Kapitel Eins
Gegenwart
Ich starre den Kühlschrank an, wie gebannt von dem Bild, das Betsy von einer Eiche gemalt hat. Dicke Äste voller Blätter. Wurzeln, die sich auf dem grünen Wachsmalstiftgras ausbreiten.
Vier Tage sind seit ihrem Tod vergangen. Betsy wird nie wieder ein Bild malen.
Ich krümme mich, während mir heiße Tränen über das Gesicht laufen. Ich möchte meine Tochter an meine Brust ziehen, ihre Bäckchen küssen und ihren Duft einatmen. Sie hat mich zur Mutter gemacht und jetzt ist sie tot.
Ich wische mir die Tränen weg, richte mich auf und werfe einen Blick aus dem Küchenfenster in den Garten. Die Blätter der Eiche bedecken das Gras; graue Streifen durchziehen den Himmel. Draußen schaut der Junge, den ich großziehe, an mir vorbei. Durch mich hindurch.
Ich sehe ihn aber. Sehe die rasende Wut in seinem Blick; ein Blick, der mir verrät, dass er mich niemals als seine Mutter akzeptieren wird.
Vor fünf Monaten standen wir vor einem Richter und gelobten, von nun an für immer Holdens Familie zu sein. Betsy war an jenem Tag von uns allen die allerglücklichste – sie und Holden waren vom Alter her nur einen Monat auseinander. Sie sah ihn nie als Bedrohung an, sondern nur als Bruder.
Sie strahlte, als Mark und ich die Adoptionsdokumente unterschrieben. Wir alle weinten Freudentränen und vor lauter Aufregung zog der Tag wie im Flug an uns vorbei.
Doch eigentlich gab es dafür mehrere Gründe. Wir waren nicht nur nervös, sondern auch von Zweifeln und panischer Angst geplagt, und bereuten so viel.
Doch zu dem Zeitpunkt war es bereits zu spät.
Mark stellt sich hinter mich. Er hält mich so fest, dass ich keine Luft bekomme, und genau so will ich es auch. Wenn ich keine Luft bekomme, dann kann ich vielleicht für eine Sekunde vergessen, dass mir jetzt ein Leben bevorsteht, das ich nicht will.
Denn ein Leben ohne Betsy will ich nicht.
„Schhhh, schon gut, alles wird gut“, besänftigt mich Mark, während ich tief und zittrig einatme. Ich will ihm glauben. Dass alles gut wird. Mark stand mir in den letzten zwölf Jahren immer zur Seite.
Er hielt meine Hand, als Betsy zur Welt kam. Wenn wir sie begraben, muss er mich auch halten.
„Nichts ist gut“, erwidere ich. „Mädchen wie sie sollten nicht so verunglücken. Niemand sollte das.“
„Ich weiß, Emery. Ich weiß.“ Gemeinsam betrachten wir durch das Küchenfenster den Vorgarten. Holden spielt draußen und kickt einen Fußball gegen das Garagentor. Bei jedem Tritt hallt ein Knall durch das Haus und ich zucke zusammen.
Mark nimmt mich am Arm und versucht, mich wegzuführen. Ich starre weiter aus dem Fenster und weiß, dass ich dort nicht finden werde, wonach ich suche. Nach ihr.
Es klingelt an der Tür und mein Blick schießt von Mark zur Tür und dann zum Fenster. Ohne auch nur einen Moment innezuhalten, kickt Holden weiter den Ball, obwohl mittlerweile ein Polizeiauto in der Einfahrt parkt.
Ich habe es nicht anfahren sehen, weil ich immer noch aus dem hinteren Fenster schaue und hoffe, Sommersprossen zu erblicken. Sonnenschein. Widerspenstiges goldenes Haar und ein wildes Herz; ein Mädchen mit eigenem Willen.
„Ich muss aufmachen“, erklärt mir Mark und es dauert einen Moment, bis ich es registriere. Er bittet mich gerade so sanft wie möglich, meinen schraubstockartigen Griff zu lockern. Es erschreckt mich, wie sehr ich Mark brauche, doch nach dem Jahr, das wir hinter uns haben, sollte mich nichts mehr überraschen.
Trista meint, dass jeder auf eigene Weise trauert und es in Ordnung sei, dass ich gerade lieber in mich gekehrt bin. Das meinte sie gestern zu mir, während sie meine Spülmaschine einräumte. Während ihr Ehemann Jeff versuchte, sich in Form einer Schachpartie mit Holden zu beschäftigen. Wir wussten alle, dass das vergebene Liebesmüh war. Holden macht, was er will. Immer. Doch er besiegte Jeff, Schachmatt in sechs Zügen, und ich verzog unwillkürlich das Gesicht. Holden kann einen erwachsenen Mann schlagen.
Mark begibt sich zur Tür. Dank seinem dunklen Haar, seiner markanten Kieferpartie und seinem warmen Lächeln hat er eine Ausstrahlung, bei der sich jeder in seiner Nähe wohlfühlt. Doch im Moment ist das nicht seine Aufgabe. Heute ist er kein Politiker. Er ist trauernder Vater. Während Mark die Haustür öffnet, hole ich mir ein Taschentuch vom Beistelltisch, wische mir die Tränen aus den Augen und versuche, mich zusammenzureißen. Dann folge ich ihm. Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich, dass ich mir umsonst die Mühe gemacht habe.
„Em.“ Cooper sieht mich an, doch sein Blick verrät nichts.
„Emery“, korrigiere ich ihn.
Er nickt und einen Moment lang kann ich Besorgnis in seinem Blick erkennen. Dann tritt er zur Seite, damit Margot Smith, die Polizistin, die wir in der Nacht von Betsys Tod kennengelernt haben, mein Haus betreten kann.
