Leseprobe Mein Weg zum Duke

PROLOG

Westphal Estate, August 1798

Er gehörte nie irgendwo dazu. Das schien eines der Wesensmerkmale seines Lebens zu sein. So war es schon seit seiner Geburt gewesen, wenngleich er damals noch keine Ahnung davon gehabt hatte. Er wusste nicht genau, wann ihm dieses Wissen eingeprägt worden war. Es gab keinen Moment der Erleuchtung oder so etwas. Eher schien es, als sei dieses Wissen über die ganzen zwölf Jahre seines Lebens wie aus einer unterirdischen Quelle in sein Bewusstsein eingedrungen. Augenblicke wie jener jetzt gerade ließen ihn erkennen, wie tief das Wasser bereits geworden war.

Evan Marchman war ein Spion. Von seinem hohen, bequemen Platz in der Krone einer Kastanie aus hatte er einen fast ungehinderten Ausblick auf die ganze Gegend. Wo die Sicht versperrt war, musste er lediglich den Kopf etwas neigen, um durch das dichte Laub sehen zu können. Für jemanden auf dem Boden war er praktisch unsichtbar. Er konnte hier oben nur entdeckt werden, wenn er sich selbst verriet. Und das hatte Evan nicht vor. Sonst würde man ihn vielleicht einfangen.

Und foltern. Bestimmt würde er dann gefoltert werden.

Daran wollte er gar nicht erst denken. Welcher Spion denkt schon daran?, fragte er sich. Lieber vom Baum fallen und sich das Genick brechen, als vom Feind erwischt zu werden. Lieber das Leben mit einem mutwilligen Fehltritt selbst beenden, als in den dunklen Verliesen des Herzogs zu schmachten. Daumenschrauben. Fußfesseln. Glühend heiße Eisen. Peitschen. Die Streckbank.

Evan riss sich am Riemen, ehe all die Dinge, an die er nicht denken mochte, das Einzige waren, woran er noch denken konnte. Ein Spion zu sein erforderte einiges mehr an gedanklicher Disziplin, als er besaß, stellte er fest. Er würde sich in dieser Hinsicht noch beträchtlich anstrengen müssen. Langsam verblasste sein Grinsen, das Grübchen links von seinem Mund verschwand, er zügelte seine Miene und seine Gedanken und wartete.

Er hörte sie, noch ehe er sie sah. Uber die weiten grünen Weiden und die sanften Hügel hinweg trug ihm der Wind fröhliches Gelächter zu. Die Tiere einer Schafherde hoben alle auf einmal die Köpfe, um zu sehen, was vor sich ging. Den grasenden Rindern schien es gleichgültig zu sein; sie bewegten sich lediglich weiter zu einem anderen grünen Fleck in der Landschaft.

Evan erhaschte flüchtige Blicke auf die Gruppe, die sich vom fernen Herrenhaus her näherte. In der eigentümlichen Biegung der Straße stieg über den Kutschen Staub auf, und gelegentlich sah man ein paar Reiter auf prächtigen Pferden aus dem Stall des Herzogs, die vorpreschten und über einen der kleinen Hügel galoppierten. Keine vereinzelte Stimme erhob sich über die anderen, kein Redefetzen und kein Lied erreichten Evan an seinem luftigen Platz, doch er glaubte nicht, dass er sich die Heiterkeit der Herannahenden nur einbildete. Über die in dieser Peripherie des Waldes zu hörenden Laute – die Schreie der Schwalben, das Rauschen des Windes in den Ästen, das Plätschern des Wassers am Rand des Sees – hinweg vernahm er wahre Lachsalven.

Er wusste, er sollte sein Versteck in der Baumkrone verlassen, ehe er das Gelächter direkt unter der Nase hatte. Er war nicht wirklich ein Spion. Wenn er hierblieb, würde sich der Nachmittag endlos hinziehen, und es würde nichts zu tun geben außer diese Leute zu beobachten, und das konnte zu nichts Gutem führen. Seine Mutter würde enttäuscht von ihm sein, wenn sie erfuhr, was er tat. Als er am Morgen weggegangen war, hatte er ihr lediglich gesagt, er wolle fischen gehen. Sein Angelzeug hatte er wohlweislich mitgenommen, doch das war nur ein Teil des Täuschungsmanövers gewesen. Er hatte vorgehabt, hierher zu kommen, auch wenn er ihr irgendwie etwas anderes einreden musste.

Doch zu wissen, dass er sich nun besser aus dem Staub machen sollte, bedeutete noch lange nicht, es auch zu tun. Er hatte schon von dem Augenblick an, als er hörte, dass die Herzogin ihre Gäste mit einem Picknick unterhalten wollte, daran gedacht, hierher zu kommen. Die Nachricht hatte ihn auf dem üblichen Weg erreicht. Die Herzogin hatte ihren Sekretär informiert, der dem Ersten Butler die entsprechenden Anordnungen gab, der es dem Koch gesagt hatte, der das Küchenpersonal instruiert hatte, das geduldig leidende Blicke ausgetauscht und sich dann an die Arbeit gemacht hatte. Evan hatte es von einem der Jungen aus der Spülküche erfahren, der, wenn er den Beschränkungen des herzoglichen Landsitzes einmal fern war, schwatzte wie eine Elster. Blöd hatte Johnny Brown es genannt. Blöd.

»Klasse«, hatte er dann jedoch mit rollenden Augen gesagt. »Diese Angewohnheiten, die sie haben. Stell dir vor, du setzt dich freiwillig ins höllisch kitzelnde Gras und futterst mit den Ameisen und den Kaninchen und den Igeln. Die haben einfach nicht den vernünftigen Verstand der normalen Leute, das ist es. Drei Speisesäle und ein Frühstückszimmer im Herrenhaus, aber Ihre Hoheit ordnet an, ihre Gäste zum See zu bringen. Nicht, dass etwa einer von denen für sein Abendessen angeln würde. Zur Unterhaltung vielleicht, aber nicht fürs Abendessen.« Johnny hatte verwundert den Kopf geschüttelt und ausgespuckt. »Blöd.«

Evan wusste nicht recht, ob er Johnny zustimmen sollte, und da er eine wirkliche eigene Meinung nicht anzubieten hatte, schwieg er geflissentlich. Er hatte absolut nichts gegen Picknicks, und es freute ihn, dass auch seine Mutter sie mochte. Allerdings fischten sie für ihr Abendessen und brieten die in Blätter eingewickelten Forellen auf einem kleinen Feuer mit drei Steinen. Den zarten Rauchgeschmack bekam man im Haus nicht hin, und draußen zu sein tat der Stimmung seiner Mutter immer gut. Das teuflisch kitzelnde Gras bemerkte man so nicht einmal, geschweige, dass man sich darüber aufregte.

Vielleicht war die Herzogin gar nicht so anders als seine Mutter. Vielleicht tat es auch ihrer Stimmung gut, unter einem klaren, friedvollen Firmament zu sitzen. Wenn Evan an das glückstrahlende Lächeln seiner Mutter bei solchen Gelegenheiten dachte, konnte er Ihrer Hoheit dieses eigentümliche Vergnügen nicht missgönnen.

Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass die Herzogin ihm einmal zulächeln würde. Wenn er bei ihr einen unbedachten Moment der Freude erhaschte, dann nur, weil sie nicht wusste, dass er in ihrer Nähe war. Lieber würde sie es erdulden, dass tausend Ameisen einen ganzen Nachmittag lang über sie krabbelten, als auch nur einen Augenblick in seiner Gegenwart zu leiden.

Um sie nicht zu blamieren, den Herzog zu verärgern und auf sich selbst Schande zu bringen, blieb Evan reglos wie ein Stein in seinem Baum sitzen.

Die Reiter kamen zuerst. Es waren vier Männer und zwei Frauen. Einer der Frauen wurde beim Absteigen geholfen; die andere sprang ohne Hilfe auf den Boden. Zwei der Männer führten die Pferde weg und banden sie an einem schattigen Ort am Waldrand an. Evan beobachtete, wie sie näher kamen, aber keiner blickte nach oben, und die Pferde blieben ruhig. Vermutlich würde ihm an diesem Nachmittag niemand mehr näher kommen als jetzt eben, und er war nicht bemerkt worden. Es würde also alles bestens sein. Er war sicher.

Dann kamen die Kutschen, die Passagiere stiegen rasch aus und brachten einstimmig ihr Lob über die herrliche Landschaft zum Ausdruck, die sich vor ihnen ausbreitete. Evan dachte, sie hatten wohl eine schöne Aussicht, doch mit der seinen konnte die ihre nicht mithalten. Er konnte die ganze Breite und fast die gesamte Länge des Sees überblicken. Er konnte den subtilen Kontrast der Blautöne und des Silbers in der sich kräuselnden, spiegelnden Oberfläche des Wassers ausmachen. Er konnte über die ersten Erhebungen des Landes hinweg bis zu der Wiese mit den Wildblumen sehen und das wogende Gras und die sich im Wind biegenden Halme erkennen. Sein Horizont war um einiges weiter als der, den sie vom Boden aus hatten. Sein Panorama umfasste einen großen Teil des Besitzes der Westphals in Ambermede. Die Gäste des Herzogs sahen lediglich einen kleinen Ausschnitt davon; Evan sah fast das Ganze.

Die Ankömmlinge verteilten sich auf der Suche nach Plätzen für ihre Decken und Körbe am Seeufer und über den Hügel. Die Damen trugen Hauben, die mit minzgrünen und erdbeerroten Bändern verziert waren, und kurze Übermäntel aus dazu passender bedruckter Baumwolle. Sie waren fröhlich und strahlend und vergnügt, als sollten sie zu dieser Landschaft gehören, anstatt sich davon abzuheben. Selbst die Herren, mit der bemerkenswerten Ausnahme des Herzogs, wirkten nicht, als seien sie hier deplatziert. In ihren Nankinghosen, taillierten Gehröcken und weiten Leinenhemden vermittelten sie den Eindruck, als wollten sie sich mit Angeln oder Schwimmen vergnügen oder einfach nur ein Nickerchen halten.

Die meisten waren bereits barhäuptig; ihre Hüte waren das Erste gewesen, was sie zu Boden geworfen hatten, sobald die Decken ausgebreitet waren.

Der Herzog von Westphal trug seine Kopfbedeckung noch, einen Zylinder aus Biberfell und Seide, der besser auf die bevölkerten Wege eines Londoner Stadtparks gepasst hätte. Seine Hände steckten in Glacéhandschuhen, und in der Rechten hielt er einen Spazierstock. Die weiße Drillichhose hatte vom engen Sitzen in der Kutsche keine Falten abbekommen, und die Spitzen seines Kragens waren scharf wie Stifte. Der Rock lag eng an Schultern und Armen an und zeichnete seinen hochgewachsenen, athletischen Körperbau nach. Er lachte nicht offen und lächelte auch nicht ungezwungen; dennoch schien ihn seine Umgebung in keinster Weise aus der Fassung zu bringen. Er fühlte sich mit seinem Ernst offenbar so wohl wie seine Gäste mit ihrer Unbekümmertheit.

Evan beobachtete, wie der Herzog Ihrer Hoheit seinen Arm anbot und sie behutsam zu der Decke führte, die man für sie ausgebreitet hatte. Die Herzogin war so grazil, dass sie schon fast zerbrechlich wirkte. Ihr Teint war weiß wie Porzellan und ihre Züge beinahe hager. Ihre Gesichtshaut spannte sich straff über die deutlich hervorstehenden Knochen, ließ die Wangen hohl erscheinen und die Augen tiefer liegen, als sie es in Wirklichkeit waren. Sie war nicht weniger prächtig gekleidet als ihre Begleiterinnen, doch ihr apfelgrünes Mäntelchen gab ihr keine Farbe, sondern ließ eher noch den letzten Hauch einer solchen dahinschwinden.

Evan sah es deutlich, als sie den Kopf zurückwarf, um ihrem Gemahl etwas zu erwidern. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, und einen Moment lang schien es, als habe sie ihn gesehen. Ihr Blick ruhte auf einem Punkt hinter der Schulter des Herzogs, in einer direkten Linie zu Evan. Hätte sie durch den Fächer aus breiten Blättern sehen können, sie hätte ein Gesicht entdeckt, das so bleich war wie das ihre, was daher kam, dass Evan für einen kurzen Moment glaubte, ertappt worden zu sein.

