Leseprobe Meine perfekte Mutter

Kapitel 1

Ruby

Es ist unmöglich, die Worte zu finden. Schon wieder. Ich hatte noch nie eine Schreibblockade, aber das hier ist erst das zweite Buch, das ich schreibe. Das erste war die Geschichte, die mein Leben verändert hat. Ich habe einen großen Vorschuss bekommen, konnte mir ein Haus kaufen, gab meinen Job bei Aw, Shucks, der örtlichen Austernbar, auf, und wurde die Mom, die ich immer sein wollte. Gerade als ihre Teenagerjahre begannen und meine Kinder mich nicht mehr brauchten, um ihre Schnürsenkel zu binden oder ihre Schulbrote zu schmieren.

Das alles bekam ich für den geringen Preis, meine Lebensgeschichte zu erzählen. Oder zumindest einen Teil davon.

Natürlich verkaufte meine Agentin die Geschichte als Fiktion, denn ich sagte ihr, dass sie genau das wäre. Niemand könnte sich vorstellen, dass die Hölle, durch die ich gegangen bin, wahr sein könnte. Und ich habe nie jemandem gesagt, dass die Seiten dieses Buches von der Hölle erzählen, in der ich vor Maples Geburt lebte.

Ich habe meinen Namen geändert, als ich fortrannte, und ich habe nie zurückgeschaut. Niemand konnte sich vorstellen, dass Ruby Clarke eigentlich Tilly Train war, und es war auch nicht so, dass irgendwer aus meiner Vergangenheit ein Interesse daran hätte, mich aufzuspüren. In den letzten sechs Monaten war das Zusammenklauben von Wörtern eine angsteinflößende Praktik des Selbsthasses gewesen. Das Ding ist, dass ich in meinem Herzen keine Schriftstellerin bin. Ich bin eine Autobiografin. Und ich kann keine weitere erschreckende Situation aus dem echten Leben für mein neues Buch heraufbeschwören.

Meine beste Freundin Nora, eine Anwältin, ist ständig darum bemüht herauszufinden, was die Blockade ausgelöst hat. Doch ich habe keine Antwort für sie. Jedenfalls keine, die ich mit ihr teilen möchte.

Ich weiß jedoch, was es ist. Es ist ein innerer Sturm aus Halbwahrheiten. Und statt ehrlich zu sein, gehe ich auf Instagram und betäube mich mit den Fotos und Memes anderer Menschen. Ich kann nicht eingestehen, dass dieser Bestseller, der stapelweise in jedem Buchladen in Amerika verkauft wird, meine persönliche Geschichte ist.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, als der Wecker meines Handys klingelt. Obwohl ich um fünf Uhr aufgestanden bin, um mich wie ein Uhrwerk an die Arbeit zu machen, habe ich zwei Stunden mit einem beinahe leeren Dokument und Facebook verbracht, bevor ich nun Maple für die Schule wecken muss.

Ich reibe mir die Augen, stehe auf und schaue durchs Fenster auf die Bucht. Letzte Woche kamen drei Orcas zu Besuch und genossen das ruhige Salzwasser. Es fühlte sich an wie ein Zeichen, sie in vor meinem Haus zu sehen. Ein Wunder.

In der letzten Zeit halte ich überall danach Ausschau.

Die meisten Menschen denken an die Verwandlung von Wasser in Wein, die Auferstehung von den Toten und die Teilung des Roten Meers, wenn sie sich ein Wunder vorstellen. Sicher gehören diese Dinge dazu, aber es ist nicht diese Art von Wunder, die mich interessiert.

Ich warte auf eine andere Art. Eine nicht religiöse. Ein Wunder, das dazu führt, dass meine siebzehnjährige Tochter feststellt, dass ich nicht der Feind bin, sondern ihre Heldin. Im Moment sieht es aus, als bräuchte ich eine göttliche Fügung, damit das geschieht. Wenn ich schon meine Schreibblockade nicht lösen kann, würde ich wenigstens gern herausfinden, wie ich mit meinem eigenen Fleisch und Blut friedlich zusammenleben kann. Mein Großvater sagte immer, ich sei sein Wunder. In der letzten Zeit denke ich oft an ihn.

Ich klopfe an Maples Tür, öffne sie und rufe: „Guten Morgen, Syrup.“

Doch sie ist nicht da.

