen Halsketten ab. Die mit dem Kristall, mit dem Yuna früher so gerne gespielt hatte. Dann sah sie von einem Kind zum anderen und hob den Stein an seinem Lederband in die Höhe. „Wisst ihr, dass man damit die Zukunft vorhersagen kann?“ fragte sie mit verschwörerischer Stimme.

„Quatsch“, kommentierte Tristan und verschränkte die Arme vor der Brust.

„O doch, ganz sicher. Ich halte ihn ganz still und denke dabei an eine Frage. Wenn der Kristall nach vorne schwingt, bedeutet das ja und wenn er zur Seite schwingt nein“, führte ihre Mutter aus.

Neugierig betrachtete Yuna den Stein. Das hatte Gitta nie erzählt. Vielleicht war es sogar wahr.

„Ich bin mir sicher, dass ihr beide irgendwann einmal Freunde werdet“, sagte sie und Yuna glaubte Gewissheit herauszuhören.

„Niemals“, sagte Yuna.

„Niemals“, wiederholte Tristan.

„Dann fragen wir doch den Kristall“, flüsterte Gitta geheimnisvoll. „Nach vorne bedeutet ja, zur Seite nein. Schaut nur ganz genau hin.“ Sie hob die Hand noch ein Stück höher.

Gebannt starrte Yuna auf den Stein. Ganz still hing er an dem Lederband. Gerade als sie enttäuscht wegsehen wollte, nahm sie eine Bewegung wahr. Erst langsam, dann immer schneller schwang der Anhänger vor und zurück.

„Seht ihr? Irgendwann werdet ihr euch verstehen.“ Gitta legte die Kette wieder an und stand auf.

„Meinst du, das ändert was?“, wollte Helen von ihr wissen und fuhr sich mit der Hand über die ordentlichen kinnlangen Haare.

„Vielleicht.“ Gitta zwinkerte ihr zu. „Gib mir die Rechnung für die Brille.“

„Das ist schon in Ordnung. Es gehören immer zwei dazu“, antwortete Helen und streckte die Hand nach Tristan aus. „Wir gehen jetzt erstmal zum Arzt, nicht dass die Nase noch gebrochen ist.“

Yuna beobachtete wie Tristan aufstand und hinter seiner Mutter hertrottete.

„Kommst du auch mit heim?“ Gitta lächelte ihr zu.

Yuna nickte, stand auf und griff nach der Hand ihrer Mutter. Eigentlich hätte sie eine Strafe verdient, das wusste sie genau. Zum Glück hielten ihre Eltern nichts von Dingen wie Bestrafung oder Konsequenz.

„Gitta?“ Sie sah zu ihrer Mutter hoch, während sie den kurzen Weg bis zum Haus entlanggingen.

„Ja, mein Schatz?“

„Dein Kristall funktioniert nicht“, sagte sie bestimmt. „Ich werde ihn immer hassen.“

„Das werden wir sehen.“ Lachend zog ihre Mutter sie an sich heran und zupfte einen Grashalm aus ihren Haaren. „Das werden wir sehen.“

Weihnachten 2014

Mit angezogenen Beinen saß Yuna vor dem offenen Fenster und beobachtete, wie der Zigarettenrauch scheinbar tanzend nach draußen zog. Es war merkwürdig und vertraut zugleich, wieder zuhause zu sein. Wie viele hundert Stunden ihres Lebens hatte sie wohl auf der tiefen, breiten Fensterbank verbracht? Schon als Kind war dies ihr Lieblingsplatz gewesen. Von hier aus konnte sie das Ende der Sackgasse und die Nachbarhäuser überblicken. Es war der ideale Ort, um in Bücherwelten abzutauchen und Gedanken nachzuhängen. Fröstelnd wickelte Yuna die Strickjacke enger um sich. Wenigstens das weiche Polster unter ihr wirkte wärmend.

Es war beinahe ein halbes Jahr vergangen, seit sie zuletzt daheim gewesen war. Und nun schien mit jeder Minute der Stress des Alltags und des Studiums mehr von ihr abzufallen. Oder lag es an der Zigarette? Es war Weihnachten, wenigstens heute sollte sie kein schlechtes Gewissen haben zu rauchen. Ein Päckchen. Mehr nicht. Nur dieses eine für die Feiertage. Danach würde sie nie wieder rauchen. So, wie sie es sich immer wieder vornahm. Beinahe musste sie über sich selbst lachen, doch dieses Mal meinte sie es wirklich ernst. Vielleicht würde sie es endlich schaffen, mehr als nur ein paar Wochen durchzuhalten.

Gegenüber bei den Hoffmanns fuhr ein Auto vor, und Yunas Lippen zuckten kurz. Konstantin kam, wie sie ebenfalls, zum Fest nach Hause. Die freundlichen Rufe seiner Mutter hallten durch die eiskalte Luft. Helen stand, in eine blütenweiße Bluse gekleidet, in der Haustür und beobachtete die Ankunft ihres Sohnes. Bellen mischte sich in ihre Rufe und Yuna konnte sehen, wie Justus aus dem Haus stürmte und wedelnd auf den Wagen zurannte.

Kon stieg aus, ging mit eiligen Schritten um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Galant half er seiner Freundin heraus. Es wurde wohl langsam ernst mit den beiden, es war bereits das zweite Jahr, dass Elise das Fest bei den Hoffmanns verbrachte. Gut für ihn. Inzwischen hatte Yuna Elise näher kennengelernt und mochte sie. In den letzten Semesterferien waren sie gemeinsam frühstücken gewesen und Kon hatte wahrlich eine gute Wahl getroffen. Wie konnte man jemanden wie Elise auch nicht mögen? Sie hatte eine liebenswürdige Ausstrahlung und verfügte dennoch über einen unterschwelligen Humor, der Yuna lag. Und sie nahm Kon so wie er war, was Yuna ihr bei dem Kindskopf, der ihr bester Freund manchmal war, hoch anrechnete. „Wie Arsch auf Eimer“, murmelte sie. Lächelnd beobachtete Yuna, wie Elise sich einen Moment an Kon schmiegte und dann ihre Tasche aus dem Auto hob, während Kon überschwänglich den Hund begrüßte. Als Elise Helen umarmte, war zu erkennen, dass die Zuneigung zu ihr ehrlich war. Ja, Elise war herzensgut. Und wunderschön. Yuna sah genauer auf die perfekt hochgesteckten dunkelblonden Haare. Wie machte Elise das nur? Mehr als einen Pferdeschwanz bekam sie selbst nicht hin. Aber zu ihr passte so eine kunstvolle Frisur sicherlich auch nicht.

Den letzten Zug genoss Yuna bewusst, dann drückte sie die Zigarette in dem alten Marmeladenglas aus, das außen auf der Fensterbank stand. Gerade als sie das Fenster schließen wollte, um wieder nach unten zu gehen, sah sie, wie sich die hintere Tür des Wagens öffnete. Irritiert beobachtete sie, wie ein Mann ausstieg. Das konnte nicht sein. Oder doch? Yuna kniff die Augen zusammen, und ihr Blick wanderte von seinem akkuraten Haarschnitt über den Anzug bis zu seinen glänzenden Lederschuhen hinab. Wenn, dann hatte er sich in all den Jahren stark verändert. Doch er musste es sein, wer sonst würde an Heiligabend hier aufschlagen? Gebannt sah sie zu, wie er seinen Koffer aus dem Auto hob, kurz innehielt und das Haus der Hoffmanns betrachtete. Als er den Kopf in ihre Richtung wandte und sie anzusehen schien, hielt Yuna die Luft an. War er es nun oder nicht? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Langsam hob sie den Arm und streckte den Mittelfinger aus. Ohne eine Miene zu verziehen, reckte auch er den Arm nach vorne und tat es ihr gleich. Tristan. Augenblicklich ertönte ein kreischender Ausruf seiner Mutter. Yuna hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken und beobachtete amüsiert, wie Helen auf ihren Sohn zuging und tadelnd schimpfte, ihn aber direkt danach in die Arme schloss. Wie anders alles an ihm doch im Vergleich zu seinem Bruder war. Seine selbstsichere Haltung, der durchgestreckte Rücken und natürlich die offensichtlich sündhaft teuren Klamotten ließen Tristan steif und unnahbar wirken. Auch wie er die Umarmung seiner Mutter über sich ergehen ließ, stand im deutlichen Gegensatz zu Kons lockerer und umgänglicher Art. Aber so war er schon immer gewesen.

Yuna stand auf, schloss das Fenster und ging die Treppe in den Wohnbereich hinunter. Umgehend stieg ihr der vertraute Geruch von Räucherstäbchen in die Nase. Barfuß lief sie über die dicken, bunten Teppiche in die Küche und fischte sich eins der Karottenstücke vom Brett, die ihre Mutter auf der Arbeitsplatte schnitt. Ihr Vater saß mit einer Tasse Tee am Tisch und bepinselte den Tofubraten mit seiner geheimen Marinade. Charlie verriet das Rezept nur deshalb nicht, weil er keines hatte und jedes Jahr einfach alles zusammenrührte, was er in den Küchenschränken fand. Das Zeug schmeckte jedes Jahr anders, aber immer grässlich. Ein Tofubraten – war das nicht ein Widerspruch in sich?

