Leseprobe Melodie zweier Herzen

Kapitel Eins

Bude, Cornwall

1816

Portia Stefani wandte unwillig den Blick von der mondbeschienenen Landschaft vor dem Fenster der Kutsche ab und starrte auf den abgegriffenen Brief in ihrer Hand. Sie hatte ihn so oft gelesen, dass sie ihn auswendig kannte, aber sie musste noch immer die Worte ansehen. Sie hatte das Richtige getan, oder nicht?

Verehrter Signore Stefani,

die Stark Arbeitsvermittlung hat Ihr Bewerbungsschreiben bezüglich der Lehrerstelle an uns weitergeleitet. Natürlich übertreffen Ihre Fähigkeiten und Erfahrung meine Erwartungen an einen Klavierlehrer bei Weitem. Es ist mir ein Privileg, Ihnen eine auf ein Jahr befristete Stelle anzubieten. Ich benötige lediglich zwei Unterrichtsstunden am Tag an sechs Tagen in der Woche. Die übrige Zeit stünde Ihnen zur freien Verfügung.

Whitethorn Manor befindet sich in einem recht abgelegenen Winkel von Cornwall, sollte Ihnen das Landleben ein Gräuel sein, wäre die Stelle möglicherweise nicht das Passende für Sie.

Der Verfasser des Briefes, Mr. Eustace Harrington, bot im Folgenden ein großzügiges Gehalt an, schlug ein Datum für den Antritt der Stelle vor und erläuterte, wie das Herrenhaus zu erreichen sei. Keine Erwähnung machte der Brief allerdings, ob Ivo Stefanis Ehefrau ein adäquater Ersatz wäre, sollte der berühmte Pianist nicht zur Verfügung stehen, nicht interessiert oder … tot sein.

Portias Hände zitterten, als sie die kurze Mitteilung wieder zusammenfaltete und in ihrem Retikül verstaute. Es war unsinnig, jetzt die Nervosität obsiegen zu lassen, insbesondere nachdem sie bereits die private Kutsche, die Übernachtungen in den Poststationen und die Mahlzeiten angenommen hatte, für die Mr Harrington bezahlt hatte.

Sie stöhnte und lehnte die pochende Schläfe gegen das kühle Glas. Die endlos wirbelnden Gedanken in ihrem Kopf machten ihr zu schaffen.

Schon seit Stunden dröhnte ihr Kopf, und der Schmerz wurde mit jeder Meile, die sie zurücklegten, stärker. Wochenlang mit dieser Täuschung zu leben, hatte sie sowohl seelisch als auch körperlich erschöpft. Gott sei Dank wäre es bald vorüber, ganz gleich, was geschehen würde.

Hauptsächlich hatte sie sich an das Argument geklammert, dass dieses Täuschungsmanöver ihr einziger Ausweg war, doch je näher sie Whitethorn Manor kam, desto mehr verblasste dessen Überzeugungskraft. Allerdings entsprach es dadurch nicht weniger der Wahrheit. Portia hatte weder Geld noch Familie – jedenfalls niemanden, der sie anerkannt hätte – und die wenigen Freunde, die sie hatte, waren ebenso arm wie sie selbst. Sie hatte nichts als Schulden, seit sie gezwungen gewesen war, die Ivo-Stefani-Akademie für junge Damen zu schließen.

Sie lachte, und das bittere Atemwölkchen, das sie dabei ausstieß, hinterließ einen flüchtigen Nebelschleier auf dem Fenster der Kutsche. Selbst jetzt amüsierte sie noch der lächerliche Name; Ivo hatte immer schon solch hochtrabende Träume gehabt. Unglücklicherweise hatten seine Träume selten dazu getaugt, sie zu ernähren, schon bevor er sie und ihre ums Überleben kämpfende Schule einfach verlassen hatte.

Obwohl das kleine Institut seine Idee gewesen und nach ihm benannt war, hatte ihr Ehemann stets beleidigt reagiert, wenn Portia ihn um Unterstützung bei Ausbildung und Unterricht gebeten hatte.

»Diese Arbeit ist wie für dich gemacht, cara, aber meine Gehörknöchelchen«, an dieser Stelle erschauderte er immer theatralisch, »sie laufen Gefahr, zu zerbrechen und zu bluten, wenn sie einer solchen Tortur ausgesetzt werden.«

»Und wie werden sich deine Gehörknöchelchen wohl fühlen, wenn sie kein Dach mehr über dem Kopf haben?« Diese Frage hatte Portia öfter als einmal gestellt.

Doch Ivo hatte sich nur über ihre Befürchtungen amüsiert – und hatte sich dann mit einer Frau davongemacht, deren bloße Existenz bedeutete, dass Portias zehnjährige Ehe nichts als Heuchelei gewesen war. Nicht, dass all das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Ivo war fort, und die demütigende Erkenntnis mit ihm; es war nicht mehr wichtig, was er getan hatte oder mit wem. Wichtig war jetzt nur, dass Portia überleben musste, und das konnte sie nur, indem sie Musikunterricht gab.

Sie hätte in London Arbeit finden können, aber die Aussicht, in derselben Stadt noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen, hatte sie erschöpft und hoffnungslos werden lassen. Wäre sie nicht mittellos gewesen, hätte sie das Angebot ihrer drei Freunde annehmen können, eine Hausgemeinschaft zu gründen: Serena Lombard, Honoria Keyes und Lady Winifred Sedgewick, die allesamt an der nun geschlossenen Schule unterrichtet hatten.

Leider hatte Portia nichts zu bieten als Schulden, auch wenn sie den größten Teil davon nicht selbst verursacht hatte. Doch den Schuldeneintreibern, die sie tagein, tagaus bedrängten, war es gleich, ob Ivo den Berg unbezahlter Rechnungen ohne ihr Wissen aufgetürmt hatte oder nicht.

Nein, es war weit ratsamer gewesen, diese gut bezahlte Stellung anzunehmen, auch wenn sie dafür auf einen verachtenswerten – und womöglich kriminellen – Schwindel zurückgegriffen hatte.

Die Kutsche kam zum Stehen, und ihre Gedanken flatterten davon wie aufgeschreckte Tauben.

Portia spähte mit angehaltenem Atem aus dem Fenster. Das war nicht einfach nur ein Landhaus; es war ein herrschaftliches Anwesen: ein imposantes Gebäude im palladianischen Stil ragte beinahe bedrohlich vor der Kutsche auf, massive Säulen und riesige venezianische Fenster verdeckten den größten Teil des mondhellen Himmels.

Sie war angekommen.

 

***

 

Die Diener hatten gerade eben die Teller abgeräumt, als Soames das Speisezimmer betrat.

»Verzeihung, Sir, wie es scheint, ist die Person angekommen, die Sie für den Musikunterricht eingestellt haben.«

Stacy Harrington nahm seine Taschenuhr heraus. »Es ist schon recht spät, und zweifelsohne wird er von der langen Reise erschöpft sein. Ich denke, ich werde erst morgen früh mit ihm sprechen. Zeigen Sie ihm seine Räumlichkeiten und lassen Sie den Koch etwas zu essen hochschicken.«

Der alte Butler rührte sich nicht.

»Gibt es sonst noch etwas, Soames?«

»Nun ja …«

»Ja, aber was ist denn?«

»Nun, die Sache ist die, Sir, es ist nicht Signore Stefani.«

Stacy runzelte die Stirn. Sein Butler ließ sich für gewöhnlich durch nichts aus der Ruhe bringen. »Was ist, Soames?«

»Es ist Signora Stefani«, platzte Soames heraus.

»Gut, dann hat er also seine Frau mitgebracht. Ich wünschte, er hätte es uns angekündigt, aber heute Nacht können sie in den Zimmern bleiben, die Sie zurechtgemacht haben, und morgen können wir ihnen großzügigere Räumlichkeiten zuweisen.«

Soames räusperte sich. »Ähm, es ist nur Signora Stefani.«

Seine Tante Frances, die mit jeder neuen Enthüllung stetig näher an die Kante ihres Sitzes herangerutscht war, konnte schließlich nicht länger an sich halten. »Was zum Teufel soll das heißen, Stacy?«, fragte sie, erschüttert genug, dass sie ihn vor einem Bediensteten so vertraulich mit seinem Kosenamen ansprach.