Zeit bringt Veränderung. Sie gibt und sie nimmt und Betsy ist tot. Gerade spielt unsere Vergangenheit keine Rolle.
„Was führt Sie hierher?“, fragt Mark in schroffem Tonfall, während er die Tür schließt.
„Können wir uns setzen?“, bittet Cooper und wir lassen uns auf Couch und Sesseln nieder. Betsys Comichefte stapeln sich immer noch auf dem Couchtisch. Ein Familienfoto steht auf dem Kaminsims. Halbfertige Malprojekte liegen auf dem Basteltisch in der Ecke, an dem wir unsere Nachmittage verbracht haben. Sie ist hier, in jeder Ecke dieses Hauses, und doch ist sie nicht mehr da. Tot.
„Es ist nicht leicht, Ihnen mitzuteilen, warum wir heute gekommen sind.“ Coopers Blick wandert zwischen Mark, Margot und mir hin und her. „Uns liegt ein einschlägiger Bericht der Gerichtsmedizinerin vor. Und wir müssen den Fall jetzt anders angehen.“
Blinzelnd versuche ich, mich auf seine Worte zu konzentrieren, doch mein Blick bleibt an dem Hocker hängen, auf dem Betsy immer mit Filzstift in der Hand saß und malte. Malte. Malte, bis ihr die Finger wehtaten. Ihr Lachen erfüllte den Raum. „Schau mal, Mom“, rief sie. „Das ist eine Milchshake-Zeitmaschine.“ Holden lächelte, eingeweiht in den Witz, der für Zehnjährige gedacht war und nicht für deren Mütter. Ich wischte mir die Hände am Geschirrtuch ab – das Abendessen war beinahe fertig – und begab mich zu Betsy ins Wohnzimmer. Sie zeigte mir ihren Comic und suchte in meinen Augen nach Bestätigung. „Später werde ich mal genau wie du“, verkündete sie.
Ich presse mir die Finger gegen die Schläfen. Atme tief ein, tief aus. Zu diesem „Später“ wird es nie kommen. Meine Tochter rutschte aus, stürzte in eine Schlucht und war tot, bevor sich irgendwer von ihr verabschieden konnte.
„Emery, kann ich dir ein Glas Wasser bringen?“, fragt Mark.
Ich sammle mich, schüttle den Kopf und versuche, mich auf den Moment zu konzentrieren, so schwer es mir auch fällt.
Margots Miene sieht grimmig aus, ihre Augen trüb und grau, ihr Haar kurz geschnitten. Das Gegenteil von Cooper mit seinem lockeren Haarschnitt, offenen Gesichtsausdruck und sanften Herzen, das nicht in eine Welt gehört, in der kleine Mädchen sterben, wenn sie sich zum Spaß verkleiden.
Cooper konnte noch nie mit Schicksalsschlägen umgehen. Es überrascht mich noch immer, dass er Polizist geworden ist. Und doch steht er mit seinem Dienstausweis hier in meinem Wohnzimmer und bringt uns Neuigkeiten zum Tod meiner Tochter.
„Was steht in dem Bericht?“, fragt Mark an meiner Stelle. Er lehnt sich aufmerksam nach vorne. Zwar sind seine Augen von den vielen schlaflosen Nächten blutunterlaufen, doch er gibt nicht auf.
Als Cooper sich räuspert, sehe ich sofort zu ihm auf. „Betsys Obduktionsbericht ergab etwas … Unerwartetes.“ Cooper fährt sich mit der Hand über das Kinn. „Ich bringe Ihnen diese Nachricht nur ungern, aber …“, stottert Cooper und Margot holt scharf Luft. Coopers Blick begegnet meinem und in dem Moment weiß ich, warum er es nicht aussprechen kann.
Was auch immer er uns mitzuteilen hat, ist schlimmer als das, was wir bereits wissen. Und wie kann es etwas Schlimmeres geben, als den Tod der eigenen Tochter?
„Betsys Tod war kein Unfall“, verkündete Cooper, als wäre ihm gerade erst klargeworden, dass er Deputy Sheriff ist. Seine Worte geben mir mit einem Schlag den Rest. „Mark und Emery, Ihre Tochter wurde ermordet.“
Kapitel Zwei
Ein Jahr zuvor
„Sicher, dass dir nicht kalt wird?“, frage ich, während der Geländewagen hinter mir aggressiv hupt. „Ich kann dir von zu Hause einen Pulli holen.“
Ich werfe einen Blick über meine Schulter und erblicke Jenna in ihrem neuen Silverado. Sie hupt nochmal. Und nochmal. Ernsthaft? Wir wohnen in Port Windwick, einem verschlafenen Küstenstädtchen, nicht in Seattle. Ich sehe keinen Grund zur Eile auf dem Weg zur Schule. Mir die Zeit zu nehmen, meine Tochter sicher zur Schule zu bringen, ist ein wichtiger Bestandteil meines Alltags. Sie ist mein Ein und Alles.
„Ich komme zurecht, Mom, versprochen“, verkündet Betsy und schenkt mir ein Lächeln. Ich hoffe, es bleibt ihr erhalten. Sie könnte wirklich ein, zwei Freunde gebrauchen. Zur fünften Klasse gehört für die meisten Mädchen, bei Freundinnen zu übernachten und sich miteinander zu treffen, aber dieses Jahr fiel es Betsy schwer, ihre Freundschaften aufrechtzuerhalten. Als hätten die anderen Betsy abgehängt.
Doch so ist das eben mit Bets. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge und bei jeder noch so scheinbar nichtigen Kleinigkeit kommen ihr die Tränen. Bets ist ein sanftes Mädchen in einer harten Welt und das macht mir Angst. Ihre Naivität.
„Ich hab dich lieb, Süße“, rufe ich ihr zu und wünsche mir dabei, ich könnte durchs Fenster klettern und sie umarmen.