„Tristan ist gerade heimgekommen“, sagte Yuna ausdruckslos und schob sich die Karotte in den Mund.

Gitta sah überrascht auf. „Tristan ist hier? Wirklich?“

„Tatsache.“ Yuna nickte kauend.

„Oh, das freut mich für Helen.“ Ein breites Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht ihrer Mutter ab. „Tristan ist seit Jahren nicht mehr nach Hause gekommen.“

„Fast schon ein kleines Weihnachtswunder“, brummte ihr Vater, nahm eines der unzähligen Gewürzdöschen, die vor ihm standen, in die Hand und begutachtete es. Vorsichtig schüttelte er eine Prise heraus und streute es in die Marinade.

„Ich würde nicht so weit gehen, Tristan Hoffmann als ein Wunder zu bezeichnen.“ Yuna gluckste. Sie setzte sich ihrem Vater gegenüber und hielt die Nase über den Tofuklumpen. Es roch schon jetzt furchtbar und sie war froh, nicht nur die Zigaretten, sondern auch ein paar Snacks ins Haus geschmuggelt zu haben.

„Yuna, würdest du die Palme noch schmücken? Die Kiste mit dem Schmuck steht neben dem Sessel“, bat Gitta.

„Ja, natürlich.“ Rasch stand sie auf. „Charlie, lass das so, das wird nicht besser.“ Lachend griff sie im Vorbeigehen nach einem weiteren Gemüsestück.

„Weil es schon perfekt ist, meinst du?“ Ihr Vater nickte zufrieden und betrachtete sein Werk.

Yuna schüttelte den Kopf und ging ins Wohnzimmer. Nichts verbreitete mehr Weihnachtcharme als der Geruch von indischen Räucherstäbchen und Sojasoße. Mit gerunzelter Stirn sah Yuna auf die Topfpflanze, die sie wie üblich in eine Weihnachtspalme verwandeln sollte. Ihre Mutter hatte bereits einige kleine Geschenke auf dem Berberteppich darunter verteilt. Yuna kniete sich vor den Karton und zog mehrere Strohsterne und die Lichterkette heraus. Immerhin hatten sie in ihrer WG dieses Jahr für eine kleine Tanne zusammengelegt. Eine echte Nordmannstanne, die ihr zwar nur bis zur Hüfte reichte, aber nach Wald roch und mit bunten Kugeln geschmückt war. Hatte sie sich als Kind nicht immer heimlich einen Weihnachtsbaum gewünscht, der bis zur Decke reichte? Mit glänzendem Schmuck und einem Stern auf der Spitze?

Kaum hatte sie die Lichter und die Strohsterne an der Palme aufgehängt, musste sie doch lächeln. So schrecklich war das alles hier nicht. Es war schräg, doch das war es schon ihr ganzes Leben gewesen. Der Unterscheid war nur, dass es ihr seit ihrem Auszug auffiel. Aber es war richtig so, wie es war. Mit Palme, Räucherstäbchen und Tofubraten. Das war das Weihnachten, das sie kannte und liebte.

***

Einen Moment sah sich Tristan in dem offenen Wohnraum um und versuchte zu erkennen, ob sich etwas verändert hatte, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Doch es war alles wie immer, oder zumindest fielen ihm etwaige Veränderungen nicht auf. Nur seine Eltern sahen älter aus, das war nicht zu bestreiten. Sie hatten sich seit deren Besuch vor zwei Jahren in England nicht mehr gesehen. Das Grau in den Haaren seines Vaters war eindeutig heller als zuvor und auch das ordentlich aufgetragene Make-up seiner Mutter konnte die allmählich tiefer werdenden Falten nicht verstecken. Zuhause. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wie es sein würde, nach all den Jahren wieder hier zu sein, doch nun war es plötzlich soweit. Und es war überraschend schön. Er ließ sich neben Konstantin auf das Sofa fallen und beobachtete, wie seine Mutter in der Küche mit Elise das Weihnachtsessen vorbereitete.

„Jetzt hat sie endlich so etwas wie eine Tochter.“

Kon folgte seinem Blick zu den beiden Frauen. „Ja, Mama mag Elise sehr. Zum Glück.“

„Und es ist ernst?“

Konstantin zuckte mit den Schultern. „Schätze schon. Elise ist toll und wir verstehen uns gut.“

„Das freut mich für dich.“ Tristan lehnte sich zurück.

Kon war zwei Jahre jünger als er, doch offensichtlich schien er ihm in diesem Bereich weit voraus zu sein. Nein, nicht nur in diesem. In fast jedem Bereich hatte sein kleiner Bruder ihn stets übertrumpft. Er selbst war immer zurückhaltend und bedacht gewesen, Kon hingegen war stets der Mittelpunkt des Geschehens. Ein begnadeter Sportler, beliebt und mit einem riesigen Freundeskreis. Und jetzt auch noch die perfekte Freundin. Und das war Elise wirklich. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch intelligent. Zumindest schätzte Tristan sie nach der Fahrt vom Flughafen hierher so ein. Während Kon den Wagen nach Hause lenkte, hatten Tristan und Elise sich angeregt unterhalten. Sie hatte Interesse an seiner Arbeit gezeigt und sich nach seinem Leben in London erkundigt. Zu gerne wollte sie die Metropole einmal besuchen und auch die Londoner Museen sehen. Elises verträumtes Gesicht, während sie von ihrer Leidenschaft für die Kunst sprach, hatte Tristan gerührt. Vom ersten Blick an hatte er die junge Frau gemocht. Und Kon grinste dämlich zufrieden, wann immer Elise sprach. Ja, die beiden waren ein gutes Match. Tristan musterte seinen Bruder von der Seite, während Kon Elise mit einem Lächeln beobachtete. Er freute sich für ihn. Egal wie unterschiedlich sie waren, Eifersucht oder Missgunst hatte es nie zwischen ihnen gegeben. Vielleicht gerade, weil sie so gegensätzlich waren. Sie hatten sich viel zu lange nicht gesehen, und doch kam es Tristan so vor, als hätten sie erst gestern beisammengesessen.

„Tristan, kannst du bitte die Weihnachtsplätzchen rüberbringen?“ Die Worte seiner Mutter rissen ihn aus den Gedanken.

„Was soll ich tun?“, fragte er und sah auf.

„Die Plätzchen.“ Seine Mutter deutete auf den Teller in ihrer Hand. „Die sind wie jedes Jahr für Gitta und Charlie. Eine Tradition unter Nachbarn.“

„Lieber nicht. Mach das doch später besser selbst.“ Auf keinen Fall würde er zu diesen merkwürdigen Hippies rübergehen und ihnen Plätzchen bringen. Schon gar nicht, da sie da war und ihn eben auf ihre unverkennbar einfältige Art begrüßt hatte.

Der Blick seiner Mutter wurde augenblicklich streng. „Ich habe dich darum gebeten. Und nach dieser obszönen Geste vorhin, kannst du dich auch gleich bei Yuna entschuldigen.“ Ihre Stimme ließ keine Widerworte zu. Zu gut kannte Tristan diesen Ton.

Das war mal wieder typisch, wie immer bekam er es ab. Selbst jetzt, als erwachsener Mann, bereitete diese Göre von nebenan ihm Probleme, kaum dass er mal wieder zuhause war. Genervt sah er zu Kon. Dieser lehnte sich schmunzelnd auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Klar, dich amüsiert das natürlich“, zischte Tristan und stand auf.

„Sag Yuna liebe Grüße.“ Kon zwinkerte ihm zu.

 

Verdammter Mist. Tristan schloss die Augen und drückte auf die Klingel. Schritte waren zu hören und die Tür öffnete sich mit Schwung. Yuna stand vor ihm und schien über sein Auftauchen überrascht.

„Hallo Tristan.“ Irritiert schielte sie auf den Teller in seiner Hand.

„Mutter hat mich gebeten, euch die Plätzchen zu bringen.“ Er bemühte sich emotionslos zu klingen, wollte er ihr doch nicht auch noch die Genugtuung verschaffen und zeigen, wie sehr es ihn nervte, hergeschickt worden zu sein.

„Tristan, wie schön!“ Gitta trat neben ihre Tochter und strahlte ihn über das ganze Gesicht an. „Yuna hat schon gesagt, sie hätte dich gesehen.“

„Ja, das hat sie.“ Mit einem Seitenblick auf Yuna überreichte er ihrer Mutter den Teller.

„Charlie, komm, das musst du sehen!“, rief Gitta nach ihrem Mann.

