Leseprobe Mit dem Tod per Du

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Love is in the air

Saarlouis, Anfang August 2012

Ich fühle mich so himmlisch joghurtleicht! Heute trage ich meine gelb-roten Manolos, schließlich ist es ein besonderer Tag. Ich kenne meinen Frank jetzt seit exakt zwei Monaten. Und wir sind ein Paar! Wahrhaftig: Die Nichts-richtig-auf-die-Reihe-Bekommerin Lucy Schober und Kriminalkommissar Frank Kraus, ›the one and only‹, sind ein Paar. Heute Morgen haben wir gleich miteinander telefoniert. Leider konnte Frank gestern Abend nicht lange bleiben, weil er einen Mord aufklären muss. Das Tolle daran: Ich bin in keinster Weise darin verwickelt. Da ist einfach klassisch jemand erschossen worden, und ich kannte den Typ nicht einmal dem Namen nach. Nun stöckle ich beschwingten Fußes vom Parkplatz auf dem Großen Markt zu meiner Arbeitsstelle, leider nach wie vor das Callcenter Mediaboutique in Saarlouis.

Es sind erst ein paar Wochen vergangen, seitdem die Mordserie aufgeklärt werden konnte, in die ich ungewollt hineingezogen wurde. Maurice ist jetzt in Merzig in der Geschlossenen. Der Arme. Hoffentlich können sie ihm dort helfen, immerhin wollte er sich lediglich um mein Seelenleben kümmern, mein Gemüt aufhellen. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu verarbeiten. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen, dass er reihenweise Menschen um die Ecke gebracht oder es zumindest versucht hat, weil sie mir gegenüber hundsgemein waren. Jeden Tag, wenn ich zum Gebäude komme, in dem das Callcenter untergebracht ist, muss ich an ihn denken, ob ich will oder nicht. Ich wünsche ihm wirklich alles Gute!

Sorgsam senke ich meinen Blick und achte darauf, das Lüftungsgitter neben dem Eingang zu umgehen. Zu schrecklich hat sich das Gefühl in meine Erinnerung eingebrannt, als meine Manolos hier Federn lassen mussten – oder vielmehr einen der Zwölf-Zentimeter-Absätze. Bevor ich die Glastür aufziehe, bewundere ich die Peeptoe-High-Heels noch einmal, die sich darin spiegeln. Der Schusterhannes hat daraus Unikate gemacht, als er die Stöckel der sonnenblumengelben Schuhe mit korallenrot gefärbtem Ziegenleder bezog.

Das Werbeliedchen der Schokoladenmarke mit der Joghurtfüllung summend, durchschreite ich die Halle bis zum Fahrstuhl. Dort steht bereits eine Frau. Sie wendet sich zu mir und mustert mich. Sie ist nicht größer als ich, ihr Haar fällt in einem platinblonden Pferdeschwanz auf einen blauen Kittel, der ihre Figur verdeckt. Sie scheint allerdings superschlank zu sein. Unwillkürlich ziehe ich den Bauch ein, der von den vielen Trüffelpralinés und der Schokolade zum Frühstück zeugt, die ich in den vergangenen Wochen in mich hineingestopft habe. Zunächst trösteten sie mich über die schrecklichen Todesfälle und die Tatsache hinweg, des Mordes verdächtigt zu sein. Danach milderten sie meine Aufregung über Franks Zuneigungsbekundungen.

Mein Kopf fühlt sich unangenehm heiß an, und um einen Krampf zu vermeiden, entspanne ich meine Muskulatur in der Hoffnung, dass das blonde Wesen da nicht bemerkt, wie meine Speckröllchen über dem Rockbund nach vorne ploppen. Die Frau beäugt mich indessen forschend, bis ihr Blick an meinen Schuhen hängen bleibt. Ob sie die Marke erkennt?

»Sind scheene Schuh das.« Sie zieht eine Augenbraue hoch.

Irre ich mich, oder hat sie einen polnischen Akzent? Vielleicht auch einen russischen? Oder griechischen? Peinlich, ich kann ihn nicht zuordnen. Saarländisch ist es jedenfalls nicht.

»Danke. Das sind Manolo Blahniks.«

Ich schenke ihr ein Lächeln und will erzählen, wie ich sie mir monatelang vom Mund abgespart habe, doch ihr Stirnrunzeln lässt meine Mundwinkel festfrieren.

»Wollte ich nicht wissen das.«

Die Frau hat ein ansprechendes, kleines Gesicht mit hohen Wangenknochen und fein geschwungenen Brauen über azurnen Augen. Ihre Lippen sind voll und sinnlich, und ihre Stimme mit dem, wie ich nun vermute, griechischen Akzent wirkt, als sei sie Telefondame von Beruf. Eine blutjunge Telefondame. »Rufst du mich an! Habe ich Überraschung für dich!« – oder so ähnlich. Eigentlich ist es Quatsch, aber mir macht die zierliche Person in dem unförmigen Kittel auf subtile Art Angst. Einerseits sieht sie wie eine Hilfsarbeiterin aus, was ihre straff nach hinten gebundenen, schlecht gefärbten Haare unterstreichen. Andererseits klingt keine Spur von Schüchternheit mit, wenn sie spricht. Im Gegenteil, sie strotzt vor Selbstbewusstsein. Ausgesprochen widersprüchlich, das Ganze. Wohin sie wohl will?

Vermutlich hätte ich es ahnen müssen. Natürlich fährt sie mit mir hoch zur Mediaboutique. Mit einem Pling öffnet sich die Fahrstuhltür. Ganz selbstverständlich macht sie einen Schritt nach vorne, tritt vor mir in das Großraumbüro, und ich kann nur mit einem beherzten Rückwärtssprung einen Zusammenprall verhindern. Meine Überraschung ist groß, als ich meinen Chef, Herrn Dürrbier, vor uns stehen sehe. Beim Anblick des Kittelmädchens entspannt er sich sichtlich, seine Schultern sacken herunter und mit seinem urtypischen Lächeln entblößt er die von den Zigarillos gelb verfärbten Zähne.

»Ah, die liebe Helene. Herzlich Willkommen in unseren heiligen Hallen.«

Er streckt ihr die Arme entgegen in dem offensichtlichen Wunsch, sie an sich zu ziehen. »Helene« sträubt sich, was sie mir einerseits sympathisch macht, andererseits meinen ängstlichen Respekt vor ihr steigert. Sie stößt beide Hände vor, sodass Dürri mit seiner Hühnerbrust dagegen prallt. Offensichtlich ist nicht nur ihre Stimme überraschend herb.

»Heiße ich nicht Helene, sondern Ilina! Ist das nicht schwer zu merken!«, stößt sie hervor und hängt noch ein »Bitte!« an, das jedoch mehr nach einem Befehl klingt.

Was darauf mit Dürri passiert, habe ich noch nie gesehen. Er duckt sich fast unmerklich, lächelt sie geradezu devot an und wiederholt ihren richtigen Namen. »Ilina, selbstverständlich. Das klingt auch viel schöner.«

Begeistert klatscht er in die Hände. Nanu? Schlagartig hört das Schnattern der rund dreißig Telefonistinnen auf (Männer sind in der Minderheit und ebenso gemeint), alle drehen sich gespannt zu Dürri um. Ich schleiche ein Stück durch den schmalen Gang in Richtung meines Schreibtisches und bleibe wie angewurzelt stehen, als meine Kolleginnen mich anzischen. Ich wende mich Dürri und Ilina zu. Erst jetzt sehe ich, dass sie den Kittel anstelle eines Kleides trägt. Ihre Füße unter den extrem wohlgeformten, nackten Beinen stecken in silbernen Sandaletten mit einem kleinen Absatz. Meine Güte, sieht die Frau klasse aus! Geradezu herausfordernd mustert sie alle, mich dabei großzügig übergehend. Meine Neugier wächst. Wer ist das und was will sie hier?

»Das ist Ilina Kowalska.« Dürri hebt den Arm, will ihn um Ilinas Schultern legen, besinnt sich angesichts ihrer Miene jedoch eines Besseren. »Sie arbeitet ab heute bei uns und wird Maurice ersetzen, den wir für lange Zeit verloren haben.«

Dürri wirft mir einen vernichtenden Blick zu, als trage ich Schuld an Maurice’ Verhaftung und damit an dem Verlust unseres Jungen für alles. Ilina wird seinen Platz einnehmen? Das bedeutet, sie wird hinter uns herräumen, Kaffee für uns kochen, darauf achten, dass der Betrieb läuft und ansonsten weitgehend unsichtbar bleiben? Hm, das kann ich mir nicht vorstellen. Ilina wirkt nicht still und zahm wie Maurice, der die Gabe hatte, uns alle zu beruhigen.