Stacy störte sich nicht an diesem Fauxpas. Eigentlich war ihm »Stacy« sogar lieber als »Eustace«, was in seinen Ohren wie der Name eines Bestatters klang.

Er wandte sich von seiner Tante dem wartenden Dienstboten zu. »Meine Tante wünscht zu wissen, was zum Teufel das heißen soll, Soames.«

Die pergamentartige Haut des Butlers nahm einen rosigen Schimmer an. »Es scheint, als sei Signore Stefani … nun, er ist offenbar verstorben, Sir.«

Stacy lehnte sich in seinem Sessel zurück, und seine Tante schnappte nach Luft.

»Wollen Sie damit sagen, dass sich in der Kutsche eine Leiche befindet, Soames?«

»O nein, Sir, nein.« Soames hielt inne und starrte auf einen Punkt irgendwo hinter Stacys linker Schulter, wobei er wie eine Eule blinzelte. Seine Stirn legte sich in Falten, und er strich über sein längliches Kinn. »Zumindest …«

Stacy kam es vor, als sei der alte Mann versteinert, also bohrte er nach. »Zumindest was?«

»Soweit ich gesehen habe, ist sie allein in der Kutsche, Sir. Keine Zofe und auch keine, äh, Leiche.« Er blickte auf seine Hand hinab. »Das hier hat sie mitgebracht und behauptet, die Stelle als Musiklehrer antreten zu wollen.«

Soames hielt ihm einen gefalteten Bogen Papier hin, und Stacy nahm ihn an sich.

Seine eigene Handschrift schaute ihm daraus entgegen; es handelte sich um den Brief, in dem er dem berühmten Pianisten Ivo Stefani die Stellung angeboten hatte. Stacy legte den Brief beiseite.

»Tja, dann zeigen Sie eben Signora Stefani ihr Zimmer, lassen den Koch etwas zu essen hinaufschicken und sagen ihr, dass ich morgen früh mit ihr sprechen werde.«

»Sehr wohl, Sir.«

Seine Tante wartete, bis der aufgewühlte Butler den Raum verlassen hatte, bevor sie das Wort ergriff.

»Tja.«

Es amüsierte Stacy, wie viel Bedeutung sie in dieses einzige Wort legte.

»Tja. Du sagst es, liebe Tante.«

»Möchtest du nicht doch lieber gleich mit ihr sprechen? Warum bis morgen warten?«

»Sie hat fast drei Tage in einer Kutsche gesessen, Tante Frances. Ich möchte meinen, sie wird erschöpft sein. Ob ich jetzt gleich mit ihr spreche oder erst am Morgen, sie wird ohnehin ein Zimmer brauchen, in dem sie die Nacht verbringen kann.« Außerdem hatte die Frau auf seine Kosten eine teure Reise unternommen; er würde sie dazu befragen, wann es ihm genehm war.

»Aber warum ist sie hergekommen, mein Lieber?«

»Du hast Soames gehört, Tante. Sie ist hier, um zu unterrichten.«

»Wurde das in der Korrespondenz, die ihr gepflegt habt, auf irgendeine Weise erwähnt?«

»Mit keinem Sterbenswort.«

»Sie kann doch nicht wirklich erwarten, dass du ihr eine Stelle anbietest, nachdem sie dich so getäuscht hat.« Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Es sei denn … könnte es sein, dass dich die Arbeitsvermittlung getäuscht hat?«

»Möglich. Irgendjemand hat es jedenfalls getan.«

Seine Tante spitzte die Lippen. »Du musst sie fortschicken.«

»Ich kann sie wohl kaum mitten in der Nacht davonjagen, nicht wahr, Ma’am?«

»Ich fürchte nicht«, entgegnete sie widerwillig. »Aber gleich morgen früh musst du es tun.«

Bei dem scharfen Tonfall seiner Tante hob Stacy die Brauen. Sie errötete unter seinem strafenden Blick und wandte sich ab.

Seine Tante hatte, obwohl sie ihn großgezogen hatte, stets akzeptiert, dass er sein eigener Herr war und darüber hinaus Herr auf Whitethorn Manor. Stacy konnte sich nicht erinnern, wann sie ihm zuletzt vorgeschrieben hatte, was er zu tun oder zu unterlassen hatte. Offenbar war sie weit aufgebrachter, als er angenommen hatte.

Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Kein Anlass zur Sorge, Tante Frances. Ich werde mich morgen um alles kümmern.« Wieder nahm er seine Uhr heraus und warf einen Blick darauf.

Seine Tante hatte die Geste gesehen und erhob sich. »Verzeihung, mein Lieber, ich werde dich jetzt dem Genuss deines Portweins überlassen.«

Stacy begleitete sie zur Tür des Speisezimmers und öffnete diese für sie.

»Ich werde in Kürze bei dir sein«, versprach er und schloss die Tür hinter ihr.

Er löschte alle Kerzen bis auf eine und schenkte sich ein großzügiges Glas Port ein. Er nahm einen Schluck der goldbraunen Flüssigkeit und nahm dann seine Brille ab. Die Nasenwurzel schmerzte vom langen Tragen, und er massierte sie geistesabwesend, während er an die Zimmerdecke starrte, wo gewitzte Putten zwischen Wolken herumtollten oder sich darauf herumlümmelten und begierig das närrische Treiben der Menschen unter ihnen aus sicherer Distanz betrachteten.

Er hätte mit so etwas rechnen müssen. Natürlich nicht damit, dass eine Frau auftauchen würde, sondern damit, dass es unmöglich sein würde, einen Musiker von Stefanis Kaliber so einfach verpflichten zu können. Als ihm die Arbeitsvermittlung mitgeteilt hatte, dass der berühmte Pianist eine Anstellung als Lehrer suchte, hatte er sich gefragt, ob es sich dabei möglicherweise um ein Missverständnis handelte.

Offensichtlich war das der Fall.

Er konnte nicht glauben, dass die angesehene und geschätzte Arbeitsvermittlung Stark ihn belogen hatte, was die Bewerbung von Ivo Stefani anging. Nein, Mrs Stefani musste sie getäuscht haben.

Stacy schüttelte den Kopf. Was musste sie für eine Frau sein, wenn sie sich so unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf solch eine Reise begab? Eine dreiste? Eine selbstsichere? Oder eine verzweifelte?

Er schnaubte; auf jeden Fall eine unehrliche.

Stacy konnte sich vorstellen, warum sie ihn getäuscht hatte – zweifelsohne hatte sie angenommen, dass er keine Frau eingestellt hätte. Er schwenkte sein Glas und starrte in dessen warme Tiefe. Hätte er? Seine Lippen zuckten bei dem Gedanken. Nein, er hätte keine Frau eingestellt, wenn auch aus anderen Gründen, als sie vermutlich angenommen hatte.

Während Männer ihn anglotzten und anstarrten, überwanden sie irgendwann ihre Neugier. Frauen allerdings … nun, er hatte auf die unangenehme Art lernen müssen, dass Frauen nicht so nachsichtig waren – besonders, was seine Augen anging.

An ihren Reaktionen konnte Stacy nichts ändern, aber er konnte versuchen, sich ihrem Zorn und ihrer Furcht so selten wie möglich auszusetzen. Abgesehen von den Ehefrauen seiner Pächter, einigen Frauen im Ort, und seinem weiblichen Dienstpersonal war es ihm gelungen, den Kontakt zum weiblichen Geschlecht zu vermeiden. Nun, außer den Frauen, die er in Plymouth aufsuchte; jene Frauen entlohnte er großzügig dafür, dass sie seine äußere Erscheinung ignorierten.

Dass er der Ankunft eines Musiklehrers derart entgegengefiebert hatte, sprach Bände über sein Sozialleben. Vielleicht sollte dieses Debakel ihm sagen, dass diese Leidenschaft alberne Zeitverschwendung war?

Er hatte weiß Gott genug damit zu tun, seine Ländereien zu verwalten und seine Geschäfte zu führen. Aber sollte er sich denn kein privates Vergnügen erlauben dürfen? Er hatte schon hingenommen, dass er niemals heiraten und eine Familie gründen würde. Musste er also bloß wegen seines grotesken Äußeren auch das Klavierspiel aufgeben, eines der wenigen Dinge, die er liebte? War es zu viel verlangt, ohne Aufregung und Ärger einen Musiklehrer einstellen zu wollen? Andere taten das schließlich auch. Natürlich üblicherweise für ihre Kinder, aber warum sollte das eine Rolle spielen?