Das war jedoch nicht der Fall. Er beobachtete, wie sie als Antwort auf die Bemerkung des Herzogs kurz lächelte und ihr Blick sich dann von ihm abwandte. Evans Herzschlag verlangsamte sich wieder zu seinem normalen Rhythmus. Befriedigt stellte er fest, dass er sich absolut nicht gerührt und nicht den geringsten Laut von sich gegeben hatte.

Vielleicht hatte er doch ein Talent zum Spion.

Als sein Freund South das geäußert hatte, war ihm diese Möglichkeit abwegig, ja geradezu lächerlich vorgekommen. Tatsächlich hatte er darüber gelacht, kam ihm nun in den Sinn. Und auch die anderen. North. South. East. »Wieso ein Spion?«, hatte er Southerton gefragt. »Warum nicht ein Anwalt? Oder ein Doktor? Erforschen könnte ebenso gut zu mir passen.«

»Damit es sich besser reimt«, hatte South ihm ganz einfach erklärt. »North. South. East. West. Freunde fürs Leben, das steht fest. Diese Treu ist unser größter Lohn. Denn wir sind Soldat, Seemann, Kesselflicker und …« Hier hatte er eine theatralische Pause eingelegt. »Und dann Anwalt? Das haut nicht hin, West, das sagst du doch selbst, nicht wahr? Das passt einfach nicht.«

Evan hatte geantwortet, ja, da habe South wohl recht. Also blieb es beim Spion.

»Prima«, hatte East darauf gemeint, froh, dass die Sache damit geklärt war, ohne dass jemand Prügel beziehen musste. Statt eines Handschlags hatte er einen Keks angeboten.

North hatte sich die leicht gekrümmte Nase gerieben, eine Geste, die gar nicht so bequem war, wie sie erschien. Wortlos hatte er sie damit alle daran erinnert, dass Evan sich einmal die Nase gebrochen hatte und sein hübsches Gesicht seither charaktervoller wirkte, als seine Mutter es gut für ihn fand. Sie kamen überein, dass dies genau die Art von Schlag ins Gesicht war, die ein Spion einmal auszuteilen haben würde.

Evan erkannte, dass ein harter Hieb auf die Nase seines Feindes nur nötig sein würde, wenn man ihn erwischte. Das war nicht Teil seines momentanen Plans, er würde nicht zulassen, dass dies geschah. So bequem wie er dort oben in seinem Baum saß, war es unwahrscheinlich, dass er sich verriet oder durch einen Zufall entdeckt wurde.

Er wandte die Gedanken wieder der Gegenwart zu und ließ den Blick vom Herzog und der Herzogin auf die Jüngsten der am See Versammelten schweifen. Nicht alle derjenigen, die sich der Gastfreundschaft Ihrer Hoheiten erfreuten, waren Erwachsene; es war auch ein halbes Dutzend Kinder dabei. Das älteste Kind war der Erbe, Will Fairchild, Lord Tenley; er war zwei Jahre jünger als Evan. Er organisierte für die anderen Kinder das Spiel, entschied, wer sich verstecken und wer suchen musste und wo sie hinlaufen durften und wo nicht. Mit hoher Stimme stieß er schroffe Anweisungen aus, die fraglos befolgt wurden. Tenley kam es weniger auf Kooperation an als vielmehr darauf, Befehle auszugeben, und jedes seiner Worte war bis in die höchsten Äste hinauf zu verstehen. Evan hätte ihm am liebsten eins auf die Nase gegeben.

Ob aus Furcht oder Achtung, die anderen ordneten sich unter. Bis auf das jüngste Kind kannte Evan ihre Namen nicht. Das kleine Mädchen mit den Haaren, die so blond waren, dass sie im Sonnenlicht fast weiß aussahen, hieß Ria, wie er rasch herausgefunden hatte. Kaum dass sie aus der Kutsche gestiegen war, wurde immer wieder nach der Kleinen gerufen. »Ria, komm hierher!« – »Toll nicht so herum, Ria!« – »Halte dich von den Pferden fern, Ria!« – »Ria!« – »Riii-aaa!« Evan fragte sich, weshalb sie sie nicht festbanden. Dieses Kind hätte wohl unbedingt ein Gängelband gebraucht.

»Maa-rii-aa!«

Sie heißt also gar nicht Ria, dachte Evan, sondern Maria. Er schaute ihr zu, wie sie hübsch zwischen den Gästen herumhopste, sich mit kräftigen Beinchen rasch über die Decken und ins hohe Gras bewegte, immer kurz davor zu stolpern, sodass niemand dafür getadelt werden konnte, dass man ihren vollen Namen kaum benutzte. War doch kaum genug Zeit, drei Silben auszusprechen, und zwei reichten ja auch. Jemand, wohl ihr Vater, mutmaßte Evan, fing sie auf, bevor sie mit ihrem Flachshaar voran in den Picknickkorb der Herzogin fiel.

Ihre Hoheit fühlte sich dadurch gar nicht gestört – ganz im Gegenteil, wie Evan bemerkte. Sie half mit, Ria auf den Beinchen zu halten, strich der Kleinen über das Blondhaar und redete sanft auf sie ein. Evan hatte nichts anderes erwartet; immerhin wusste ganz Ambermede, dass die Herzogin sehr kinderlieb war. Was ihn jedoch stutzen ließ, war, dass sich der Herzog nicht weniger aufmerksam verhielt. Er nahm die Kleine sogar in die Arme, schüttelte sie ein wenig, dass sie vor Freude kreischte, und ließ auch noch zu, dass sie ihn mit den Fäustchen bearbeitete, damit er es noch einmal machte. Seine Hoheit gehorchte, ohne zu zögern.

Niemand im Dorf hatte je davon gesprochen, dass der Duke of Westphal sich auch nur im Mindesten etwas aus Kindern machte. Evan hätte das niemandem geglaubt, wäre er nicht selbst Zeuge dieser Szene geworden. Er wusste kaum, was er über das, was er gesehen hatte, denken, und schon gar nicht, wie er darüber fühlen sollte.

Es war leichter, die eigenen ungewissen Antworten zu verdrängen und die Aufmerksamkeit auf die gesamte Gesellschaft zu richten. Tenley hatte es fertiggebracht, dass einige der Erwachsenen bei seinem munteren Versteckspiel mitmachten, und es dauerte nicht lange, bis sie auf irgendwelche Verstecke zuliefen. Der Wald war dafür ein natürliches Ziel, doch niemand wählte Evans Kastanie aus, und keiner kletterte so hoch in einen der nahe stehenden Bäume. In weniger als einer Stunde war das Spiel beendet, und danach befahl Tenley seinen Truppen, Fangen, Blindekuh und schließlich Erobere die Flagge zu spielen. Zuletzt zogen sich alle – sogar die Erwachsenen, die mitgespielt hatten – bis auf die Unterwäsche aus und sprangen in den See, um sich abzukühlen. Das laute Gelächter, Herumspritzen und gegenseitige Eintauchen schlug schließlich sogar eine große Entenfamilie in die Flucht; sie zog es vor, die relative Sicherheit der grünen Hügel aufzusuchen.

Nach dem energiegeladenen Spiel ließen sich alle auf den mitgebrachten Decken nieder. Körbe wurden ausgepackt und Essen generös verteilt. Es gab kalten Braten, Lammfleisch und Hühnchen, dazu frische, runde Brotlaibe und reichlich Obst, Käse und Wein. Dem ausgiebigen Mahl folgte eine Phase der Ruhe. Jemand schlug vor, Scharade zu spielen, doch kaum jemand ließ sich dafür begeistern. Nicht einmal Tenley beharrte mehr darauf, dass alle etwas tun müssten; er schien es zu genießen, auf einer Decke ausgestreckt in der Sonne zu liegen. Manche der Gäste schliefen, andere lasen; einige spielten leise Karten.

Alles in allem waren sie friedlich. Von Evans Aussichtspunkt gesehen war das eher langweilig als tröstlich, aber vermutlich gehörte auch das dazu, wenn man ein Spion sein wollte. Phasen der Langeweile waren wohl unumgänglich; er würde lernen müssen, damit zurechtzukommen. Dazu rief er sich sämtliche griechischen Götter und Göttinnen samt ihren römischen Entsprechungen ins Gedächtnis, und dann die europäischen Königsgeschlechter seit Karl dem Großen. Wenn er in ein paar Tagen nach Hambrick Hall zurückkehrte, würde er mit South und den anderen wetten, dass er die Letzteren in weniger als einer Minute aufsagen konnte. Damit ließ sich bestimmt Eindruck schinden und vielleicht sogar ein paar Pennys verdienen.

Er überlegte gerade, was er mit seinen Gewinnen anfangen würde, als eine Unruhe unter den Gästen der Herzogin ihn aus seinen Gedanken riss. Genauer gesagt, war es die Unruhe eines einzigen Gasts. Die kleine Ria war wieder munter geworden. Evan konnte sich nicht denken, weshalb niemand sonst es offenbar bemerkte. Mittlerweile waren zwar tatsächlich mehr eingenickt als noch vor gut zehn Minuten, aber einige spielten immer noch Karten oder unterhielten sich leise. Doch keiner sah sich veranlasst, das Kind zu sich zu rufen; Evan musste annehmen, dass es niemandem aufgefallen war. Seine Eltern – zumindest glaubte Evan, das richtige Paar erkannt zu haben – lagen eng aneinandergeschmiegt im Halbschatten der späten Nachmittagssonne zusammen. Der abgewinkelte Oberarm der Mutter zeigte noch an, wo ihr Töchterchen gelegen hatte. Sollte es Ria in den Kopf kommen, sich wieder wie zuvor hinzulegen, so würde niemand sie vermissen.

Evan glaubte allerdings nicht, dass das geschehen würde. Er hatte den Eindruck, dass das Mädchen hinter etwas her war – einem Schmetterling vielleicht oder ein bisschen Entenflaum, der hochgewirbelt worden war, als die Vögel das Weite gesucht hatten. Was immer es war, Evan bemerkte, dass es von den Menschen auf ihren Decken fortschwebte und die Kleine allmählich, auf gewundenen Pfaden, zum See lockte. Immer wieder einmal drehte sie eine Pirouette, wankte im hohen Gras ein paar Schritte zurück oder seitwärts, stolperte zwischendurch und rappelte sich rasch wieder auf, entschlossen, ihr »Lockvögelchen«, das sie verfolgte, zu erhaschen.

Evans Augenmerk richtete sich zurück auf die Gäste. Noch immer hatte niemand bemerkt, dass Ria nicht mehr bei ihnen war. Kein Blick galt ihr, niemand erhob eine Hand oder rief sie mit ernsten Worten zu sich. Dass das Kind nicht geradewegs auf den See zulief, war unerheblich; es näherte sich nichtsdestotrotz einer Gefahr, die es wahrscheinlich noch nicht begreifen konnte.

Evan wurde klar, dass er etwas tun musste. Er war der Einzige, der die Situation erkannte, also lag es an ihm, etwas dagegen zu unternehmen. Den anderen zuzurufen kam nicht in Frage; wertvolle Minuten konnten verstreichen, bis sie erst einmal herausfanden, wo er war, und sich über sein Versteck echauffierten. Wenn er Glück hatte, würde man ihn ordentlich ausschimpfen, wenn nicht, hatte er eine Tracht Prügel zu erwarten, und es war zweifelhaft, ob sie ihm überhaupt zuhören würden. Bis dahin würde Ria längst auf dem Grund des Sees liegen, die Luft in ihrer kleinen Lunge würde nicht ausreichen, um sie an der Oberfläche des Wassers treiben zu lassen, ihre Schreie und ihr Spucken würden wegen der Aufregung seinetwegen höchstwahrscheinlich unbemerkt bleiben.