Ilina strafft die Schultern und lächelt. »Bin ich lieb zu euch, wenn ihr seid lieb zu mir. Verstanden!«

Das Kichern bleibt mir im Halse stecken, als ich bemerke, wie ernsthaft die anderen nicken. Uff, wo hat Dürri die bloß aufgegabelt?

Ein Telefon schrillt, und als wachten alle aus einem Traum auf, schwirrt und schnattert es um mich herum los. Dürri führt die neue Kollegin zu seinem Büro, ich höre noch, wie er ihr sagt, sie müsse nicht im Kittel zur Arbeit kommen. Ich finde das Outfit gar nicht schlecht. Dann registriere ich die Blicke der wenigen Männer im Raum, die hinter ihren Computerbildschirmen der blonden Frau im blauen Arbeitsdress nachstarren und die Manolos an meinen Füßen unter meinem Minirock nicht einmal bemerken. Das kann ja heiter werden! Überhaupt – Ilina. Was ist das denn für ein bescheuerter Name?

***

Fünf kaufunwillige Kunden später zieht mir ein angenehmer Duft in die Nase. Ich drehe den Kopf, um zu sehen, woher er kommt. Die Tür zum Kaffeekabuff steht offen. So lecker hat es bei Maurice nicht gerochen! Hat Ilina etwa ein neues Gerät mitgebracht? Nein, außer ihrem ausgebeulten Kittel hatte sie lediglich eine winzige, abgestoßene Handtasche aus Lederimitat über der Schulter getragen. Für eine Kaffeemaschine war da kein Platz.

Frustriert von den Klienten, mit denen ich bisher zu tun hatte, fasse ich Mut und gehe zum Kämmerchen, schiele vorsichtig am Türrahmen vorbei und sage: »Mhm, herrlich!«

Ein bisschen schön Wetter machen hat noch nie geschadet. Meine Nervosität versuche ich zu ignorieren.

Ilina steht an der Spüle, sie wirbelt zu mir herum. Ihre Augen scheinen mich zu erstechen, doch immerhin verzieht sie die Mundwinkel. Ich vermute, das soll ein Lächeln sein. Wenn sie ein Hund wäre, könnte man sagen, sie zieht die Lefzen hoch, und das würde wohl bedeuten: »Sei bloß vorsichtig!« Genau das bin ich, als ich einen Schritt auf sie zu mache.

»Darf ich mir eine Tasse nehmen?«

Warum frage ich überhaupt? Natürlich darf ich das.

Mit hochgezogenen Brauen beobachtet Ilina mich, während ich mit zitternden Fingern zuerst den Kaffee und danach einen Schuss Milch in meinen Lieblingsbecher mit der Mohnblume gieße. Abermals steigt mir dieser ungewöhnliche Duft in die Nase. Ich nippe vorsichtig. Mhm, ein Hauch von Vanille ist zu erahnen. Wie hat sie das mit unserer vorsintflutlichen Maschine bloß hingekriegt?

Ilinas Gesichtszüge entspannen sich. Ein Lächeln schenkt sie mir allerdings nicht.

»Ist ein Familiengeheimnis. Werde ich nicht verraten dir.«

Huch, hatte ich gefragt?

»Bitte?«

»Du willst wissen, wie ich habe gemacht spezielles Aroma, nicht?«

Ich nicke und nehme noch einen Schluck. Der schmeckt sogar noch besser als der erste.

»Werde ich nicht sagen niemanden!«

»Gut, Ilina. Der ist große Klasse. Ich bin übrigens Lucy.« Sie hat mich einfach geduzt, also mache ich das genauso. Ich strecke ihr die Hand entgegen.

Ilina betrachtet sie wie einen toten Fisch und erschauert. »Weiß ich das längst.«

Peinlich berührt lasse ich meine Hand fallen. »Meinen Namen?«

»Nein, dass mein Kaffee ist große Klasse. Und jetzt ich muss arbeiten.«

Ich fühle mich entlassen und trolle mich mit meiner Tasse. Ganz gleich, welche Probleme diese komische Perle hat oder welche Geheimnisse sie vor uns versteckt, ihr Vanillegebräu wiegt alles auf. Ich muss ja nicht mit ihr reden.

Zum Glück muss ich Ilina den Rest des Tages nicht mehr sehen, und es gelingt mir, sie zu vergessen, während ich noch ein paar Kunden an die Strippe bekomme, die sich von mir zu nicht gerade sinnvollen Käufen überreden lassen. Entsprechend gut gelaunt verlasse ich am Nachmittag das Büro, und als ich Frank auf dem Markt auf mich warten sehe, kribbelt es in meiner Brust vor Freude. Er sieht einfach hinreißend aus in den Jeans und dem Polohemd. Anscheinend ist er außer Dienst, da er keine Waffe trägt. Das heißt mehr Zeit für uns beide! Wie erhofft, schwelgt er zuerst in der Bewunderung meiner Schuhe, und als er den Blick hebt, schwingt darin eine Verheißung mit: »Warte, wenn ich dir die von den Füßen streife.« Und sein Kuss schmeckt sogar noch besser als Ilinas Zaubertrank.

Arm in Arm spazieren wir zunächst zur Fußgängerzone, wo wir im Tapas eine Kleinigkeit essen wollen. Aus der Kleinigkeit wird allerdings eine Portion Nudeln »à la Inge«, für Frank mit extra Käse und extra Chili. Leider betritt alle zehn Minuten jemand aus unseren Bekanntenkreisen das Restaurant, weshalb wir uns kaum unterhalten können und uns stattdessen gegenseitig unsere Freunde vorstellen.

»Und nun zu meinem Job«, sagt Frank, nachdem ein Kollege von ihm, Froonk, endlich unsere schmallippigen Antworten auf seine anzüglichen Scherze und seine belästigenden Blicke in mein Dekolleté richtig gedeutet und Leine gezogen hat. »Ich muss lediglich noch meinen Bericht schreiben, Gott sei Dank!«

»Das ist prima! Herzlichen Glückwunsch … Äh, sagt man da herzlichen Glückwunsch?«

Er lacht. »Kann man.«

Wie süß, er läuft bis unter die Haarwurzeln rot an! Ich deute es als Reaktion auf mein Kompliment und ziehe meinen Fuß aus dem linken Schuh, um ihm damit ein wenig das Schienbein zu liebkosen. Erst da registriere ich die Frau in der langen, weiten Bluse über einer Röhrenjeans, die einen dürren Typ mit winzigem Bauchansatz hinter sich herzieht. Sie steuert eindeutig auf unseren Tisch zu. Frank bemerkt meine massierenden Zehen überhaupt nicht, errötet jetzt allerdings noch mehr und springt auf.

»Ellen!«

Sein Ausruf hört sich ein bisschen wie ein Ächzen an. Ich erschrecke und suche nach meinem Manolo, kann ihn jedoch nicht sofort finden. Ellens Erscheinung hat umwerfende Auswirkung auf mich. Unverkennbar hat sie sich bereits mit Schwangerschaftskleidung eingedeckt, obwohl unter ihrem Oberteil nicht mehr Bauch zu sehen ist als bei mir. Ihre knapp schulterlangen Haare glänzen in einem natürlichen Weizenblond und wallen in solch perfekten, großen Locken, dass sie sie entweder von einem Starfriseur hat legen lassen oder, noch schlimmer, es Natur sein muss.

»Und der Dieter«, fügt Frank hinzu.

Die beiden sind mittlerweile an unserem Platz angekommen, und ich angle noch immer nach meinem Schuh. Wie peinlich! Frank dreht sich mir zu. Ich sehe ihm genau an, wie er sich wundert, weil ich noch auf meinen vier Buchstaben hocke.

»Lucy, darf ich dir Ellen vorstellen, meine … äh …«

»Baldige Exfrau«, vervollständigt Ellen seinen Satz und streckt mir die Hand entgegen. »Freut mich. Wollen wir gleich Du sagen? Ersparen wir uns das formelle Getue, oder?«

Ich springe auf, stehe zuerst mit dem nackten Fuß auf dem Boden, stelle mich im nächsten Moment auf den anderen, was mir verdutzte Blicke einbringt, weil ich damit gleich zwölf Zentimeter größer erscheine.

»Ganz meinerseits. Einverstanden.«

Ellens Händedruck ist nicht zu fest, ihre Haut warm und trocken. Richtig angenehm. Sie scheint geradezu von innen heraus zu leuchten. Ich erkenne ein paar Fältchen um die Augenpartie, die ihrer Wirkung keinerlei Abbruch tun. Sie sieht aus wie eine Frau, die gern lacht, und genau das tut sie, als sie sich neben mich setzt.

»Hallo, Lucy, wollen wir uns auch duzen?«, fragt der Dieter, der sich auf dem Stuhl gegenüber niederlässt.