„Ich dich noch mehr“, ruft sie zurück, während sie die Arme schwingt und mit ihrer Lunchbox in der Hand auf die Montessorischule zusteuert, die sie bereits seit Vorschulzeiten besucht.
Ich setze den Blinker und mache mich für meinen morgendlichen Latte auf den Weg zu einem Drive-Thru. Zehn Minuten später fahre ich gerade mit meinem Pumpkin Spice Latte in der Hand bei Starbucks Richtung Parkplatzausfahrt, als ich Cooper sehe.
Er winkt mich zu sich. Einen uniformierten Polizisten kann ich wohl kaum ignorieren. Ich weiß, dass er dank seiner neuen Position als Deputy seit ein paar Wochen wieder in Port Windwick ist. Bisher kam es noch nicht zu einer Begegnung unter vier Augen und das dürfte von mir aus gern so bleiben. Mark sieht das genauso, auch wenn er es nie aussprechen würde. Die längst erloschene Flamme unserer damaligen Dreiecksbeziehung möchte ich nicht unbedingt zur Feier des neuen Schuljahres neu entfachen. Entschlossen, die Situation komplett unter Kontrolle zu behalten, kurble ich auf Coopers Drängen hin das Fenster runter. Nur weil wir eine gemeinsame Vergangenheit teilen, heißt das nicht, dass es für uns irgendeine Zukunft geben muss.
„Em“, setzt er an und schenkt mir dabei ein schiefes Lächeln. „Lange nicht mehr gesehen.“
„Du wolltest nie mehr zurückkommen, weißt du noch?“ Ich gebe mir größte Mühe, meinen Herzschlag ruhig zu halten. Beim Sprechen nicht zu zittern. Zehn Jahre ist es her, dass Cooper ging und schwor, nie mehr wiederzukommen.
Mein Leben funktioniert, eben weil er nicht mehr wiedergekommen ist.
„Ich konnte das Angebot nicht ausschlagen“, erwidert er achselzuckend, als wäre unsere Begegnung keine große Sache. Gott, seine Augen sind genauso kristallklar und blau wie in meiner Erinnerung. Scheinbar ist Cooper nach zehn Jahren noch immer der Mann, den ich damals kannte. Ich schlucke schwer und ärgere mich darüber, dass ich mich an manchen Tagen wie ein kläglicher Abklatsch des Mädchens fühle, das er damals kannte.
Er stützt seine Arme am Fenster ab. Uns trennen nur wenige Zentimeter. „Coop, ich glaube nicht …“
Er zieht sich wieder zurück und lässt mich nicht ausreden. Cooper fährt sich mit der Hand über den Nacken. Offensichtlich hat er nicht vor, uns das hier leicht zu machen. „Hast du mich vermisst?“
Ich presse mir die Fingerspitzen an die Schläfen. „Gott, Coop. Ernsthaft?“
Er lächelt. „Entspann dich, Em. Ich nehm dich nur auf den Arm.“
Ich atme aus. „Das ist dir gelungen.“
Er mustert mich. Sofort mache ich mir Gedanken über meine Outfitwahl heute Morgen. Ein roter Kaschmir-Pulli über einer frisch gebügelten weißen Bluse. In meinem Schoß spiele ich mit dem Diamantring an meinem Finger. Zwar trage ich schwarze Jeans, doch dieses Paar kostet dreihundert Dollar. So zurechtgemacht wie jetzt war ich vor Mark nie.
„Ich habe gehört, du hast dich verändert“, bemerkt er mit einem mir nur allzu bekannten Grinsen im Gesicht.
„Ich habe gehört, du nicht“, erwidere ich und er lacht. Der Klang ist mir so vertraut, dass mich schlagartig Nostalgie überkommt und ich an all das zurückdenke, das wir einst miteinander teilten. Die Wahrheit ist, dass wir alles teilten.
Ich winke ihm zu und fahre atemlos vom Parkplatz ab.
Er habe gehört, ich hätte mich verändert. Ich schnaube auf, als ich an meinem Haus ankomme. Den Spruch hat er bestimmt von jemandem wie Jenna. Sie hat ihm wahrscheinlich eine Menge an Klatsch und Tratsch über mich erzählt. Dass ich nicht mehr die protestierende Aktivistin von damals bin, die im Karohemd zum Gewerkschaftsstreik auftaucht. Dass ich meinen verbeulten Subaru durch einen komplett ausgestatteten Land Rover ersetzt habe. Mittlerweile trage ich eine Goldkette um den Hals und einen Fairtrade Diamanten am Finger.
Doch es ist nicht fair, Mark und mir seine wohlhabende Familie zum Vorwurf zu machen. Cooper mag in vielerlei Hinsicht ein guter Mann sein, aber für Mark gilt das auch. Beide Männer meiner Vergangenheit sind angesehen, ehrlich und haben sich dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet. Ein Deputy und ein Senator.
Doch während ich mein Auto in der Einfahrt parke, beschleicht mich das unangenehme Gefühl, dass Cooper mich verurteilt hat.
Und wenn schon? Mein Leben ist erfüllt. Wunderschön.
Ich habe eine Tochter, die ich über alles liebe. Bin mit einem guten Mann verheiratet, der zwar immer fest von seiner Meinung überzeugt ist, mittlerweile aber etwas an Sturheit verloren hat. Kreativ ausleben kann ich mich auch, denn ich bekomme jeden Monat ein paar Designaufträge. Ohne das Konto meines Ehemanns würde ich als Künstlerin am Hungertuch nagen.
Das sollte genug sein. Mehr als genug.
Und doch klafft eine Leere in mir. Ich versuche, das Gefühl zu ignorieren, steige aus dem Auto aus und nehme mir die Zeit, ein Foto von mir im Vorgarten zu posten: meine leuchtend roten Hunter-Regenstiefel von goldenen Blättern umgeben, Starbucks-Becher in der Hand und als Text #Herbstvibes #PSL #Herbstfarben.