„Maple?“, wiederhole ich verwirrt. Ich gehe zu ihrem Bett und finde es leer vor. Normalerweise würde sie jetzt stöhnen, sich tiefer unter den Decken vergraben und um fünf weitere Minuten betteln.

Ich schalte das Deckenlicht ein und gehe den Flur entlang, um nachzuschauen, ob meine Tochter bereits in der Küche ist.

Ich liebe dieses Haus. Klar, es gibt keine Klimaanlage, die Hälfte der Fenster sind zugemauert und der Typ, dem ich das Untergeschoss vermietet habe, schreit die ganze Zeit Schimpfwörter, während er am Computer spielt.

Doch ich finde es hier bezaubernd. Es ist wie ein Stück aus meiner Vergangenheit. Es erinnert mich an einen Ort, den ich liebte. Zuhause. Es ohne Kredit zu kaufen, war ein wahrgewordener Traum. Es hat Charakter.

Maple gefällt das Haus ihrer besten Freundin Piper besser. Es ist ein moderner Bau mit Schiebetüren aus Glas und einer eingebauten Mikrowelle. Und aus irgendeinem Grund hält sie Pipers Vater Huck für einen coolen Typen. Dass ein örtlicher Polizist diesen Status genießt und ich nicht, ist mehr als frustrierend.

Vielleicht ist sie bei Piper. Ich ziehe mein Handy aus der hinteren Tasche meiner Jeans und schicke Maple eine kurze Nachricht.

Ich: Guten Morgen. Wo bist du? Ich weiß, dass heute der letzte Schultag ist, aber??

Der Text wird offenbar nicht zugestellt, was seltsam ist. Ich versuche, sie anzurufen, gebe aber erfolglos auf.

Ich: Bitte ruf mich an. So bald es geht.

Ich rufe Huck an, Pipers Dad. Wir schreiben uns nicht regelmäßig, doch ich habe für genau solche Situationen seine Nummer gespeichert.

Ich: „Hi, ist Maple bei euch? Oder mit Piper weg?“

Einen Augenblick später antwortet er.

Huck: „Nein. Ich habe P gerade gefragt. Sie sagt, sie will sich in zwanzig Minuten mit Maple auf dem Parkplatz treffen.“

Ich: „Komisch. Sie ist nicht hier und geht auch nicht ans Handy.“

Huck: „Ich bitte P, mich auf dem Laufenden zu halten. Mach du das bitte auch. Heute ist der letzte Schultag. Vielleicht hat sie noch irgendetwas vor.“

Ich: „Vielleicht. Danke, Huck.“

Aber das sieht Maple nicht ähnlich. Piper ist ihre einzige Freundin. Verwirrt schaue ich mich in der Küche um und denke an gestern Morgen, als meine Tochter noch hier war.

Maple hielt eine Milchpackung hoch. „Mom, kann ich die noch trinken?“

Ich nahm ihr die Packung ab, roch daran und sagte ihr, die Milch sei in Ordnung.

„Weißt du“, sagte ich und schnappte mir eine Scheibe Brot, „bei all den Dingen, die du immer anführst, die dich so an mir stören, freue ich mich, dass du mich immer noch um Hilfe bittest.“

Sie schnaubte. „Ich lasse dich nur für mich die Drecksarbeit machen.“

„Möchtest du Toast?“

„Nö, ich nehme Müsli.“ Sie nahm eine Schachtel und schüttete den Inhalt in eine Schüssel, setzte ihre Airpods ein und schaltete mich aus. Dann ließ sie sich auf einen der Küchenstühle fallen und aß, während sie auf ihrem Handy scrollte. Ihr karamellfarbenes Haar fiel ihr ins Gesicht und verbarg ihre grünen Augen.

Ich wollte sie fragen, mit wem sie schrieb, hielt mich aber zurück, weil ich sie nicht drängen wollte. Fühlt sich jede Mutter eines Teenagers, als würde sie auf Eierschalen laufen, während sie ihr Bestes gibt, um ihre zerbrechliche Beziehung aufrechtzuerhalten?

Ich fragte sie: „Morgen ist der letzte Schultag. Bist du bereit für die Sommerferien?“

Sie antwortete nicht.

Ich versuchte es noch einmal. „Hat Piper auch einen Job im Club bekommen?“

Keine Antwort.