Rasch begann Evan, von dem Baum herabzuklettern. Sein geschmeidiger, athletischer Körper war wie geschaffen für so etwas. Seine Finger und Füße berührten die Äste gerade lange genug, um sie zu spüren, und schon bewegte er sich weiter, immer weiter hinunter, immer schneller, nahm die letzten Meter fast im freien Fall und plumpste schließlich ins Gras. Sollte ihn jetzt jemand sehen, war es egal. Wegen der Wucht seiner Landung musste er sich einen Augenblick lang niederkauern, doch er schnellte sofort wieder hoch wie ein Läufer am Beginn eines Sprints und rannte dann auf den See zu. Er blieb nicht im schattigen Wald; um Bäumen auszuweichen und das Unterholz zu umgehen, war keine Zeit. Er lief auf den Rand der Lichtung zu und dann über das offene Gelände.

Jetzt wurden Rufe laut, allesamt in seinem Rücken. Menschen schrien, er solle gefälligst anhalten und sich erklären. Jemand brüllte: »Dieb!« Evan wusste nicht, was diese Bemerkung ausgelöst hatte; er ignorierte einfach sämtliche Rufe und hielt weiter auf den kleinen tanzenden Derwisch zu, der im Begriff war, über die Uferböschung und ins Wasser zu taumeln.

Mit gestrecktem Körper hechtete er auf das Kind zu, schwebte, der Schwerkraft vollkommen trotzend, einen Moment lang völlig in der Luft, doch es reichte nicht aus. Seine Finger streiften das Kleidchen der Kleinen, konnten sie aber nicht fassen; der sich drehende, lachende Kreisel, zu dem die kleine Ria geworden war, wirbelte über die Böschung und ins Wasser.

Evans Atem entwich mit einem lauten Japsen aus seiner Lunge, als er hart auf der Erde aufschlug. Jemand schrie auf, doch ihm war klar, dass diese Besorgnis nicht ihm galt. Er konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf drehen, um zu sehen, wie Ria im Wasser verschwand. Ihr Haar war jetzt nicht mehr so hell wie noch eben; sie tauchte also bereits zum zweiten Mal unter. Unter seiner Wange vibrierte der Boden, denn nun kamen die Gäste en masse auf ihn zugestürmt. Noch ehe er sich etwas Besseres überlegen konnte, folgte er Rias Beispiel und ließ sich über das Ufer in den See rollen. Das Wasser war tiefer, als er erwartet hatte. Er hatte gehofft, das Gefälle würde unter der Oberfläche dasselbe sein wie draußen, doch dem war nicht so. Der Grund fiel steil ab; er konnte nur noch blindlings im Wasser herumschlagen und darauf hoffen, gelben Baumwollstoff zu treffen.

Es war hilfreich, erkannte er viel später, dass Ria ebenso um sich schlug wie er. Selbst wenn sie ihm an Größe und Kraft nicht ebenbürtig war, waren ihre Bewegungen doch nicht minder energisch und wild wie die seinen. Seine Arme trafen die ihren, seine Finger umschlossen fast reflexartig ihre Handgelenke. Ihrer beider Atem ließ Blasen aufsteigen, und Evans Füße wirbelten Schlamm hoch. Er stieß sich vom Grund ab und tauchte auf, mit Ria an seinen Hals geklammert, blinzelte mit weit aufgerissenen Augen, wenn auch womöglich nicht so weit wie die ihren, und warf den Kopf zurück, um die Haare vor den Augen wegzuschütteln.

Inzwischen hatten sich die Männer alle am Ufer versammelt, wo sie unsicher auf diesem steilsten Teil der Böschung balancierten. Die Frauen, einschließlich der Herzogin, standen auf dem sanfter ansteigenden Uferabschnitt, viele von ihnen mit ausgestreckten Armen, als könnten sie Ria so mit der schieren Kraft ihres kollektiven Willens zu sich ziehen. Evan warf einen Blick auf sie alle und wünschte sich dabei, das Kind übergeben und dann sofort unter Wasser verschwinden zu können.

Das zu tun war nicht leicht, denn nun klammerte sich Ria in seinen nassen Haaren fest. Er versuchte, sie loszuwerden, doch ihre Fingerchen hielten fest wie Tentakel, sodass er glaubte, sie werde ihm gleich den Skalp nehmen. Er hörte, wie die Menge ihn anbrüllte, aber wegen Rias erbärmlicher Schreie konnte er weder einen Befehl noch eine Anschuldigung ausmachen.

Evan strampelte mit den Beinen, hielt mit beiden Händen fest den zitternden Körper des Kindes umfasst und versuchte, auf das Ufer zuzuhalten, wo ihm möglicherweise jemand Ria abnehmen konnte. Er rechnete nicht damit, dass man auch ihm helfen würde, und war deshalb umso mehr überrascht, als Ria endlich von ihm getrennt und er aus dem See gezogen wurde. Allzu zartfühlend ging seine Rettung allerdings nicht vonstatten. Während man die schreiende, kreischende Ria von einem schützenden Paar Armen zum nächsten bis zu ihrer Mutter durchreichte, wurde Evan abrupt am Kragen hochgezogen und heftig geschüttelt.

Es geschah so schnell, dass er nicht begreifen konnte, was sie vorhatten. Ein dumpfes Brüllen röhrte durch seinen Kopf, als das erste Paar Hände ihn packte und festhielt, während das nächste ihm eine donnernde Ohrfeige verpasste. Vielleicht hatte er aufgeschrien, aber er war sich nicht sicher. Er hoffte, es nicht getan zu haben. Es wäre zu erniedrigend gewesen.

Er wurde herumgewirbelt und direkt vor den Herzog geschubst, torkelte, als man ihn losließ, und fiel fast auf die Knie. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich auf den Beinen zu halten, um den ersten Schlag in Empfang zu nehmen. Westphals Spazierstock sauste mit einem pfeifenden Geräusch durch die Luft und landete auf Evans Schulter. Er ging zu Boden wie ein Stein und rollte auf eine Seite. Der zweite Hieb ging quer über seinen Rücken, und sofort schwoll unter seinem nassen Hemd ein Striemen an. Er rollte sich zusammen wie ein Igel, zog die Knie an die Brust und versuchte, sein Gesicht zu schützen. Doch sein Rücken und sein Hintern waren exponiert, und nun regnete es Schläge auf ihn nieder.

Sie brüllten noch immer auf ihn ein, doch er verstand nichts. Glaubten sie, er habe das kleine Mädchen ins Wasser gestoßen? Wussten sie denn nicht, dass er es gerettet hatte?

So demütigend es war, Evan versuchte zu erklären. Aber natürlich hörte ihm niemand wirklich zu. Er war sich auch gar nicht sicher, ob er nicht nur murmelte, und er lag noch immer zusammengerollt wie ein Igel da, den Mund ganz nahe an den Knien. Sein Stolz kämpfte gegen den Schmerz an, und der Schmerz siegte. Evan versuchte, auf allen vieren davon zu krabbeln, nur noch beseelt von dem Gedanken, den Schlägen zu entkommen und einen geschützten Ort zu finden, wo er seine Wunden lecken konnte.

Als der Stock ihn zwischen die Schulterblätter traf, sackte er zusammen. Dieses Mal konnte er die Knie nicht mehr vorwärtsbewegen; er lag nur mehr ausgestreckt am Ufer, das Gesicht zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Ein langer Atemzug entwich seinem Körper. Er spürte keinen stechenden Schmerz mehr; der Schmerz schwappte gleich einer Woge über den ganzen Körper und war dann mit einem plötzlichen Hitzeanfall verschwunden. Er hatte ein Gefühl, als würden sich kleine Wurstfinger in seinen Haaren festklammern und ein seltsam bekanntes Gewicht würde an ihm hängen. Ein Schrei, so schrill, dass er das Tosen in seinen Ohren durchdrang, war das Letzte, was er hörte. Es blieb ihm keine Zeit zu fragen, ob es sein eigener war. Er schauderte einmal, dann war er still.

***

Als Evan erwachte, war er allein. Etwas anderes hatte er nicht erwartet. Es gab für keinen von ihnen einen Grund, bei ihm zu verweilen, schon gar nicht für Ihre Hoheiten. Sie würden sich vielmehr wünschen, diese unglückliche Begegnung aus ihrer Erinnerung streichen zu können. Evan bezweifelte, dass jemals jemand darüber sprechen würde, vor allem die Erwachsenen nicht, die sich beim Herzog oder der Herzogin schließlich nicht unbeliebt machen wollten. Tenley würde vielleicht etwas sagen. Er war impulsiv genug dafür, wenngleich auch er es sich wohl überlegen würde, sich die Missbilligung seines Vaters zuzuziehen. Allerdings musste der junge Erbe nicht fürchten, die Wucht von Westphals strafendem Spazierstock spüren zu müssen.

Diese Art von Strafe behielt der Herzog seinem Bastardkind vor.

***

Evan zog sich gerade vorsichtig das Hemd aus, als die Tür zu seinem Zimmer geöffnet wurde. Vier Tage waren vergangen, seit er für den Schulbeginn nach Hambrick Hall zurückgekehrt war, und eine ganze Woche, seit er verprügelt worden war. Vor seiner Mutter hatte er seine Wunden nicht verbergen können, doch dem Compass Club hatte er sie bislang mit Erfolg verheimlicht.

North, South und East blieben abrupt stehen, sobald sie im Zimmer waren. Vielleicht hätte Evan über ihr komisch wirkendes, plötzliches Innehalten gelacht, wenn er nicht so sehr darauf bedacht gewesen wäre, sein Hemd wieder überzuziehen. Er war froh, als sie die Tür rasch wieder schlossen.

Zu ihrer Ehre sagte keiner etwas über das, was sie gesehen hatten. Dafür war Evan ihnen dankbar. Er ignorierte die nässenden Wunden, an denen sein Hemd zum Teil festklebte, steckte den Rest noch in die Hose und griff dann nach seiner Jacke. Brendan Hampton, den sie »North« nannten, nahm sie ihm ab und half ihm, damit das Anziehen nicht so schmerzhaft für ihn sein würde.

»Danke«, sagte Evan, seinem Blick etwas ausweichend.

Gabriel Whitney, für die anderen drei »East«, bot mit Zuckerguss überzogene kleine Kuchen an, die er mitgebracht hatte. »Was Süßes hilft immer«, meinte er lakonisch. »Die sind heute mit der Post angekommen. Bin geradewegs hierhergeeilt, um sie mit euch zu teilen. Kann sie schließlich nicht alle allein auffuttern, oder?«

Evan war höflich genug, nicht zu widersprechen, doch Easts Leibesfülle besagte genau das Gegenteil. Er nahm einen Kuchen, ließ sich vorsichtig auf sein Bett nieder und lud die anderen ein, sich zu ihm zu setzen.

Matthew Forrester, der junge Viscount Southerton, nahm im Schneidersitz auf dem Boden Platz und biss dann herzhaft in einen der glasierten Kuchen. »Wenn dir danach ist, West«, begann er mit vollem Mund, »dann wirst du uns schon einweihen. Und wenn es nie so weit kommen sollte, macht es auch nichts. Wir sind trotzdem deine Kumpel.«

Evan nickte. Gut möglich, dass dies das Einzige war, was zu der Angelegenheit je gesagt werden würde. Er bezweifelte nicht, dass sie sich ganz gut vorstellen konnten, wer ihm die Striemen an Rücken und Hinterteil beigebracht hatte. Doch das machte es für ihn nicht weniger demütigend. Am liebsten hätte er nach wie vor jemandem die Nase poliert.

Als hätte er Evans Gedanken gelesen, rieb North seinen gekrümmten Zinken. »Möchtest du mir wieder eine draufgeben? Du siehst aus, als würdest du gern jemandem eine reinhauen.«

East hob den Kopf mit seinem vollen Mund und deutete auf sein Kinn und sein Doppelkinn. »Du kannst dich auch mal an einem von diesen beiden versuchen.«

South zeigte auf seine linke Wange, in die er einen großen Bissen seines Kuchens gestopft hatte; sie trat hervor wie bei einem Hamster. »Na los doch. Schlag zu. So ein kleiner Schlag, der hilft dir, deinen Kuchen runterzukriegen.«

Evan rollte die Augen, anstatt etwas zu erwidern. Seine Kehle fühlte sich unangenehm an, und zu sprechen wäre eine schwere Prüfung gewesen. Ihre Bereitschaft, einen Faustschlag zu akzeptieren, damit er einen Teil seines Grolls loswerden konnte, erinnerte ihn an die Anfänge ihrer Freundschaft.