Auf dem Weg zur Zeitung, die auf den Treppenstufen vor der Tür liegt, stopfe ich mein Handy tief in meine Hermès Tasche. Ich hasse beides – die Handtasche und das iPhone. Doch weder Marks Geschenk zu unserem Zehnjährigen noch das Gerät, das mich mit der Außenwelt verbindet, kann ich loswerden.
Die Außenwelt. Ich weiß nicht einmal, was das heißt. Meine Social Media Accounts habe ich im Laufe des letzten Jahres um die vierzehn Mal gelöscht, nur um nach ein paar Wochen wieder aufzugeben. Jedes. Mal.
Ich nehme mir fest vor, es durchzuziehen, doch dann rufen Trista oder Caroline an und fragen, warum ich nicht auf die Einladung zur Geburtstagsfeier geantwortet habe, die ich nie bekommen habe, weil ich nicht mehr auf Facebook bin, woraufhin ich frage, wie es ihnen so geht, und sie mir von ihrem Urlaub auf San Juan Island erzählen und fragen, ob ich denn die Fotos nicht gesehen hätte? Dann fühle ich mich wie eine schlechte Freundin, installiere die Apps wieder und ärgere mich über das Gefühl, im Leben immer hin- und hergerissen zu sein. Einerseits das Leben zu lieben, das mir geschenkt wurde, und mir doch zu wünschen, in einer früheren Zeit zu leben, in der Menschen noch mehr aus ihrem Leben gemacht haben.
In der ich noch mehr aus meinem Leben gemacht habe.
Ich betrete mein Haus, ziehe die unnötigen Regenstiefel aus – draußen herrscht heute blauer Himmel – und lege meine Handtasche auf den Tisch im Foyer. Nachdem ich meinen Pumpkin Spice Latte auf der weißen Marmorplatte der Kücheninsel abgestellt habe, falte ich die Zeitung auf. Noch immer geht mir Coopers Unterstellung nach, dass ich mich verändert habe, und ich ärgere mich darüber.
Das stimmt einfach nicht. Ich bin immer noch das Mädchen von damals. Ich besitze einen Plattenspieler. Ein Ein-Gang-Fahrrad, mit dem ich nie fahre. Ein Jahresabo der Port Windwick Tribune.
Doch jetzt gerade stehe ich allein in der Küche. Mark sitzt im Kapitol, dem Kongressgebäude in Washington D.C., Betsy in der Schule und ich muss mir in den nächsten sieben Stunden die Zeit vertreiben. Für die Wäsche brauche ich etwa eine Stunde. Ich könnte an dem neuen Logo für die Montessori-Elterngruppe arbeiten. Das könnte zwei, drei Stunden in Anspruch nehmen. Caro und ich treffen uns morgen, um die Spendenaktion für das Frauenhaus zu besprechen, darüber könnte ich mir also bereits Gedanken machen …
Trotzdem fühlt sich das faul an. Vielleicht schreibe ich Mrs. MacIntire eine E-Mail und frage sie, ob ich diesen Monat ein Kunstprojekt für Betsys Klasse leiten kann.
Ich fahre mit den Fingern über das schwarz-weiß bedruckte Zeitungspapier und überfliege die Artikel der heutigen Ausgabe. In einer Schlagzeile entdecke ich Coopers Namen – Sheriff Dawson rettet Katze.
Und ich dachte schon, ich wäre ein wandelndes Klischee.
Auf dem Foto trägt Coop unter den Arm geklemmt eine weiße Katze. Coops struppiges Haar und sein leicht schiefes Lächeln erinnern mich an ein anderes Leben, das ich hätte führen können. Ein Leben, das er mit mir hatte teilen wollen. Ich spüre ein Stechen in der Brust, das ich nicht benennen will, also blättere ich um und weiß bereits, was mich erwartet.
Heute ist Dienstag. Und jeden Dienstag erscheint ein Beitrag, den ich immer lese.
Er nennt sich Tuesday’s Child. Jede Woche wird ein Pflegekind der Region, das auf Adoption wartet, vorgestellt. Die Zeitung veröffentlicht ein Foto, einen Steckbrief und eine Website für weitere Informationen.
Bereits unzählige Male wollte ich die Seite aufrufen, aber ich habe mich bisher immer davon abgehalten. Schließlich weiß ich, dass ich beim Anblick dieser unschuldigen Kinder auf der Suche nach einer Familie Rotz und Wasser heulen würde.
Doch heute fühlt es sich anders an. Nicht, weil ich Cooper getroffen habe. Es fühlt sich anders an, weil das Kind, das mich ansieht, anders ist als alle anderen.
Es ist ein Junge, den ich kenne. Nicht persönlich. Und es wäre unfair zu behaupten, dass es ein emotionaler Instinkt ist.
Es ist ein mütterlicher Instinkt. Ein Instinkt, den ich verstehe.
Auf dem Foto starrt mich ein zehnjähriger Junge mit dunkelbraunem Haar und noch dunkleren Augen an, dessen sandfarbene Haut glitzert wie Gold, und in diesem Moment weiß ich es.
Ich weiß, dass er zu mir gehört.
Wir sehen uns nicht ähnlich. Mein schulterlanges Haar ist karamellfarben, mein Teint rosig und meine Augen sind grün.
Ich lese seinen Steckbrief immer wieder durch und beiße mir dabei auf die Unterlippe, um mich besser zu konzentrieren und nicht voreilig zu handeln.
Holden geht in die fünfte Klasse, liest gern und macht gern Sport. Er lebt seit sechs Jahren bei Pflegefamilien und freut sich schon darauf, jetzt seine endgültige Familie kennenzulernen. Er reagiert gut auf positive Verstärkung und fühlt sich sicher, wenn Grenzen gesetzt werden. Holden ist loyal, willensstark und liebt es, herausgefordert zu werden.