Tristan unterdrückte ein Seufzen. Das fehlte ihm gerade noch: die ganze schräge Sippe auf einem Haufen. Charlie kam ebenfalls an die Tür und musterte ihn zwischen den beiden Frauen hindurch.

„Hat er sich nicht verändert?“, wollte Gitta strahlend wissen. „Du bist älter geworden und reifer. Gut siehst du aus.“

„Wie ein Banker.“ Charlie linste auf den Teller in der Hand seiner Frau. „Sind die Plätzchen auch vegan?“

Vegan? Meinte er das etwa ernst? Unsicher sah Tristan auf die Plätzchen und dann auf Charlie. „Ich denke nicht, Mutter hat nichts in diese Richtung gesagt.“ Hatte sie ihn wirklich mit normalen Plätzchen zu Veganern geschickt?

„Entspann dich, er verarscht dich nur. Sie sind zum Glück nur Vegetarier.“ Yuna lachte laut auf und ihr Vater fiel mit ein.

Charlie zupfte die Folie ein Stück zur Seite, zog eines der Plätzchen heraus und steckte es sich in den Mund. Dann nickte er zufrieden und nahm seiner Frau den Teller aus der Hand. „Sag deiner Mutter danke, sie sind wie jedes Jahr perfekt!“ Kauend verschwand er mit dem Teller im Haus.

Tristan sah ihm hinterher und beobachtete, wie Charlies grauer Zopf beim Gehen hin- und herschwang.

„Komm doch kurz auf einen Tee rein.“ Gittas Hand an seinem Arm zog ihn ins Haus. Bevor er etwas sagen konnte, stand er schon auf einem schrecklich buntgemusterten Teppich im Flur. „Ihr zwei habt euch sicher eine Menge zu erzählen, ihr habt euch ja ewig nicht gesehen. Geht schon mal ins Wohnzimmer, ich bringe euch gleich den Tee.“ Gitta tätschelte ihm die Wange und lief davon.

Regungslos betrachtete Tristan Yuna. Unzufrieden schob sie das Kinn vor. Wenigstens war er nicht der Einzige, der leiden musste. Sie deutete zum Wohnzimmer und ging ihm voraus. War das ein Stöhnen gewesen? Hatte Yuna allen Ernstes gestöhnt, als sie losgelaufen war? Genervt folgte er ihr. Und was roch hier eigentlich so komisch?

Yuna ließ sich in einen Schaukelstuhl vor dem Fenster plumpsen. „Such dir einen Platz aus“, sagte sie und rollte mit den Augen. Tristan presste die Lippen aufeinander. Diese Rotzgöre war kaum auszuhalten.

Er sah sich in dem Raum um. Auf dem Boden lagen mehrere große Sitzkissen um einen niedrigen Tisch. An der Wand links entdeckte er einen Sessel mit einer dicken Wolldecke darauf. Zögernd ging er auf den Sessel zu.

„Mach die sicherheitshalber runter, die Katze liegt da immer drauf. Du könntest dir deine feinen Klamotten ruinieren.“ Herausfordernd grinste Yuna ihn an.

„Wegen der Haare?“ Unwillkürlich verzog er das Gesicht und betrachtete den Überzug. Er hatte nicht vor, sich von dieser ätzenden Person zu einem Streit hinreißen zu lassen. Mit Yuna hatte er sich seine ganze Kindheit hindurch angelegt, was nie zu etwas als noch mehr Ärger geführt hatte. Sie war es nicht wert, sich den Weihnachtstag verderben zu lassen. Stattdessen ignorierte er ihren Kommentar zu seiner Aufmachung.

„Wegen dem Geruch. Mehr willst du dazu nicht wissen.“

Tristan biss die Zähne zusammen, griff mit zwei Fingern nach der Decke und ließ sie neben den Sessel fallen, dann setzte er sich. Immerhin war das alte Teil bequem. Auf dem niedrigen Tisch in der Mitte steckten in einem schmalen Untersatz merkwürdige Stäbchen, von denen in dünnen Fäden Rauch aufstieg. Das war es also, was in seiner Nase brannte. Sein Blick wanderte auf eine mit Blinklichtern und Strohsternen geschmückte Palme. „Was soll das denn sein?“

„Das ist eine Weihnachtspalme. Sieht man doch, oder nicht?“ Yuna zog die Augenbrauen hoch. Sie klang, als wäre es das Normalste der Welt.

„Und warum …“, Tristan stockte kurz, „warum schmückt ihr eine Yukkapalme?“ Beinahe hätte er laut aufgelacht. Diese Leute hatten sie nicht alle, aber das war ihm nicht neu.

„Meine Eltern möchten nicht, dass extra wegen Weihnachten ein Baum gefällt werden muss.“

„Sie wissen aber schon, dass diese Tannen extra dafür angepflanzt werden?“, fragte Tristan nach und bemühte sich, seine zuckenden Mundwinkel unter Kontrolle zu halten.

„Es ist doch eigentlich wesentlich passender.“ Yuna machte eine Pause und sah auf die Topfpflanze. „Wenn man voraussetzt, dass an der Geschichte mit Jesus tatsächlich etwas dran ist, dann passt eine Palme doch viel mehr zur Weihnachtsgeschichte als eine Nordmannstanne. Zumindest was Jesus’ Geburtsort angeht.“

Auch wenn er es nicht zugeben wollte, irgendwie ergab das, was sie sagte, tatsächlich Sinn. Aber er würde einen Teufel tun und es aussprechen. Also nickte er nur.

„Der Tee ist fertig.“ Mit zwei Tassen in der Hand rauschte Gitta beschwingt in den Raum, reichte ihm eine und Yuna die andere. Zufrieden blickte sie zwischen ihnen hin und her. Es war unglaublich, die Frau trug tatsächlich noch immer diese bodenlangen Röcke und bunten Oberteile. Auch Gittas Haare waren inzwischen von grauen Strähnen durchzogen, fielen ihr aber wie früher fast bis zur Hüfte über den Rücken. Manche Dinge schienen sich nie zu ändern. Sie lächelte ihm erneut beseelt zu und verließ wieder den Raum.

Tristan starrte auf die Tasse in seiner Hand. Merkwürdige Stückchen schwammen in dem gelblichen Wasser.

„Frischer Ingwer.“ Offensichtlich hatte Yuna seine Gedanken erkannt. „Das ist Ingwertee. Ist gut für den Magen“, führte sie aus.

Zögernd trank er einen Schluck. Der leicht scharfe Geschmack war ungewohnt, aber nicht schlecht.

„Und wie kommt es, dass du hier bist?“, wollte sie wissen und zog beinahe verächtlich eine Augenbraue hoch. Tristan kannte diese Augenbraue. Früher einmal war sie so etwas wie ein Warnzeichen gewesen. Rutschte sie nach oben, stand Ärger mit Yuna unmittelbar bevor. Wollte sie wirklich so etwas wie eine Unterhaltung mit ihm führen?

Jetzt war er es, der aufstöhnte. „Es ist Weihnachten. Warum sollte ich sonst da sein?“

„Das hat dich doch die letzten Jahre auch nicht interessiert“, gab sie bissig zurück.

Als er von der Tasse zu ihr aufsah, sah er das Blitzen in ihren Augen. Zu sehr war ihm dieser Anblick vertraut. Alles an Yuna war auf einen Gegenangriff vorbereitet und sie schien sich beinahe danach zu sehen, dass er auf ihre Sticheleien ansprang. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Er hatte nicht vor, Yuna die Genugtuung zu geben, sich anmerken zu lassen, wie gerne er sie erneut wie früher anbrüllen würde. Stattdessen zwang er sich ein unverfängliches Lächeln auf die Lippen und hielt ihrem Blick stand. „Fünf Jahre. Ich war mit dem Studium beschäftigt. Vor drei Jahren war ich kurz im Sommer da und meine Eltern haben mich zwischendurch besucht.“

Sie kniff die Augen zusammen. War das Überraschung in ihrem Blick? Darüber, dass er so unverfänglich antwortete und ihre Spitzen ignorierte? Ein wenig schob sie die Unterlippe vor und lehnte sich dann im Schaukelstuhl zurück. „Und jetzt bist du fertig mit studieren?“

Er nickte zustimmend.

„Was hast du überhaupt studiert?“, fragte sie mit gespielter Gleichgültigkeit. Doch ihre wachen Augen verrieten, dass es sie tatsächlich interessierte.

„Wirtschaft“, presste Tristan hervor.

„Das passt.“ Sie lachte kurz und trank einen Schluck aus der Tasse.

„Was soll das jetzt bedeuten?“ Kampfbereit streckte er den Rücken durch, zwang sich aber gleich darauf, sich wieder entspannter hinzusetzen. Nein, er würde diesem Miststück nicht zeigen, wie sehr ihn ihre Anwesenheit reizte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Dass du sicher gerne den erfolgreichen Geschäftsmann spielst.“ Ein breites Grinsen zog sich über ihre Lippen. „Ja, das passt ganz hervorragend zu dir, Tristan.“

Ehe er antworten konnte, maunzte es neben ihm. Entgeistert betrachtete er die Katze, die plötzlich seitlich des Sessels saß. „Was ist das?