Er hat ein Kindergesicht unter leicht angegrautem, dunklem Haar und wirkt freundlich, im Vergleich zu Ellen jedoch unscheinbar. Die hat sich inzwischen zur Seite gebeugt und schielt gen Boden. Riecht sie etwa mit ihrer sensiblen Schwangerschaftsnase, dass ich meinen zweiten Manolo noch nicht gefunden habe? Ich lasse mich auf meinen Popo sinken und taste erneut nach dem Meisterwerk der Schuhkunst. Nie wieder werde ich einen davon in der Öffentlichkeit ausziehen!

»Wow!«, schreit Ellen und bückt sich.

Gerade habe ich das weiche Leder meines Peeptoe-High-Heels mit der Zehenspitze berührt, als es mir entrissen wird.

Mit noch leuchtenderen Augen als vorhin, falls das überhaupt möglich ist, taucht Ellen auf und hält ihre Jagdtrophäe in der Hand. Fast liebevoll streicht sie mit dem Finger den Absatz entlang. »Gehört der etwa dir? Das ist ein Manolo Blahnik, oder?«

Ich hätte es gleich ahnen können. Sie ist eine Schwester im Geiste.

Stolz nicke ich. »Habe ich reduziert gekauft. Fünf Monate lang von Tütensuppe gelebt.«

Sie nickt wissend. »Er ist jede einzelne Praline wert, auf die du verzichtet hast. Wunderschön!«

Ehrfürchtig reicht sie mir meinen Schuh. Ich lasse ihn hastig verschwinden und ziehe ihn an.

Frank grinst, Ellen zwinkert, der Dieter schaut arglos in die Runde.

Mir kommt für eine Sekunde in den Sinn, dass die sinnliche Frau vor mir vermutlich meine unmittelbare Vorgängerin ist, deren Füße Frank als letztes geleckt hat. Schnell verscheuche ich den Gedanken.

Ellen tätschelt dem Dieter die Hand. »Wollen wir bestellen?« In diesem Moment kommt der Ober im karierten Hemd herbeigeeilt. »›Pasta Inge‹ mit extra Käse?«

Der Dieter nickt. »Und dazu ein großes Pils.«

»Für mich eine große Apfelschorle, bitte.«

Als ich Ellen kurz darauf dabei beobachte, wie sie mit gesundem Appetit ihre Nudelportion genießt, fühle ich mich mehr und mehr wie eine graue Maus. Und das, obwohl ich heute Morgen, bevor ich das Haus verließ, im Spiegel der gut gekleideten Dreiunddreißigerin ein zufriedenes Augenzwinkern geschenkt habe. Meine dunklen Haare sind vom Friseur meines Vertrauens vor ein paar Tagen frisch in Form geschnitten worden, allerdings lässt sich das Gekringel auf meinem Kopf nur in stundenlanger Arbeit annähernd in solch mondäne Wellen legen, wie Ellen sie trägt. Noch dazu besitzt sie dieses innere Leuchten. Von dem bin ich mit Sicherheit meilenweit entfernt. Ich vermute, es hängt mit ihrer Schwangerschaft zusammen. Nach nörgelnder Ehefrau, wie Frank sie mir beschrieben hat, sieht sie jedenfalls nicht aus.

Während ich verstohlen den Raum sondiere, bemerke ich sehr wohl die vorwiegend männlichen Blicke, die an diesem bezaubernden Wesen hängen bleiben, als sei sie ein Versprechen von Lust und Sinnlichkeit. An ihr ist nichts Vulgäres oder Billiges, ihre wonneproppige Erotik nimmt mir beinahe die Luft. Das Verblüffendste daran: Sie scheint sich dessen in keinster Weise bewusst zu sein. Ich bin mir sicher, wenn jemand sie darauf ansprechen würde, würde sie das errötend von sich weisen – was den Reiz mindestens verdoppelt, wenn nicht gar potenziert. Und mit ihr soll ich mithalten können?

Überrascht spüre ich einen Anflug von Neid. Schön blöd, ich weiß, doch sie verkörpert genau das, was ich mir immer für mich selbst gewünscht habe: eine natürliche Grazie trotz durchschnittlicher Figur und Körpergröße, gleichzeitig ein gesundes Selbstbewusstsein, das nicht an Äußerlichkeiten festgemacht ist. Außerdem ist sie ganz Frau, ohne weibchenhaft zu wirken, und ohne es nötig zu haben, sich bei der Männerwelt anzubiedern. Das Gesamtbild wird noch dadurch gekrönt, dass ein Kind in ihr heranwächst.

Ich stütze das Kinn in die Hand, beobachte, wie sie mit der Zungenspitze ein Tröpfchen heller Soße aus dem Mundwinkel leckt, und seufze. Das angeregte Gespräch an unserem Tisch verstummt. Worüber haben die drei gerade gesprochen? Ich bin gedanklich völlig abgedriftet. Ich ernte amüsierte Blicke.

»Was hast du?«, fragt Frank.

»N…nichts«, stammle ich verwirrt. »Ich finde es schön hier.«

Ellen schenkt mir ein Lächeln. Wer könnte dieser Frau böse sein?

»Du siehst hinreißend aus!«, entfährt es mir.

Sie runzelt die Stirn und denkt eine Sekunde nach, sicherlich darüber, ob ich es ernst meine, dann lacht sie. Wie vermutet, schwingt eine Spur Verlegenheit neben aufrichtiger Freude über mein Kompliment mit.

»Danke«, sagt sie. Mehr nicht. Das ist Größe.

Frank nimmt meine Hand, beugt sich zu mir und flüstert in mein Ohr: »Du auch, Schatz!« Seine Lippen an meiner Haut rufen ein wohliges Kribbeln hervor.

Vor lauter Glück schmiege ich mich an ihn und würde am liebsten die ganze Nacht hier sitzen bleiben. Ellen hat uns im Auge, und erleichtert erkenne ich keine Anzeichen von Eifersucht. Sie tunkt ein Stück Flûtes in die Soße und isst das triefende Weißbrot genüsslich, danach wischt sie sich schmunzelnd mit der Serviette den Mund ab und legt eine Hand auf Dieters Unterarm.

»Der Dieter hat sich übrigens ein neues Hobby zugelegt.«

Er stutzt, wirft ihr einen nicht deutbaren Blick zu und isst schließlich weiter.

»So?«, hake ich nach.

»Wisst ihr, er sammelt seit Jahren Büroklammern.«

Ich verkneife mir ein Lachen. Stimmt, ich glaube mich zu erinnern, wie Frank einmal Dieters Beruf erwähnte: irgendetwas beim Finanzamt oder in die Richtung.

Ellen greift nach einer riesigen Tasche an ihrer Stuhllehne, durchkramt alle Fächer und zieht eine Kette heraus, die ich erst auf den zweiten Blick richtig erkenne. Sie besteht aus ineinander verschlungenen Büroklammern verschiedener Größe und Couleur. Doch da ist außerdem ein Geflitter und Geflimmer, das sich nicht richtig identifizieren lässt. Ich strecke unwillkürlich die Hand aus. Ellen lässt die Kette hineingleiten. Mir ist vollkommen unverständlich, wie man auf eine solche Idee kommt – jede einzelne dieser Klammern ist zu einem Unikat abgewandelt worden. Manche sind mit Knöpfen verziert, auf die der Dieter Miniaturgesichter aufgemalt hat. Ich erkenne einen Tiger und eine Tigerente, eine normale Katze und eine mit grünen Streifen, zudem ein Teddybärengesicht und einen Gummibärenkopf. Andere Klammern sind mit winzigen Stückchen Spitze umwickelt, weitere mit Glitzersternchen auf Glitterkleber verziert.

Ich nicke anerkennend. »Wow! Da steckt viel Arbeit dahinter, oder?«

Der Dieter kaut an seinem letzten Stück Flûtes mit Soße und nickt errötend. Er schluckt rasch, damit er antworten kann. »Stimmt, es ist eine ziemliche Friemelarbeit. Aber wenn ich das mache, kann ich alles um mich herum vergessen. Das ist der ideale Ausgleich zum Stress im Beruf.«

Stress im Beruf? Hatte Frank nicht erwähnt, dass einer der Vorzüge vom Dieter sein pünktlicher Feierabend um vier Uhr nachmittags ist? Doch ich will nicht kleinlich sein und die klischeehafte Frage stellen, was am Bleistiftanspitzen bitte stressig sein soll. Schließlich sitze ich selbst den ganzen Tag in einem Büro und habe in den kurz getakteten Anrufintervallen kaum die Gelegenheit, einen Bleistift anzuspitzen oder mir Gedanken über die Verschönerung einer Büroklammer zu machen.

»Ich gebe seit Kurzem einen Bastelkurs«, platzt es aus dem Dieter heraus. Ellen zuckt zusammen, der Dieter spricht unbeirrt weiter. »Ich habe ihn den ›toleranten Bastelkurs‹ genannt. Ich bin nämlich offen für alles. Meine Idee dahinter: Alle, die daran teilnehmen, können bestimmen, womit sie basteln wollen. Sie bringen ihr Lieblingsmaterial mit, ich steuere Sachen zum Verschönern bei, und dann kann es losgehen.«

»Äh, und das läuft?«, frage ich nach.