Mein Herzschlag kommt ins Rasen. Dieser Junge hat mich in seinem Bann. Es fühlt sich an, als sehe ich gerade jemanden an, den ich schon immer kenne. Er lebt schon so lange bei Pflegefamilien. Vor einem Jahr lief die elterliche Sorgezeit aus. Er kann nun rechtmäßig adoptiert werden und wartet nur noch auf eine Familie.
Ich schlucke schwer. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Mein Leben strotzt vor leerer Stunden. Stunden, die ich füllen möchte. Ich trage noch so viel mehr Liebe im Herzen. Wir besitzen mehr Geld, als eine einzelne Familie je haben sollte. Mehr Zimmer als wir nutzen.
Ich habe gehört, du hast dich verändert.
Ich will mehr sein als ein guter Mensch. Mehr als ein großzügiger Mensch. Ich will die Mutter dieses Kindes sein.
* * *
Als Mark am selben Tag abends nach neun heimkommt, lockert er seine Krawatte und begibt sich auf die Suche nach übriggebliebenem Essen. Das Chaos, das Betsy und ich hinterlassen haben, habe ich mittlerweile beseitigt – die Taschen auf dem Boden, die Jacken, die über den Stuhllehnen hingen. Die Malutensilien hängen wieder an der Wand und sämtliches Geschirr aus der Spüle ist abgewaschen.
„Wie war Betsys Tag?“
„Sie hat den Nachmittag damit verbracht, Herbstblätter zu einer Collage zusammenzukleben.“ Ich deute auf den Küchentisch, wo ihr Werk trocknet. Statt vom Baum zu fallen, schweben die Blätter in ihrem Bild nach oben auf schwarze Wolken zu. Mark mustert das Bild. „Sie meinte, es sei eine Metapher“, erkläre ich. Betsy hatte das behauptet, als wäre es offensichtlich. Das war es nicht.
Mark lächelt angespannt, während er das unheimliche Bild weiter betrachtet. „Sieht nach Bets aus.“
„Meinst du, bei ihr ist alles in Ordnung?“, frage ich, während ich die Küchenzeile abwische. Ich weiß, dass er das gern so hat. Der Begriff akribisch beschreibt Mark gut. Das ist die Grundlage für seinen Erfolg als Senator: seine Sorgfalt.
„Ich glaube, Bets ist wie ihre Mutter. Tiefgründig und kompliziert und von der großen Mehrheit missverstanden.“ Mark schmunzelt und ich spüre sein Lächeln, noch bevor ich es sehe. Ich wünschte, er würde seine Arme um mich schlingen und mir den Hals küssen. Doch ich gebe mich mit seinem Lachen zufrieden.
Ich wende mich ihm zu. „Ha ha“, erwidere ich in sarkastischem Tonfall. „Um das mal klarzustellen: Ich bin gar nicht so kompliziert. Und das Verständnis der großen Mehrheit habe ich nicht nötig. Ich habe Caroline und Trista. Das reicht doch.“
„Und mich, stimmt’s?“, fragt er mit einem Grinsen im Gesicht.
„Genau, und dich. Wobei wir beide ehrlich gesagt nicht gerade vom gleichen Schlag sind.“ Es war als scherzhafte Bemerkung gemeint, doch Mark weicht sofort zurück und setzt sich auf einen Barhocker an der Kücheninsel.
Er wechselt das Thema. „Bets ist also im Bett?“
„Schläft tief und fest. Endlich“, antworte ich. „Ich musste ihr fünf Kapitel vorlesen, bevor sie mich gehen lassen hat.“
„Du verwöhnst sie zu sehr“, behauptet er.
Ich wende mich von Mark ab und stelle einen Teller Spaghetti in die Mikrowelle. „Die Welt ist doch so schon grausam genug. Warum soll ich da nicht lieb zu ihr sein?“ Ich öffne eine Flasche Pinot Noir, stelle sie auf eine Stoffserviette, damit sie nicht auf den Tresen tropft, und hole zwei Gläser.
„Weil ihre Mitschüler sie brechen werden. Sie muss abgehärtet werden.“
„Ich bin diejenige, die den ganzen Tag mit ihr verbringt, Mark, während du auf der Arbeit bist. Kannst du bei diesem Thema bitte meinem Instinkt vertrauen?“
Ich reiche ihm sein Glas Wein und er nimmt es mit einem Nicken entgegen. „Ich weiß, Emery. Du bist eine fantastische Mom.“
„Danke“, erwidere ich und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Apropos …“ Gerade geht mir noch so viel mehr durch den Kopf und ich bin bereit, das Ganze anzugehen. Und zwar komplett.
„Was gibt’s?“, fragt er mit einem vielsagenden Grinsen auf den Lippen. Ich bin in diesem Haus die Träumerin. Ich plane für uns Urlaube, Renovierungen rund ums Haus und gemeinnützige Projekte. Jetzt beiße ich mir auf die Lippe und bereite mich darauf vor, meine bislang größte Idee zu präsentieren.
„Denkst du immer noch manchmal darüber nach, mehr Kinder zu haben?“, frage ich und drehe ihm dabei den Rücken zu, weil ich plötzlich befürchte, der Anblick seines Gesichtsausdrucks könnte mir das Herz brechen.
Unsere Ehe besteht für Betsy. Wir schlafen nicht mehr als ein paar Mal im Jahr miteinander. Zur Zeit unserer Hochzeit damals hatten sich bei uns Gegensätze angezogen … Mittlerweile hat sich diese Aufregung gelegt.
Jetzt sind wir zwei Erwachsene und ziehen unser kleines Mädchen groß. Ich will mehr.