Es schien ihnen nie auch nur halb so viel auszumachen wie ihm, dass er ein uneheliches Kind war.

Schließlich erwiderte er doch etwas, schluckte dabei schwer und hoffte, es würde so aussehen, als sei der Kuchen daran schuld. »Lieber würde ich einen der Bishops zu Boden schicken.«

»Hervorragend«, meinte South und wünschte sich, selbst daran gedacht zu haben.

»Prima«, stimmte East zu und wischte sich den Mund ab.

»Erstklassig«, erklärte auch North. »Wirklich, erste Klasse.«

Sie standen alle auf und schickten sich zum Gehen an. Obwohl es der erklärte Zweck ihres Clubs war, »eingeschworene Feinde der Gesellschaft der Bishops« zu sein, hatten sie noch nie eine Auseinandersetzung provoziert. Als sie auf dem gepflasterten Hof von Hambrick Hall ankamen, fragten sie sich noch, wie sie die Sache angehen sollten, als einer der Bishops »Bastard« murmelte.

Danach war es überraschend leicht.

KAPITEL 1

November 1818

Sie meinte, womöglich ihr Lachen gehört zu haben. Man hatte ihr gesagt, wenn sie zusammen waren, dann könne sie sicher sein, es zu hören, gleichgültig, welche Umstände sie zusammengebracht hatten. Aber doch sicher nicht heute Abend. Nicht, wenn der Grund ein Todesfall war.

»Sie müssen wohl weitergehen, Miss.«

Sie gab vor, nichts gehört zu haben. Sie hatte diese Aufforderung schon zuvor mit Erfolg ignoriert. Vielleicht würde er denken, dass sie dumm oder taub war, und Nachsicht walten lassen. Schließlich fiel sie niemandem auf die Nerven außer ihm. Tatsächlich war zu dieser späten Stunde niemand mehr auf dem Gehsteig, dem sie hätte auf die Nerven gehen können.

Vermutlich nahm er sich selbst einfach zu wichtig. Er trug eine prächtige, mit goldenen Borten besetzte Livree, die bestimmt sogar mit jener der königlichen Dienerschaft konkurrieren konnte. Und er stand als Wächter am oberen Ende der Treppe und kontrollierte mit einem Feuereifer den Eingang in den Gentlemen’s Club, als hinge sein Leben davon ab. Vielleicht war es ja so. Wenn es ihr irgendwie gelänge, seine Verteidigung zu durchbrechen und in dieses ausschließlich den Herren der Schöpfung vorbehaltene Sanktuarium voller Portwein, Zigarrenrauch und lederner Armsessel vorzudringen, dann könnte er durchaus gefeuert, ohne Zeugnis entlassen werden, um sich künftig als Taschendieb durchs Leben schlagen und für sich und seine Familie sorgen zu müssen.

Dann würde es ihre Schuld sein, wenn er zum Verbrechen gezwungen sein würde. Sie brachte es fast fertig, über die eigenartigen Windungen zu lächeln, die ihre Gedanken genommen hatten. Die Erklärung dafür ließ sich in ihrer völligen Erschöpfung finden. Der Abend war so feucht und kalt, dass ihr fast die Zähne klapperten. Sich unter ihrem Wollumhang selbst zu umklammern, konnte die Kälte nicht mehr wirklich abwehren, und auch an der Kapuze zu ziehen half nicht dagegen, dass ihr kleine Rinnsale ins Haar liefen.

Weiterzugehen war wahrscheinlich genau das, was sie tun sollte. Als würde sie dies aus eigenem Antrieb tun und nicht, weil er es ihr nahegelegt hatte, begann sie, langsam zu schreiten, ohne jedoch die Augen von den Fenstern des Clubs abzuwenden. Sie waren allerdings zu hoch über dem Gehsteig, sodass sie nicht wirklich hineinschauen konnte. Vor einer Weile hatte sie den Club von einem Punkt auf der anderen Straßenseite aus beobachtet. Aus dieser Entfernung konnte sie etwas in die warm erleuchteten Räume auf der Straßenseite sehen, doch sie hatte keine Personen erkennen können.

»Sie sollten sich ein bisschen flotter bewegen, Miss.«

Irgendeine innere Verderbtheit ließ sie abrupt stehen bleiben. Dieses Mal tat sie nicht, als hätte sie seine Empfehlung nicht gehört. Ihre Position am unteren Ende der Treppe verschaffte ihr keinen Vorteil, und ihre rigide Haltung brachte auch nichts. Sie blieb eine geschlagene Minute lang stehen.

Um die Frustration in seiner Miene abzuschätzen, war es zu dunkel. Doch sie hoffte, er überlegte sich, entweder seinen Posten zu verlassen und sie persönlich mit Gewalt zu entfernen oder sich dafür Hilfe zu holen. In jedem Fall würde er seinen Platz an der Tür kurz aufgeben müssen. Und das war vielleicht ihre Chance, an ihm vorbeizukommen.

Anscheinend war er aber aus härterem Holz geschnitzt, oder er erkannte den Plan hinter ihrer Renitenz. Sie vergrub sich noch mehr in ihrem Umhang und trat endlich zurück.

Der Regen prasselte auf den Gehsteig, große Rinnsale liefen über die gepflasterte Straße zur Gosse. Eine Kutsche fuhr so schnell vorbei, dass sie es nicht vermeiden konnte, vollgespritzt zu werden. Der nasse Saum ihres Kleids schleifte über den Gehsteig, und ihre Schuhe konnten das Wasser nicht mehr abhalten. Die Strümpfe waren in ihnen durchnässt, und sie spürte bei jedem Schritt Wasser an ihren Füßen.

Der Gedanke, dass sie eigentlich nirgendwo hingehen konnte, ließ sie innehalten. Sie machte auf ihren nassen Fersen kehrt und schritt energisch zum Eingang des Clubs zurück. Dieses Mal blieb sie nicht unten an der Treppe stehen, sondern ging sofort erhobenen Hauptes und trotz des entmutigenden Empfangs, der sie erwarten würde, hinauf.

»Also, wissen Sie, Miss«, erklärte der Lakai so nervös wie trotzig, »Sie können nicht hier heraufkommen.«

»Wie absurd, das zu sagen, wo doch sogar der niedrigsten Intelligenz klar ist, dass ich das kann und eben getan habe.« Sie ließ ihm keine Zeit für einen Einwand. »Sie werden doch verstehen, dass Sie so ziemlich den einzigen Platz einnehmen, wo man vor dem Regen geschützt ist. Es wäre ungehobelt von Ihnen, ihn nicht zu teilen.«

»Ungehobelt?« Die Falten um seine Augen wurden tiefer; er versuchte, sie besser in den Blick zu bekommen. »Also, du bist mir ja ein ganz hübsches Flittchen, was? Mach, dass du hier verschwindest, oder ich hole einen Laufburschen. Die sind in so einer verregneten Nacht nicht gerade gerne draußen, und sie werden es dir danken, indem sie dich unverzüglich vor den Richter bringen.«

Sie wandte den Kopf ab und zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, damit er sich ihr Aussehen nicht einprägen konnte. »Sie würden einen Laufburschen holen, weil ich Schutz vor diesem scheußlichen Regen suche? Die könnten Sie dafür vor den Richter bringen, dass Sie sie wegen einer derartigen Kleinigkeit belästigt haben.«

Der Lakai ließ sich nicht hinters Licht führen. »Sie wären nicht die Erste, die versucht, sich hier Einlass zu verschaffen.«

»Nicht die Erste? Ich hoffe, was Sie damit meinen, ist, dass ich eine Frau bin. Sie täten gut daran, mich nicht in irgendeine andere Schublade zu stecken.« Ihr Blick fiel auf seine Schnallenschuhe, und sie bemerkte, dass er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Anscheinend hatten ihre Worte ihn etwas beunruhigt. Sie wollte ihm nicht zugestehen, so zu tun, als wüsste er, was sie hier wollte. Sie war keine ausrangierte Geliebte, die auf Vergeltung aus war, und auch keine Hure auf der Suche nach einem Freier. »Es kann doch wohl nichts Schlimmes dabei sein, wenn Sie mir gestatten, hierzubleiben, bis es aufhört zu regnen.«

Der Lakai schaute zum stürmischen Himmel hinauf. Weder Mond noch Sterne zeigten sich, doch im Licht von Tausenden Londoner Straßenlampen waren schwere, tief hängende Wolken zu sehen. Von der Themse stiegen dicke Nebelschwaden auf, und schon bald würden sämtliche Straßen und Parks in einem Dunstschleier verschwinden. Das würde auch hier im West End nicht anders sein. Der Nebel war der große Gleichmacher der Stadt, er kannte weder Privileg noch Vermögen. Schon bald würden viele der architektonischen Feinheiten der schönsten Gebäude der Welt so undeutlich zu sehen sein, dass sie sich nicht mehr von den Lagerhäusern und Bordellen unten am Wasser unterschieden.

»Der Regen wird so bald nicht aufhören«, meinte er, ohne Pardon zu gewähren. »Und es kommt Nebel auf. Sehen Sie zu, dass Sie jetzt nach Hause kommen. Bald werden sich hier Straßenräuber und noch schlimmeres Gesindel herumtreiben.«

Sie rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Sie hätte ihm sagen können, dass sie eben erst in London angekommen und ihr Zuhause zwei lange Tagesreisen entfernt war, doch sie sah keinen Zweck darin, ihn so etwas wissen zu lassen. »Ich warte«, sagte sie. »Haben Sie keine Angst, ich mache schon keine Szene. Es ist nur, dass ich …« Sie verstummte. »Ich warte«, wiederholte sie leise.

Die breite Brust des Lakaien hob sich, und er seufzte tief. Er rückte ein wenig zur Seite, damit sie in der engen Nische etwas mehr Platz fand. »Haben Sie eine Nachricht?«, fragte er. »Ich sorge dafür, dass sie direkt überbracht wird.«

Sie schüttelte den Kopf. Eine Nachricht würde ihr Opfer einfach veranlassen, sie zu meiden; eben das war der Grund, weshalb sie sich nicht bei ihm zu Hause angekündigt hatte.

Sie erwartete absolut nicht, dass er einverstanden sein würde, sie zu sehen. Sie konnte nicht einmal sicher sein, dass er wusste, wer sie war, ganz zu schweigen davon, was die Konsequenz dieses Wissens oder seines Fehlens sein könnte. Würde sie eher einen Augenblick seiner Zeit erringen, wenn er sich ihrer Identität bewusst war oder wenn er davon keine Ahnung hatte? Würde sein Interesse geweckt werden, oder würde er sie kurzerhand wegschicken?

Ihre Fragen hatten sie hierhergeführt, in diese Bastion männlicher Exklusivität in St. James, in der Hoffnung, ein Treffen erzwingen zu können. Sie hatte keine Gewissheit, dass er sich in diesem Club aufhielt, doch nachdem sie sein Zuhause einige Zeit beobachtet hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ausgegangen sein musste. Angesichts dessen, was sie von ihm wusste, konnte er hier so gut wie an jedem anderen Ort sein, aber irgendwo musste sie schließlich anfangen.

Sie wollte seine offizielle Bekanntschaft nicht auf der Beerdigung machen.

***

Uber die Fingerspitzen seiner gefalteten Hände hinweg betrachtete Evan Marchman, der neu ernannte Duke of Westphal, seine Kameraden. Er lag ausgestreckt in seinem Sessel, eine Haltung, die nicht an Gebet, sondern eher an träges Nachsinnen denken ließ. An diesem Abend bildeten er und seine Freunde ein tristes Quartett. Sie konnten sich weder zu guter Laune durchringen noch etwas finden, das es wert gewesen wäre, eine unbedeutende Wette einzugehen. Lange saßen sie da ohne ein Wort. Sie tranken wenig. Niemand unterbrach ihren Trübsinn.

Doch allmählich zog ihre gedämpfte Stimmung Blicke auf sich und provozierte Bemerkungen bei anderen Mitgliedern des Clubs. Jene, die vom Tod von Evans Vater wussten, verstanden auch, dass er nicht in tiefe Trauer versunken war. »Leute, wir erregen Aufsehen«, meinte er schließlich.