„Eine Katze“, antwortete Yuna scheinbar gleichgültig.

Mit einem Gefühl von Ekel konnte er seinen Blick nicht von dem Wesen abwenden. „Und warum hat sie keine Haare?“ Noch nie hatte er ein hässlicheres Tier gesehen. Die Haut sah aus wie eine Mischung aus rosa und hellgrau und sie war ekelerregend faltig. An ihrem Hals, an ihrem Nacken, überall reihten sich Falten aneinander.

„Ich dachte, es sei offensichtlich: Es ist eine Nacktkatze“, antwortete Yuna spitz.

„Man kann nicht gerade behaupten, dass sie schön sei.“ Vorsichtig berührte Tristan mit dem Zeigefinger die ledrige Haut am Rücken. Deutlich waren die darunterliegenden Rippen zu spüren. Augenblicklich begann das Tier zu schnurren und drückte sich gegen sein Bein.

„Nein, das ist sie nicht.“ Yuna lachte glucksend auf. „Meine Eltern haben sie aus dem Tierheim. Keiner wollte sie.“

„Das wundert mich nicht wirklich. Kann die überhaupt raus?“ Er stellte sich die nackte Katze im Schnee vor und unterdrückte ein Grinsen.

„Im Winter ist es zu kalt, im Sommer bekommt sie Sonnenbrand. Also darf sie nur im Frühling ab und zu in den Garten. Aber selbst dann rennt Gitta ihr mit Sonnencreme hinterher. Es ist wirklich verrückt.“

Kopfschüttelnd sah er in seine Tasse und trank den Rest in einem Zug leer. Hatten sie tatsächlich eben einige Sätze gewechselt, ohne sich an den Kragen zu gehen? Offensichtlich schaffte es die Hässlichkeit einer Katze, dass sie zumindest in einer Sache einer Meinung waren. Doch dies würde unweigerlich nur einen Augenblick anhalten und Tristan war sich nicht sicher, wie lange er Yuna noch ertragen konnte, ohne zu verraten, wie sehr sie ihn reizte. „So, der Tee ist leer, ich nehme an, deine Mutter lässt mich nun gehen?“

„Geh einfach, ich richte ihr aus, du musstest wieder rüber.“ Yuna stand auf und wirkte ähnlich erleichtert wie er, dass die Unterhaltung endlich beendet war. Sie öffnete die Haustür und machte ihm Platz.

Eilig trat er hinaus und atmete die kalte Luft ein. „Ach so, ich soll dich von Kon grüßen“, murmelte er, während er Yunas Blick auswich. Stechend ruhten ihre Augen auf seinem Hemd. Sollte sie doch lieber darüber nachdenken, ob eine derart ausgewaschene Jeans und ein unvorteilhafter Hoodie die richtige Aufmachung für den Heiligen Abend waren. Tristan fluchte innerlich. Das hätte er antworten sollen, als sie ihn wegen seiner Kleidung gereizt hatte! Gut, dass es im nicht eingefallen war, so hatte er im Gegensatz zu Yuna Größe bewiesen. Ihre Mundwinkel zuckten, als wollte sie lächeln. Hatte er sie eigentlich jemals lächeln gesehen? Oder lächelte sie nur in seiner Gegenwart grundsätzlich nicht? Es spielte keine Rolle. Er konnte hier endlich weg. Das war es, worauf es ankam.

„Sag Kon ebenfalls Grüße. Und Elise natürlich auch.“

Yuna kannte Elise? Er hatte wirklich viel verpasst. Verkniffen stapfte er los. Der eisige Wind trieb ihm einen Schauer über den Rücken, doch die frische Luft tat nach dem Besuch in dieser Räucherhöhle gut.

„Ach, und Tristan?“, rief Yuna.

Er war bereits auf der Hälfte der wenig befahrenen Straße angelangt und drehte sich noch einmal um.

„Merry fucking Christmas.“

Laut fiel die Tür ins Schloss.

Dir auch. Er eilte die wenigen Meter zum Haus hinüber. Yuna hatte sich nicht geändert. Nicht ein bisschen.

***

„Und, wie war es?“ Kon sah über die Schulter auf Tristan, streckte sich und setzte den Stern auf die Spitze des Tannenbaums. Früher hatte ihr Vater dies immer gemacht, doch jetzt erreichte er ohne Hocker die Baumspitze nicht mehr. Entweder waren die Bäume mit der Zeit größer geworden, oder bei seinem Vater machte sich langsam aber sicher das Alter bemerkbar. Mehrere Kartons mit Christbaumkugeln und Lichterketten verteilten sich im Wohnzimmer. Da Elise und seine Mutter in der Küche standen und Tristan überraschend lange weggewesen war, hatte Kon sich dazu aufgerafft, das Prachtexemplar einer Tanne zu verzieren. Sicherlich würde seine Mutter die Kugeln später wieder mit einem „die Großen nach unten und die Kleinen nach oben“ nach ihrer eigenen Vorstellung umhängen. Doch immerhin war er so für eine Weile beschäftigt.

Schnaubend zog sein Bruder den Mantel aus und hängte ihn über die Lehne eines Stuhls am Esstisch. „Das ist ein absolutes Irrenhaus da drüben.“ Tristan zupfte an seinem Hemd und schnupperte an dem Stoff. „Ich glaube, ich rieche tatsächlich danach.“

„Nach den Räucherstäbchen?“ Beschwingt ging Kon auf seinen Bruder zu und atmete tief ein. „Jap, eindeutig.“

„Woher weißt du, wonach es da drüben riecht?“ Tristan sah ihn kritisch an, während er sich das Hemd aufknöpfte und auszog.

„Es sind unsere Nachbarn! Sag bloß, es war das erste Mal, dass du bei ihnen warst?“

„Das war es. Und auch das letzte Mal.“ Im Unterhemd öffnete Tristan die Terrassentür und warf sein Hemd über einen der Plastikstühle. „Vielleicht hilft das ja, um den Geruch loszuwerden“, murmelte er.

Amüsiert sah Kon auf den gereizten Gesichtsausdruck seines Bruders. Dieser Geruch weckte alte Erinnerungen, die Kon beinahe vergessen hatte. Aber es war lange her, es schien fast schon ein anderes Leben gewesen zu sein. Er bückte sich, hob einen Karton hoch und drückte ihn Tristan in die Hand. „Du weißt ja …“

„… die Großen nach unten“, vollendete sein Bruder den Satz.

Summend ging Kon hinüber zur Küche und beobachtete einen Augenblick, wie Elise und seine Mutter Seite an Seite Rouladen füllten. Sein Herz schien einen kleinen Satz zu machen. Er trat von hinten an seine Freundin heran und legte die Arme um sie. Ihre Haare kitzelten in seiner Nase und genüsslich atmete er ihren sanften Geruch ein. Keine Räucherstäbchen. Elise roch wie eine Blume. Unaufdringlich und dennoch verführerisch.

„Nicht ablenken, wir haben noch zu tun.“ Elise drehte sich um und küsste ihn flüchtig. „Wenn du hier rumhängen willst, dann kannst du auch was tun.“ Drohend hielt sie ihm eine Gabel hin.

„Dann leiste ich lieber meinem Bruder Gesellschaft, nachdem er sich endlich wieder einmal zu uns bequemt hat“, antwortete Kon, ging zurück ins Wohnzimmer und öffnete den Barschrank. „Gin?“

„Um diese Zeit?“, bemerkte Tristan kritisch. Im Unterhemd saß er auf dem Sofa und tippte auf seinem Handy. Nur wenige Kugeln hatten es an den Baum geschafft, aber ganz oben hing die dickste von allen. Kon grinste in sich hinein. „Hast du heute noch was vor? Es ist Weihnachten, also stell dich nicht so an.“

„Warum eigentlich nicht“, antwortete Tristan ohne aufzusehen.

Kon füllte zwei Gläser und reichte ihm eines davon. „Geschäftlich?“ Er setzte sich neben ihn. Kon hatte keine Ahnung davon, was genau sein Bruder beruflich trieb, oder was er in seiner Position machte. Nur dass er ordentlich verdiente, war mehr als offensichtlich. Aber deshalb hatte Tristan schließlich auch im Ausland studiert. Sein Bruder wollte hoch hinaus und es bestand kein Zweifel daran, dass er erreichen würde, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. So war Tristan einfach. Er machte Pläne und hielt verbissen an ihnen fest. Während er selbst sich durchs Leben treiben ließ, Spontanität schätzte und sich selten Sorgen machte, plante Tristan jedes Detail seines Lebens durch.

„Nein. Privat.“

„Privat?“ Kon versuchte einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen, doch Tristan drehte ihn demonstrativ von ihm weg.