Ich betrachtete sie, während sie ihr Müsli aß, aufstand und die Schale in die Spüle stellte. Ihr schwarzer Faltenrock schmiegte sich an ihren Hintern, die lilafarbenen Träger ihres BHs schauten unter ihrem kurzen weißen Tanktop hervor. Mit ihren Plateau-Sneakers und den riesigen silbernen Ohrringen sah sie unglaublich cool aus.

Sehen Mütter ihre Töchter immer so? Als stünden sie am Rande einer Verwandlung in etwas Überirdisches. Sie leuchtete. Gestern schaute ich sie an und sah ein lebendes Wunder.

Und nun ist sie fort. Geht nicht ans Telefon. Ihre beste Freundin weiß nicht, wo sie ist. Die Nachricht wurde immer noch nicht zugestellt.

Wo ist sie? Ich gehe meine Kontakte durch, finde aber keine weiteren Eltern, die ich anrufen kann, weil Maple außer Piper keine Freunde hat. Zumindest keine, von denen ich weiß. Ich fühle mich, als wüsste ich nichts über sie. Und das bisschen, das ich aus ihr herausbekomme, geht mit Kommentaren darüber einher, wie langweilig ich bin.

Dodge war nie so. Aber Söhne sind auch keine Töchter.

Ich werde nie erfahren, ob meine Mutter mich auch als etwas Heiliges betrachtet hat. Sie starb bei einem Autounfall, als ich sieben war.

Bevor sie gestern zur Schule aufgebrochen war, hatte Maple ein Airpod herausgenommen und mir gesagt, dass Piper und sie nach der Schule eine Einweisung in ihre Sommerjobs bekämen. Doch diese Einweisung sollte erst heute stattfinden. Dass sie den letzten Schultag schwänzt, kann ich mir vorstellen, aber die Einweisung? Sie wollte diesen Job sehr.

Ich schaue aus dem hinteren Fenster und suche nach einem Hinweis, wo sie sein könnte. Es ist zum Auswachsen. Ich war heute Morgen früh auf, um etwas zu schreiben, und habe sie überhaupt nicht im Haus gehört. Sie ist also irgendwann in der Nacht gegangen?

Ich schlucke. Ich habe meine Vergangenheit geheim gehalten, aber jetzt wünschte ich, Maple wüsste, wie gefährlich die Welt sein kann.

Kapitel 2

Ruby

Ich rufe bei der Schule an. „Hi, hier ist Ruby Clarke, Maples Mutter. Können Sie mir sagen, ob sie in ihrem Klassenzimmer ist?“

Die Sekretärin räuspert sich. „Die Schule beginnt erst in zehn Minuten. Und heute ist der letzte Tag. Es ist ein wenig hektisch hier …“

„Hören Sie“, sage ich angespannt, um mich klar auszudrücken. „Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist. Sie geht nicht an ihr Handy.“

Die Frau am anderen Ende der Leitung schweigt und fährt dann in ernstem Ton fort. „Ich notiere mir, Sie zurückzurufen. Aber versuchen Sie weiterhin, sie zu erreichen. Ich hoffe, es ist nicht wie mit den anderen Mädchen.“

„Den anderen Mädchen?“

„Entschuldigen Sie, ich habe zu arbeiten. Der letzte Schultag ist irre. Schauen Sie in die Zeitung.“

„Danke“, sage ich, als sie auflegt.

Es fühlt sich weit hergeholt an, aber vielleicht hat sich Maple bei ihrem Bruder gemeldet. Ich gieße mir noch einen Kaffee ein und rufe dann Dodge an.

Er nimmt den Anruf an, was für einen Neunzehnjährigen eine Überraschung ist. „Hey Mom, was ist los? Ich bin noch am Packen.“

„Oh, ich habe nur eine kurze Frage“, sage ich und wünschte, er wäre schon zu Hause. „Hast du heute von Maple gehört?“

„Äh, nein, aber für gewöhnlich reden wir vor zehn Uhr nicht miteinander.“

„Ah, okay. Wenn du etwas von ihr hörst, sagst du mir Bescheid, ja?“

„Stimmt etwas nicht?“

Ich schlucke. „Sie war heute Morgen nicht zu Hause und geht auch nicht an ihr Handy.“

Ich höre, wie er sich räuspert. „Mom, sicher geht es ihr gut. Heute ist der letzte Schultag, richtig?“

Seufzend fahre ich mir mit der Hand über den Nacken. „Es ist merkwürdig. Sie verschwindet nicht einfach von der Bildfläche.“