East blickte um sich und stellte fest, dass West recht hatte. Er zuckte die Achseln. »Das muss an South liegen. Er wirkt heute so derangiert. Das muss ja zu Gerede führen.«

Viscount Southerton raffte sich zu einer Frage auf. »Redest du vielleicht von den Schmutzflecken auf meinen Stiefeln?«

Gabriel Whitney, der Marquis of Eastlyn, hätte noch einiges andere nennen können, das zu Souths unsauberem Äußeren beitrug, doch er kaprizierte sich auf die schmutzigen Stiefel. »Richtig. Sag nie, dass dich Darrow verlassen hat.«

»Richtiger ist ja wohl, dass ich ihn verlassen habe«, erwiderte South. Sein Kopf ruhte an der Lehne des Sessels, und er betrachtete aus halb geschlossenen, stahlblauen Augen die Spitzen seiner Anstoß erregenden Stiefel. Es war ein harter Ritt vom Ende der Welt zurück ins Zentrum von London gewesen. »Das ist lediglich eine vorübergehende Sache.« Er fügte dies hinzu für den Fall, dass East glaubte, er könne den Kammerdiener dazu bewegen, in seine Dienste zu treten. »Er steht nicht für dich zur Verfügung.«

»Schade.« Eastlyn nippte an seinem Portwein und wandte sich dann Northam zu. »Du bist heute Abend ganz besonders in dich gekehrt«, begann er. »Das kann doch nicht nur mit Wests Vater zu tun haben.«

Brendan David Hampton, seit vielen Jahren nun schon der sechste Earl of Northam, strich sich geistesabwesend das dichte, sonnengebleichte Haar zurück. »Stimmt«, erwiderte er mit einem dünnen Lächeln, das eine Entschuldigung sein sollte.

West winkte einfach nur ab. Es gab keinen Grund, das Zugeständnis seines Freundes zu beanstanden. Er konnte North kaum vorwerfen, über das Hinscheiden des Herzogs nicht in tiefe Trauer gestürzt zu sein, hielten sich doch auch seine eigenen Gefühle diesbezüglich durchaus in Grenzen. West legte den Kopf zur Seite und beobachtete amüsiert aus dunkelgrünen Augen, wie Eastlyn noch ein wenig mehr über Northam herzog im Versuch, den Grund für dessen Nachdenklichkeit zu entdecken.

»Dann ist es Elizabeth«, sagte Eastlyn. Doch er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er Norths Erwiderung mit einer Geste zurückhielt. »Nein, sag nichts. Ich hätte nicht fragen sollen. Das geht mich nichts an.«

West entging die sichtliche Entspannung in Northams Schultern nicht. Offenbar machte es North nichts aus, wenn sie wussten, dass in seiner Ehe nicht alles war, wie es sein sollte, nur wollte er ihnen nicht minutiös jedes Detail auflisten. Das konnte West respektieren. Ebenso wie sie heute Abend alle für ihn zusammengekommen waren, musste auch North wissen, dass seine Freunde für ihn da sein würden, wenn er sie brauchte. Er musste Southerton nur anschauen, um zu sehen, wie sehr sie sich ins Zeug legen würden, wenn es nötig war.

North neigte den Kopf leicht zu South und begegnete dem Blick seines Freundes. »Wo warst du, als dich die Nachricht erreichte?«, wollte er wissen.

West fragte sich, wie South antworten würde. Er hatte Grund zu der Annahme, dass South ziemlich weit von London entfernt gewesen war, da er bei den Vorbereitungen für dessen Reise selbst mitgeholfen hatte. Ihm kam der Gedanke, dass South sich bemühte, die Strapazen seiner schweren Reise niemand merken zu lassen. Er nahm Souths Hiersein nicht als selbstverständlich hin, sondern betrachtete es als einen weiteren Beweis der freundschaftlichen Bande, die in Hambrick Hall geschmiedet worden waren.

West bezweifelte, dass South auch nur einen Augenblick lang daran gedacht hatte, sein Ziel weiterzuverfolgen, anstatt nach London zurückzukehren. Freunde fürs Leben, das steht fest. Ein Fremder hätte Souths angespannte Miene vielleicht nicht als große Übermüdung erkannt, aber er war hier im Kreis seiner besten Freunde, und sie sahen ihm die Anstrengung der Reise nun einmal an, ob sie es wollten oder nicht.

Ein leichtes Lächeln milderte die Züge um Southertons Mund, als er sich anschickte, Norths Frage zu beantworten. »Ich hatte schon mehr als die Hälfe der Strecke zurückgelegt«, sagte er leise. »Schon mehr als die Hälfte.«

Norths Gesichtsausdruck verriet ein ironisches Anerkennen dieser rätselhaften Antwort. »So weit schon.«

»Ja.« South setzte sich aufrecht in seinen Sessel. »Ich vermute, die Rückkehr wird etwas länger dauern.«

Eastlyn kicherte leise, es war das erste Mal, dass einer von ihnen lachte, seit sie zusammengekommen waren. »Vor allem, wenn du vorhast, ein Ziel zu erreichen. Du kannst nicht die halbe Strecke hin und zurück reisen und erwarten, dort anzukommen, South. Oder haben sie dir an Bord der Schiffe Seiner Majestät etwas anderes beigebracht? Wenn ja, dann würde ich das gerne wissen.« Er erhob sein Glas mit Portwein und wurde wieder ernst. »Wie lange bleibst du in London?«

»Noch einen Tag«, antwortete South. »Höchstens zwei.«

East nickte und senkte die Stimme, sodass man ihn außerhalb ihres kleinen Kreises nicht hören konnte. »Du meldest dich bei uns, ja?«, fragte er. »Falls du etwas brauchst.«

»Falls ich etwas brauche«, wiederholte Southerton im selben ernsten Ton. »Aber ich möchte keinen von euch kompromittieren.«

Eastlyn zog eine seiner kastanienbraunen Brauen nach oben. »So läuft also der Hase.«

Keiner von ihnen musste noch mehr erfahren, um zu wissen, dass South damit beschäftigt war, einen Spion aufzuspüren. Diese Art von Arbeit wurde häufig West anvertraut, und er war froh, den Auftrag einmal nicht abgekriegt zu haben. Es sagte etwas über das Wesen des Falls aus, wenn Souths spezielle Talente hier gute Verwendung fanden. West erinnerte sich bestens an mehr als eine Gelegenheit in Hambrick, in der South eine beträchtliche Menge an grauen Zellen hatte aufwenden müssen, um sich ihren Feinden, den Bishops, zu entziehen. Ihm wäre zwar eine weitere Auseinandersetzung lieber gewesen, doch Southerton klärte die Dinge lieber mit Reden.

West grinste, als Eastlyns nächste Frage zeigte, dass er sich auf dieselbe Erinnerung bezog: »Du musst nicht die gesamte Geschichte der Regierung Heinrichs VIII. wiedergeben, oder? Falls du dich aus irgendwelchen außergewöhnlichen Umständen befreien musst, meine ich. Ich glaube nicht, dass ich das noch einmal durchstehen würde.«

North nickte. »Da bin ich mit East einer Meinung. Dieses Mal kannst du nicht so viel von uns erwarten, South.«

Auch West fühlte sich bewogen, dazu etwas beizutragen. »Auch wenn es vor zwanzig Jahren war. Die Erinnerung steckt mir noch schmerzlich im Arsch.« Diese Bemerkung zog unmittelbar drei amüsierte Blicke auf ihn, die er mit voller Unschuldsmiene erwiderte. »Was? Darf ein Herzog etwa das Wort Arsch nicht in den Mund nehmen?«

»Ein Herzog darf alles sagen, was er will«, erklärte South. »Vor allem, wenn er Titel, Ländereien und Vermögen erst vor so Kurzem erworben hat.«

»Du meinst, einem Bastard, der plötzlich legitim wird, gesteht man einiges zu«, meinte West.

Southerton fuhr fort, als habe er ihn nicht gehört. »Aber wenn du nicht willst, dass sich andere an deine Lippen hängen und es dir gleichtun, dann machst du es im Allgemeinen besser leise.«

»Verdammte Scheiße«, stieß West halblaut hervor. »Gottverdammte Scheiße!«

Sein bedauernswertes Verhalten provozierte zuerst ein allgemeines Grinsen vom Rest des Compass Clubs und dann lautes Lachen. Sie überließen sich dem Augenblick, ohne ihn näher zu betrachten, und ließen ihr Lachen für sie sprechen, da sie keine passenden Worte fanden.

***

Endlich ließ der Regen etwas nach. Mr Dunlop – sie hatte inzwischen seinen Namen herausbekommen – bestand darauf, dass sie vom Treppenabsatz verschwand, bevor die ersten Mitglieder des Clubs das Haus verließen. Es war zwecklos, noch weiter mit ihm diskutieren oder Informationen von ihm erlangen zu wollen. Sie schätzte sich glücklich, dass sie ihn so weit gebracht hatte, seinen regengeschützten Standort mit ihr zu teilen. Er war sogar so freundlich geworden, sich ihr gegenüber so weit zu öffnen, dass sie in Erfahrung bringen konnte, was sie wissen wollte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in London erlaubte sie sich zu hoffen.

Sie stand an der Ecke, wo ein eisernes Tor die Grundstücksgrenze anzeigte, und schaute zu, wie die Gentlemen den Club verließen. Sie kamen einzeln oder zu zweit heraus und blieben auf der ersten Stufe stehen, um ihre Zylinder so zurechtzurücken, dass es ihnen nicht ins Gesicht regnete. Sie trugen Glacéhandschuhe und Umhang, einige auch einen Spazierstock. Nun, da der Regen fast aufgehört hatte, schien es nicht mehr allzu unangenehm zu sein, ins Freie zu treten. Vereinzelt fluchte zwar einer über das Wetter, doch nun fuhren die Kutschen vor, um die Herren aufzunehmen, und damit war das Schlimmste wohl überstanden. Von Zeit zu Zeit sah sie, wie Mr Dunlop auf den Gehsteig trat, um eine Droschke herbeizurufen. Sie kamen immer rasch, denn die Fahrer warteten bereits.

Nachdem sie dieses Treiben bereits eine Stunde lang beobachtet hatte und er noch immer nicht erschienen war, sank ihr Mut. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jetzt noch viele Herren im Haus waren; mehr als sechzig hatten es bereits verlassen. Es sah nicht so groß aus, als würden sich darin noch einmal so viele bequem aufhalten können.

***

Dunlop öffnete die Tür und verbeugte sich leicht. »Euer Gnaden. Soll ich eine Droschke rufen?«

West fragte sich, wann er auf diese Anrede nicht mehr mit Unruhe reagieren würde. Euer Gnaden. Er war erst vor zwei Tagen im Club gewesen und höflich gegrüßt worden, allerdings ohne diese eher befremdende Ehrerbietigkeit. Er wollte wirklich jemandem eins auf die Nase hauen.

»Ich bin heute Abend fürs Laufen«, erklärte er. »Das erfrischt, meinst du nicht auch?« Offensichtlich hielt ihn der Lakai für verrückt, weil er das Angebot einer Droschke ausschlug, doch er äußerte sich dazu nicht weiter. »Et tu, Dunlop?«, fragte ihn West mit einem Anflug von Spott.

»Ich, Euer Gnaden?« Dunlop schluckte schwer. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

West glaubte ihm. »Du behandelst mich nicht mehr so wie noch vor zwei Tagen.«

»Habe ich Sie gekränkt? Ich versichere Ihnen, das habe ich nicht gewollt.«

West bemerkte, dass er den Mann verlegen machte, und beendete das Thema. Dunlop konnte schlecht darauf hinweisen, dass West vor zwei Tagen noch ein Gentleman gewesen war, ja, aber auch ein Bastard ohne jegliche Erwartung, dass sich dies je ändern würde. Er seufzte. Er würde sich darauf verlassen müssen, dass North, South und East ihn behandelten wie immer und diese plötzliche Veränderung im Status seiner Geburt und seines Standes außer Betracht ließen. »Meine Freunde sind schon bei ihren Kutschen, nehme ich an.«

»Jawohl«, antwortete Dunlop. »Schon seit etwa einer halben Stunde.«

West wusste sehr gut, wann die anderen gegangen waren. Er hatte ihnen versichert, wohlauf zu sein, und ihnen gesagt, sie könnten unbesorgt zu Haus und Herd zurückkehren. Er war mit seinem letzten Glas Brandy noch geblieben, um sich zu überlegen, was angesichts der überraschenden letzten Erklärung seines Vaters nun aus ihm werden sollte. Nicht genug damit, dass der Sterbende gegenüber jenen, die sich zu seiner Totenwache versammelt hatten, eine Erklärung abgegeben hatte; der Anwalt hatte West auch noch mitgeteilt, dass der Herzog eine Woche zuvor ein Dokument erstellt hatte, das alles eindeutig regelte.