Stacy stellte sein Glas mit mehr Schwung ab, als notwendig gewesen wäre, und das Kristall klirrte auf der polierten Maserholzfläche des Tisches. Je länger er über die Täuschung dieser Frau nachdachte, desto wütender wurde er. Was wagte es dieses Weibsstück, zu vermasseln, was eigentlich ein ganz simpler Geschäftsvorgang gewesen wäre? Seine Tante hatte recht gehabt. Stacy hätte die Frau herzitieren und sie für ihren unverschämten Betrug zur Rechenschaft ziehen sollen, ganz gleich, wie erschöpft sie sein mochte.

Beim Gedanken an seine Tante ging ihm auf, dass es recht unfreundlich von ihm gewesen war, sie fortzuschicken, wo sie sich doch nur um sein Wohl sorgte, auch wenn die Sorge gänzlich unnötig sein mochte. Sie hatte Angst um ihn, als ob er noch immer ein kleiner Junge wäre, nicht ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Frances Tate war seine einzige lebende Verwandte und hatte ihm Vater und Mutter ersetzt. Dafür hatte sie sich auf dem Land vergraben und ihr Leben ganz seiner Erziehung gewidmet. Sie hatte nie geheiratet oder auch nur einen Verehrer gehabt, soweit Stacy wusste. Nicht zum ersten Mal hatte er ein schlechtes Gewissen, dass sie ihr Leben allein auf ihn ausgerichtet hatte. Die arme Frances war mit etwas über ein Meter achtzig Größe beinahe ebenso eine Monstrosität wie er.

Stacy schob sein Glas zur Seite, nahm seine Brille und erhob sich. Er würde seine Tante für die abrupte Abweisung entschädigen, indem er für sie spielte, was sie stets entspannte.

 

***

 

Die Reaktion des Butlers auf Portias Ankunft war so urkomisch gewesen, dass sie gelacht hätte, wenn nicht ihre gesamte Zukunft auf dem Spiel gestanden hätte. Wenn Mr Harrington auch nur halb so schockiert wäre wie sein Diener, hätte sich Portia schon lange mitsamt ihrem Gepäck auf der Straße befunden – oder wahlweise vor dem örtlichen Magistrat.

Stattdessen befand sie sich nun inmitten einer luxuriösen Suite, die aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einem enormen Ankleidezimmer bestand, in dem es sogar eine kupferne Badewanne gab. Die Zimmer waren groß und luftig und die Ausstattung war in einer beruhigend wirkenden Kombination von Eisblau und warmem Schokoladenbraun gehalten. Portia ließ sich in einen Ohrensessel sinken, zog die robusten schwarzen Stiefeletten aus und streckte ihre Füße auf dem weichen Aubusson-Teppich aus. Ihr Körper schmerzte, sie war voller Staub und Schmutz, und ihr Gehirn arbeitete im Schneckentempo. Zum Glück musste sie in diesem Zustand nicht ihrem zukünftigen Dienstherrn entgegentreten. Sie war gleichermaßen erstaunt wie dankbar gewesen, als Mr Harrington beschlossen hatte, ihr Zusammentreffen auf den folgenden Morgen zu verschieben.

Für heute Nacht würde sie die kurze Verschnaufpause nutzen und vergessen, was auch immer der Herr des Hauses für sie geplant haben mochte; heute würde sie den außerordentlichen Komfort dieser Räumlichkeiten genießen.

Portia hatte gerade ihr Portmanteau geöffnet und suchte nach ihrem Nachthemd, als ein Dienstmädchen ein großes Tablett mit Essen brachte. Das Mädchen lächelte scheu, trug das Tablett ins Wohnzimmer und stellte die Schüsseln auf den Tisch. Als sie damit fertig war, knickste sie kurz, und ihre großen braunen Augen sahen Portia mit unverhohlener Neugier an.

»Mr Soames sagte, ich möchte Ihnen beim Auspacken helfen und fragen, ob Sie gerne ein Bad nehmen würden, Ma’am.«

Portia hatte den Anstand, zu erröten; Abendessen auf dem Zimmer und das Angebot, ein heißes Bad nehmen zu können? Obwohl sie ihn getäuscht hatte, begegnete Mr Harrington ihr mit Höflichkeit und Güte.

Es hatte nicht viel Sinn, auszupacken, aber Portia konnte unmöglich die Chance auf ein Bad in dieser wunderschönen kupfernen Wanne ausschlagen.

Sie lächelte die junge Frau an. »Ich bin Signora Stefani. Wie heißen Sie?«

»Daisy, Ma’am.«

»Ich benötige keine Hilfe beim Auspacken, Daisy, aber ich würde nach dem Essen schrecklich gern ein Bad nehmen.«

»Sehr wohl, Ma’am.« Sie knickste abermals, verließ das Zimmer und schloss die Wohnzimmertür hinter sich.

Der Duft des Essens ließ Portia das Wasser im Munde zusammenlaufen, und sie beeilte sich zu schauen, was das Dienstmädchen ihr gebracht hatte: gebratenes Geflügel, Pastinakenpüree, frisches Brot und Butter, eine Karaffe Wein sowie Clotted Cream mit frischen Beeren. Es war die perfekte Mahlzeit für eine müde, hungrige Reisende, und sie fiel darüber her wie ein ausgehungertes Tier.

Sie hatte sich gerade die letzte Beere in den Mund gesteckt, als Daisy die Tür öffnete.

»Ihr Bad ist bereit, Ma’am.«

Portia folgte ihr zu der Kupferwanne, die mit dampfendem Wasser gefüllt war. Daneben stand ein Tischchen mit einer marmornen Platte, auf dem weiche Handtücher und verschiedene kristallene Flaschen bereitstanden.

»Kann ich Ihnen beim Auskleiden helfen, Ma’am?«

»Vielen Dank, Daisy. Ich denke, ich komme allein zurecht.« Sie wartete, bis sich die Tür hinter dem Dienstmädchen geschlossen hatte und begann die Häkchen zu lösen, mit denen ihr braunes Reisekostüm an der Seite verschlossen war.

Beim Entkleiden sah sich Portia in ihrem Zimme um. Ein hübsches Chippendale-Schränkchen stand an der einen Wand, schwere braune Samtvorhänge rahmten die Fenster ein, die vom Boden zur Decke reichten, und ein wuchtiges Himmelbett dominierte das Schlafzimmer.

Gedankenverloren strich sie über die Tagesdecke aus blauer Seide, die sich wie eine Wolke anfühlte, als sie ihre Hand darauflegte. Sie spürte einen schmerzvollen Stich, als sie ihre Umgebung betrachtete. Das Hausmädchen war lieb, die Räumlichkeiten wundervoll, und die einfache Mahlzeit war köstlich gewesen, wie schade, dass sie wahrscheinlich all das morgen hinter sich lassen musste.

Portia war noch nie so zuvorkommend behandelt worden, nicht einmal, als sie und Ivo noch in den vornehmsten Häusern Europas zu Gast gewesen waren. Ihr Ehemann war als großer Künstler betrachtet und sehr gefeiert worden, bevor der Unfall seiner Karriere ein Ende gesetzt hatte. Einige Männer hatten viel Geld dafür bezahlt, Ivo Stefani für sich und ihre Freunde spielen zu lassen, und Frauen hatten ihn wegen seinem guten Aussehen, der olivfarbenen Haut und den warmen Schlafzimmeraugen verehrt.

Die Ehefrau des großen Künstlers hatte allerdings nicht dieselbe Aufmerksamkeit erhalten. Meistens war Portia in winzigen Dachkammern untergebracht worden und hatte das verächtliche und missgünstige Verhalten der Dienstboten über sich ergehen lassen müssen, während Ivo mit der Dame des Hauses ins Bett ging, ein Vermögen für teuren Firlefanz verprasste und einen Großteil seines Verdienstes am Spieltisch verlor.

Portia bemerkte, dass sie mit den Zähnen knirschte.