„Meine Freundin.“ Sein Bruder sah ihn kurz von der Seite an und packte das Handy wieder in die Hosentasche.

„Du hast also eine Freundin?“ Anerkennend klopfte Kon ihm auf den Oberschenkel. „Freut mich. Und warum ist sie heute nicht dabei?“

„Sie feiert mit ihrer Familie. Es ist noch nicht so ernst wie bei dir und Elise.“

„Vielleicht ja irgendwann.“ Kon presste die Lippen aufeinander. „Um ehrlich zu sein, habe ich Elise im letzten Jahr nur deshalb zum Fest mitgebracht, weil ihre Mutter drei Jahre zuvor gestorben ist und sie kein enges Verhältnis zu ihrem Vater hat, der die beiden verließ, als Elise noch ein Kind war. Wir waren da noch nicht lange zusammen, aber als ich hörte, dass sie die beiden Heiligabende zuvor alleine verbracht hat, habe ich sie einfach eingeladen und hergeschleppt. Und unsere Eltern waren ganz entzückt, weil ich so eine vernünftige Frau für mich einnehmen konnte.“ Nun musste er doch lachen. Er hatte keine Ahnung, womit er dieses Glück verdiente, aber er war verdammt froh darüber, Elise begegnet zu sein.

Klirrend stießen die Gläser aneinander.

Tristan nickte und trank einen Schluck. „Eine wie Elise hätte ich dir, um ehrlich zu sein, auch nicht zugetraut, damit hast du nicht nur unsere Eltern überrascht.“ Er boxte ihn spielerisch in die Seite. „Wie lange meinst du dauert es, bis dieser Geruch aus meinem Hemd verschwunden ist?“

„Das verbrennst du besser!“ Lachend setzte er das Glas an seine Lippen. Es war gut, dass Tristan da war. Endlich.

***

Mühsam kaute Yuna den Tofubraten. Das Stück in ihrem Mund rutschte merkwürdig glitschig zwischen den Zähnen hin und her. Der Geschmack war so, wie Charlies Marinade gerochen hatte: widerlich. Doch es war nicht das Essen in ihrem Mund, was sie beschäftigte, es war Tristan. Er hatte so anders ausgesehen, es war kaum zu glauben. Aus dem schlaksigen zurückhaltenden Jungen war tatsächlich ein Mann geworden. Er war größer, als sie es in Erinnerung hatte, vielleicht war es aber auch nur seine Körperhaltung, die sich verändert hatte. Aufrecht hatte er ihr gegenübergestanden. Zwar war er ihrem Blick ausgewichen, schien aber wesentlich selbstbewusster zu sein als früher. Es nervte sie, es zugeben zu müssen, aber er sah besser aus, als sie erwartet hätte. Nicht gut für ihren Geschmack, aber eben auch nicht schlecht. Trotzdem ohne Frage zu ordentlich, bemüht schick und fast schon elitär. Doch eigentlich passte das ganz gut zu seiner Familie. Diese Schnösel. Auch wenn seine Mutter zu Yuna immer nett gewesen war, so war Tristans Familie doch das genaue Gegenteil von ihrer. Sie hatten mehr Geld, und das merkte man ihnen auch an. Vor allem Tristan hatte ihr immer das Gefühl vermittelt, nicht gleichwertig zu sein. Er hatte sie belächelt, oder zumindest hatte Yuna sich in seiner Gegenwart so gefühlt. Und heute hatte er wieder diese Selbstzufriedenheit ausgestrahlt, die sie so störte. Die Abneigung in seinem Blick war zu erkennen gewesen, als er ihre Eltern und das Haus musterte. Zugegeben, sie waren vielleicht etwas ungewöhnlich, dennoch hätte er sich etwas bemühen können, es nicht derart zu zeigen.

„Es scheint dir dieses Jahr besonders gut zu schmecken“, brummte Charlie.

Yuna sah auf ihren Teller. Er war leer. In ihre Gedanken vertieft, hatte sie tatsächlich das ganze Stück verdrückt. „O ja, der Braten war wirklich außergewöhnlich.“ Es war zumindest nicht gelogen.

„Er ist ganz fabelhaft!“ So wie Gitta die Stücke auf ihrem Teller seit einer gefühlten Ewigkeit hin- und herschob, musste Yuna ein Lachen unterdrücken. Es war eine Weihnachtstradition, diesen ekelhaften Braten zu essen und für ihren Vater würden sie dies auch bis in alle Ewigkeiten tun.

 

Die Zigarette tat gut. Eben hatten sie die Geschenke ausgepackt, wie immer hatten sie in Gittas selbstgefärbten Batiktüchern unter der Palme gelegen. Jetzt saß sie wieder auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster. Durch die Dunkelheit konnte sie in das hell erleuchtete Wohnzimmer nebenan sehen und den großen aufwändig mit roten und silbernen Kugeln geschmückten Weihnachtsbaum erkennen. Immer wieder einmal huschte ein Familienmitglied der Hoffmanns am Fenster vorbei.

Plötzlich wurde ein Licht in dem Raum gegenüber eingeschaltet. Neugierig sah sie zu Tristans ehemaligem Kinderzimmer. Wie oft hatten sie sich früher wechselseitig unfreundliche Zeichen gegeben, oder sich einfach komplett ignoriert? Yuna konnte erkennen, wie er seinen Koffer auf das Bett warf und sich einen Moment in dem Zimmer umzusehen schien. Ja, du warst lange nicht hier. Er trug nur ein Unterhemd, öffnete den Koffer und nahm ein neues Hemd heraus. Yuna zog die Augenbrauen hoch. Tristan sah trainierter aus, als angenommen. Sicherlich ging er in London in ein teures Fitnessstudio und trank danach diese hochpreisigen Aufbau-Shakes. Belustigt nahm sie einen weiteren Zug. Warum dachte sie nur solch gemeine Dinge? Ja, er war ein Idiot, aber es waren trotzdem keine passenden Gedanken an einem Tag wie heute. Offensichtlich reichten fünf Jahre aus, um zumindest optisch ein neuer Mensch zu werden. Doch nichts, was sie heute an Tristan wahrgenommen hatte, konnte sie überzeugen, dass diese Veränderungen tiefer gingen als sein Aussehen.

Tristan sah vom Koffer auf und zu ihr hinüber. Yuna schluckte und überlegte, wie sie reagieren sollte. Es war Weihnachten, ein Mittelfinger sollte an solch einem Tag genügen. Kaum merklich nickte sie ihm zu. Als er ebenfalls nickte und sich das Hemd überzog, atmete sie auf. Vermutlich waren sie tatsächlich älter und reifer geworden. Er hatte nicht einmal den Vorhang zugezogen, wie er es früher immer getan hatte. Oder sollte es eine Botschaft sein? Dass sie ihm egal war und ihn nicht mehr störte?

Yuna steckte den Zigarettenstummel in das Marmeladenglas und schraubte den Deckel zu. Nein, so viel reifer war sie wohl doch nicht. Wie eine Sechzehnjährige versteckte sie die Beweise für ihre Verfehlungen vor ihrer Mutter. Sie schloss das Fenster und warf einen letzten Blick auf Tristan, der seinen Koffer ausräumte. Jetzt brauchte sie Glühwein. Eine Menge davon.

 

„Lasst eure Gedanken reisen, wohin sie wollen.“ Gittas Stimme war leise und sanft. Erneut stieß sie mit dem Klöppel gegen die Klangschale.

Yuna lag mit geschlossenen Augen auf dem Wohnzimmerboden, den Kopf auf eines der Sitzkissen gestützt und lauschte dem hellen Ton. Sie hatte den Glühwein wohl ein wenig zu hastig getrunken, denn es war, als würde sich das Zimmer um sie herum drehen. Noch immer glaubte sie, den Klang zu hören, war sich jedoch nicht sicher, ob sie es sich nur einbildete. Stöhnend rappelte sie sich auf. „Ich brauche etwas frische Luft. Macht ihr ruhig weiter.“

Charlie, der mit der Katze auf dem Schoß im Schaukelstuhl saß, nickte mit geschlossenen Augen, während Gitta ihr liebevoll zulächelte. Die Klangschalenmeditation war ein weiteres Highlight des alljährlichen Festes. Doch heute hatte Yuna noch weniger Nerven für die erzwungene Entspannung als üblich.

Sie zog sich die dicke Jacke an und schlüpfte in ihre Winterschuhe. Die kühle Luft tat wie vermutet gut, hier draußen drehte sich die Welt nicht mehr. Yuna setzte sich auf die kleine Bank neben der Haustür und legte den Kopf in den Nacken, um den Himmel zu betrachten. Funkelnd schienen die Sterne über ihr zu tanzen. War dafür auch der Glühwein verantwortlich, oder war heute einfach eine besonders klare Nacht?

„Yuna! Frohe Weihnachten!“, hallte Helens Stimme durch die Nachtluft.