Natürlich hatte West den Anwalt auf den Geisteszustand seines Erzeugers angesprochen und darauf gehofft, zu hören, dass dieser absolut nicht mehr bei Verstand sei. Mr Ridgeway, der nicht begriff, dass West absolut keinen Wert auf den Titel, die Ländereien und Besitztümer – und die damit einhergehende Verantwortung – legte, machte seine Hoffnungen zunichte, indem er ihm wiederholt versicherte, dass der alte Herzog vollkommen bei Verstand gewesen sei bis zum letzten Moment, in dem er nach Meg gerufen und dann offenbar geglaubt hatte, sie sei tatsächlich an sein Bett gekommen. West hatte sich seinem Vater gegenüber nicht im Mindesten erweichen lassen, als er hörte, dass dieser an seinem Ende nach Meg gerufen hatte. Er wusste nur zu gut, wie oft seine Mutter dem Herzog nachgeweint hatte und wie selten er gekommen war. Sollte sie tatsächlich an seinem Sterbebett erschienen sein, dann deshalb, so hoffte West, um ihm den Weg in die Hölle zu weisen. Denn bestimmt war sie nicht gekommen, um ihn zu dem Teil des Himmels zu geleiten, in dem sie residierte. Nicht einmal der Allmächtige selbst konnte so gnädig sein, dass er dem verstorbenen Herzog von Westphal dort einen Platz einräumte.

West rückte seinen Zylinder so zurecht, dass er ziemlich flott auf dem Kopf saß, und ging leichtfüßig und mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen die Treppe hinunter. Auf dem Gehsteig wandte er sich nach rechts in Richtung seines Zuhauses und durchmaß mit langen Schritten rasch die Strecke bis zur Straßenecke. Bevor er auf die Straße trat, hielt er inne. Es war nur ein ganz kleines Zögern, so gering, dass er bezweifelte, dass jemand es bemerkt haben könnte. Wegen des dichter werdenden Nebels verließ er sich nicht darauf, den gesamten Verkehr zu überblicken. Stattdessen neigte er den Kopf und hörte, dass sich eine schwere, von zwei Pferden gezogene Kutsche und eine Droschke mit nur einem Zugtier näherte. Beide Fahrzeuge waren langsam, und so glaubte er, die Straße problemlos überqueren zu können. Dass die ihm folgende Person es womöglich nicht schaffen würde, kümmerte ihn nicht.

Auf der anderen Straßenseite angekommen, wandte er sich scharf nach links und ging rasch weiter bis zu einer Stelle, wo sich zwischen zwei weiß getünchten Ziegelgebäuden eine Öffnung befand. Er trat seitlich in die dunkle Gasse, die hier einmündete, und wartete. Die Schritte, die ihm gefolgt waren, verlangsamten sich und hörten schließlich auf. Mit seiner Waffe in der Hand wartete West geduldig, welchen Trick der Straßenräuber anwenden würde.

»Euer Gnaden?«

Hätte ihn die leise, weibliche Stimme nicht so erstaunt, so hätte er sich vielleicht gefragt, ob er tatsächlich mit seinem neuen Titel angesprochen worden war. Dass es eine Frau war, die ihm vom Club bis hierher gefolgt war, verringerte jedoch nicht die Gefährlichkeit dieser Situation. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Frauen, die für ihren Lebensunterhalt auf die Straße gingen, durchaus ebenso heimtückisch waren wie ihre männlichen Pendants. Außerdem konnte ja auch ein Zuhälter in der Nähe herumlungern, der ihr Beistand leisten würde, wenn sie ihren Coup nicht alleine durchziehen konnte.

»Bitte, Euer Gnaden. Ich kann die Hand vor meinen Augen nicht mehr sehen. Sind Sie hier?«

West trat vor und stellte sich in der sicheren Entfernung einer guten Armlänge vor sie. »Vielleicht sehen Sie ja das hier?«, fragte er leise, aber auch freundlich.

»Ja.« Mit einem Blinzeln schreckte sie vor der Klinge zurück, die er ihr dicht vor die Nase hielt. »Ja, ich sehe es.«

»Gut so. Dann werden Sie jetzt die Güte haben, Ihre Waffe wegzuwerfen.«

»Ich habe keine.«

Ihr Leugnen überzeugte ihn nicht. Um nicht ein Messer zwischen die Rippen oder eine Kugel in den Bauch zu bekommen, packte West sie blitzschnell an den Handgelenken und wirbelte sie herum, sodass sie an ihn gepresst wurde. Im Polizeigriff führte er sie in die Gasse und drückte ihren Körper dann an die regennasse Wand des Gebäudes. Sie drehte den Kopf abrupt seitwärts, damit nicht ihre Nase an den Putz gequetscht wurde, sondern nur eine Wange. Abgesehen von einem heftigen Keuchen gab sie keinen Laut von sich. Das war unerwartet, denn erfahrene Diebe blieben nur selten still; sie beteuerten lieber lautstark ihre Unschuld oder beschuldigten eben die Person, die sie berauben wollten, eines Verbrechens oder einer Missetat.

»Was wollen Sie?«, fragte er.

Obwohl ihre Erwiderung kaum hörbar war, kam sie dennoch im unmissverständlichen Ton eines Befehls. »Ich möchte, dass Sie Ihre Hände von mir nehmen!«

»Das ist nicht, was ich gemeint habe.« Er führte sein Tun ohne Unterbrechung fort, zog ihren Umhang zur Seite und ließ seine großen Hände auf der Suche nach einem versteckten Dolch oder einer Pistole ungerührt über ihren schlanken Körper bis unter ihre Brüste wandern, umkreiste fast vollständig ihre Taille und strich ihr dann über ihre Hüften und Schenkel. Schließlich öffnete er ihr gewaltsam die Beine und suchte gründlich zwischen ihnen, wobei er ihr sein Messer ins Kreuz drückte.

Als er fertig war, stand er langsam auf, trat zurück und steckte seine Waffe wieder in die weiche lederne Scheide in seinem Stiefel. »Sie können sich umdrehen.« Sein Ton war höflich. »Und mir sagen, warum Sie mir gefolgt sind.«

Sie antwortete nicht sofort, und West zog es vor, sie nicht zu drängen, denn er erkannte, dass sie einen Moment Pause brauchte, um die Fassung wiederzugewinnen. Er nutzte diesen Moment, um ihr Profil zu studieren, was jedoch schwierig war wegen der schweren wollenen Kapuze, die ihr Haar bedeckte und ihr tief in die Stirn fiel. West wollte sie zurückschieben, doch sie reagierte schnell wie eine Schlange und stieß seinen Unterarm mit einem Schlag ihrer Hand weg. Das schaffte sie allerdings nur, weil er es zuließ und seinen Arm langsam wieder senkte.

»Sie fassen mich nicht an«, erklärte sie in würdevollem Ton, aber auch erkennbar beschämt darüber, ihn berührt zu haben. »Nicht noch einmal!« Ihre Stimme stockte kaum merklich, als sie noch ein »Bitte« hinzufügte.

Langsam dämmerte ihm, dass er einem großen Irrtum erlegen war. Diese Frau war keine Straßenräuberin, die ihn verfolgt hatte. Und dass sie bei seiner Durchsuchung seine Berührung ertragen hatte, ohne einen zotigen Kommentar dazu abzugeben, ließ es als sehr zweifelhaft erscheinen, dass sie eine Hure war. West überlegte nur ungern, welche Möglichkeiten dann noch blieben. Als er noch Mr Evan Marchman gewesen war, hatte er sich weniger ungehobelt benommen. Offenbar hatte er dadurch, dass er der Herzog von Westphal geworden war, jeden Sinn für Anstand verloren.

Ganz wie sein Vater.

Wenn er so weitermachte, konnte er gut und gern in die Reichweite des schwarzen, gähnenden Schlundes der Hölle kommen.

»Kommen Sie«, sagte er schließlich. »Verlassen wir diesen Ort, und ich besorge Ihnen eine Transportmöglichkeit. Mir scheint, Sie sollten in dieser Nacht nicht unterwegs sein.« Oder irgendeiner anderen, um die Wahrheit zu sagen. Als sie ihre leise Bitte vorbrachte, nicht belästigt zu werden, hatte er einen Blick ihres Profils erhascht.

Ihr Aussehen hatte ihn fragil und etwas feenhaft angemutet. Der Dunkelheit und des Nebels wegen war ihr Gesicht nur undeutlich zu erkennen gewesen, doch sie hatte offenbar sehr feine Züge mit hohen Wangenknochen und eine schlanke Nase. Der helle Bogen ihrer Braue formte eine weiche Linie. Ihre Augenfarbe hatte er nicht nur wegen der Dunkelheit nicht ausmachen können; sie hielt auch den Blick gesenkt, sodass nur ihre langen Wimpern zu sehen gewesen waren.

West bot ihr seinen Arm und lächelte etwas grimmig, als sie ihn ausschlug, wenngleich ihn das nicht wirklich überraschte. Zusammen verließen sie die Gasse, er ging voraus, sie einen halben Schritt hinter ihm, und unter einer Straßenlampe hielten sie an.

»Ich wüsste gern, in welcher Angelegenheit Sie zu mir gekommen sind«, sagte West. »Das ist jedoch keine Bedingung dafür, Ihnen eine Droschke zu rufen. Irgendetwas wollen Sie von mir, nehme ich an. Denn es ist nicht Ihre Gewohnheit, Herren zu verfolgen.«

Sie schüttelte den Kopf.

West fragte sich, ob sie nicht mehr sprechen konnte, bis er merkte, dass sie in der feuchten Kälte zitterte und ihre Zähne klapperten. Mit einem scharfen Pfiff rief er eine Droschke herbei, die sofort aus dem Nebel auftauchte und vor ihnen Halt machte. »Es wird gleich Hilfe eintreffen«, erklärte er. »Sagen Sie mir, wohin ich ihn anweisen soll zu fahren.«

»J-Jericho Mews, Nummer vierundzwanzig.«

West meinte, man könne es ihm vergeben zu glauben, sie nicht richtig verstanden zu haben. Er neigte den Kopf zu ihrem abgewendeten Gesicht und wünschte, sie würde die durchnässte Hülle, die sie mehr wie den Schnitter Tod aussehen ließ als eine Frau, nicht mehr brauchen. »Pardon? Ich dachte, Sie sagten …«

»Jericho Mews Nummer vierundzwanzig.«

»Ja. Das dachte ich, gehört zu haben. Meine Ohren sind also in Ordnung. Das ist doch schon einmal eine gute Nachricht, oder?« Sie hob ruckartig den Kopf, als würde sein ausgefallener Humor sie erschrecken, doch sie sah ihn nicht an und antwortete auch nicht auf seine rhetorische Frage. »Ich glaube, ich muss Sie darauf hinweisen«, sagte er ruhig, »dass die Adresse, die Sie nannten, die meinige ist.«

Sie nickte.

»Das bedeutet, dass ich dort wohne«, fügte er hilfsbereit hinzu.

»Ja, das weiß ich.« Auf ihren Lippen erschien der Anflug eines Lächelns.