Beruhige dich, sagte sie sich. Beruhige dich und genieße den unerwarteten Luxus, denn höchstwahrscheinlich erwartet dich morgen der örtliche Magistrat.

Sie schob den Gedanken beiseite und gab einen großzügigen Schuss des nach Lavendel duftenden Badeöls in das dampfende Wasser, bevor sie ihren Körper in das himmlische Bad gleiten ließ.

Als sie damit fertig war, ihre Haare zu waschen, waren ihre Lider so schwer und müde, dass sie sich gegen das warme Kupfer der Wanne lehnte und sie schloss.

Ich werde nur kurz meine Augen ausruhen. Nur eine Minute

Portia schrak hoch, das Badewasser war kalt, ihre Finger und die Haut schrumpelig. Sie mühte sich, ihren steifen, schmerzenden Körper aus der Wanne zu wuchten und sich abzutrocknen. Sie hatte kaum noch genug Kraft, ihr feuchtes Haar zu kämmen und das fadenscheinige Nachthemd anzuziehen, bevor sie sich in ihre dekadente Schlafstatt wühlte. Sie schloss die Augen und befand sich sofort fest im Griff eines quälenden Wachtraums, in dem sie sich auf einer nicht enden wollenden Kutschfahrt befand.

Schließlich sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf, bis etwas sie weckte. Sie schob die Masse wirrer Locken beiseite und blinzelte zu der Kerze am anderen Ende des Raumes hinüber, die sie vergessen hatte zu löschen. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte, dass es gerade nach zwei Uhr war.

Portia stöhnte und ließ ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken. Sie hatte nicht nur die Kerze brennen lassen, sondern auch vergessen, die Vorhänge zu schließen, und Mondlicht erhellte das Zimmer. Sie würde das Licht löschen und die Vorhänge zuziehen müssen, wenn sie noch etwas Schlaf bekommen wollte.

Verärgert warf sie die Decken zur Seite, stemmte sich aus dem Bett und tappte über den dicken Teppich zum Fenster. Sie war gerade im Begriff, die Vorhänge zu schließen, als sie hinter dem geriffelten Glas einen kleinen Balkon bemerkte. Der gut geölte Fensterriegel ließ sich geräuschlos bewegen. Sie öffnete den Fensterflügel und trat hinaus in ein Wunderland.

Eine kühle Brise bewegte ihr Nachthemd, und der Mond warf ein magisches Licht über die Landschaft. Es war einer dieser Monde, die so tief am Himmel stehen, dass man das Gefühl hatte, ihn berühren zu können, wenn man nur den Arm ausstreckte. Einige Laternen, die in einer Reihe von der Hausecke bis etwa zur Hälfte der Einfahrt aufgestellt waren, spendeten zusätzliches Licht.

Portia fragte sich, wer mitten in der Nacht eine solch strahlende Beleuchtung brauchte, aber sie schüttelte den Gedanken ab. Wer wusste schon, was die Leute auf dem Land so trieben und warum?

Obwohl die Nacht kühl war, war sie zu schön, um zu widerstehen. Portia lehnte sich gegen den kalten Stein und füllte ihre Lungen mit kalter, nicht-Londoner Luft. Sie war die vorübergehende Herrscherin über ein mondbeschienenes Königreich.

Im Westen war ein schmaler Streifen Ozean zu erkennen. Sie konnte die glitzernden Wellen sehen, aber sie waren zu weit entfernt, um sie an die Küste rollen zu hören. Ein gepflegter Garten umgab das Haus im Westen und Süden, und dahinter lag ein Gehölz, das groß genug war, dass man es einen Wald hätte nennen können.

Portia schloss die Augen und sog die Stille der Nacht in sich auf. Was für ein wunderwunderschöner Ort dies war! Und wie furchtbar schade, dass sie dies nur in dieser einzigen Nacht würde bewundern können. Ihr Bedauern war so bitter, dass es tatsächlich einen schlechten Geschmack auf ihrer Zunge hinterließ; sie hätte niemals lügen sollen. Sie hätte Mr Harrington schreiben und den Brief in ihrem eigenen Namen zeichnen sollen. Sie hätte Belege für ihre Ausbildung gehabt, die nicht weniger beeindruckend war als Ivos, von der Erfahrung ganz zu schweigen, die sie bei der Leitung einer Schule gesammelt hatte, auch wenn eine geschlossene Schule vielleicht kein besonderes Aushängeschild war.

Sie hatte ihnen beiden einen Bärendienst geleistet, indem sie ihm nicht die Wahrheit gesagt und es ihm auf diese Weise nicht gestattet hatte, eine Entscheidung zu treffen. Nun würde ihr Betrug zwischen ihnen stehen, zu Recht.

Portia kaute auf ihrer Unterlippe, bis sie schmerzte, so wütend war sie über ihre Impulsivität. Sie war beinahe neunundzwanzig, würde sie nie lernen, dass man erst denken und dann handeln sollte? Sie musste verrückt gewesen sein, anzunehmen, dass ihr Plan aufgehen könnte, und selbst wenn …

Ein leises Geräusch drängte sich in ihre trüben Gedanken, und Portia öffnete die Augen. Etwas Weißes, Geisterhaftes flackerte zwischen den Bäumen am Rand des Waldes. Sie machte einen Schritt zurück, drückte sich in den Schatten der schweren Samtvorhänge und zog sie fester um ihren Körper. Eine Gestalt trat aus dem Wald, und Portia hielt den Atem an, als sich der weiße Fleck verfestigte: Es war kein Geist, sondern eine Person auf einem großen weißen Pferd.

Pferd und Reiter bewegten sich langsam entlang der Baumreihe, bevor sie in einen Galopp ausbrachen und über die hügelige Parklandschaft schossen wie eine Sternschnuppe. Sie überwanden die Distanz zwischen dem Wald und dem Haus in wenigen Augenblicken.

Das geisterhafte Paar wurde langsamer, als es sich der Auffahrt näherte. Die hellen Laternen verschafften Portia einen besseren Blick. Nein, das war ganz gewiss kein Geist, sondern ein sehr greifbar aussehender Mann. Er trug weder Mantel noch Weste, nur ein weißes Hemd, das von der Anstrengung offenbar feucht geworden war und nun wie eine zweite Haut an seinem Oberkörper klebte. Lange, muskulöse Beine in Reithosen und schwarzen Stiefeln trieben das Pferd an. Das Mondlicht tauchte Pferd und Reiter in einen unheimlichen silbrigweißen Schein.

Portia bewegte sich vorsichtig weiter auf den Balkon hinaus, als sich der Reiter näherte. Sie hoffte, einen Blick auf sein Gesicht erhaschen zu können, als er die nächste Laterne passierte. Dabei zog sie am Vorhang, und das Kerzenlicht aus dem Raum hinter ihr drang für einen kurzen Augenblick hinaus und warf einen schwachen Lichtstreifen über das Kopfsteinpflaster der Einfahrt, der wie ein Pfeil anmutete, der hinauf zu ihrem Fenster wies.

Pferd und Reiter wandten sich wie ein Wesen dem Balkon zu.

Portia schnappte nach Luft, taumelte zurück ins Zimmer, schlug den Fensterflügel zu und nestelte an der Verriegelung. Sie zog die Vorhänge zu und sank mit klopfendem Herzen dagegen, als wäre sie gerannt.

Guter Gott! Wie war das möglich?

Kapitel Zwei

Es war bereits nach elf Uhr, als ein Bediensteter erschien, um Portia zu ihrem Gespräch mit dem Hausherrn zu begleiten. Sie war bereits wach, angekleidet und wartete seit Stunden, auch wenn sie nicht viel Schlaf bekommen hatte. Sie hatte es versucht, aber immer, wenn sie ihre Augen geschlossen hatte, war dieses schreckliche blasse Gesicht in ihren Gedanken aufgeblitzt.

Und diese Augen …

Natürlich wusste sie, dass es ein Mann auf einem Pferd gewesen war, keineswegs ein Geist oder Dämon. Dennoch hatte sie nicht zurück in den Schlaf gefunden. Sie hatte in die Finsternis über ihrem Bett gestarrt, wo sich die Schatten in endloser Folge zu geisterhaften Bildern formten und wieder auflösten.