Yuna bemerkte, dass sie nicht mitbekommen hatte, dass die gesamte Nachbarsfamilie die schmale Sackgasse entlanggekommen war. Mist. Sie stand auf und ging, die Hände in den Jackentaschen versteckt, durch das niedrige Gartentor. „Vielen Dank für die Plätzchen, sie schmecken wirklich gut.“ Sie lächelte Helen verlegen an, doch diese umarmte sie herzlich.

„Wir waren gerade in der Christmette. Und was macht ihr?“, erkundigte sich die Nachbarin, während sie ihre Hände wieder in den Pelzmuff zurückschob.

„Klangschalen und Meditieren. Das Übliche also“, antwortete Yuna.

„Ach, du hast einen herrlichen Humor.“ Helen schüttelte fröhlich den Kopf. „Dann wünsche deinen Eltern bitte ein schönes Fest. Ich bin todmüde und muss ins Bett. Ihr Kinder kommt einfach nach.“ Mit einem Blick in die Runde schnappte Helen ihren Mann am Arm und ging auf die Haustür gegenüber zu.

„Ich nehme an, das war kein Witz?“ Tristan sah sie abschätzend an.

„Natürlich nicht.“ Yuna machte einen Schritt nach vorne und umarmte Elise. „Schön, dich zu sehen.“ Dann hob sie die Hand und Kon schlug wie gewöhnlich ein.

„Und ihr wart brav in der Kirche?“, hakte Yuna grinsend nach.

„Über zwei Stunden ist der Mist gegangen.“ Mürrisch schüttelte Kon den Kopf.

„Dagegen klingen Klangschalen gar nicht so verkehrt“, antwortete Yuna. Lachend verbeugte sie sich. „Dann wünsche ich noch einen schönen Abend.“

Kon verbeugte sich ebenfalls und führte die kichernde Elise davon. Tristan folgte ihnen wortlos.

Yuna ging zurück ins Haus und zog sich Schuhe und Jacke aus. Gitta hatte inzwischen zwei Klangschalen vor sich, die sie abwechselnd anstieß. Vom Schaukelstuhl war leises Schnarchen zu hören. Zufrieden legte Yuna sich wieder auf den Boden. Das hier war ganz klar allemal besser als eine Christmette. Was auch immer das war.

***

Der Wind war eisig und fuhr in jede Ritze seines Mantels. Trotz der Kälte gab es keinen Schnee, es war zu schade. In England schneite es selten und eigentlich hatte Tristan auf weiße Weihnachten gehofft. Er schlug den Kragen hoch und zog den Hals noch ein wenig mehr ein.

„Justus! Spuck das wieder aus!“ Laut schallte der Ruf seines Bruders über den Feldweg. Der blöde Hund hatte irgendetwas auf dem vereisten Acker entdeckt und würgte es, mit einem schuldbewussten Blick, eilig in sich hinein.

„Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen“, brummte Tristan und betrachtete mit aufeinandergepressten Lippen das Tier.

„An was kannst du dich nicht gewöhnen?“ Konstantin griff nach einem Erdklumpen und warf ihn nach dem Hund. Der Wurf war perfekt und traf Justus am Hinterbein. Er tat einen kleinen Satz und schluckte den Rest, von was auch immer er da gefunden hatte, hinunter. Seelenruhig trottete er dann auf sie zu.

„Dass unsere Eltern den Namen nochmal genommen haben. Das ist falsch.“

„Ich schätze, sie haben den Namen aus Gewohnheit einfach erneut verwendet. Es sind beides braune Labradore und sie sehen sich doch wirklich ähnlich“, überlegte Kon.

Ablehnend musterte Tristan das Tier. Justus war inzwischen bei ihnen angekommen und lehnte sich, als sei nichts vorgefallen, an Kons Bein. Nein, sein alter Hund, ihr erster Familienhund, war Justus gewesen. Das hier war bestenfalls Justus Zwei und er war mit dem Alten auf keinen Fall zu vergleichen.

Tristan steckte die Hände in die Manteltasche und ging weiter neben seinem Bruder den Weg entlang. Es war schön, etwas Ruhe vor dem Trubel daheim zu haben. Seine Mutter überschüttete ihn mit Aufmerksamkeit, und den ganzen Tag nötigte sie ihn irgendetwas zu essen. Aber so gehörte sich das wohl am ersten Weihnachtsfeiertag. Also spielte Tristan das Spielchen mit. Aß, was sie ihm vorsetzte, und hörte nickend zu, wenn sie ihm den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft erzählte.

„Es ist gut, dass du gekommen bist“, sagte sein Bruder zufrieden.

„Ja, es war wirklich an der Zeit.“

Kon stieß ihm in die Rippen und deutete grinsend nach vorne. „Wir bekommen Gesellschaft!“

Tristan kniff die Augen zusammen. Ein Jogger kam in der Ferne auf sie zu. „Wer ist das?“

„Ach, warte einfach ab.“ Noch immer hatte er dieses Grinsen und Tristan konnte sich denken, um wen es sich handelte. Waren sie nicht zu dem Spaziergang aufgebrochen, um für eine Weile ihre Ruhe zu haben? Und jetzt kam ausgerechnet sie ihnen entgegen. Ein unzufriedenes Brummen entschlüpfte seinem Brustkorb.

Justus rannte bellend auf Yuna zu und hüpfte um sie herum, bis sie bei ihnen ankam. Glucksend beugte sie sich hinunter und kraulte ihn hinter den Ohren. Noch ein Grund den Hund nicht zu mögen, offensichtlich vergötterte er diese nervige Chaotin.

Schließlich richtete Yuna sich auf und musterte die Brüder. „Hattet ihr genug von der Festtagsaufregung und seid geflüchtet?“

„So in etwa“, antwortete sein Bruder und hielt ihr wie ein Sechzehnjähriger die Hand zum Einschlagen hin. Wurden diese Kindsköpfe denn nie erwachsen?

Yuna schlug ein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Sie atmete schwer und ihr Gesicht wurde von einer gesunden Röte überzogen. Wie kam es, dass sie nicht fror? Yuna trug nur eine dünne Laufhose und ein sicher ebenso wenig wärmendes enganliegendes Oberteil. Er selbst fror sich hier den Hintern ab und sie rannte in dieser Aufmachung durch die Gegend.

„Ging mir ähnlich. Eine Stunde Ruhe hat jetzt wirklich gutgetan.“ Yuna trat einen Schritt auf Kon zu und strich ihm kurz über den Oberarm. „Dann bis demnächst. Und grüß Elise von mir.“

Verwundert sah Tristan ihr nach. „Warum zum Teufel, ist sie zu dir so nett?“ Nie hatte er begriffen, warum sein Bruder und diese Frau sich derart gut verstanden, wo er doch, seit er denken konnte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Yuna aneinandergeriet. Wenn ihm seine Erinnerung keinen Streich spielte, hatte Yuna ihm schon damals im Kindergarten-Sandkasten die Schaufel über den Kopf gezogen. Aber nicht einmal jetzt, mit Mitte zwanzig, schien sein Bruder zu erkennen, wie furchtbar die Göre eigentlich war.

„Weil wir was miteinander hatten, würde ich annehmen?“, antwortete Kon schulterzuckend.

„Du hattest was mit Yuna?“ Entsetzt starrte er Kon an. „Wann war das?“

„Als wir sechzehn waren, haben wir einen Sommer wie wild gevögelt. Hast du nicht mitbekommen, wie sie abends immer das Efeugerüst vor meinem Zimmer hochgeklettert ist?“ Als wäre nichts dabei, ging Kon entspannt weiter.

„Das war sie?“, stieß Tristan hervor. Natürlich erinnerte er sich an jenen Sommer vor vielen Jahren. Ständig hatte er seinen Bruder im Zimmer nebenan bei eindeutigen Handlungen gehört. Nicht im Traum wäre ihm damals eingefallen, dass es die Nachbarstochter war, die sich zu ihm geschlichen hatte. Aber wenn er jetzt so darüber nachdachte, fragte er sich selbst, warum er nicht darauf gekommen war. Wer sonst, außer Yuna, wäre wohl so dreist, das Rankgitter hochzuklettern, um sich an den Eltern vorbeizuschleichen?

„Das war eine ganz miese Nummer, kleiner Bruder.“ Tadelnd schüttelte Tristan den Kopf.

„Bitte?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Kon ihn an.

„Ausgerechnet das Weib, das es mir die ganze Kindheit und Jugendzeit über schwergemacht hat? Reicht es nicht, dass ihr befreundet wart, musste das auch noch sein?“

Lachend schlug sein Bruder ihm auf die Schulter. „Trägst du es Yuna noch immer nach, dass sie dir damals die Nase gebrochen hat?“

„Wie sollte ich das nicht tun? Es war ja nicht nur das, sie hat mich gepiesackt, wo sie nur konnte. Und du gehst mit ihr ins Bett?“ Noch immer konnte er es nicht fassen. Diese Frau hatte keinen Stil, was hatte Kon nur an ihr gefunden? Vielleicht war sie tatsächlich ein klein wenig hübsch, auch wenn er sich das nicht eingestehen konnte. Doch sobald Yuna den Mund aufmachte, war sie schlicht ätzend. Nein, es ergab keinen Sinn.