„Hör mal, in ein paar Stunden bin ich zu Hause. Ich habe fast alles gepackt. Und ich versuche, sie anzurufen. Vielleicht habe ich als cooler großer Bruder mehr Glück.“

Ich lächle. „Sie hält dich jetzt für cool? Was für eine Verbesserung.“ Als Dodge das letzte Mal zu Hause war, hatte sie ihn aufgezogen, weil er keine Freundin hatte. Dodge hatte es gelassen genommen, aber ich erinnere mich, dass sie sehr gemein zu ihm war. Ich seufze. In meinen Gedanken ist nur Platz für Maple. „Ich muss … ich muss deine Schwester finden. Ich bin wirklich besorgt.“

„Sicher wirst du bald von ihr hören. Flipp nicht aus, Mom. Du befürchtest immer gleich das Schlimmste.“

Tat ich das? Vielleicht … aber ich habe einen Grund, das Schlimmste anzunehmen. Ich habe erfahren, wie grässlich die Welt sein kann, während mein Sohn behütet aufgewachsen ist. Genau wie meine Tochter.

Gerade deshalb bin ich jetzt so besorgt.

Dodge hat gerade sein erstes Jahr am Pine Shore College beendet, weniger als eine Stunde von mir entfernt. Es ist eine kleine Privatschule in der Nähe der Hauptstadt, die in einem üppigen Wald am Ufer des Puget Sound liegt. Dodge war schon immer gern draußen in der Natur, und als wir uns den Campus angesehen haben, wussten wir sofort, dass es passt.

Ich beende das Gespräch mit meinem Sohn und gehe in der Küche auf und ab. Wieder und wieder rufe ich Maple an. Es ist sinnlos. Verzweifelt schreibe ich eine Nachricht an ihre beste Freundin Piper.

Ich: Irgendetwas von Maple gehört?

Piper: Sorry, nichts. Komisch, oder?

Mein Herz zieht sich zusammen. Wo konnte sie sein? Ich beschließe, meine beste Freundin Nora anzurufen. Ich bin niemand, der gern um Hilfe bittet. Aber jetzt gerade fühle ich mich mit meiner Angst allein. Nicht zu wissen, wo Maple ist, versetzt mich in Panik.

Nora ist seit über zehn Jahren meine beste Freundin. Doch in all der Zeit kann ich an zwei Fingern abzählen, wie oft ich sie um Hilfe gebeten habe. Einmal, als ich eine Notfalloperation hatte, in der mir der Blinddarm entfernt wurde, und die Kinder nicht im Krankenhaus bleiben konnten, und ein weiteres Mal, als ich mitten in einer Yogastunde einen Hexenschuss bekam und nicht allein stehen konnte.

Es ist nicht so, dass ich keine Hilfe möchte. Es ist nur so ein Verteidigungsmechanismus. Wenn ich die Leute auf Armeslänge von mir halte, können sie mich nicht verletzen. Meine Reaktion auf mein Trauma ist: Vertraue niemandem.

Doch Nora und ihr Ehemann Tom haben mir ihre Loyalität schon oft unter Beweis gestellt. Nora und ich sind uns bei einem Buchclub der örtlichen Bücherei begegnet. Wir beide lasen gern und stellten bald fest, dass wir mehr über die exzentrischen Mitglieder des Buchclubs als über die Bücher selbst lachten. Sie war lustig und unbeschwert wie die Brise Frischluft, die ich so dringend benötigte. Wir hatten völlig entgegengesetzte Leben. Nora war Partnerin in einer Anwaltskanzlei und ihr Mann der örtliche Kinderarzt. Ich war eine Singlemutter mit zwei Kleinkindern. Aber irgendwie verstanden wir uns auf Anhieb. Sie war neu in der Gegend und brauchte ebenso sehr eine Freundin wie ich es tat.

In den frühen Tagen unserer Freundschaft, bevor ich das Buch schrieb und sich mein Leben veränderte, war ich mehr als pleite und tat alles, was ich konnte, um mich und meine Kinder über Wasser zu halten. Wir bekamen Essensmarken und die Kinder erhielten Gratisessen in der Schule. Ich zog mir schlecht bezahlte Jobs an Land, weil ich keine Ausbildung hatte, die mich für etwas Besseres qualifiziert hätte. Selbst einen Monat lang im Voraus zu planen, erschien wie ein Traum.