Sie hatte versucht, Schäfchen zu zählen oder an angenehmere Dinge zu denken. Zum Beispiel an die Freunde, die sie zurückgelassen hatte, die fünf Damen und den einen Mann, die zuvor ihre Angestellten gewesen waren und nun, in alle vier Himmelsrichtungen verstreut, jeweils darum kämpften, sich am Rande der Gesellschaft eine Existenz zu sichern.

Es war möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass Portia einige von ihnen nie wiedersehen würde.

Und nun war sie hier; wieder einmal allein.

Der Gedanke hatte sie verdrießlich gestimmt, unruhig und voller Selbstmitleid hatte sie sich hin und her gewälzt, bis schließlich die ersten rosigen Streifen der Morgendämmerung über den Horizont krochen. Erst dann war sie in einen unruhigen Dämmerschlaf gefallen.

Kurz vor acht Uhr drangen Fragmente gleißenden Sonnenlichts durch die Lücke zwischen den Samtvorhängen und weckten sie. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte gerötete, verquollene Augen.

Als sie ihr Spiegelbild sah, hätte sie weinen mögen, aber das hätte ihr nur obendrein noch eine rote Nase eingebracht.

Also kleidete sie sich an, kämmte das schreckliche Wirrwarr auf ihrem Kopf und bändigte es zu einem Knoten, der so straff war, dass er tatsächlich die Tränensäcke unter ihren Augen zu glätten schien.

Danach hatte sie einen kühlen Lappen auf ihre Stirn gelegt und ängstlich gewartet, bis schließlich ein Klopfen sie aus ihren sorgenvollen Gedanken schreckte.

Es war Soames, der Butler.

»Mr Harrington erwartet Sie in der Bibliothek, Ma’am.« Im Gegensatz zum vorigen Abend, als der alte Mann beinahe hektisch gewirkt hatte, waren sein faltiges Gesicht und die wässrigen blauen Augen an diesem Morgen der Inbegriff der Contenance, die man von einem Butler erwartete.

Sie nahmen eine andere Treppe nach unten als die, über die sie am vorherigen Abend heraufgekommen war. Unten angekommen wandte sich Soames nach rechts und führte sie einen breiten, schwach beleuchteten Korridor entlang, bevor sie vor einer Flügeltür stehenblieben. Er öffnete die rechte Tür und bedeutete ihr, einzutreten.

»Die Bibliothek, Ma’am.«

Portia spähte in den Raum, dessen Inneres kaum sichtbar war. Die einzige Lichtquelle war eine einzelne Kerze am anderen Ende.

»Vielen Dank, Soames.« Die tiefe Stimme kam aus derselben Richtung wie das Kerzenlicht. »Kommen Sie doch herein und nehmen Sie Platz, Signora Stefani.«

Zögerlich trat Portia ein und zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

»Ich nehme an, es ist Ihnen zu dunkel.« Den Worten folgte das Aufflackern einer Flamme, und eine blasse Hand wurde sichtbar, die drei weitere Kerzen entzündete. Der Lichtschein schwoll an, bis sich daneben ein Schädel mit zwei dunklen Augenhöhlen aus der Dunkelheit schälte. Portia keuchte auf, und der Schädel verzog sich zu einer Maske des Zorns.

»Erschrecken Sie nicht. Ich bin nicht gefährlich, und ich werde Ihnen nichts tun.«

Ihr Gesicht brannte vor Scham über ihre alberne Reaktion und seinen spöttischen Ton. Nun konnte sie erkennen, dass die zwei schwarzen Flecke lediglich dunkle Brillengläser waren, und der Schädel lediglich ein sehr blasses Gesicht – dasselbe, das sie in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Das Mondlicht hatte sie nicht getäuscht: Eustace Harringtons Haar und Haut waren so weiß wie unberührter Schnee. Nur seine Lippen, auf denen ein missbilligender Zug lag, hatten ein wenig Farbe.

»Ich leide an einer seltenen Erbkrankheit, Signora Stefani. Das bedeutet, meiner Haut und meinen Haaren fehlt die Farbe. Sie müssen sich nicht beunruhigen, es ist nicht ansteckend.«

Portia lachte, und sein Ausdruck wechselte von zornig zu überheblich.

»Ich lache nicht über Sie, Mr Harrington«, versicherte sie ihm schnell. »Ich lache, weil mir vollkommen klar ist, dass Sie nicht ansteckend sind. Ich habe bereits von dieser Krankheit gehört.« Portia verriet ihm allerdings nicht, dass die einzige andere Person, von der sie gehört hatte, in einem Dorf in der Nähe von Rom von abergläubischen Bauern gesteinigt worden war.

»Dann muss ich mir keine Gedanken machen, dass Sie schreien oder ohnmächtig werden könnten?«, fragte er in einem bissigen Tonfall.

»Nicht, solange Sie mir dazu keinen Anlass geben, Sir.«

Er überging ihren Versuch, ungezwungen zu klingen. »Warum sind Sie nach Whitethorn Manor gekommen?«

Portia holte tief Luft und begann mit der Rede, die sie auf der Reise von London hierher einstudiert hatte.

»Sie wünschten, eine Person von außergewöhnlichem Talent einzustellen, die Musik unterrichtet, und ich bin eine solche Person. Ich genoss eine Ausbildung an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, dem angesehensten Musikinstitut der Welt. Mein Vater war dort viele Jahre Lehrer, und ich eine seiner Schülerinnen.« Sie machte eine Pause. Als er nichts erwiderte, sprach sie weiter. »Die Accademia nimmt keine Frauen auf, aber dennoch bin ich Pianistin mit einer klassischen Ausbildung. Ich bin nicht Ivo Stefani, aber ich bin gut. Sehr gut.« Portia brach ab, bevor ihre überwältigende Nervosität die Oberhand gewinnen und die sorgsam aufgebaute Fassade durchbrechen würde.

Das weiße Gesicht ihres Gegenübers blieb reglos. Hatte er erwartet, dass sie sich entschuldigte? Ihn anflehte? Ein Gefühl, das nackter Angst sehr nahekam, breitete sich in ihrer Brust aus und erschwerte es ihr, zu atmen. Vielleicht sollte sie.

»Wann starb ihr Ehemann?« Er hatte die Frage mit derselben Leidenschaftslosigkeit gestellt, als ob er sich nach der Uhrzeit erkundigt oder sie gefragt hätte, ob sie Tee oder Kaffee bevorzugte.

Portia schluckte ihre Verärgerung über seine bedächtige, stoische Haltung hinunter, die dafür sorgte, dass sie sich wie ein kleines Schulmädchen fühlte, das versteinert vor der Direktorin stand. Sie ermahnte sich, dass er in dieser Angelegenheit schließlich der Geschädigte war; sie hatte diese kühle Herablassung verdient, wenn nicht Schlimmeres.

»Es ist etwas weniger als zwei Jahre her.«

»Also waren Sie es, die auf meine ursprüngliche Anzeige reagiert und mir einen Brief geschickt hat, den Sie mit dem Namen Ihres Mannes unterzeichneten.«

Ihr Gesicht glühte nun noch mehr. »Ja.«

»Wenn Sie doch so hochqualifiziert sind, warum haben Sie sich dann nicht mit ihrem eigenen Namen beworben, anstatt zu einer Lüge zu greifen?«

Dass er von einer Lüge sprach wirkte wie ein Funken auf trockenem Zunder.

Portia öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch die schrille Stimme der Vernunft hielt sie davon ab. Sei demütig, Portia! Du musst zu Kreuze kriechen! Gerade gestern noch hast du dir geschworen, nicht mehr impulsiv zu handeln und – Portia schob die Stimme beiseite. Was hatte sie schon zu verlieren, wenn sie sagte, was sie dachte? Es war doch offensichtlich, dass der Mann nicht vorhatte, sie einzustellen.

»Dann sagen Sie mir, Mr Harrington, hätten Sie erwogen, diese Position einer Frau zu geben?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein leichtes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Darum geht es hier doch wohl nicht, oder?«

Dieser Mann spielte mit ihr und labte sich an ihrer Demütigung und Furcht. Sie sprang auf die Füße, und er erhob sich ebenfalls.