Ellen hat sich zurückgelehnt und bewundert die Balken an der Decke, die großen, bunten Fotos und die Retro-Dekorationen im Lokal.

»Das schlägt ein wie eine Bombe, sag ich dir! Hätte ich niemals geglaubt. Ich habe neun Frauen und sechs Männer im Kurs, und alle haben sie irgendeine Vorliebe. Gut, der eine hat tote Käfer mitgebracht, das war ein bisschen schräg. Aber ansonsten – Stoffreste, Wolle, Knöpfe, Perlen aller Art, Lampenschirme, Handys und Laptoptaschen, Buchhüllen … Ach, ich kann gar nicht alles aufzählen. Im Ernst, wir denken bereits darüber nach, ob wir am Ende des Kurses eine Ausstellung machen sollen.«

Ich nippe an meinem Weißwein. »Klingt abgefahren.«

»Wenn du Lust hast, komm doch vorbei. Du hast bestimmt noch was im Haus, das man verschönern könnte.«

Für einen kurzen Moment blitzt das Bild meines augenlosen, uralten Knuddelteddys vor meinem inneren Auge auf, der tatsächlich ein bisschen aufgepeppt werden könnte. Den Gedanken verwerfe ich allerdings sofort. Das wäre einfach zu peinlich! Den habe ich nicht mal Frank gezeigt, geschweige denn, irgendjemand sonst wüsste von seiner Existenz. Niemand, außer meiner Rebellenschwester Kat, die den Zwilling dazu besitzt und in ihrem Nachtschränkchen in der untersten Schublade aufbewahrt, griffbereit für Katastrophennächte. Ob sie ihn bei diesem fürchterlichen Gewitter vorgestern Nacht ebenfalls gebraucht hat? Ich unterdrücke einen Kiekser und bekomme unerwartet Unterstützung von Ellen.

»Ich glaube, Lucy hat im Moment Besseres zu tun. Sicher ist sie froh über jede Minute, die sie mit Frank verbringen kann.«

Der Dieter stutzt, aber Ellens Miene bleibt arglos. »Mein Schnucki hat sich noch ein zweites Hobby zugelegt. Gerade rechtzeitig, bevor unser Kind zur Welt kommt und es zu spät dafür ist.«

Jetzt kann sie ihre Missbilligung nicht mehr verbergen. Oh, oh, das klingt nun ein wenig nach enttäuschter Ehefrau. Schnucki ist offensichtlich über diese Eröffnung seiner Liebsten nicht gerade erfreut.

»Er nimmt an einem Häkelkurs teil!« Ellen verstummt und führt das Glas zum Mund. An der Apfelschorle verschluckt sie sich und muss husten.

Ich bin baff.

Der Dieter ist damit beschäftigt, Ellen auf den Rücken zu klopfen, bis sie zu ihm herumfährt und »Hör auf!« zischt. Pfeifend holt sie Luft, um gleich darauf in ein ausgelassenes Gackern auszubrechen.

Nach einer Schrecksekunde stimme ich erleichtert mit ein. Nicht nur, weil sie lacht anstatt zu schimpfen, sondern auch weil das Geräusch, mit dem sie hastig eingeatmet hat – »hhhh« – mich plötzlich an das höchst unschöne Ableben von Ilse Cramp-Saitenstecher erinnert hatte. Durch eine Aneinanderreihung unglücklicher Zufälle war sie an ihrem eigenen Lippenstift erstickt. Möge sie ruhen in Frieden.

Der Dieter verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt die Unterlippe vor. Ich werfe einen Seitenblick auf Frank. Er hat dieses angedeutete Grinsen aufgesetzt, das das Grübchen in seine Wange zaubert.

»Sorry«, stoße ich aus.

Frank übt sanften Druck auf meinen Oberschenkel aus. Ach, er ist solch ein Lieber, er mag nicht, dass wir uns über den Dieter lustig machen.

»Was ihr immer habt«, sagt dieser jetzt. »Häkeln ist eine Kunstform, damit ihr’s wisst! Ich kann das nicht nur nutzen, um meine Büroklammern in Zukunft zu umgarnen …«

Franks Handgriff verstärkt sich, und mit einer übermenschlichen Anstrengung gelingt es mir, das Lachen zu unterdrücken. Ellen findet das Ganze inzwischen anscheinend nicht mehr lustig. Vielmehr habe ich das Gefühl, eine Träne in ihrem Augenwinkel aufblitzen zu sehen. Vielleicht ist die allerdings noch von ihrem Lachanfall übrig geblieben.

Der Dieter streckt indessen das Kinn vor und spricht unbeirrt weiter: »Mit Häkeln kann man auch wunderschöne Babysachen herstellen!« Zufrieden lässt er sich gegen die Stuhllehne sinken und nimmt einen kräftigen Zug aus seinem Bierglas.

Ellen hat sich zu ihm umgedreht, und ich sehe in ihrem Profil, wie ihre Gesichtszüge weich werden. »Du häkelst Sachen für unser Kind?«

»Das sollte eigentlich eine Überraschung werden. In Gelb und Türkis, Marine mit Weiß. Damit es zu einem Jungen oder zu einem Mädchen passt. Ein Mützchen ist schon fertig.«

Wortlos küsst Ellen ihn. Wie süß! Ich seufze.

Schließlich richtet Ellen das Wort an Frank: »Wann wird Herbert eigentlich entlassen?«

Herbert Groß-Grühnkool ist seit etwa zwölf Jahren Franks Partner. Im Frühjahr wurde er in einem Einsatz verletzt und weilt derzeit in einer Rehaklinik in Homburg.

»Er kann am Freitag nach Hause. Ich habe ihm versprochen, ihn abzuholen.«

Ellen wendet sich an mich. »Kennst du ihn?«

»Nein.«

»Du wirst ihn mögen. Der Arme! Da hat er sich für dich geopfert, Frank, und kassiert dafür solch eine Scheiße ein.«

»Er hat sich für dich geopfert?«, frage ich nach.

Frank fährt mit Daumen und Zeigefinger den Stiel seines Weinglases entlang, eine Bewegung, der ich wie gebannt folge. »Er hat sich vor mich geworfen, als mich einer angreifen wollte. Da ist er genau zwischen die Fronten geraten. Der andere Typ war nicht gerade zimperlich. Er hat Herbert wie einen nassen Lappen durch die Luft geschleudert, und der ist derart unglücklich gefallen, dass er sich einige komplizierte Knochenbrüche eingefangen hat.«

»Er hat also eine Heldentat begangen?«

Frank spitzt die Lippen. »Tja, er hätte es besser sein lassen. Ich war dem Kerl durchaus gewachsen. Als Herbert außer Gefecht gesetzt war, musste ich es ohnehin mit ihm aufnehmen.«

Herberts mutige Aktion muss in Wirklichkeit ziemlich dumm gewesen sein.

Frank seufzt. »Die Absicht zählt.«

Ellen lacht. »Er ist zäher, als es scheint. Er hat es gut gemeint.«

»Durchaus. Na, jetzt ist endlich alles heile, und ich freue mich echt, bald wieder mit ihm auf Achse zu sein.« Nach einer kurzen Pause wendet sich Frank an mich: »Hast du Lust mitzukommen?«

»Wohin?«

»Nach Homburg, wenn ich ihn abhole. Ich glaube auch, du wirst ihn mögen.«

»Okay, warum nicht?«

2

Gute Freunde

Frank Kraus konnte es nicht mehr erwarten, seinen Partner an seiner Seite zu wissen. Die Kollegen, mit denen er vertretungsweise hatte ermitteln müssen, waren zwar nett, doch die Arbeit mit Herbert war einfach etwas anderes. Um jemandem vertrauen zu können, benötigte Frank Zeit. Dazu reichten ein paar Wochen nicht aus. Genau dieses Vertrauen machte ihn und Herbert als Kommissarenduo dauerhaft erfolgreich. Sie waren im Lauf der Jahre zu einem Dreamteam zusammengewachsen. Sie ergänzten sich in ihren Stärken und Schwächen ebenso wie in ihrem Wesen. Herbert glich Franks mangelhaftes Namensgedächtnis aus. Dafür brachte Herbert Fakten durcheinander, ordnete Mordwaffen oder Orte falsch zu, während Frank sich darin nie irrte. Außerdem verstanden sie sich, ohne viele Worte verlieren zu müssen.

»Mit Herbert habe ich die meisten Fälle in Rekordzeit aufklären können.« Er drehte den Kopf zur Seite. Lucy beobachtete ihn vom Beifahrersitz aus und nickte.