„Du warst zehn und Yuna acht. Dein Problem, wenn du dich nicht wehren konntest.“

„Was bitte hätte ich tun sollen? Ein Mädchen schlagen?“

„Bei mir hätte sie sich das nicht getraut. Mehr sage ich dazu nicht.“

„Na, wenigstens hat die Sache nur einen Sommer gedauert. Also hast du letztlich eingesehen, was für eine dämliche Idee das war“, brummte Tristan.

„Es war, um ehrlich zu sein, etwas anders.“ Kon sah sich nach dem Hund um. „Yuna wollte nichts Ernstes. Ich hätte niemals nein gesagt, wenn sie mehr gewollt hätte.“

Meinte sein Bruder das etwa ernst? „Immerhin hast du jetzt was deutlich Besseres.“ Bei dem Gedanken daran, wie es wäre, Yuna als zukünftige Schwägerin zu haben, stellten sich Tristan die Nackenhaare auf.

„Ja, Elise ist toll. Aber die beiden sind nicht miteinander zu vergleichen. Jede hat etwas auf ihre Art.“

Jede hat etwas. Einen Vogel vielleicht, aber sonst konnte Tristan nicht erkennen, was an Yuna toll sein sollte. „Hast du gewusst, dass die eine Nacktkatze haben?“ Belustigt dachte er an den scheußlichen Anblick des Tieres zurück.

„Justus hat sie an Ostern durch die Nachbarschaft gejagt. Ich frage mich, ob der Hund rasiert ähnlich scheiße aussehen würde?“, überlegte Kon und brach in Gelächter aus.

Dass Justus die Katze dieser Irren gejagt hatte, machte ihm den Hund zwar etwas sympathischer, doch Tristan konnte sich einfach nicht mit ihm anfreunden. Es glich Verrat, ihn mit dem gleichen Namen zu rufen wie seinen Vorgänger.

 

Genervt warf Tristan sein Buch über Aktien und Wertpapiere an die Zimmerwand. Von nebenan war Kichern zu hören. Kaum war er zuhause, musste er mitanhören, wie Kon und Elise es miteinander trieben. Ganz genauso wie früher. Und wie früher quietschte auch Kons Bett aufdringlich laut. Seine Eltern hatten Glück, dass ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss lag. Deshalb hatten sie auch damals nichts von Kons nächtlichen Aktivitäten mitbekommen. Tristan zog sein Handy aus der Hosentasche und checkte die Nachrichten. Susanna hatte ihm ein Bild gesendet. Mit ihren Eltern stand sie vor dem großen Ferienhaus in den Schweizer Bergen. Vielleicht würde er seine Freundin tatsächlich im nächsten Jahr mitbringen und endlich seinen Eltern vorstellen. Wobei es bei Susanna und ihm längst nicht so ernst war wie bei seinem Bruder und Elise. Zumindest fühlte es sich nicht so an. Oft sahen sie sich wochenlang nicht. Tristan hatte sie über ihren Vater kennengelernt, als er vor eineinhalb Jahren ein Praktikum in dessen Firma absolvierte. Auf hohen Stöckelschuhen und in schicken Kleidern war Susanna an einem Tag ins Büro gestürmt und hatte sich augenblicklich für Tristan interessiert. Noch am gleichen Abend waren sie das erste Mal miteinander ausgegangen. Sie passten zueinander, zumindest glaubte er das. Vielleicht würde sie sogar eines Tages eine Frau abgeben, mit der an seiner Seite er sich bei Geschäftsessen präsentieren konnte. Aber noch war es zu früh sich festzulegen. Und seine Freundin konnte durch ihre gehobenen Ansprüche ermüdend anstrengend sein. Aber so war das wohl, mit einer Frau aus gutem Hause. Sicher, seiner Familie ging es auch nicht schlecht und sie hatten sich immerhin sein Studium in England leisten können, doch im Vergleich zu Susannas Elternhaus fühlte er sich oft unzulänglich. Das Fest hier zu verbringen, würde für seine Freundin eine Umstellung bedeuten. Einmal hatte er ihr als kleine Aufmerksamkeit eine Flasche Sekt mitgebracht und Susanna hatte abwertend die Nase gekräuselt. Seitdem kaufte Tristan nur noch Champagner. Vermutlich wäre die gute, aber einfache Hausmannskost seiner Mutter unter Susannas Niveau. Aber vielleicht hatte er auch Glück, und sie zog es vor, im nächsten Jahr ebenfalls in dem Ferienhaus in der Schweiz zu feiern.

Tristan stand auf und griff nach dem Buch auf dem Boden. Sein Blick fiel durch das Fenster zu Yunas Zimmer. Mit konzentriertem Gesichtsausdruck saß sie am Schreibtisch und schien etwas zu schreiben. Mit einem lauten Rutsch zog er den Vorhang zu und begann sich auszuziehen. Nur noch einen Tag, dann konnte er von hier abhauen und zurück nach London reisen.

***

Yuna gähnte und rieb sich über das Gesicht. Auch an einem Feiertag musste sie lernen. Ausreden gab es in ihrem Studium nicht, zumindest nicht, wenn sie nicht zurückfallen wollte. An manchen Tagen zweifelte sie an ihrem Vorhaben. Dann, wenn der Stoff sie zu erdrücken drohte und sie glaubte, sich kein weiteres Wort mehr merken zu können. Doch wann immer das vorkam, zählte sie die Gründe auf, warum sie das alles hier tat. Wer sie war und wer sie werden wollte. Und was sie tun wollte, war Menschen zu helfen, die weniger Glück hatten als sie selbst, mit ihrer behüteten Kindheit und dem sicheren Zuhause. Dem problemlosen Zugang zu medizinischer Versorgung und einem Schulweg, bei dem sie nicht hatte fürchten müssen, auf eine Mine zu treten. Und dass das hier, dieses unaufhörliche Lernen, der einzige Weg zum Ziel war. Nach einem langen Studium rückte das Ende jetzt allmählich in greifbare Nähe. Das half, um sich für den Endspurt zu motivieren. Es war wie beim Joggen, wenn sie sich auf das Ziel konzentrierte, konnte sie das Brennen in ihren Beinen ein wenig länger ignorieren.

Noch drei Semester und sie würde ihren Abschluss in der Tasche haben. Doch für heute war die Luft raus. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett. Yuna klappte das Buch zu und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Als es verschwamm, kniff sie die Augen zusammen und sah hinüber auf das Nachbarhaus. Kons Zimmer war bereits dunkel, aber durch die Vorhänge von Tristan drang ein wenig Licht hindurch. Noch immer wusste sie nicht, was sie davon halten sollte, dass er nach Jahren zurückgekommen war. Mehr als dass er in England studiert hatte, wusste sie nicht. Aber das konnte doch nicht der einzige Grund sein, warum Tristan so lange nicht hier gewesen war. Nie hatte sie sich darüber Gedanken gemacht. Sie hatte sich nie dafür interessiert, was er trieb. Und jetzt war er plötzlich da. Sah so unglaublich verändert aus und doch wirkte er noch immer wie der steife Spießer von früher. Kaum dass sie ihn gesehen hatte, waren all diese Erinnerungen an ihre Kindheit in ihr aufgekommen. Wie sie sich gegenseitig reizten und stritten, wie er sie beleidigte und runtermachte. Diese ständigen Anspielungen darauf, dass ihre Eltern kein Geld hatten. Und dass sie schräg waren und sie in seinen Augen dumm. Vielleicht hatte er es nie so ausgesprochen, aber Yuna war sich sicher, dass genau das seine Meinung über sie war. Aber sie hatte ihm jedes einzelne Mal die Stirn geboten. Tristan hatte sie gelehrt, für sich selbst einzustehen. Zwar war es oft schmerzhaft gewesen, aber Yuna war nie eingeknickt. Diese Stärke hatte ihr in den vergangenen Jahren viel genutzt. Niemals würde sie sich von jemandem sagen lassen, dass sie etwas nicht konnte – schon gar nicht von einem Mann. Und erst recht nicht von einem wie Tristan. Typen wie ihn konnte sie auf hundert Meter erkennen. An ihrer Körperhaltung, ihrem Blick und ihrer selbstgefälligen Mimik. Genau diese Männer begegneten ihr an der Uni oft genug und sie würdigte keinen eines Blickes.

Yuna stand auf, huschte zum Bett und kroch unter die Decke. Dass Tristan sie ebenfalls noch immer hasste, war nicht zu übersehen. Ob ihre gemeinsame Vergangenheit auch auf ihn eine Wirkung gehabt hatte? Ging Tristan Frauen, die ihr ähnlich waren, mit einer ebenso tiefen Abneigung aus dem Weg, so wie es bei ihr mit Männern seines Schlags war? Leicht schüttelte sie den Kopf. Was dachte sie überhaupt darüber nach? Es interessierte sie nicht, was mit Tristan war. Das hatte es nie.