»Sie gehen, Signora Stefani?«

»Warum sollte ich bleiben? Sie haben Ihre Meinung über weibliche Musiker deutlich zum Ausdruck gebracht.«

»Ach ja? Ich dachte, wir hätten von Ihrem Betrug gesprochen, nicht von Ihren musikalischen Fähigkeiten.«

Portia knirschte mit den Zähnen, es ärgerte sie, dass sie ihm recht geben musste. Schon wieder.

Er deutete auf ihren Stuhl. »Bitte, warum nehmen Sie nicht wieder Platz? Ich habe weder Mühe noch Kosten gescheut, um Sie herzubringen. Finden Sie nicht, dass Sie mir da die Höflichkeit erweisen könnten, mir einige Minuten Ihrer Zeit zu widmen und mir eine Erklärung anzubieten?«

Was er sagte, war nur gerecht, auch wenn es sie wütend machte und dieser Umstand ihren unberechtigten Ärger nicht abzumildern vermochte.

»Und was werden Sie tun, wenn ich mich weigere, Mr Harrington? Werden Sie den örtlichen Magistrat anrufen?«

Er seufzte. »Ich bin der örtliche Magistrat, Signora Stefani.«

Portia lachte kurz auf und sank auf ihren Stuhl. »Fragen Sie, was Sie wollen.«

Er ignorierte ihr ungebührliches Verhalten und ihre zornigen Worte und nahm ebenfalls wieder Platz. »Ich frage mich, warum der Tod Ihres Gatten nicht in den Zeitungen erwähnt wurde, Signora.«

Diesen Einwand hatte sie bereits viel früher erwartet, aber das bedeutete nicht, dass sie besonders erpicht darauf war, ihm noch mehr Lügen aufzutischen.

»Mein Mann starb nicht in England.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht haben Sie von seinem Unfall gehört?«

»Ja, sein Arm wurde zerschmettert, und er konnte nicht mehr spielen. Ich nahm an, dass dies der Grund war, warum er sich auf meine Anzeige bewarb.«

»Ich fürchte, für meinen Mann war das Unterrichten eine unerträgliche Erinnerung an alles, was er verloren hatte.« Das zumindest war die Wahrheit. »Er musste seine Erinnerungen und die Vergangenheit hinter sich lassen und seinem Leben wieder Bedeutung geben. Er entschied, dass ihm das am besten gelingen würde, wenn er in die Armee einträte.« Lügen, Lügen, Lügen. Glücklicherweise konnte ihr Gesicht nicht noch mehr glühen.

Hinter den getönten Brillengläsern zogen sich blasse Augenbrauen in die Höhe, was ein Ausdruck von Überraschung, Unglauben oder ganz anderen Gefühlen sein konnte. Portia nahm an, dass er überrascht war. Schließlich hatte er Ivo nicht gekannt. Andernfalls hätte er sich jetzt vor Lachen gekrümmt: Ivo Stefani hatte in seinem ganzen Leben gewiss nicht einen einzigen altruistischen Gedanken gehabt.

»Bitte, fahren Sie doch fort.«

»Es gibt nicht viel mehr zu berichten. Er ging nach Neapel und starb kurz darauf in der Schlacht von Tolentino.« Würde er es wagen, nachzufragen, auf welcher Seite ihr Mann gekämpft hatte? Oder würde er das Schlechteste annehmen und sie gleich für die Witwe eines Mannes halten, den viele in England als Verräter betrachtet hätten?

»Verraten Sie mir, Signora«, sagte er, stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor, was sein faszinierendes Gesicht näher ans Licht brachte. »Was dachten Sie, würde geschehen, wenn Sie sich mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen vorstellen?«

Das hatte sie sich auch schon zahlreiche Male gefragt, nur harscher formuliert. Warum also erzürnte es sie dermaßen, wenn er eine Frage aufwarf, die zu stellen er jede Berechtigung hatte?

Weil du dich für deine Tat schämst und nichts quälender ist, als zu wissen, dass man im Unrecht ist.

Die lästige innere Stimme hatte recht, aber das bedeutete nicht, dass es Portia gefallen musste. Dennoch, sie konnte sich besser kontrollieren.

»Es tut mir leid, dass ich Sie getäuscht habe, und ich entschuldige mich dafür.« Sie presste die Lippen fest aufeinander, doch dann öffnete sich ihr Mund erneut und mehr Worte purzelten heraus. »Wenn Sie mir die Summe nennen, die Sie für meine Reise aufgebracht haben, werde ich Sie gern entschädigen.« Die überaus dumme Äußerung erstaunte sie selbst. Woher sollte sie das Geld nehmen?

Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmut kommt vor dem Fall.

Zähneknirschend musste Portia zugeben, dass diese Erkenntnis selbstgefällig, aber zutreffend war.

Mr Harringtons Gesichtszüge nahmen einen leicht widerwilligen Ausdruck an. »Wir können wie ein paar Straßenhändler um die Rückzahlung der Reisekosten feilschen, oder Sie könnten mir eine Kostprobe Ihrer musikalischen Fähigkeiten geben.« Seine blassen Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. »Ich weiß, welche Alternative ich vorziehen würde.«

Sein Sarkasmus stieß Portia unangenehm auf, aber in ihrer Brust regte sich Hoffnung. Würde er in Betracht ziehen, sie einzustellen? Oder versuchte er nur, es ihr auf billige Weise heimzuzahlen?

Sie versuchte, seine unbewegte Miene zu lesen. Er erinnerte sie an den berühmten Stein, den sie im Britischen Museum gesehen hatte – der nach der ägyptischen Hafenstadt Rosetta benannt war. Er hatte keine tatsächliche Ähnlichkeit mit dem schwarzen Felsblock, doch ihn umgab dieselbe undurchdringliche Aura des Geheimnisses. Spielte er mit ihr? Gab er ihr Anlass zur Hoffnung, nur um …

Portia übernahm die Kontrolle über ihre wirbelnden Gedanken. In Wirklichkeit war es ihr gleich, was seine Beweggründe sein mochten. Klavier zu spielen war besser, als Fragen zu beantworten, auf die sie keine Antworten hatte, oder zumindest keine, die akzeptabel gewesen wären.

Sie neigte den Kopf mit einem Hochmut, der seinem in nichts nachstand. »Ihnen steht eine Demonstration meiner Künste zu. Was soll ich für Sie spielen?«

»Das überlasse ich ganz Ihnen. Sie sind schließlich die Expertin«, bemerkte er trocken. »Soll ich Sie jetzt ins Musikzimmer begleiten oder brauchen Sie Zeit, um sich vorzubereiten?«

Portia hörte die Herausforderung, die in seiner höhnischen Frage steckte, und lächelte; welch ein Vergnügen es ihr bereiten würde, ihm mit seinen zornigen Worten das Maul stopfen zu können. Sie erhob sich. »Nichts geht über den gegenwärtigen Augenblick, Mr Harrington.«

Kapitel Drei

Portia betrachtete Eustace Harrington verstohlen, als er sie durch den langen Korridor hinunterführte. Seine Adlernase, die wohlgeformten Lippen und der scharf geschnittene Kiefer erinnerten an eine klassische Statue, und die Haut sowie das modisch frisierte Haar waren weißer als Alabaster. Nur die Brille zerstörte die Illusion einer lebendig gewordenen männlichen Galatea: Äußerlich war Eustace Harrington der faszinierendste Mann, den sie je gesehen hatte.

Er öffnete die Tür zu einem Raum, der ebenso finster war wie die Bibliothek. Als er sich ihr zuwandte, glich sein Lächeln dem einer Sphinx.

»Bitte verzeihen Sie mir meine Unhöflichkeit, Signora, aber ich werde vorausgehen und Ihnen den Weg leuchten.« Er entzündete fünf Kerzen in dem Kandelaber neben dem Klavier, bevor er weit entfernt von der Lichtquelle Platz nahm, was ihn praktisch ihrem Blickfeld entzog.

Portia näherte sich dem Instrument und hielt abrupt inne. »Grundgütiger!«

»Was ist, Signora?«

»Das ist ein Schmidt.« Ehrfurchtsvoll strich sie über den schimmernden Klangkörper.

»Gefällt es Ihnen?« Zum ersten Mal klang etwas Warmes in seiner Stimme an.

»Es ist ein Klavier, das auf ein Konzertpodest gehört.« Selbst Ivo hatte kein besseres Instrument gespielt.