Zunächst wirkt er überrumpelt, womöglich von meiner Formulierung, doch dann begreift er es.
„Mehr?“, hakt er nach und klingt dabei überrascht. „Aber wir haben es doch versucht, Emery. So lange. Ich dachte, diese Idee hätten wir abgehakt.“
Ich schenke uns beiden erneut Wein ein, dieses Mal deutlich ungeschickter. Mark hat gerade einen Dreizehn-Stunden-Tag hinter sich und vielleicht stimmt das Timing nicht. Aber wird es das je?
Ich stelle die aufgewärmte Portion Spaghetti vor ihm auf den Tresen. „Ich rede nicht von einer Schwangerschaft.“
Er legt den Kopf schief, während ich mich auf dem Hocker niederlasse. „Wovon redest du dann?“
„Adoption.“
Er hebt schockiert die Augenbrauen. „Wirklich? Ich dachte …“
„Ich weiß.“
Er hat im Laufe der Jahre mehrmals Adoption vorgeschlagen. Ich habe mich immer gesträubt. „Ich wollte mich voll und ganz Betsy widmen – und das habe ich auch. Aber jetzt ist Betsy zehn. Und ich denke … nein, ich weiß es, Mark. Ich will noch ein Kind.“
Er lehnt sich zurück und denkt über meine Worte nach. „Wie kommst du darauf?“
Ich greife nach meinem iPad auf dem Tresen und rufe die Website auf, die mir schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf geht. Bevor ich ihm das iPad reiche, erkläre ich ihm Tuesday’s Child.
„Ein älteres Kind? Das klingt …“, Mark schüttelt den Kopf, „das wäre viel Arbeit, Emery. Und du weißt ja, wie beschäftigt ich mit der Arbeit bin. Ich verbringe mehr als die Hälfte meiner Zeit im Capitol. Und nächstes Jahr plane ich für den Kongress zu kandidieren, darüber haben wir doch gesprochen.“
„Ich weiß, aber denk doch mal nach. Ich verbringe den ganzen Tag zu Hause. Ich habe Zeit. Ich möchte etwas Sinnstiftendes tun.“
„Bets zu erziehen ist nicht sinnstiftend?“
„Doch. Aber Mark, du verbesserst die Welt. Du bist ein Senator, der echte Arbeit leistet, die Leben verändert. Du wirst Kongress-Abgeordneter. Das inspiriert mich. Ich will auch mehr aus meinem Leben machen. Ich will das angehen.“
„Und Bets? Was ist mit ihr?“
„Es würde nichts ändern.“
Mark legt seine Hand auf meine. Seine Berührung fühlt sich vertraut an, aber sie überrascht mich dennoch. Momentan leben wir wie in einer WG, aber vielleicht könnte bei diesem gemeinsamen Vorhaben zwischen uns wieder etwas aufflammen. „Emery, alles würde sich ändern.“
„Aber zum Guten, oder? Ich meine, das bringt ihr Einfühlungsvermögen bei. Und zeigt ihr, wie wichtig Familie ist.“
„Wir könnten mit ihr bei der Tafel arbeiten, um ihr Einfühlungsvermögen beizubringen.“
Ich nicke, denn ich verstehe, was er meint. Dennoch will ich das hier auf unerklärliche Weise. Wenn man es weiß, weiß man es eben einfach. Und ich weiß, dass dieses Kind meins sein wird.
„Sieh dir diesen Jungen doch einfach an, Mark.“
Ich reiche ihm das iPad und er holt tief Luft. Sein Gesichtsausdruck entspannt sich, während er sich das Foto ansieht und dann den Steckbrief mustert.
„Warum gerade er?“, fragt Mark.
„Er braucht uns. Und ich glaube nicht, dass es dir schaden würde, was deine Karriere angeht.“
Sein Blick wird sanfter, während er den Jungen betrachtet. „Das hier hat nichts mit Politik zu tun. Aber Emery, in dieser Datenbank sind allein für den Bundesstaat Washington fünfzehnhundert Kinder erfasst. Warum ausgerechnet dieses Kind?“
„Er wartet schon so lange. Er ist im selben Alter wie Betsy. Er liest gern und spielt gern Fußball. Genau wie ich. Genau wie du.“
„Was ist, wenn er, du weißt schon … wütend ist? Aggressiv?“
„Natürlich wird er wütend sein“, protestiere ich. Ich verteidige bereits einen Jungen, den ich noch gar nicht kenne. „Seine Kindheit war ein einziges Chaos. Aber sieh dir doch bloß dieses Gesicht an. Meinst du nicht, das ist ein Rabauke mit großem Herzen?“
Mein Mann betrachtet das Bild des Jungen und reagiert sichtlich gerührt. „Du warst schon immer eine Optimistin.“
„Ist das denn etwas Schlechtes?“
Mark schüttelt den Kopf. Sein Blick ist verständnisvoll. „Nein. Das liebe ich an dir. Und diesem Kind wird es genauso gehen.“
„Ist das ein Ja? Kann ich anrufen und um weitere Informationen bitten?“
Mark reicht mir das iPad. „Ja“, bestätigt er und führt einen Bissen Spaghetti zu seinem Mund. „Klar kannst du das.“
Kapitel Drei
Gegenwart
Mord?
„Nein“, bringe ich hervor und sehe zu Cooper und Margot auf. Ich krächze nur dieses eine Wort, doch der Schock ist mir anzuhören. „Nein. Das kann Betsy nicht passiert sein. Es war ein Unfall. Sie ist gestolpert. Sie ist gestürzt. Sie …“
Cooper streckt zeitgleich mit Mark die Hand nach mir aus, doch ich weiche vor beiden zurück und krümme mich auf der Couch zusammen. Am liebsten würde ich mich klein genug machen, um zu verschwinden, denn das kann nicht wahr sein.