»Wir sind gleich da. Dort hinten ist es.«

Frank brachte den Wagen auf dem Gästeparkplatz zum Halten, sie überquerten die Straße und betraten die Rehaklinik, die abseits der Stadt im Grünen lag. Ein Geruchsgemisch aus Desinfektionsmitteln und getragenen Filzpantoffeln empfing sie. Zielstrebig führte Frank Lucy an der Portiersloge vorbei. Die Wand war in einer Farbe holzgetäfelt, die noch aus den Siebzigern stammen musste. Durch eine zweiflügelige Glastür gelangten sie in einen langen Gang, an dessen Ende lediglich ein Fenster Tageslicht hereinließ. Frank nahm Lucys Hand, klopfte an die hinterste Tür des Flures und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Lucy folgte ihm.

»Da bist du ja, äh …?« Langsam erhob sich Herbert von einem grünen Resopalstuhl und runzelte die Stirn. Seine grauen Haare waren lang geworden, und der Bart musste dringend getrimmt werden. Nie hatte er mehr Horst Schlämmer geglichen, jener Kunstfigur, die der Comedian Hape Kerkeling erfunden hat. Herbert war nur schmächtiger, was ihn allerdings nicht davon abhielt, einen zu kleinen Trenchcoat zu tragen, der ihn wesentlich dicker wirken ließ, als er war.

»Dies ist Lucy Schober, ich habe dir von ihr erzählt.«

Frank legte Lucy den Arm an den Rücken, und sie streckte ihre Hand vor, während Herbert einen unbeholfenen Schritt auf sie zu machte.

»Natürlich.« Sogar Herberts Stimme glich der des kauzigen Redakteurs aus Grevenbroich. Sie stieg sonor aus der eher schmalen Brust. »Deine Verdächtige.«

Frank spürte, wie Lucy zusammenzuckte. Herbert schüttelte ihre Hand, während sie »Guten Tag« murmelte.

»Freut mich.« Herbert grunzte. »Sie sind nicht mehr mordverdächtig, nicht wahr?«

Lucy warf Frank einen Seitenblick zu und schüttelte den Kopf.

Herbert feixte. »Wenn ich nicht unnütz hier hätte herumhängen müssen, wäre das viel früher klar gewesen.« Mit einer ausholenden Armbewegung deutete er ins Zimmer. »Nicht gerade Luxus hier, aber jetzt habe ich es hinter mir. Da ist mein Gepäck.« Als Frank nach den zwei uralten Reisetaschen auf dem Bett griff, murmelte Herbert aus dem Mundwinkel: »Warum hast du die mitgebracht?«

»Damit ihr euch kennenlernt.«

Frank wartete, dass Herbert oder Lucy die Tür für ihn öffnete. Er hörte Füßescharren hinter sich und drehte sich um. Gerade machte sein Partner einen unbeholfenen Schritt zur Seite, um Lucy vorbeizulassen. Sie bedeutete ihm ihrerseits, er solle vorgehen. Herbert zögerte und entschied sich dann voranzuschreiten, exakt in dem Moment, in dem Lucy den gleichen Entschluss fasste. Abermals prallten die beiden zusammen. Herbert stieß ein schnaubendes Lachen aus und entblößte seine schlecht sitzende Brücke unter dem schweren Schnäuzer. Lucy lächelte nun ebenfalls, doch ihre Augen behielten den verwirrten Ausdruck. Schließlich schlüpfte sie an Frank vorbei, um die Tür zu öffnen. Als sie mit ihm auf gleicher Höhe war, zog sie in einer komisch-verzweifelten Geste eine Braue hoch.

»Mach’s gut, kleines Zimmer. Ich werde dich nicht vermissen und will dich nie mehr sehen.« Herbert verpasste dem Bettgestell einen Tritt.

Frank schmunzelte. Sie gingen langsam den Flur entlang. Herbert zog das rechte Bein ein wenig nach.

»Wirst du das Humpeln noch los?«, fragte Frank.

»Sie sagen es jedenfalls. Es dauert halt seine Zeit.«

Auf einmal flog eine Tür auf, und ein schlecht rasierter Mann in den Fünfzigern trat auf den Gang. Er stützte sich auf eine Krücke, die er mit der rechten Hand hielt. Herbert wandte sich ab, hielt jedoch im nächsten Moment inne. Ihm wurde wohl klar, dass er sich vor dem Patienten nicht verstecken konnte. Er machte einen Schritt auf ihn zu und schlug ihm auf die Schulter. Der andere zuckte zusammen und hustete.

»Schluss für mich, Kurt! Ich verschwinde.«

Röchelnd nickte der Angesprochene und musterte Lucy auf eine Art, die Frank sich einen halben Schritt vor sie stellen ließ, um sie vor diesem Blick zu schützen.

»Hascht du’s gudd, Alder! Awwer ich komm aach bald raus.«

Herberts Leidensgenosse stieß ein solch schrilles Lachen aus, dass sich die Haare auf Franks Armen aufstellten. Beim genaueren Betrachten entdeckte er am rechten Unterarm und im Gesicht des Mannes Narben. Langsam dämmerte es ihm – von Kurt Neccer hatte Herbert ihm bereits erzählt und sich gewundert, wieso er nicht in der Psychiatrie gelandet war. Kurt hatte einen Hausbrand überlebt, bei dem sein Vater ums Leben kam, was er schwer verkraftete.

»Können wir?«, fragte Frank.

»Unn dann treff ich mich aa widder mit de Määdcher.«

Erneut lachte Kurt, deutete mit seinem Kinn auf Lucy und befeuchtete seine Lippen. Es wirkte wie das Züngeln einer Schlange.

»Schwätz du nur«, antwortete Herbert, stellte sich halb seitlich mit dem Rücken zu Kurt und winkte Frank und Lucy vorbei. Zum Abschied schüttelte er seinem ehemaligen Flurnachbar die Hand, sodass Kurt mit seiner Krücke erbebte.

»Ich wünsch dir gute Besserung, alter Gesell. Unn bleib sauber, wenn du draußen bist. Ich will keine Klagen hören!« Herbert schob Kurt zu seinem Zimmer und half ihm gegen dessen Protest hinein, zog die Tür zu und eilte zu Frank und Lucy.

In der Halle trat der Portier aus seiner Loge heraus. »Na, Herbert, geht’s heute heimwärts?«

»So sieht’s aus.«

Franks Partner beugte sich zu Lucy und knurrte aus dem Mundwinkel: »Die behandeln die Leute hier wie Hirnamputierte. Gut, bei Kurt hat’s gepasst.«

Der Pförtner klopfte Herbert gönnerhaft auf den Rücken. »Sind ja auch lauter Irre hier.«

»Und du bist der Obertrottel!« Herbert ließ ein amüsiertes Schnalzen hören und umarmte sein Gegenüber kurz. »Auf jetzt. Nichts wie weg, sonst buchten sie uns alle noch ein. Gegen diesen Typen hier ist Miss Ratched aus ›Einer flog über das Kuckucksnest‹ ein harmloses Vögelchen.« Herbert machte zwei schnelle Schritte auf den Ausgang zu, besann sich und fiel mit einem leisen Stöhnen in sein Humpeln zurück.

Nachdem kurz darauf das Gepäck im Auto verstaut war, fragte Frank: »Was haltet ihr davon, wenn wir irgendwo noch etwas trinken?«

***

Eine Dreiviertelstunde später parkte Frank in Saarlouis den Wagen bei der Wache und führte Lucy und seinen Partner in die Fußgängerzone. Von ihrem Unmut würde er sich nicht beirren lassen. Auf Herberts ausdrücklichen Wunsch hin nahmen sie schließlich im Siebten Himmel ein Bier.

»Nun, ihr beiden. Ich möchte gern, dass ihr euch richtig bekannt macht«, begann Frank die Unterhaltung.

Kaum zu glauben, wie sie sich die ganze Fahrt über angeschwiegen hatten! Lucy musterte ihn drohend über den Rand ihres Glases. Unter dem Tisch schob er sein Bein zu ihrem und berührte es leicht. Es wirkte. Ihre Mundwinkel verzogen sich beinahe zu einem Lächeln.

»Okay, ich fange mal an.« Sie streckte Herbert die Hand hin, die er zögernd ergriff, drückte und sofort wieder losließ.