»Noten finden Sie in dem Schränkchen hinter Ihnen.«

Jetzt war es an Portia, spöttisch zu lächeln. »Das wird nicht nötig sein.« Sie nahm Platz und spielte einige Tonleitern, um ihre Finger zu lockern. Das Instrument war mit Abstand das beste, das sie je gespielt hatte. Die Klaviere, die ihr Vater für den Unterricht verwendet hatte, waren von guter Qualität gewesen, aber die meisten davon waren über Jahre durch den ständigen Gebrauch von Hunderten von Händen gequält worden. Dieses Klavier war exquisit, der Klang makellos.

Sie spielte Bachs Goldberg-Variationen, beginnend mit der Variatio 14. a 2 Clav.

Das Stück war lebendig – beinahe ausgelassen – und die vielen Übersätze waren wunderbar dazu geeignet, dem Mann, der über sie Gericht hielt, ihre technischen Fähigkeiten zu demonstrieren. Portia konnte ohne Übertreibung behaupten, dass sie Ivo überlegen war, was Bach anging.

»Natürlich favorisierst du ihn«, hatte Ivo sie in einem Anflug von Kränkung verhöhnt. »Er besitzt keine Leidenschaft, bloße Mathematik – perfekt für deine englische Seele.« Die Tatsache, dass sie Halbengländerin war, hatte er ihr oft vorgehalten, als ob es eine Art Makel wäre.

Ohne Pause ging Portia zur Variatio 15 über. Canone alla Quinta. a 1 Clav.: Andante. Das Stück war bloße Qual und wand sich um sie herum, drückte ohne Gnade zu und ließ sie zerschlagen und geschunden zurück, als sie sich an die letzte Auswahl begab.

Variatio 5 war süße Leichtigkeit und spülte über sie wie ein wohltuender Regen, der sie mit seiner sanften, streichelnden Ruhe tröstete.

Nachdem ihre Finger die letzten Noten angeschlagen hatten, verschlang Portia die Hände in ihrem Schoß und schaute in die Dunkelheit. Ein langes Schweigen folgte, worin Mr Harrington offenbar ein Meister war.

»Sie spielen exquisit.« Ein beinahe unmerkliches Zittern durchlief die kühle Stimme, und Portia machte sich nicht die Mühe, ihr triumphierendes Lächeln zu verbergen. Gut! Bach sollte niemanden ungerührt lassen.

»Es scheint, Ihre Behauptungen waren keinesfalls übertrieben, Sie sind eine sehr gute Musikerin.«

Portia weigerte sich, ein so schwaches Lob einer Reaktion zu würdigen; sie war mehr als gut.

»Ich wollte gerade eine Probezeit vorschlagen, um festzustellen, ob wir …« Seine Worte brachen ab, als ob sein eigenes Angebot ihn selbst überrascht hätte. Portia hatte er jedenfalls überrascht, ja sogar sprachlos gemacht. »Aber da Sie offenbar eine Abneigung gegen mich …«

»Es wäre mir eine Ehre«, platzte Portia heraus, bevor er sein Angebot zurückziehen konnte. »Und ich wäre äußerst dankbar.« Die anschließende Pause war quälend unangenehm. Das entfernte Ticken einer Uhr war das einzige Geräusch, und Portia wollte gerade anfangen, loszuplappern, als seine kühle, gelassene Stimme die Dunkelheit zwischen ihnen durchdrang.

»Ich denke, ein Monat sollte ausreichen. Am Ende der Probezeit werde ich Ihnen entweder die volle Stelle anbieten, oder ich werde Sie für den Monat bezahlen und für Ihre Rückreise nach London sorgen.«

Portias Stolz lehnte sich gegen die nicht allzu subtile Drohung auf, die in seinen Worten lag: Sie sollte sich gefälligst seinen Wünschen fügen, wenn sie bleiben wollte.

Glücklicherweise gelang es ihr dieses Mal, ihren Stolz im Zaum zu halten und ihren unbegründeten Ärger hinunterzuschlucken. »Das klingt mehr als angemessen, Mr Harrington.« Sie zögerte. »Ein Monat sollte ausreichen, damit ich feststellen kann, ob es mir gefällt, an einem so entlegenen Ort zu wohnen.«

Er lachte leise über diesen kleinen Akt der Auflehnung. Der Klang seines Lachens war warm und einladend und stand in scharfem Kontrast zu seiner kühlen und distanzierten Art. »Haben Sie noch nie auf dem Land gelebt, Signora?«

»Ich bin lediglich über Land gereist

»Nun, ich möchte Sie ungern zwingen, hierzubleiben, da Sie nun gesehen haben, wie ländlich wir hier wohnen. Vielleicht möchten Sie lieber nach London zurückkehren?«

Portia hätte beinahe gelacht; dieser listige Fuchs hatte sie ihren eigenen Strick knüpfen und den Hals in die Schlinge stecken lassen. Nur, dass sie sich weigerte, sich damit zu hängen.

»Die Reise war lang, Mr Harrington. Es wäre dumm, der Anstellung keine Chance zu geben.« Ihr Magen grummelte, als eine angespannte Stille eintrat.

»Wie werden Sie meinen Unterricht gestalten, Signora Stefani?«

Die Erleichterung, die sie durchlief, ließ ihr schwindlig werden, und Portia musste sich anstrengen, ihren Verstand beisammen zu halten. »Um diese Frage zu beantworten, werde ich prüfen müssen, über welche Fertigkeiten Sie bereits verfügen. Gibt es eine bevorzugte Tageszeit, zu der Sie gewöhnlich spielen?«

»Ich pflege, vor dem Abendessen einige Stunden zu spielen.«

»Dann lassen Sie uns bei Ihrem Zeitplan bleiben. Heute können Sie spielen, was auch immer Sie gerade einstudieren, das wird mir die Gelegenheit geben, ihre Stärken und Schwächen einzuschätzen.«

Er tauchte aus der Dunkelheit auf und hielt kurz vor dem Kerzenleuchter inne. »Bei schwacher Beleuchtung überanstrenge ich meine Augen nicht so leicht. Stellt das ein Problem für Sie dar?« Mit einem seiner langen, eleganten Finger schob er die dunkle Brille auf seiner ebenso eleganten Nase höher.

Portia zwang sich, den Blick von seinem faszinierenden Gesicht zu nehmen und starrte stattdessen seine modische Krawatte an. »Solange Sie die Noten auf dem Blatt erkennen können«, entgegnete sie gelassen.

»Dann werde ich Sie hier um vier Uhr wiedersehen. So haben Sie zwei Stunden Zeit, um sich vor dem Essen etwas auszuruhen. Meine Tante und ich nehmen unsere Mittagsmahlzeit für gewöhnlich getrennt ein, aber treffen uns zum gemeinsamen Abendessen. Wir speisen um acht Uhr, was hier auf dem Land schon recht spät ist. Sie werden selbstverständlich mit uns speisen.«

Wenn es auch eher wie ein Befehl geklungen hatte, ließ das unerwartete Angebot Portia erröten, hocherfreut darüber, dass sie nicht für den kommenden Monat auf ihr Zimmer verbannt sein würde.

»Es wäre mir eine große Freude.«

»Reiten Sie, Signora?«

»Ich fürchte, Reiten war nicht Teil meiner Erziehung in Rom. Ich gehe allerdings sehr gern spazieren, und die Landschaft sieht bezaubernd aus.«

»Es gibt hier einige sehr schöne Spazierwege«, stimmte er zu, »aber mit einem Gig werden Sie schneller in die Stadt kommen. Ich werde meinen Stallmeister, Hawkins, anweisen, Ihnen zu zeigen, wie man mit diesem Gefährt umgeht.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Harrington neigte den Kopf. »Ich sehe Sie dann um vier, Signora.«

Portia wartete, bis er sich umgedreht hatte, bevor sie von Erleichterung überwältigt die Augen schloss. Sie durfte bleiben, zumindest vorerst, und musste nicht betteln, um das Geld für die Rückreise nach London zusammenzukratzen, wo sie auf die Barmherzigkeit ihrer Freunde angewiesen wäre.

»Da ist noch etwas, Signora.«

Portia hob den Kopf und sah ihren neuen Arbeitgeber in der offenen Tür stehen.