Doch Tom und Nora waren für uns da und hatten uns finanziell unterstützt, wenn ihnen auffiel, dass die Kinder neue Schuhe brauchten oder ich eine Verabredung in einem Restaurant absagte, weil ich wusste, dass ich es mir nicht leisten konnte. Es fühlte sich nie unangenehm oder merkwürdig an. Sie sagten einfach, es sei ein Geschenk, und forderten nichts im Gegenzug.

Als sich meine finanzielle Situation änderte, drückte ich meine Dankbarkeit aus.

Vor einem Jahr buchte ich für uns alle einen Ausflug an die Amalfi-Küste. Nach all den Kämpfen fühlte es sich wie ein wahrgewordener Traum an. Wir verbrachten einen Monat damit, das Mittelmeer und seine Sonne aufzusaugen, lachten, tranken Aperol und aßen Austern.

Und plötzlich, jetzt wo mir klar ist, dass meiner Tochter etwas zugestoßen ist, möchte ich meine beste Freundin an meiner Seite wissen. Sofort bereue ich, sie in so vieler Hinsicht auf Armeslänge gehalten zu haben, vor allem, weil sie mich immer wieder an sich herangelassen hat, als ihr Mann und sie mit ihrer Unfruchtbarkeit klarkommen mussten, als sie berufliche Probleme hatte und ihre Schwägerin überraschend gestorben war. In ihrem Schmerz und ihrer Trauer war sie sehr verletzlich gewesen. Meine Unfähigkeit, ihr ebenso zu vertrauen, war mir immer bewusst gewesen. Nun brauche ich ihre Unterstützung. Eine Welle der Angst überkommt mich, als ich in meiner leeren Küche stehe und mir mit Tränen in den Augen das Schlimmste vorstelle.

Ich rufe meine beste Freundin an, während die volle Panik einsetzt.

„Nora“, sage ich, sobald sie abnimmt. „Kannst du herüberkommen?“

„Natürlich. Stimmt etwas nicht? Ich fahre gerade zu Hot Shots.“

Ich stelle mir vor, wie sie in ihrem weißen Land Rover auf dem Weg zum bestbesuchten Café der Stadt ist, und umklammere die Kante der Arbeitsfläche, weil ich mich irgendwo festhalten muss, während mir um mich herum alles entgleitet.

„Ja, etwas stimmt nicht“, sage ich mit zittriger Stimme. „Ich brauche deine Hilfe. Maple ist verschwunden.“

Kapitel 3

Ruby

Ich bin auf Instagram, um zu schauen, ob Maple in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas gepostet hat, das erklärt, wo sie ist. Dann klopft es an der Tür. Als ich öffne, stehen Nora und Tom mit besorgter Miene davor.

„Hey“, sage ich und trete zur Seite, um sie einzulassen. „Danke, dass ihr hier seid.“ Sofort fühle ich mich schlecht, als würde ich sie ausnutzen, indem ich sie um Hilfe bitte. „Müsst ihr nicht bei der Arbeit sein?“

Tom umarmt mich kurz. „Ich habe sowieso frei und war gerade im Haus in der Juniper Lane, um einen leckenden Wasserhahn zu reparieren.“ Er und Nora haben vor zehn Jahren ein Doppelhaus als Geldanlage gekauft.

Tom ist ein attraktiver Mann Anfang vierzig mit einem warmen Lächeln, wenn auch ein wenig zurückhaltend. Er kann gut mit Kindern umgehen, weswegen es ein harter Schlag für ihn war, selbst keine bekommen zu können. Doch durch seine sanfte Art ist er ein guter Arzt. Obwohl Nora sagt, dass ihr Liebesleben in den letzten Jahren gelitten hat, gesteht sie ein, dass ihr Interesse ebenso geschwunden ist wie seines.

Nora umarmt mich fest. „Ich bin so froh, dass du angerufen hast. Was ist passiert?“

Sie zieht ihre Houndstooth-Jacke aus, legt sie über die Lehne eines gepolsterten Sessels im Wohnzimmer und platziert ihre Handtasche darauf. Sie ist stets gefasst, in dieser mühelos coolen Art, die manche Menschen einfach haben. Ihre blonden Strähnen sind immer frisch, ihre Kleidung klassisch. Weiße Blusen und Skinny Jeans, dazu flache Schuhe oder Sneakers in bunten Farben. Heute Morgen erhellen ihre strahlend gelben Ballerinas diesen düsteren Tag.