»Ich heiße Lucy Schober, bin 33 und seit zwei Monaten mit Ihrem Kollegen zusammen. Wir haben uns durch eine Mordserie kennengelernt, in der ich die Hauptverdächtige war. Zum Glück hat sich das alles aufgeklärt. Ich bin genauso wenig ein Mörder wie Sie.«

Herbert bohrte mit dem kleinen Finger in seinem Ohr. »Irgendwelche Laster, von denen ich wissen sollte?«, fragte er betont beiläufig. »Tierquälerei, Telefonsex, Kirchgängerin?«

Frank kicherte, woraufhin ihn seine Liebste strafend anfunkelte. Lucys Bein entfernte sich von seinem. Anscheinend konnte sie mit Herberts Humor nicht viel anfangen. Gerade setzte Frank zu einer Bemerkung an, mit der er Herberts Verhör abmildern wollte, als Lucy erwiderte: »Mein einziges Laster ist, dass ich Horst Schlämmer verehre.«

Als Frank losprustete, stimmte Herbert mit ein. »Gut gekontert, Schätzelein«, sagte er ganz im Tonfall von Hape alias Horst und nickte Frank anerkennend zu. »Ich bin Herbert Groß-Grühnkool und kann nichts für meinen Namen. War fünf Jahre verheiratet, bin seit vierzehn Jahren geschieden. Jetzt bin ich 54 und wäre topfit, wenn ich nicht in einem Anfall von geistiger Umnachtung meinen Partner vor einem bösen Buben hätte retten wollen.«

Und damit stockte das Gespräch. Die beiden fanden einfach keinen gemeinsamen Nenner. Lucy lachte zwar über Herberts Horst-Schlämmer-Parodie, aber sie konnte sich offensichtlich nicht mit ihm unterhalten, und umgekehrt schien es genauso. Die Musik im Lokal spielte laut. Herbert tat, als lausche er den Hardrocksongs, und ließ seinen Blick schweifen.

Lucy rückte nahe an Frank heran.

»Wollen wir gehen?«, fragte Frank schließlich und erntete von den beiden begeisterte Zustimmung.

Nachdenklich fuhr er zuerst seinen Partner heim, wo dieser bereits von seiner Mutter erwartet wurde. Im Anschluss brachte er den Wagen zurück zur Wache und ging mit Lucy zu dem Gebäude in der Ludwigstraße, das er mit Ellen zusammen renoviert hatte. Er war vor ein paar Wochen aus der Einliegerwohnung im Kellergeschoss in das Loft unter dem Dach umgezogen. Es war noch nicht ganz klar, ob er hier weiterhin leben würde, jetzt, wo Ellen und der Dieter ein Kind erwarteten. Wirklich wohl fühlte er sich nicht mehr. Im Grunde fand er diese Art des Zusammenlebens mit jedem Tag unbefriedigender, auch wenn er unglaublich viel Zeit in die Renovierung des Hauses gesteckt und deswegen den Gedanken, daraus auszuziehen, immer weit von sich gewiesen hatte. Doch allein die Vorstellung, Ellen und der Dieter könnten etwas von seinen und Lucys Liebesspielen mitbekommen – oder umgekehrt! Mist, wie kriegte er diese Bilder aus dem Kopf?

Lucy sah ihn abwartend an und trommelte mit ihrem zierlichen Fuß auf den Boden. Er grinste. In stummer Übereinkunft stiegen sie in seinen grünen Mini mit dem Union Jack auf dem Dach und fuhren nach Beaumarais zu ihrer Wohnung.

»Komischer Kauz, dein Herbert«, sagte Lucy, nachdem sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Möchtest du ein Glas Wein?«

Frank nickte, seine Freundin ging in die winzige Küche und holte unter der Arbeitsplatte eine Flasche hervor. Fachmännisch entkorkte sie diese und sah erst zu ihm hoch, als er auf ihre Äußerung eingehend fragte: »Findest du?«

Lucy drückte ihm zwei Gläser in die Hände und füllte sie, ging ihm voraus zum Couchtisch und ließ sich auf dem Zweisitzer nieder.

»Klar. Ich weiß gar nicht, worüber ich mit ihm reden soll. Nach euren Schilderungen hatte ich ihn mir anders vorgestellt, irgendwie normaler.«

Frank lachte. Lucy nahm einen Schluck, kuschelte sich an ihn und ließ die Unterschenkel über die Seitenlehne der Couch baumeln. Abwechselnd hob sie die Füße mit den Riemchenschuhen hoch und spreizte die Zehen mit den blau lackierten Nägeln. Franks Konzentration wanderte in andere Körperregionen. Er musste lächeln, beugte sich über sie und zog ihr Bein zu sich. Sie winkelte es an, damit er bis an die Schnalle der Sandalette kam, um sie zu öffnen. Als er aufstand, ließ sich Lucy sanft nach hinten fallen und blickte ihn voller Erwartung an. Er kniete sich neben die Couch, befreite ihren zweiten Fuß und begann, sie zu massieren.

3

Autsch!

Ich liebe diese Augusttage, die am besten nie enden sollten. »Hochsommer« nannte meine Oma früher diese Zeit. Die Natur ist auf ihrem Höhepunkt, und man merkt noch nicht richtig, wie die Tage bereits wieder kürzer werden. Die Natur strotzt vor Leben.

Ich finde Sex in diesen Wochen am besten. Alle Welt ist leicht bekleidet, und die Socken bleiben im Schrank. Hatte ich eigentlich erwähnt, dass Frank Fußfetischist ist? Sie verstehen, was ich meine. Jedes Mal eine andere Wonne. Er ist derart erfinderisch … Ich kann mich bloß wundern, wie viele erogene Stellen ich an den Füßen habe. Und mein Leben lang habe ich nichts davon geahnt, das muss man sich vorstellen …

Da Frank und ich uns heute früh aus dem Bett geschält haben, nutze ich diesen wundervollen Morgen nach einer wundervollen Nacht, um eine lange Strecke zu joggen. In letzter Zeit hat es mir ein wenig an passenden Gelegenheiten gemangelt. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, weshalb mein Bäuchlein fast aussieht, als sei ich schwanger, was mir verständlicherweise gar nicht gefällt. Noch dazu hat meine Mutter vorgestern eine spitze Bemerkung gemacht. »Ach, kaum wähnst du dich unter der Haube, lässt du dich gehen? Mach weiter damit, und du wirst die Dellen an deinen Oberschenkeln nicht mehr zählen können!«

Dabei bin nicht ich diejenige in der Familie, die unter Cellulite zu leiden hat. Nein, dieses Schicksal hat lediglich Anna Maria getroffen, die Vorzeigetochter, die für ihre schlanke Figur auf alles verzichtet, was lecker ist. Gegen Cellulite hilft das selbstverständlich herzlich wenig. Ich vermute, dagegen ist frau schlichtweg machtlos. Davon abgesehen hat A-Mi eine Topfigur. Meine Rebellenschwester Kat und ich sehen das deutlich lockerer, und trotzdem brauchen wir uns nicht zu verstecken. Naturschlank nennt man das wohl. Dennoch hat Mutters Kommentar zu meiner körperlichen Verfassung seine Wirkung nicht verfehlt. Dieses Pralinen- und Schokobäuchlein stört mich ohnehin selbst. Nein, ich finde es nicht sexy, wenn Frank sagt, er bette seinen Kopf gern darauf, weil es sich wie ein weiches Kissen anfühle.

Aus diesem Grund und weil der Sommer meine Lieblingsjahreszeit ist, laufe ich also heute Morgen am Mühlenbach entlang Richtung Wallerfangen. Vereinzelte Nebelschwaden steigen über dem Wasser auf. Die Sonne brutzelt alles weg, und bereits nach kurzer Zeit dampfe ich aus allen Poren, fühle mich frei und glücklich. Ich liebe und werde geliebt! Den sattgrünen Anblick der Natur sauge ich in mich auf, betrachte das träge dahinfließende Wasser, die winzigen Samenwölkchen, die darüber schweben, und die gelben Pollen, die darauf kleine Teppiche gebildet haben. In der warmen Jahreszeit gibt es keinen schöneren Ort als die Gegend um Saarlouis. Unterwegs begegne ich anderen Joggerinnen, und alle haben dieses Sommerlächeln im Gesicht. Das Leben macht einfach Spaß.

Langsam komme ich in Gefilde, in denen ich immer seltener Menschen antreffe. Bald scheine ich allein zu sein. Meine gleichmäßigen Schritte versetzen mich in eine Art Trance. Neben mir taucht ein riesiges Feld mit mannshohen Pflanzen auf, die ausladende Blätter von ihren dicken, rot gefleckten Stängeln strecken. Offensichtlich sind sie verblüht, die Dolden tragen grüne Verdickungen. Ich erinnere mich dunkel, von diesem Gewächs in einer Dokumentation gehört zu haben.