Morde geschehen in Großstädten. An gefährlichen Orten. Nicht hier. Nicht in der ruhigen Kleinstadt, in der ich bereits den Großteil meines Lebens verbracht habe. Nicht an einer sicheren Straße, an der Kinder an Halloween um die Häuser ziehen und bei all den Leuten klingeln, die sie schon von klein auf kennen.
„Die Verletzungen an Betsys Kopf stehen nicht im Zusammenhang mit dem Sturz. Bevor sie in die Schlucht gestürzt ist, hat man mehrfach mit einem Gegenstand auf ihren Kopf eingeschlagen.“
Mark atmet hörbar aus. „Was soll das bitte heißen?“ Seine Stimme klingt so verletzlich, dass ich sie nicht wiedererkenne. Ich wende ihm meinen Blick zu und sehe, dass mein starker, kompetenter Mann plötzlich genauso außer Atem ist wie ich.
Margot räuspert sich. „Bei dem Fall handelt es sich jetzt um eine Mordermittlung und Betsys Leiche gilt als Beweismittel. Wir arbeiten mit einem Team an Ermittlern zusammen und es wurde bereits eine zusätzliche Autopsie angefordert, damit eine umfassendere Analyse des Hirntraumas erfolgen kann.“
Ich schlinge meine Arme um die Knie, wippe zittrig vor und zurück und breche erneut komplett zusammen.
„Natürlich“, bringt Mark zur Antwort hervor. „Aber wer …?“
„Das Schwierigste müssen wir Ihnen jetzt erst sagen.“ Coopers Worte bringen mich aus der Fassung – es kommt noch mehr? Wie soll das überhaupt möglich sein? Ich sehe zu ihm auf und versuche, mich zu konzentrieren, doch alles um mich herum ist ein einziger stürmischer Nebel.
„Ich möchte, dass Sie beide sich auf das gefasst machen, was ich jetzt gleich sage. Es wird Sie treffen, das zu hören.“ Coopers Stimme ist sanft. Eine Stimme, die mir so vertraut ist; eine Stimme, die mich als kleines Mädchen getröstet hat. Als ich vom Fahrrad fiel, war Cooper derjenige, der meine Schürfwunden sauber machte und mir Küsschen auf die blauen Flecken gab. Jetzt wird er derjenige sein, der mich verletzt. Das erkenne ich daran, wie er seine Hände betrachtet. Als er den Kopf hebt, begegnet sein Blick meinem.
„Es gibt Videoaufnahmen von dem Abend, von einem Handy.“ Cooper hält inne. „Wir haben einen Verdächtigen.“
Mir wird schwindelig. Mein Körper erschlafft. Ich sehe nichts mehr und doch sehe ich alles auf einmal. Betsy auf einem Karussell, als der Klang ihres Lachens uns umgab. Betsy auf einem Pferd, als sie im Trab den Strand entlang ritt. Betsy auf ihrem Bett, als sie mir aus Harry Potter und der Stein der Weisen vorlas und Seite für Seite erstaunt nach Luft schnappte, obwohl wir das Buch zu dem Zeitpunkt quasi auswendig kannten.
Betsy in der Leichenhalle, ihr Schädel eingeschlagen. Nein.
„Wer?“, fragt Mark, sein Tonfall grausam und voller Wut, eine Wut, wie ich sie bei ihm noch nie gesehen habe. Doch es ist ein Hass, den ich verstehe. Was für ein Monster würde meinem kleinen Mädchen das antun?
Margot räuspert sich. „Wir müssen mit Holden sprechen.“
Mark und ich erstarren beide. Ich fühle mich geblendet, obwohl die Jalousien geschlossen sind. Das hier gehört nicht in meine Lebensgeschichte. Das kann nicht sein. Meine Familie kann so nicht auseinanderbrechen.
Nein.
„Holden?“, hakt Mark atemlos nach. „Sie meinen, unser Sohn … Sie meinen, ein Kind könnte …“
Beim Gedanken daran verschlägt es mir die Sprache. Mein Körper erschaudert, meine Schultern zittern.
Holden konnte das nicht getan haben.
Oder?
Meine Tochter wurde ermordet und ihr Bruder soll der Schuldige sein. Angst durchfährt mich und setzt sich mir in den Nacken.
„Emery, Mark“, fährt Cooper fort. „Verstehen Sie, was wir Ihnen mitteilen?“
Wie könnte ich gerade auch nur irgendetwas verstehen, während mein ganzes Leben außer Kontrolle gerät? Ich sollte Coopers Frage beantworten. Ihm bestätigen, dass ich es verstehe. Doch zugleich sollte ich ihm schreiend entgegenwerfen, dass Holden nicht schuld ist.
Denn natürlich ist er das nicht.
Kleine Jungs bringen ihre Schwestern nicht um. Ich schnappe nach Luft. So klein ist er auch wieder nicht.
Es fällt mir schwer, etwas anderes vor Augen zu sehen als Betsy, wie sie mit ihren elf Jahren daliegt, ihre Augen geschlossen und ihr Herz still.
Ich hätte ihr erlauben sollen, die Pop-Tarts in den Einkaufswagen zu legen. Die Goonies anzuschauen. Nach Lust und Laune kostenlose Apps herunterzuladen.
Ich habe immer Nein gesagt.
Ja. Ja. Ja. Könnte ich sie zurückhaben, würde ich nur dieses eine einfache Wort aussprechen. Ein neues Mantra, mein Gebet.
Ja.
„Aber die Beerdigung“, hake ich nach. „Was wird aus …“
Cooper nickt. „Die muss verschoben werden, bis die Ermittlungen …“
Er zögert. Aber ich verstehe ihn. Es muss zu einer Verhaftung kommen, bevor sie die Leiche freigeben. Dank zu vieler Folgen CSI weiß ich das. Warum habe ich nicht The Bachelor geschaut, wie die anderen Mütter im Elternbeirat?