»Ich verstehe. Dann wissen Sie also auch, dass Sie nicht dort wohnen.« West fragte sich, ob sie verrückt war, aber auch das hätte an der Situation wohl kaum etwas geändert. Wie immer diese Nacht auch ausgehen mochte, er würde mit dieser Begegnung eine amüsante Geschichte zu erzählen haben. Nach dem heutigen Abend mit seinen Freunden im Club war ihm mehr denn je gewiss, dass sie dringend etwas Abwechslung brauchten. Mein Gott, was waren sie für ein bedrückter Haufen gewesen! »Sie wollen also, dass ich Sie zu mir mit nach Hause nehme?«

»Ich habe sonst n-nichts, wo ich hingehen könnte.«

Diese Nachricht erfreute West absolut nicht. »Möchten Sie mir vielleicht sagen, woher Sie gekommen sind? Das wäre ein guter Anfang, um Sie wieder dorthin zurückzubringen.«

Sie erwiderte nichts. Die Droschke stand da und wartete. West zögerte und überlegte rasch, welche Möglichkeiten sich boten. Er konnte sie einfach hier stehen lassen und nach Hause laufen oder selbst die Droschke nehmen und sie zu Fuß gehen lassen. Er konnte sie in die Kutsche setzen und in ihr Verderben schicken, aber worauf hätte er sich dann noch freuen sollen? Bis sie aufkreuzte, war der Abend ganz schön quälend gewesen. Und er war überzeugt, dass sie hier zu lassen den Ausgang dieser Geschichte nicht verändern würde. Sie wusste, wo er wohnte, und sie wollte zu ihm. Es wäre mehr als unhöflich gewesen, sie zu zwingen, allein dorthin zu gehen.

West öffnete die Tür der Droschke und bedeutete ihr einzusteigen. Er gab dem Kutscher die Adresse und nahm dann ebenfalls Platz. Im Inneren des Wagens war es so dunkel, dass auch ein neuerlicher Versuch, sie genau zu betrachten, vereitelt wurde. Obwohl er ihr gegenüber auf der harten, mit Leder bezogenen Bank saß, konnte er nur wenig erkennen. »Sie müssen mir noch immer etwas Wichtiges mitteilen«, erklärte er. »Das wird sich ändern müssen, wissen Sie.«

»Ich bin M-Miss Ash-sh-b-by«, erwiderte sie bibbernd vor Kälte.

»Oh, ich hoffe, das sind Sie nicht«, entgegnete er und zog den Mantel aus. »Das ist ein höchst unglücklicher Name. Viel zu viele Silben auf einmal. Es klingt ausländisch. Ist es Deutsch?«

Wieder hob sie abrupt den Kopf an, und dieses Mal wäre sie fast an seine Nase gestoßen, da er sich gerade vorbeugte, um ihren Umhang zu öffnen. »S-Sie sind ja verrückt«, sagte sie. »D-das hat noch niemand z-zu mir gesagt.«

Er musste so sehr grinsen, dass sie es trotz der Dunkelheit in der Kabine bemerkte.

»Dann haben Sie eben nicht die richtigen Fragen gestellt. Ich versichere Ihnen, der beklagenswerte Zustand meines Oberwerks ist allgemein bekannt. Und jetzt, Miss Ashby, ziehen Sie Ihren Umhang aus und diesen Mantel an. Er ist nämlich um einiges wärmer.«

Erfreut stellte West fest, dass sie seinem Vorschlag unverzüglich Folge leistete. Daran ließ sich erkennen, wie sehr sie frieren musste. Er beobachtete sie genau, als sie die Kapuze abnahm und sich aus ihrem Umhang schälte. Sie hatte volles, helles Haar und einen schlanken Hals. Bei ihrer Durchsuchung hatte er bereits bemerkt, dass ihr Bombassinkleid kaum weniger nass war als der Umhang. Doch er zweifelte, dass er sie dazu bewegen konnte, auch dieses auszuziehen.

In seinem großen Mantel verschwand sie beinahe, und da sie es wegen ihrer zitternden Hände kaum schaffte, sich vollständig darin einzuhüllen, half er ihr dabei. »Schlagen Sie die Beine unter«, riet er ihr und fuhr, als sie nur zögerlich gehorchte, fort: »Es sei denn, Sie strecken sie zu mir herüber und lassen mich Ihre Zehen wärmen.« Als sie daraufhin abrupt die Beine anzog, musste er schmunzeln; die Bereitwilligkeit, mit der sie dieses Mal gehorchte, amüsierte ihn. »Wie es scheint«, meinte er gedehnt, »habe ich Ihre Schwachstelle gefunden.«

Sie erwiderte nichts, denn sie war sich nicht ganz sicher, ob er sie neckte.

»Nun, Miss Ashby«, sagte West und legte seinen Hut neben sich, streckte die langen Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust in einer Haltung, die sowohl eine gewisse Nachlässigkeit als auch Neugier verriet. »Sie werden mir jetzt erzählen, woher Sie kommen. Wir werden bald bei mir zu Hause sein, und ich versichere Ihnen, dass ich unseren Kutscher mit nur ein paar Münzen dazu überreden kann, endlose Runden zu drehen.«

»G-gillhollow«, stieß sie mühsam hervor. »Ist Ihnen das bekannt?«

Es war ihm bekannt. Er wünschte, dem wäre nicht so gewesen. Sein Nacken verspannte sich, und seine Sinne gerieten in Alarmzustand. »Bei den Norfolk Broads.«

»Ja.«

»Und Ambermede.«

Dieses Mal nickte sie lediglich.

»Ich verstehe«, sagte er düster. Kein Wunder also, dass sie ihn als Euer Gnaden angesprochen hatte. Wenn sie vor Kurzem in der Gegend von Ambermede gewesen war, wusste sie vom Tod des Herzogs und all den beträchtlichen Veränderungen, die sein Ableben mit sich brachte. Sie war bemerkenswert schnell nach London gekommen. Die Beerdigung seines Vaters fand erst morgen statt. Als bedeutender Staatsmann und langjähriger Diener der Krone bekam er seine letzte Ruhestätte in der Westminster Abbey. West hatte bereits beschlossen, die Trauerfeier über sich ergehen zu lassen. »Sie waren also seine Geliebte?«

Miss Ashby sah ihn verständnislos an.

West spürte, dass er sich leicht entspannte. »Das Alter dazu hätten Sie doch, denke ich.«

»V-vierundzwanzig.«

»Das ist vielleicht ein bisschen alt für seinen Geschmack.«

»Sie sind unfreundlich«, sagte sie. »Zu sich selbst und zu m-mir.«

Seine Antwort war einfach nur ein Brummen. Er hatte noch andere Fragen an sie, aber selbst in seinem momentanen Zustand konnte er erkennen, dass er unfair gewesen war. Sie klapperte so stark mit den Zähnen, dass sie Gefahr lief, sich in die Zunge zu beißen. Bevor er seine Befragung fortsetzte, sollte er sie wenigstens ein wenig »anwärmen«. Wenn er Glück hatte, würde sie ihre ganze schmutzige Geschichte einfach ausplaudern, und er musste sich nicht aufraffen, sie weiter zu löchern.

Die Droschke wurde langsamer, und West schaute hinaus. Vor dem Eingang zu seinem Stadthaus brannte eine Laterne, doch alle Fenster waren dunkel. Die Dienerschaft war bereits schlafen gegangen. Sogar sein Kammerdiener ging offenbar davon aus, dass der Herr diese Nacht aushäusig sein werde, denn normalerweise konnte er sich darauf verlassen, dass Finch ihn begrüßte, auch wenn es noch so spät war.

Das Gebäude bestand aus Ziegeln, war weiß gestrichen und für diesen Teil des West Ends von mittlerer Größe. Es war nicht so imposant wie die Villen seiner Freunde, aber bis vor zwei Tagen hatte er auch nicht so viel in den Taschen gehabt wie sie. Er hatte sein Geld mit klugen Anlagen und Geschäften verdient, und wenn sein Reichtum auch nicht mit dem von Northam, Southerton und Eastlyn mithalten konnte, so hatte er doch ein bequemes Leben, und es fehlte ihm materiell an nichts. Nun, so vermutete er, erwartete man wohl von ihm, in ein größeres Haus umzuziehen, das seinem Titel und seinem Vermögen mehr entsprach. Und dass auch er häufig Gäste hatte und zum allgemeinen Amüsement beitrug. Besucher samt Anhang und Mitläufern würden kommen. Das war alles zu deprimierend, um es in Worte fassen zu können.

»S-sind wir noch nicht d-da?«

Einen Moment lang hatte West vergessen, dass er nicht allein war. Er taxierte seine Begleiterin und fragte sich, welches Unglück er damit, dass er sie zu sich einlud, auf sich ziehen würde. Aber es machte eigentlich nichts aus, sagte er sich dann, denn er war ohnehin entschlossen, es zu tun. »Doch«, antwortete er. »Doch, wir sind da.«

Er stieg aus und bot ihr seine Hand. Es dauerte etwas, bis sie die Beine unter seinem Mantel hervorgezogen hatte, sodass seine Geduld auf eine Probe gestellt wurde. Sie akzeptierte seine Hilfe und protestierte kaum, als er ihre Taille umfasste und sie aus der Droschke hob.

West holte seinen Hut und ihren Umhang aus der Kabine, bezahlte den Kutscher und ging auf das Haus zu. Auf halbem Wege merkte er jedoch, dass sie ihm nicht folgte. Er erwartete, sie verzweifelt und in dichten Nebel gehüllt am Straßenrand zu finden, musste jedoch verblüfft feststellen, dass sie vornübergebeugt wie ein altes Weib in seiner Hecke herumstöberte.

»Im Haus sind mehrere offene Kamine, wo Sie sich aufwärmen können«, sagte er. »Sie müssen sich also nicht hier verkriechen.«

Miss Ashby erwiderte nichts. Sie blieb noch einige Augenblicke in ihrer gebückten Haltung, um sich ihm plötzlich mit einer großen, mit Stoff bezogenen Reisetasche unter dem Arm zu präsentieren.

»Ah«, sagte er, als er begriff, »die hatten Sie bis zu Ihrer Rückkehr schon hier versteckt.«

»Sie sind sehr k-klug.«

Der leichte Sarkasmus in ihrem Ton entging ihm nicht. »Und Sie f-frieren wohl sehr.« Ihr Mund schloss sich augenblicklich. West musste grinsen, machte kehrt und ging auf das Haus zu.

Drinnen angekommen, warf er seinen Hut und ihren Umhang auf einen Tisch und zündete einen Kerzenleuchter an, noch ehe Miss Ashby über die Schwelle getreten war. Dann nahm er ihr die Tasche ab und stellte sie neben den Tisch. Sie war nicht so schwer, wie sie ausgesehen hatte, als Miss Ashby sie unter der Hecke hervorzog; entweder besaß diese Frau also nur wenige irdische Güter, oder sie erwartete nicht, länger in London zu bleiben. »Hier lang, bitte.« Er sah, dass sie seinen Mantel ablegen wollte, und schüttelte den Kopf. »Ziehen Sie ihn noch nicht aus. Sie sollten sich erst einmal an das Feuer in meinem Arbeitszimmer setzen.«

Er führte sie den Flur entlang, öffnete die Schiebetür und bat sie hinein. Dies war neben seinem Schlafzimmer der einzige Raum, von dem er sicher sein konnte, dass er warm war. Das Feuer, das man für ihn gemacht hatte, war schon fast verloschen, doch mit etwas Reisig und ein, zwei Scheiten brachte er es wieder in Gang. Sobald es gut brannte, nahm er Miss Ashby seinen schweren Mantel ab.

Sie hielt sich darunter umklammert, behielt diese Haltung auch bei, nachdem er ihn ihr von den Schultern genommen hatte, und stellte sich so nahe wie möglich ans Feuer, um sich durchwärmen zu lassen. An einigen Stellen stieg von ihrem feuchten Kleid sogar Dampf auf.

West beobachtete sie und war fasziniert von ihrer schlanken Figur. Sie war nicht klein, sondern nur grazil. Sie reichte ihm bis an die Nasenspitze, stellte er fest, und das war für eine Frau ziemlich groß. Und sie war wirklich gertenschlank und ihr Busen eher größer, als man es bei einer solchen Figur erwartete. Es war nicht so, dass die Strenge ihres schwarzen Bombassinkleids die Rundungen ihrer Brüste hervorhob; West wusste bereits von seiner Leibesvisitation, dass sie sehr voll waren. Er hätte nicht mit einer so wohlgeformten Figur gerechnet, wenn er ihre Hüften und ihren Po nicht schon mit beiden Händen befühlt hätte. Dieses Trauerkleid ließ selbst einen sorgfältigen Beobachter nicht erahnen, welch eine perfekte Gestalt sich darunter verbarg. Er jedoch hatte ihre schlanken Beine und die geschmeidigen Rundungen ihrer Waden und Knöchel bereits entdeckt. Wenn er ehrlich war, konnte West sein früheres Tun gar nicht wirklich bereuen. Sie hatte zwar weder Messer noch Pistole bei sich gehabt; das bedeutete aber nicht, dass sie nicht doch eine Waffe hätte haben können.