Während ich noch überlege, was es war, spüre ich plötzlich die Gegenwart einer anderen Person hinter mir. Erschrocken wirble ich herum. Noch in der Bewegung trifft mich ein heftiger Stoß von der Seite. Aus dem Augenwinkel nehme ich einen Jogger wahr, bevor ich in der nächsten Sekunde inmitten der riesigen Pflanzen lande. Mit einem Schlag bleibt mir der Atem weg. Ich spüre, wie die haarigen Blätter meine nackten Arme und Beine zerkratzen, nach mir greifen und mich nach unten drücken. Raus aus dieser Hölle! Ich komme nicht richtig auf die Beine, es flimmert vor meinen Augen, und ich schnappe nach Luft. Auf Händen und Knien krieche ich mit letzter Kraft auf den Weg neben dem Feld. Hilfesuchend schaue ich den Pfad entlang. Kein Mensch weit und breit. Hat der Läufer etwa nicht bemerkt, wie er mich zu Fall gebracht hat? Oder war es gar Absicht?

Mein Atem normalisiert sich langsam. Ich schaue noch mal nach den Pflanzen, und endlich fällt mir die Bezeichnung ein: Riesenbärenklau. Es ist seit Längerem bekannt, dass der sich hier am Bachlauf breitmacht, man hat die Bevölkerung bereits davor gewarnt. Vor allem für Kinder kann er gefährlich sein. Weshalb genau, ist mir allerdings entfallen.

Ich rapple mich auf und mache mich auf den Rückweg. Die Augustsonne scheint inzwischen erbarmungslos herab. Meine Arme und Beine jucken. Ich will sofort duschen, alles an mir klebt. Nach ein paar Minuten bemerke ich eine Veränderung an meiner Haut: Sie brennt, ist glutrot und schwillt an. An einigen Stellen erkenne ich richtige Quaddeln, wie bei dem Allergieschub, der mich vor einigen Jahren quälte. Damals landete ich im Krankenhaus und bekam Cortison auf alle möglichen Verabreichungsarten. Jetzt kann ich zudem noch schwer Luft holen, als hätte ich eine fette Bronchitis. Nach und nach kommt mir der Grund dafür in den Sinn: Riesenbärenklau hat einen ätzenden Wirkstoff, den er bei heißem Wetter obendrein in die Umgebung abgibt, weshalb er in die Atemwege geraten kann. Und hieß es nicht, die Sonne verstärke die Hautreizungen und könne Verbrennungen zweiten Grades hervorrufen?

Mir laufen Tränen die Wangen hinunter, ich könnte vor Schmerzen laut schreien, wenn ich dafür ausreichend Luft hätte.

Wie ein Häuflein Elend komme ich zu Hause an und schließe mit zitternden Fingern die Tür auf. Zu allererst hole ich einen Müllbeutel, zerre mir die Kleider vom Leib und stopfe sie mitsamt den Schuhen hinein, an denen ich noch feine Härchen der Mörderpflanze erkennen kann. Danach tipple ich auf Zehenspitzen zur Dusche und brause mich mit lauwarmem Wasser ab. Heldenhaft halte ich durch, bis alles weggeschwemmt ist. Nach wie vor trocken hustend, suche ich anschließend nach meinem Fläschchen mit den Rescue-Bachblüten und träufle sie in meinen Mund. Ich greife nach meiner Körperlotion, fülle einen ordentlichen Klecks davon in ein Müslischälchen und lasse fünf weitere Tropfen hineinfallen. Mit einem Holzlöffel rühre ich die Pampe kräftig um und balsamiere dick mein Gesicht, meine Arme und Beine damit ein. Es kühlt angenehm, und ich bete stumm, diese unorthodoxe Mischung möge mir helfen. Mein Kopf arbeitet nur zäh. Ich breite ein großes Badetuch auf dem Zweisitzer aus und lege mich vorsichtig hin, lasse die Unterschenkel über die Armlehne hängen und schließe die Augen. Selbst wenn ich deshalb eine halbe Stunde später ins Callcenter komme – dann hänge ich sie am Nachmittag eben dran.

Meine Gedanken wandern zum Feld zurück. Hat dieser Jogger nichts bemerkt? Bin ich so unscheinbar, dass man mich übersieht und nicht spürt, wenn man in mich hineinrennt? Ich versuche, mir ein Bild des Läufers ins Gedächtnis zu rufen, doch alles, was ich klar vor mir sehe, ist eine Sommerjogginghose und ein T-Shirt. Der Kopf erscheint lediglich schemenhaft vor meinem inneren Auge. Helle Haare, das kann ich sagen, allerding habe ich weder Gesicht noch Figur richtig registriert. Komisch, ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Person hatte ungefähr meine Größe, mehr fällt mir nicht ein. Ich seufze. Ich muss jetzt sofort mit jemandem darüber reden, sonst drehe ich durch.

Ich springe auf und stelle überrascht fest, dass die Crememixtur anscheinend genau das Richtige war. Meine gerötete Haut juckt zwar noch, aber die Quaddeln haben sich bereits zurückgebildet. Das Einatmen fühlt sich lediglich rau an, wie bei einer leichten Pollenallergie. Erleichtert wähle ich Franks Handynummer.

»Kraus?«

»Wenn du vorm Abheben einen Blick auf das Display werfen würdest, wüsstest du, wer dran ist.«

Er stößt einen seltsamen Ton aus; ich bin mir nicht sicher, ob es ein Lachen sein soll. »Lucy!« Es rieselt durch mich durch, als ich seine Stimme meinen Namen sagen höre. »Du hast die Rufnummerkennung unterdrückt, meine Süße!«

Stimmt, aber egal. Ich habe das dumpfe Gefühl, ich komme ungelegen.

»Stör ich?«

»Überhaupt nicht. Ich habe allerdings nicht viel Zeit. Wir müssen zu einem Einsatz. Worum geht es?«

»Nicht wichtig. Ich hatte einen kleinen Unfall …«

Sein Stöhnen unterbricht mich. »Nein, oder? Ist jemand gestorben?«

So was! Frechheit!

»Nein«, blaffe ich, »bloß ich, sonst ist keiner betroffen.«

»Du bist gestorben?«

»Mann, hör auf! Du hast eh keine Zeit. Ich erzähle es dir später, wenn du zurück bist. Melde dich, okay?«

Er lacht. Das versöhnt mich. Sein Lachen hat bei mir meistens eine überaus intensive Wirkung. Zum Glück habe ich inzwischen gelernt, es zu ignorieren, wenn wir unter Menschen sind.

»Okay, Liebes, ich rufe dich an, wenn ich Feierabend habe. Oder noch besser: Ich komme sofort!«

»Nein, nicht sofort, lieber schön langsam.« Diesmal bin ich es, die laut lacht, bevor ich auflege.

Sprechen muss ich trotzdem mit jemandem. Wer käme da anderes infrage als Rebellenkat oder Susa, ihre Lebensgefährtin und meine beste Freundin? Eine von beiden ist immer zu erreichen, wenn man die Nummer ihres Ökohühnerhofs wählt.

»Kat Schober?«

»Hi, Sis, hier ist Lucy. Hast du eine Minute für mich?«

»Klar, worum geht es?«

»Ich habe heute Morgen was Komisches erlebt. Ich hatte einen Unfall.«

»Oh, nein! Wer hat dran glauben müssen?«

Pikiert schnalze ich mit der Zunge. »Quatsch! Ich bin beim Joggen in das Feld mit dem Riesenbärenklau gestürzt. Weißt du, wo ich meine?«

»Äh, nein, aber Riesenbärenklau klingt nicht gut. Das ist Teufelszeug! Ist dir was passiert?«

Ich betrachte meine Arme. Über den linken zieht sich ein Schnitt, und an einzelnen Stellen wirkt die Haut etwas glasig, dort haben sich Bläschen gebildet. Allerdings hat sich mein Zustand bereits frappierend gebessert.

»Ich habe mir Verbrennungen zugezogen und es ist mir auf die Bronchien geschlagen.«

»Du musst zum Arzt! Das darf man nicht unterschätzen.«

»Es sieht aus, als hätte ich noch mal Glück gehabt. Bloß am Anfang war es echt heftig.«

»Wie konnte das passieren?«

Ich setze mich auf die Sessellehne. »Ich bin gestoßen worden.«

Kat stöhnt. »Bist du sicher?«

Ob ich sicher bin? Hält mich selbst meine Lieblingsschwester für grenzdebil? Bei meiner Restfamilie bin ich sowas ja gewohnt.

»Und ob«, keife ich. »Ich weiß allerdings nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Der oder die ist abgehauen.«

»Hast du jemanden gesehen?«

»Sagte ich doch gerade: Der oder die ist abgehauen. Bis ich mich aus dem Gestrüpp befreit hatte, war weit und breit niemand mehr zu sehen.«

»Aha.«

Ist das alles?

»Was denkst du darüber?«

»Keine Ahnung. Du bist gestürzt und sagst, jemand hat dich geschubst, hast aber keinen gesehen. Da kann man wohl nichts machen.«

»Na, vielen Dank, du bist mir echt eine große Hilfe!«

»Was soll ich dazu sagen? Zum Arzt willst du eh nicht gehen. Hast du mit Frank gesprochen? Er wird wissen, ob du Anzeige erstatten kannst.«

Ich schnaube missbilligend. »Was soll das bringen?«

»Na, siehste.«

Irgendwie ist das nicht das, was ich von dem Gespräch mit meiner Lieblingsschwester erwartet habe. Ich schweige.