„Alle sind hier“, merke ich an und denke dabei an Marks Eltern, die aus Vermont eingeflogen sind. Bekannte aus dem Familienkreis und College-Freunde waren allesamt mit dem erstbesten Flug nach Seattle angereist und mit der Fähre über eine schmale Wasserstraße zu unserem unscheinbaren Städtchen gefahren, die in ein vertrautes Grau getaucht war.
Seit Halloween herrscht Dauerregen.
Alle sind samt schwarzen Anzugmänteln und Schuhen mit dezentem Absatz im Gepäck in ihren Hotelzimmern untergebracht. Sie alle stehen bereit, um meiner Tochter die letzte Ehre zu erweisen.
„Die Beerdigung ist … Sie ist …“ Mir schnürt es die Kehle zu und ich spüre den eindringlichen Blick der Polizistin auf mir, die Cooper mitgebracht hat.
„Das ist uns bewusst“, erklärt Margot. „Das hier hört niemand gern. Aber es ist notwendig. Holden wird einen Anwalt brauchen. Es gibt eine Ermittlung und man wird Ihren Sohn zum Verhör vorladen. Alternativ können wir das auch hier machen, wenn Ihnen das lieber ist.“
Ich spüre, wie sich Mark neben mir versteift, als ginge er auf der Suche nach Kraft tief in sich. Kraft, die er womöglich nicht besitzt. „Ich kümmere mich natürlich um einen Anwalt für ihn.“ Dann fügt er schroff an: „Bevor er verhört wird.“
„Er war das nicht.“ Ich schüttele den Kopf. Meine Stimme ist leidenschaftlich und zittrig vor Angst. „War er nicht.“ Meine Worte bezeugen meine Gewissheit. Mein Vertrauen.
Mark greift nach meiner Hand. Drückt sie sanft. „Ich weiß, Em. Das wissen wir.“
Cooper nickt langsam und ich weiß, dass die Geste ein geübtes Manöver für ihn darstellt. Er versucht, mich zu beruhigen. Keiner will, dass ich erneut so hysterisch reagiere wie am Tag nach Halloween.
Als ich auf die Knie sank und der strömende Regen auf meiner Haut sich grausam ironisch anfühlte. Nichts hätte meine Trauer fortspülen können. Im Morgenlicht ertönte mein Schluchzen und mein leeres Herz brach auf dem Asphalt, umgeben von Süßigkeitenpapierchen am Boden und bleichen Dekogeistern in den Baumwipfeln. Sie verhöhnten mich.
Ich blinzle, als der Raum um mich herum allmählich wieder scharf wird. Holden. Ich kann mich nicht an Betsy klammern, denn sie ist tot, doch ich kann mich an Holden klammern, denn er ist hier. Denn er ist mein Kind. Ich habe mich für ihn entschieden.
Vor über einem Jahr traf ich diese Entscheidung, als ich mir mein Handy schnappte und das Jugendamt anrief.
Jetzt entscheide ich mich dazu, an der einzigen Hoffnung festzuhalten, die ich inmitten dieses Chaos finden kann. Wenn ich mich nicht an den Versuch klammere, Holden zu retten, versinke ich komplett.
Betsys Tod umgibt mich wie eine Höhle, in der ich ohne Laterne gefangen bin. Doch für Holden werde ich ein Licht durchs Dunkle tragen. Ich muss nur die Flamme finden.
Die Glasschiebetür öffnet sich und Holden kommt ins Haus. Seine dunklen Augen glühen vor Wut und sofort ist im ganzen Raum die unerbittliche Flut an Zorn greifbar, die er nie in Schach zu halten versucht. Wir alle spüren es. Holden ist nicht sanft; wenn er ein starkes Herz in sich trägt, dann nicht aus Tapferkeit, sondern weil er eine Art Furchtlosigkeit an sich hat, die den meisten Menschen Angst einjagt.
Die mir ehrlich gesagt selbst Angst einjagt.
Ich betrachte Holden, wie er hier im Wohnzimmer steht mit seinen Air Jordans, einem übergroßen T-Shirt und Basketballshorts und das, obwohl es November ist und es im kalten Washington gerade kaum fünf Grad hat. Obwohl der Regen ihm über das Gesicht gelaufen ist und ihm um die Schultern das T-Shirt durchnässt hat.
Beim Anblick von ihm wünsche ich mir, seine Wangen wären von Tränen durchnässt, wie meine. Der Junge, den ich selbst ausgewählt habe. Ein Kind, das ich vor einem Richter zu schützen gelobt habe. Ein Sohn, dessen neu ausgestellte Geburtsurkunde mich nicht nur als Vormund nennt. Ich bin seine Mutter.
Ich betrachte meinen Sohn, der zu einem Verdächtigen geworden ist, und möchte glauben, dass er seine Kraft nutzen kann, um etwas Mutiges aus sich zu machen, etwas Schönes.
Ist dieser Gedanke Ausdruck von Trauer oder der verzweifelte Schrei tief aus dem Herzen einer Mutter?
„Holden“, flüstere ich. Mich überkommt ein unbeholfenes Gefühl, denn ich weiß, dass er seine Wut an mir auslassen könnte wie bereits so oft zuvor. In seiner Nähe gehe ich auf Zehenspitzen, doch lieber fasse ich ihn mit Samthandschuhen an, als mich zu schneiden. Doch er sieht mich nicht einmal an. Wie sähe diese Situation aus, wenn ich mehr als nur eine klägliche Ersatzmom wäre?
Wäre Betsy noch am Leben?
„Ich habe euch gehört“, erklärt Holden mit messerscharfer Stimme. Er sieht mir direkt in die Augen, wie immer bereit zur Konfrontation. „Ihr denkt, ich hätte sie umgebracht.“