***

Ungelenk umarmte Tristan seine Mutter, dann trug er den Koffer zum Auto und hob ihn hinein. Kon würde ihn auf dem Weg nach Hause in Frankfurt am Flughafen absetzen und heute Abend konnte er wieder in seiner Wohnung entspannen. Endlich etwas Ruhe haben und die zusätzlichen Kilos, die ihm die Feiertage dank seiner Mutter eingebracht hatten, im Fitnessstudio wieder ausschwitzen. Es war schön gewesen, seine Eltern wiederzusehen, aber jetzt war es genug.

Die Haustür von nebenan fiel mit einem Knall zu und Tristan sah auf. Charlie lief mit Yuna zu seinem Bus. Irritiert musterte Tristan sie.

„Warum trägt Yuna einen Bundeswehr-Rucksack?“, entfuhr ihm die Frage. Sie schleppte das große Camouflage-Teil auf ihren Schultern zum Parkplatz. Sicherlich war so ein Ding in Yunas Wahrnehmung trendy, tatsächlich aber fand Tristan es ausgesprochen lächerlich. Und überhaupt: Wäre ein Trolley nicht wesentlich praktischer?

Kon trat neben ihn und zuckte mit den Schultern. „Nehme an, der wird noch von ihrer Grundausbildung sein. Vermutlich passt da gut was rein.“

„Grundausbildung?“, wiederholte Tristan.

„Wusstest du das nicht?“ Verblüfft sah sein Bruder ihn an. „Yuna studiert doch Medizin über den Bund.“ Kon stieß einen grellen Pfiff aus, winkte Yuna zu, die ebenfalls die Hand hob, und stieg ins Auto.

Yunas Blick fand Tristan, dann sah sie von ihm weg.

Das Hippie-Kind hatte sich verpflichtet? Niemals wäre er auf so etwas gekommen. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Tristan, wie sie den Rucksack in den Bus warf. Konnte etwas gegensätzlicher sein, als ein Militärrucksack in einem klapprigen VW-Bus mit Free-Tibet- und Anti-Atomkraft-Aufklebern? Kopfschüttelnd ging er um das Auto herum und setzte sich auf die Rückbank.

Kon sah ihn im Spiegel an. „Ein Königreich für deine Gedanken,“ sagte er grinsend und startete den Motor.

„Ich will nur heim und endlich wieder in Ruhe schlafen“, gab Tristan zurück.

Elise sah sich flüchtig zu ihm um und wurde rot. Offensichtlich bezog sie seine Äußerung auf ihre nächtlichen Aktivitäten mit seinem Bruder.

„Nein, das ist es nicht, worüber du nachdenkst.“ In Kons Stimme schwang Spott mit.

Ja, das war es nicht, was ihm durch den Kopf spukte. Ganz plötzlich hatte er das Bild von gestern Abend vor Augen gehabt, wie Yuna am Schreibtisch saß und lernte. Diese Ausbildung hätte er ihr niemals zugetraut und Tristan musste ehrlich zugeben, dass er mehr als überrascht war. Er selbst hatte all seine Energie erst in das Studium und dann in den Start ins Berufsleben gesteckt. Und auch jetzt noch bestimmte die Arbeit jeden Aspekt seines Lebens. Dass diese Göre von nebenan es schaffte, sich durch ein Medizinstudium zu beißen, kam unerwartet. Vielleicht hatte sie sich doch ein wenig verändert?

 

Tristan sackte auf den Sessel und trank einen Schluck aus dem Whiskyglas. Hinter der Fensterscheibe leuchteten die Lichter der Stadt verführerisch in der Dunkelheit. Das Großstadtleben gefiel ihm. Es war unkompliziert. Seine Wohnung nutze er eigentlich nur zum Schlafen. In der Küche gab es nicht einmal Töpfe in den Schränken. Gab es eine größere Zeitverschwendung, als stundenlang jeden Tag in der Küche zu stehen, um Frühstück zu richten oder abends zu kochen? Nein, das kam für ihn nicht in Frage. Zu praktisch war es im Gegenzug, sich einen Bagel auf dem Weg zur Arbeit zu holen und mittags schnell essen zu gehen. Abends ging er mehrmals die Woche mit seinen Freunden in eine Bar. Wenn Susanna in der Stadt war, führte er sie in die besseren Restaurants aus. Wie anders das Leben hier doch im Vergleich zu dem daheim war. Anders als das von Kon und Elise, die sich eine kleine Wohnung nur eine Stunde von den Eltern entfernt teilten. Kon, der angehende Mathe- und Sportlehrer, und Elise, die Logopädin. Lächelnd trank Tristan einen weiteren Schluck. Die beiden waren ohne Frage ein gutes Gespann. Es würde ihn wundern, wenn sie sich irgendwann trennen würden. Es schien, als hätte Kon seine wilden Zeiten hinter sich gelassen und ganz offensichtlich vergötterte er Elise. Jedenfalls ließen die Blicke seines Bruders dies vermuten.

Ein Seufzer entfuhr Tristan. In den letzten Jahren hatte er sich wirklich zu selten bei Kon gemeldet. Natürlich hatten sie Kontakt gehabt, aber eher sporadisch als regelmäßig. Und das lag wohl eher an ihm als an Kon. In seinem Beruf war er stark eingespannt, doch der Weg nach oben führte eben nur über harte Arbeit. Für die Investmentfirma musste er täglich andere Unternehmen bewerten und Einschätzungen abgeben, von denen manchmal auch das Schicksal von deren Angestellten abhing. Wenn er ein Unternehmen als nicht kreditwürdig einstufte, verloren hin und wieder Meschen ihren Job. Er bemühte sich, diese Gedanken nicht zu nahe an sich heranzulassen, aber manchmal gelang es ihm nicht. Und doch hatte er innerhalb von zwei Jahren, die er seit dem Studium in der Firma arbeitete, bereits die dritte Beförderung erhalten.

Er würde sich in Zukunft öfter bei seinem Bruder melden. Und auch bei seinen Eltern. Er war wohl doch zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Damit, mehr aus sich zu machen als der Vorstadtsohn, der er gewesen war, als er damals nach England kam. Schon in der Grundschule war es ihm wichtig gewesen, immer der Klassenbeste zu sein. Niederlagen einzustecken fiel ihm bis heute schwer. Wenigstens in diesem Bereich hatte er als Kind gegen seinen charismatischen, alleskönnenden Bruder gepunktet. Tristan war der Vernünftige gewesen, der immer alles im Griff hatte. Kon hingegen konnte immer schneller rennen, weiter werfen, höher klettern. Aber dafür hatte Tristan ihm oft genug die Hausaufgaben gemacht und die Buchbesprechungen geschrieben. Und trotzdem mochten sie sich. Sein kleiner Bruder lag ihm vermutlich mehr am Herzen, als sonst jemand in seinem Leben. Warum also hatte er ihn in den letzten Jahren so vernachlässigt? Wäre es so schwer gewesen, ihn auf dem Weg vom Büro zum Fitnessstudio rasch anzurufen? Oder ihm morgens schnell eine Mail zu schreiben? Bisher hatte er das schlechte Gewissen seiner Familie gegenüber unterdrückt und stets Rechtfertigungen für sein Fernbleiben gefunden.

Tristan hielt zwar nicht viel von Vorsätzen für das neue Jahr, doch dieses Jahr wollte er einen fassen. Den, mehr an seine Familie zu denken. Wett zu machen, was er in den letzten Jahren verpasst hatte. Und er würde es durchziehen, wie alles, was er tat. Anders als die ganzen neuen Kunden, die im Januar plötzlich das Fitnesscenter füllten. Ab nächster Woche würde er wieder an den Geräten Schlange stehen müssen. Bis März hielt der Ansturm meist an, danach gaben die Ersten auf und spätestens im Mai kamen nur noch die Stammkunden. So lange würde er spät abends oder ganz früh vor der Arbeit trainieren. Auch nur ein Training ausfallen zu lassen, kam nicht in Frage. Zu sehr erinnerte er sich noch immer an seine Jugend, als er für die meisten nur ein Nerd war. Er war schlaksig gewesen, ungeschickt und ein wenig zu schmal gebaut. Und deswegen hatte er oft ein geringes Selbstbewusstsein gehabt, das hatte Tristan im Nachhinein irgendwann begriffen. Wenn er jetzt in den Spiegel blickte, gefiel ihm, was er sah. Ein Kerl, der sich durchbeißen konnte und erreichte, was er sich in den Kopf setzte. Zufrieden sah er sich in der schicken Wohnung um, dann wieder nach draußen auf die funkelnden Lichter. Ja, hier gehörte er hin. Nicht in eine Vorstadtsiedlung.