Selbst mit all meinem Geld bin ich immer noch ein modischer Albtraum in hohen Vans, einer Boyfriend Jeans und einem Hoodie oder Flanellhemd darüber. Oft bedeckt ein Basecap mein wirres Haar.

Ich schildere ihnen, was bisher passiert ist. Als ich fertig bin, frage ich Tom: „Wie war Maple nach ihrer jährlichen Untersuchung vor ein paar Wochen? Keine Probleme, nehme ich an, oder ich hätte davon gehört?“

„Sie erschien mir gesund“, versichert er mir. „Ich kann nur nicht glauben, dass sie schon siebzehn ist. Sie ist so schnell erwachsen geworden.“

„Hat die Schule schon angerufen?“, fragt Nora.

Ich schüttle den Kopf. „Nein, aber ich habe heute Morgen angerufen, weil ich dachte, sie wäre vielleicht früh aufgebrochen und bereits dort.“

Tom schaut auf seine Uhr. „Es ist erst elf, Ruby.“

Ich runzle die Stirn. „Glaubst du, ich reagiere über?“

Nora presst die Lippen zusammen. Wir drei setzen uns auf die Sofas im Wohnzimmer. „Ein bisschen vielleicht?“, sagt sie sanft. „Es sind erst ein paar Stunden. Erinnerst du dich, als wir in der Nähe von Rom waren und die Kinder Eis wollten? Sie waren mehrere Stunden verschwunden und du konntest sie nicht tracken, weil das Netz so schlecht war.“

Ich schüttle den Kopf, aufgewühlt von der Erinnerung. „Sie brauchten drei Stunden, um sich ein Eis zu holen. In einem fremden Land. Sie hätten entführt worden sein können.“ Sie verstehen mein Trauma in Bezug auf dieses Thema nicht. Wenn sie es täten, wären sie mitfühlend. Mehr als das – sie würden mich mit neuen Augen sehen. Sie würden mich so sehen, wie ich nicht gesehen werden will. Nicht jetzt. Vielleicht niemals.

„Aber sie wurden nicht entführt“, sagt Tom ruhig. „Sie kamen lachend nach Hause und hatten eine tolle Zeit. Ich nehme an, Maple tut gerade dasselbe. Heute ist der letzte Schultag und sie ist ein gutes Mädchen. Wahrscheinlich tut sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Verbotenes.“

Das passt aber nicht zu der Maple, die ich kenne. Und auch wenn unsere Beziehung innerhalb des letzten Jahres Risse bekommen hat, kenne ich sie immer noch am besten. Oder nicht?

„Wisst ihr … ich finde …“, beginnt Nora, schweigt aber dann, weil sie offenbar ihre Meinung ändert, bevor sie erneut beginnt. „Hast du die Geschichte der anderen beiden Highschool-Mädchen verfolgt, die vor einer Woche verschwunden sind?“

Ich runzle die Stirn und erinnere mich an die Aussage der Sekretärin am Morgen. „Was meinst du damit, zwei Mädchen sind verschwunden?“

Nora zieht ihr Handy hervor und beginnt zu tippen. „In der letzten Woche sind zwei Schülerinnen verschwunden.“

„Wovon sprichst du?“

Sie hebt die Brauen. „Du liest wirklich keine Zeitung?“

„Du weißt, dass ich das nicht tue“, sage ich.

Sie grinst, weil sie weiß, dass ich regelmäßig auf Facebook und Instagram bin, was allerdings keine Nachrichtenkanäle sind.

„Nun, zwei Schülerinnen der Highschool sind verschwunden“, informiert sie mich. „Und ich weiß nicht, ob Maple dir überhaupt davon erzählt hat.“

„Nein, sie hat nichts erzählt. Vielleicht kennt sie sie?“

Tom schaltet sich ein. „Sicher tut sie das. Die Schule ist nicht gerade groß.“ Er steht auf. „Ich hole uns etwas zum Essen. Sandwiches aus der Stadt, ja?“

Ich nicke und Nora drückte die Hand ihres Mannes. „Danke, Schatz.“

Es ist das Netteste, was ich sie seit Monaten habe tun sehen. Als Tom fort ist, frage ich sie, was los ist.

„Was soll los sein?“, fragt sie.