Ihr Haar trocknete rasch; sie öffnete es und hörte endlich auch damit auf, sich selbst zu umklammern. West dachte, dass es sogar noch heller war, als es in der Kutsche ausgesehen hatte. Es nahm einige der Gold- und Rottöne des Feuers auf, jedoch nur, weil es ebenso wie Sonnenlicht so wenig eigene Farbe hatte. Kinder hatten manchmal Haare so hell und seidig-fein wie dieses, doch er konnte sich nicht erinnern, bei einer erwachsenen Frau schon einmal eine solche Pracht gesehen zu haben.

Vierundzwanzig hatte sie gesagt. So wie sie da am Feuer stand, an ihren feuchten Locken zupfte mit Fingern, die seiner unverhohlenen Beobachtung wegen unbeholfen wurden, sah sie nicht älter aus als sechzehn.

»Vielleicht sind Sie Tenleys Geliebte«, sagte er plötzlich.

Ihre Finger hielten inne. »Nein«, erwiderte sie dann bestimmt. »Ich bin nicht die Geliebte Ihres Bruders.«

»Halbbruders.«

»Ja, natürlich, Ihres Halbbruders. Ich war auch nicht seine Halb-Geliebte.«

Ein schiefes Lächeln erschien auf Wests Zügen, und dazu ein Grübchen. »Dann ist das ja wohl geklärt, wenn ich es recht verstehe.«

»Ja.«

Ihr Stottern hatte aufgehört, das freute ihn sehr. »Gut. Möchten Sie einen Brandy?« Er ging zum Barschrank und holte eine Karaffe heraus. »Oder lieber einen Sherry?«

»Lieber Brandy.«

»Auch gut.« Er schenkte zwei Gläser ein und reichte ihr eines, sah zu, wie sie das runde Kristall umfasste, um den Inhalt zu wärmen, und schließlich vorsichtig daran nippte. »Besser?«

Sie nickte.

»Sie sollten sich vielleicht umdrehen«, meinte er.

Miss Ashby blickte ihn verständnislos an.

»Damit auch Ihre Rückseite trocken wird.«

»Oh.«

West sah, wie sie errötete, und fand es schwer zu glauben, dass sie den weiten Weg von Gillhollow nach London zurückgelegt hatte, ohne belästigt worden zu sein – einmal abgesehen davon, was er mit ihr in der Gasse gemacht hatte. Während sie den Rücken zum Feuer drehte, zündete er einige weitere Lichter an. Er spürte, wie ihr Blick ihm folgte, obwohl sie ihn jedes Mal, wenn er sich umdrehte, abwandte und zu Boden schaute.

Hatte sie jemanden mit demselben imposanten Auftreten wie sein Vater erwartet?, fragte sich West. Der Herzog war, bis ihn der Krebs in den letzten Monaten seines Lebens schwächte, mit einer robusten Gesundheit und einer Lebenskraft gesegnet gewesen, wie sie viele Männer, die nur halb so alt waren, nicht besaßen. Mit seinem hohen Wuchs, den breiten Schultern und seiner guten Körperhaltung war er aufgetreten wie jemand, der sich seiner Würde und seines Ansehens bewusst war und dafür Sorge trug, dass auch andere sich dessen immer bewusst waren. Seine Miene war streng, aber nicht unansehnlich gewesen. Er hatte sich gut gehalten, und die Falten um Augen und Mund hatten sein charaktervolles Aussehen noch verstärkt.

West hatte alles darangesetzt, um von seinem Vater möglichst wenig mitzubekommen. Das hatte auch dessen Wunsch entsprochen. Sie waren mit dieser Übereinkunft beide nicht unglücklich gewesen, und so hatte es nie einen Versuch gegeben, sie zu ändern. Doch sein Vater war eine fast legendäre Persönlichkeit gewesen. Angesichts seiner Dienste für die Krone war es einfach nicht möglich, sich seiner nicht bewusst zu sein. Wäre Liverpool im Krieg gegen Napoleon nicht so geschickt mit der Opposition umgegangen, so wäre vielleicht der Herzog Premierminister geworden. Diese Niederlage im Parlament hatte ihm zu schaffen gemacht, das wusste West. Seiner Meinung nach hatte sein Vater gerade eine neue Strategie entwickelt, als der Krebs seinen letzten Anlauf zur Eroberung der Macht vereitelte. England hatte damals getrauert. West nicht.

Er nahm auf dem bequemen, abgenutzten Ohrensessel unweit von Miss Ashbys Standort Platz, einem Sitzmöbel, das zumindest er immer als sehr gemütlich empfunden hatte. Dazu zog er sich einen dreibeinigen Hocker heran, um die Füße daraufzulegen. Dann lehnte er sich entspannt zurück, zog die Brauen nach oben und bedeutete seinem Gast, sich zu setzen.

»Ich würde gern stehen bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte sie und ließ den Blick über die vielen Reihen von Büchern wandern, die die Wände bedeckten.

»Es macht mir etwas aus. Ich möchte sitzen, und es wäre unhöflich von mir, das zu tun, wenn Sie stehen.«

»Mein Kleid ist noch feucht. Ich werde Ihre Bank ruin…«

»Setzen Sie sich.«

Sie ließ sich auf die gepolsterte Bank hinter dem Aubussonteppich fallen. Die blutrote Damastbespannung kontrastierte stark mit ihrem schwarzen Kleid. Das Glas auf ihrem Schoß mit beiden Händen umfassend, saß sie stocksteif da und wartete ab.

Ihre Augen waren blaugrau, sah er nun endlich, und sie hatten nichts Jugendliches an sich. Mochte sie ansonsten wie sechzehn aussehen – ihre Augen sagten etwas anderes. Sie wirkten weitaus abgeklärter als die vierundzwanzig Jahre, die sie als ihr Alter angegeben hatte, weise vielleicht, aber auch erschöpft. Dafür mochte die lange Reise nach London eine teilweise Erklärung sein, auch sein anfangs grober Umgang mit ihr, doch wirklich ganz konnten diese beiden Umstände dies nicht erklären. Er fragte sich, was diese Augen schon alles gesehen hatten.

»Um wen trauern Sie?«, fragte er und betrachtete sie eingehend in ihren von oben bis unten schwarzen Kleidern.

Die Frage überraschte sie. Wie konnte er das nicht wissen? »Um den Herzog, natürlich.«

Ein humorloses Grinsen erschien auf Wests Zügen. »Da gibt es kein Natürlich. Ist er auch Ihr Vater? Ja, vielleicht sind Sie ja ein weiteres seiner unehelichen Kinder. Sagen Sie es mir, muss ich Sie als meine Schwester in die Arme schließen?«

Sie antwortete mit leiser und bedächtig gedämpfter Stimme, was ihr nicht schwerfiel. »Ich glaube, Sie sind absichtlich so widerwärtig. Man hat mir gesagt, dass Sie das sind, und es stimmt.«

»Man bemüht sich, nicht zu enttäuschen.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Unhöflichkeit von Ihnen erwartet habe, sondern lediglich, dass mir Entsprechendes berichtet wurde.«

West fragte sich, was er damit anfangen sollte. Er nippte an seinem Brandy. »Sie hatten eine Meinung von mir, die dem widersprach, was Sie über mich gehört hatten?«, fragte er dann. »Wie ist das möglich, nachdem wir uns ja wohl kaum als Bekannte bezeichnen können?«

»Wir sind uns schon einmal begegnet.«

»Jetzt liegen Sie aber sicherlich falsch. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter und die dazugehörigen Namen. Das wüsste ich, wenn uns schon einmal jemand bekannt gemacht hätte.«

»Ich habe nicht gesagt, dass es eine Vorstellung gegeben hat. Nur, dass wir uns begegnet sind.«

Er studierte lange ihr Gesicht. Es sprach für sie, dass sie nicht wegschaute, sondern seinen Blick direkt erwiderte. Davor hatte West geargwöhnt, sie würde sich abwenden, weil sie befürchtete, er könne sie erkennen und dann Grund haben, sie wegzuschicken. Nun, da sie in seinem Haus war, hatte sie keine Angst mehr, dass er das tun würde. Er war sich nicht sicher, weshalb sie dachte, dass das der Fall sei. Er konnte sie schließlich ebenso leicht wieder auf die Straße setzen, wie er sie schon dort hätte zurücklassen können.

Sein Mund zuckte gequält, als er sein Glas auf dem Beistelltisch absetzte. Aber er hatte sie eben nicht auf der Straße zurückgelassen. Nein, er hatte sie wie ein durchnässtes Kätzchen aufgenommen und mit nach Hause gebracht. Widerwillig kam er zu dem Schluss, dass ihr Vertrauen nicht völlig verfehlt war.

»Dann sind Sie also nicht meine Schwester«, sagte er schließlich.

»Nicht einmal Ihre Halbschwester.«

»Touché.« Er neigte in einer angedeuteten Ehrenbezeigung das Haupt. »Wir sind uns in der Stadt begegnet?«

»Nein.«

»Dann war es nicht während der Saison.«

»Nein.« Sie lächelte ein wenig, amüsiert davon, dass das, was als Befragung begonnen hatte, nun zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden war. Er hatte noch siebzehn Fragen übrig.

»Sind Sie bekannt mit Southerton?«

»Nein.«

»Eastlyn?«

»Nein.«

»Northam?« Ehe sie Nein sagen und einen weiteren Punkt einheimsen konnte, kam ihm die Idee zu einer anderen Frage. »Oder seiner Frau, der früheren Lady Elizabeth Penrose?«

»Nein.« Sie zog ihm trotzdem zwei weitere Fragen ab.

West verfiel in Schweigen und überlegte sich einen anderen Weg. Es widerstrebte ihm, der Verbindung zwischen ihnen nachzugehen, wenn diese nur über seinen Vater bestand. Und es würde schwierig werden, ihr wohlwollend gegenüberzutreten, wenn sie von dem verstorbenen Herzog in irgendeiner Weise angetan war. Ihr Name sagte ihm absolut nichts, aber er hatte, seit er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, auch noch nicht viel Zeit mit dem Anwalt verbracht. Tatsächlich hatte er Mr Ridgeway sogar sitzen lassen, wenngleich er zuvor auch unverhohlen klargemacht hatte, dass er die Unehelichkeit der Herzogswürde vorzog. Für die nächsten Tage und Wochen rechnete West fest damit, die Namen von Verwandten zu erfahren, die sich noch nie einen Deut um ihn geschert hatten.

Für sie war er nie mehr als Westphals Bastard gewesen, als hätte er keinen richtigen Namen gehabt. Er war »der Uneheliche«, sozusagen auf der falschen Seite der Bettdecke geboren. Als Kind hatte er das ganz wörtlich genommen; er hatte geglaubt, seine Mutter habe auf der von der Sonne ausgebleichten Seite einer Decke gelegen, als sie ihn zur Welt brachte. Er hatte sich nicht vorstellen können, weshalb er nur aufgrund dieses Versehens so anders behandelt wurde. Schließlich hatte er sich bemüßigt gefühlt, sie danach zu fragen. Es war das einzige Mal, dass sie ihn schlug. Natürlich hatte sie, offenkundig entsetzt über ihr Tun, danach geweint. Es war nie in Frage gestanden, dass er ihr verziehen hatte, aber er hatte das auch nie vergessen.

Es gab Dinge, die man nicht aus dem Gedächtnis streichen konnte.

West nahm die Füße vom Hocker und beugte sich in seinem Sessel nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und formte mit den Fingern eine Spitze unter dem Kinn. Eine kleine, senkrechte Falte erschien zwischen seinen Brauen, als er die Augen zusammenkniff. Eine feine Locke kupferfarbenen Haars fiel in seine Stirn, doch seine Aufmerksamkeit war zu sehr auf die helle Haarpracht seines Gasts gerichtet, um das zu bemerken.

Solches Haar hatte er schon einmal gesehen.

»Sie sind Ria«, sagte er.

Sie staunte. Er hatte das Spiel gewonnen.