»Ja, Mr. Harrington?«

»Was mich anbelangt, so habe ich mit dem Thema Ihres Täuschungsversuchs abgeschlossen. Ich werde nicht wieder davon sprechen.«

Sie lächelte. »Vielen Dank.«

»Allerdings möchte ich, dass Sie sich im Klaren darüber sind, dass ich Lügen bei meinen Angestellten nicht toleriere.«

Sein kühler Tadel löschte die Dankbarkeit aus, die Portia noch eben gefühlt hatte, und ihre Nackenhaare sträubten sich ärgerlich. Jedoch bezwang sie ihr Temperament und schluckte die wütende Antwort hinunter, bevor sie über ihre Lippen schlüpfen konnte.

»Ich habe verstanden, Mr Harrington.«

Er nickte, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Portia starrte in das Zwielicht; Ärger und Furcht dämpften nun das Hochgefühl, das sie gerade noch empfunden hatte. Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach, und sie verbannte sie unbarmherzig in den letzten Winkel ihrer Gedanken. Sie hatte ihm alles erzählt, was her wissen musste. Die Wahrheit über ihre Vergangenheit ging ihn nichts an, schließlich änderte sie nichts an ihrem Unterricht. Ihr Leben mit Ivo betreffend musste Mr Harrington nichts weiter wissen, als dass er fort war.

 

***

 

Stacy setzte sich an seinen Schreibtisch, löschte die Kerzen, nahm die Brille ab und ruhte in der samtenen Schwärze der Bibliothek seine Augen aus.

Was zum Teufel hatte er da gerade getan? Er war dort hineingegangen, um ihr eine ordentliche Standpauke zu halten und sie mit Schimpf und Schande davonzujagen; stattdessen hatte ihr Klavierspiel ihn so benommen gemacht, dass er ihr die verfluchte Stelle angeboten hatte.

Noch immer war er überwältigt von ihrer kurzen Darbietung – eine meisterhafte Demonstration von Leidenschaft und Präzision, die zu meistern er niemals zu hoffen wagte.

Vergiss ihre gesamte Person nicht, sagte eine verschmitzte Stimme in seinem Kopf. Er schnaubte. Als ob er sie vergessen könnte.

Er hatte gestern nur einen kurzen Blick erhaschen können, aber das hatte ausgereicht, um sein Interesse zu wecken. Wild hatte sie auf dem Balkon ausgesehen, die Augen weit, die vollen Lippen zu einem überraschten O geformt, als er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihn beobachtete. Ungebändigte dunkle Locken hatten ihr blasses Gesicht eingerahmt, das dünne Nachtgewand im Kerzenlicht hinter ihr beinahe durchscheinend. Blut schoss in seine Lenden, als er sich an ihre kurvige Silhouette erinnerte.

Himmel. Stacy veränderte die Sitzposition.

Die Frau gestern Nacht war verlockend gewesen, die Frau heute Morgen allerdings ebenso, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen.

Der wilde Blick war verschwunden, und an seine Stelle war ein hochmütiger, bohrender Ausdruck getreten. Sie hatte ihr wundervolles Haar so gnadenlos gebändigt, dass Stacy sich fragte, ob er sich die widerspenstigen Locken nur eingebildet hatte. Ihr praktisches braunes Kleid war bis zum Hals geschlossen und langärmlig, aber es hatte den verführerischen Körper, denn er gestern Nacht so kurz gesehen hatte, kaum verbergen können.

Ihre Nase, zweifellos das Erbe eines italienischen Vorfahren, war das auffälligste Merkmal in ihrem Gesicht und sorgte dafür, dass sie nicht als konventionelle Schönheit betrachtet werden konnte. Dennoch stellten das dunkle Haar, die sahneweiße Haut und die wohlgerundete Figur eine reizvolle und gefährliche Kombination dar.

Doch nicht allein ihre Attraktivität hatte sein Interesse geweckt.

Als sie die Bibliothek betreten hatte, war sie für den Kampf gerüstet gewesen, bewaffnet nur mit ihrem Stolz und ihrem Talent, und wie eindrucksvoll diese Waffen sich präsentiert hatten!

In ihr loderte ein Feuer, und Stacy hatte die Flammen gesehen, verdammt, er hatte sich sogar daran versengt, als er über Ihre Fähigkeiten gesprochen hatte.

Sie war ihm mit einem überheblichen Selbstbewusstsein entgegengetreten, dass beinahe erotisch gewesen war, noch dazu, wie sich herausstellte, nicht unberechtigt.

Und dann hatte ihr Klavierspiel ihn erregt.

Die profane körperliche Reaktion sollte ihn beschämen, aber das tat sie nicht. Ein Mann hätte vom Hals abwärts tot sein müssen, um nicht hart zu werden. Sie war innerhalb eines Wimpernschlags von eng eingeschnürt zu stürmisch und aufgewühlt gewechselt, wie eine Frau in den Wallungen der Leidenschaft. Die Erfahrung war nicht nur erregend gewesen, sondern hatte ihn bis ins Innerste erschüttert: Stacy konnte hundert Jahre üben und würde nie auch nur halb so gut spielen.

Allerdings bedeutete das nicht, dass er es nicht versuchen konnte.

Er hatte keinerlei Zweifel, dass Signora Stefani ihm viel beibringen konnte, aber würde ihn ihre Gegenwart nicht zu sehr ablenken, um etwas zu lernen?

Du bist doch kein brünstiger Hirsch, der eine Hirschkuh wittert. Du wirst doch wohl deine Triebe im Zaum halten können?

Natürlich konnte er das, aber hier ging es verdammt nochmal nicht um Kontrolle oder deren Verlust. Die Frage war: Würde er sich auf die Musik konzentrieren können, oder würde er die Musikstunden mit Fantasien zubringen, in denen er sie über das Klavier beugte?

Stacy verzog das Gesicht. Wenn er es so ungeschönt in Worte fasste, klang es etwas armselig.

Aber die Wahrheit war armselig: Er war spitz. Sogar verdammt spitz. Er hatte die vergangenen zwei Monate in Barnstaple verbracht, wo er an der Überholung zweier neuer Schiffe gearbeitet hatte. Deswegen war es ewig her, seit er das letzte Mal das Etablissement in Plymouth aufgesucht hatte, in dem er für gewöhnlich seine Triebe befriedigte.

Ha! Etablissement?

Na gut. Das Bordell, das ich regelmäßig aufsuche. Ist das besser?

Stacy weigerte sich, sich dafür zu schämen. Eine Prostituierte zu bezahlen, war noch immer besser, als mit Dienstmädchen oder jungen Frauen aus dem Dorf Bastarde in die Welt zu setzen, was der hiesige Gutsherr mit widerwärtiger Regelmäßigkeit tat.

Man könnte auch eine Ehefrau nehmen.

Er hielt sich nicht einmal damit auf, diesen lächerlichen Gedanken zu rechtfertigen.

In Wahrheit hätte er schon vor langer Zeit eine Geliebte nehmen sollen, aber die Vorstellung ließ ihn kalt. Was für ein Aufwand, nicht nur für ihn, sondern auch für irgendeine bedauernswerte Frau. Wie musste es sein, den ganzen Tag im Haus zu sitzen und darauf zu warten, dass ein Mann kam, um einen zu besteigen? Bei dem Gedanken ans Besteigen spannte sich sein Körper wieder an, und er ließ den Kopf gegen die Lehne des Stuhls sinken. Ein Monat war eine verdammt lange Zeit, und ihn gelüstete bereits nach der armen Witwe, einer Frau, die nur hier war, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Stacy runzelte die Stirn. Der Gedanke hatte ihn etwas nüchterner werden lassen. Es hatte ihn schon immer angewidert, wenn Männer ihre Pächterinnen, Dienstmädchen oder andere Frauen ausnutzten, die abhängig von ihnen waren. Er musste Signora Stefani also nur für die kommenden dreißig Tage wie eine gewöhnliche Bedienstete betrachten.

Nur einen Monat, und dann würde er tun, was er bereits heute Morgen hätte tun sollen und sie fortschicken. Für einen Monat würde er doch wohl noch seine ungehörigen Bedürfnisse zügeln können?

»Verdammt«, murmelte er und massierte seine Schläfen. Das würde ein langer Monat werden.