Ich mache große Augen. „Mit dir und Tom. Seit wann sagst du ‚Danke, Schatz‘ zu ihm?“

Sie zuckt die Achseln und streicht sich das Haar hinters Ohr. „Ich gebe mir mehr Mühe und besuche wieder die Therapie. Vielleicht gibt es ein paar Dinge, die ich tun kann, um meine Ehe zu verbessern. Ich möchte ihm nicht unsere Probleme in die Schuhe schieben. Wir sind seit dreizehn Jahren verheiratet und sollten uns wieder neu annähern.“

Überrascht hebe ich die Brauen. „Das ist großherzig von dir. Andere würden einfach das Handtuch werfen.“

Langsam schüttelt sie den Kopf. „Tom ist meine ganze Familie, Ruby. Ich habe keine gute Beziehung zu meiner Mom, und mein Dad starb, als ich noch klein war. Wir haben keine Kinder und ich bin ein Einzelkind. Tom war immer mein Fels in der Brandung und wir haben uns ein gemeinsames Leben aufgebaut.“

Nun strecke ich meine Hand aus und drücke ihre. „Wie kommt es, dass du so perfekt bist?“

Sie stöhnt. „Ich bin wohl kaum perfekt, Ruby. Verglichen mit dir.“

„Mit mir?“ Ich schnaube.

„Ja, mit dir. Du bist praktisch eine Heilige. Eine hingebungsvolle Mutter und Freundin. Ich habe nie gehört, dass du die Stimme erhebst oder gemein bist.“

„Und was hat mir das gebracht? Maple kann mich nicht ausstehen. Was es nur schlimmer macht, dass ich nicht weiß, wo sie ist.“

„Ich habe Angst, dass ihr Verschwinden mit dem der anderen Mädchen im Zusammenhang steht, Ruby. Vielleicht sollten wir die Polizei rufen.“

„Ich glaube, du hast recht. Ich kann Huck anrufen, Pipers Vater.“

„Ich hatte vergessen, dass er Polizist ist.“

Bevor ich ihn jedoch anrufe, frage ich: „Wer sind die anderen beiden vermissten Mädchen?“

„Lochlan und Brittany … Ich erinnere mich nicht an ihre Nachnamen. Sicher kann ich sie in der Gazette finden.“

Meine Augen werden groß. „Sie sind beide Cheerleader. Ich erinnere mich, dass Maple in der Mittelstufe mit ihnen Fußball gespielt hat.“

Nora schürzt ihre Lippen. „Ich habe von meiner Kollegin Liana gehört, dass diesen beiden Mädchen ein gewisser Ruf vorauseilt.“

„Okay …“, sage ich langsam. „Der Ruf, hervorragende Schülerinnen zu sein?“

Sie krümmt sich. „Eher … ich denke, sie sind eher für ihre Promiskuität bekannt.“

„Benutzt man dieses Wort heutzutage noch?“, frage ich meine beste Freundin.

„Ich weiß es nicht. Ich wiederhole nur, was ich von jemandem auf der Arbeit gehört habe.“ Sie seufzt. „Es ist aber auch ein blödes Thema für Erwachsene, was eine junge Frau mit ihrem Körper anstellt.“

„Herrgott, wer sind diese Leute, die über die angebliche Promiskuität eines jungen Mädchens reden?“ Ich verdrehe die Augen. „Hör mal, hierfür fehlt mir die Geduld. Ich werde nicht über den Ruf dieser Mädchen sprechen. Es geht uns nichts an. Ich hoffe nur, dass sie sich geschützt haben. Herrje, deswegen habe ich Maple letztes Jahr die Pille verschreiben lassen.“

„Ich weiß“, sagt sie. „Ich erinnere mich daran. Ich hoffe nur, dass Brittany und Lochlan in Sicherheit sind, wo immer sie sich auch befinden. Sie sind seit einer Woche verschwunden.“

Ich schlucke die in mir aufsteigende Angst hinunter. „Ich weiß, dass Tom und du denkt, ich reagiere über, aber ich habe Angst, Nora.“ Tränen steigen mir in die Augen, und ich weiß, dass diese Zurschaustellung von Gefühlen Nora kalt erwischt.

„Ich hätte das nicht sagen sollen“, gibt sie zu. „Man sagt, dass die Intuition einer Mutter nicht anzuzweifeln ist. Versteh sie als Warnsignal und ruf die Polizei an.“