»Lucy?«

»Ja?«

»Wie geht es dir im Moment?«

»Es fühlt sich an wie eine Erkältung, und meine Haut …« Ich betrachte meinen Arm. »Tja, da ist nicht viel zu erkennen. Die Salbe hat geholfen.«

»Gehst du zur Arbeit?«

»Muss ich. Tschüss!«

Ernüchtert lege ich auf. Die Uhr verrät mir, dass ich mich beeilen sollte, damit Dürri nicht völlig ausflippt. Wer weiß, welche Gemeinheiten er sich sonst einfallen lässt.

***

Zwanzig Minuten später sehe ich Ilina an meinem Platz im Büro stehen. Sie hat den blauen Kittel vom ersten Tag gegen normale Kleidung getauscht und sieht einfach unglaublich aus. Man könnte sie für eine Schülerin halten. Ich finde das unpassend, aber jeder, wie er will … Sie trägt tatsächlich eine dieser Boyfriendjeans, die tief auf der Hüfte sitzen. Sind die nicht längst out? Als sich Ilina über meinen Schreibtisch beugt, blitzt über ihrem Gürtel ein schmaler Streifen ihrer sonnengebräunten, straffen Haut auf. Das T-Shirt darüber ist in seiner Schlichtheit beleidigend aufreizend. Was hat diese Kuh an meinem Rechner verloren?

Während ich auf sie zu stolpere, kann ich nicht umhin, ihre Zehensandaletten und ihre extrem schlanken, perfekt pedikürten Füße zu bemerken. Natürlich blitzt in meinem Kopf sofort Franks Gesicht auf, der beim Anblick meiner lackierten Zehennägel meistens die Fassung verliert. Daran will ich auf keinen Fall denken, wenn ich das Kittelmädchen vor mir sehe.

Von dem Lärm aufgeschreckt, den mein Getaumel verursacht, fährt Ilina herum. Sie hat lediglich meinen Rechner eingeschaltet.

»Bist du da endlich«, haucht sie mit ihrer rauchigen Stimme. »Chef hat schon Augen gerunzelt.«

Unwillentlich muss ich lachen. »Die Stirn meinst du.«

»Was?«

Ihre blauen Augen gucken wie die eines kleinen, unschuldigen Kindes. Eine Sekunde lang denke ich, dass ich sie mögen könnte. Allerdings nicht mit den Füßen und der Taille!

»Dürri hat die Stirn gerunzelt.«

»Ach so! Gut.« Mit einer anmutigen Bewegung wirft sie die langen Haare auf den Rücken. »Hast du dir wehgetan?«

»Bitte?« Perplex folge ich ihrer Handbewegung. Sie zeigt auf die rote Stelle an meinem Unterarm.

»Nicht weiter schlimm.«

Ich ziehe am Bund meiner Hose und ärgere mich, weil ich eines der alten, viel zu kurzen T-Shirts angezogen habe. Bei jeder Bewegung werden meine Speckröllchen freigelegt. Ilina lächelt maliziös.

»Bist du sicher?«, fragt sie.

Weidet sie sich etwa an meinem Schmerz?

»Na, sind die Damen beim Plauderstündchen? Ich hoffe, ich störe nicht.«

Ilina erschrickt bei Dürris misstönendem Organ mindestens genauso wie ich. Wir fahren auseinander und starren unseren Chef an, der neben uns aus dem Boden gewachsen zu sein scheint. Offensichtlich hat er heute Morgen geduscht oder sein Hemd gewechselt, sonst hätte ich ihn viel früher gerochen. Er tippt mit dem Finger auf seine Uhr, eine Geste, die mich an Stromberg erinnert, diesen miesen kleinen Bürotypen aus der gleichnamigen Fernsehserie.

»Flott an die Arbeit. Sie ans Telefon und Sie in die … äh … Küche.«

Es sieht aus, als wolle er Ilina einen Klaps auf das knackige Hinterteil geben. Sie blitzt ihn an und streckt angriffslustig den Kopf vor, woraufhin Dürri seine Hand ruckartig zu seiner Halbglatze führt, um sich dort an einer schorfigen Stelle zu kratzen. Ausnahmsweise fühle ich mich mit Ilina verbunden. Wir könnten Freundinnen sein, wenn sie nicht so doof wäre.

Unser Sklaventreiber von Chef findet selbstverständlich Genugtuung darin, mir eine der Horrorlisten aufzuhalsen. Kennen Sie die? Das sind Aufstellungen mit den schlimmsten Käufern, die man sich vorstellen kann. Dürri kocht seine Mitarbeiterinnen weich, indem er droht, ihnen diese aufs Auge zu drücken, wenn sie nicht spuren. Ich muss fast jede Woche eine seiner Spezialtabellen durcharbeiten. Da Dürri anscheinend nicht vollkommen hirnamputiert ist, sucht er mir seit der vergangenen Mordserie wenigstens Klienten aus, die weit, weit weg wohnen. So gesehen hatten Maurice’ Taten ihr Gutes: Ich brauche nicht mehr Angst davor zu haben, den Horrorkunden in Saarlouis persönlich zu begegnen. Nein, sie können mich ungebremst beschimpfen, und keiner ist da, der ihnen einen Denkzettel verpasst, um mich zu schützen. Mit einem Seufzen lege ich eine Gedenkminute für Maurice ein und wähle die erste Nummer.

»Nowak«, blafft eine Männerstimme ins Telefon.

»Einen wunderschönen guten Tag, hier ist die Mediaboutique, Lucinda Schober am Apparat. Herr Nowak, wir hätten da ein Supersonderangebot für Sie.«

»Will ich nicht hören dein Angebot. Mache ich gleich dir Angebot.«

Mit dem dumpfen Gefühl eines Déjà-vu versuche ich, einen letzten Blick auf Ilina zu erhaschen, doch die ist soeben hinter der Tür des Kabuffs verschwunden.

»Herr Nowak, möchten Sie nicht zuerst hören, was ich Ihnen anzubieten habe?«

»Ja, sag, was bietest du mir an?«

»Äh …« Sein Duzen und seine auffallend tiefe Stimme haben mich aus dem Konzept gebracht. Ich fürchte, Herr Nowak versteht da was falsch. »Wir haben die ›TVfix‹ in Verbindung mit der ›Kleine Katzen‹ im Probeabo …«

»Klingst du wie kleine Katze«, unterbricht er mich. Sein Kompliment löst bei mir unterschwellige Ängste aus. »Möchtest du nicht machen Job für mich? Suche ich ständig Frauen mit gute Stimmorgan. Wenn du weißt, was ich meine.«

Ich bin fassungslos. »Nein, Herr Nowak, vielen Dank, ich habe bereits einen Job.«

»Wo bist du? Will ich sehen dich. Macht mich an deine Stimme.«

Geht’s noch? Herr Nowak hört sich an wie ein Zuhälter.

»Na, was sagst du? Kannst du dir vorstellen, für mich zu arbeiten? Zahle ich dir viel mehr, als du verdienst jetzt.«

Der geht aber mächtig ran. Verwirrt schüttle ich den Kopf. Da zieht mir ein Duft nach Kaffee und Vanille in die Nase, und ich sehe Ilina, die mit zielstrebigen Schritten auf meinen Platz zukommt, meine Tasse mit der Mohnblume in der Hand. Gleichzeitig höre ich Herrn Nowak in dem Akzent auf mich einreden, den auch sie hat.

»Was zögerst du? Bin ich coolste Hengst von Hamburg. Werde ich dir besorgen, bis du hörst Englein in Himmel.«

Ilina steht inzwischen neben mir. Ihr Gesicht nimmt eine ungesunde Farbe an – oder ist es nur der bläuliche Schimmer vom PC-Bildschirm?

»Herr Nowak, vielen Dank für das Angebot, haben Sie noch einen schönen Tag. Auf Wiederhören.« Ich lege auf, bevor er reagieren kann.

Ilina starrt mich an. »Darfst du so machen?«

»Was?«

»So unfreundlich beenden Gespräch …«

»Danke für den Kaffee, und ja, das darf ich. Oder besser gesagt, es ist mir egal. Ich lasse mir keine Frechheiten mehr bieten.«

Ilina zieht ihre fein geschwungenen Brauen noch ein wenig höher, und dann geschieht etwas, womit ich nicht gerechnet habe: Sie lächelt! Mit einem Mal strahlt dieses Persönchen eine solch unwiderstehliche Weiblichkeit aus, dass mir klar wird, wie leicht sie jemanden um den Finger wickeln kann. Mir bleibt die Luft weg. Im selben Moment erwacht in mir ein kleines, fieses Monster: der blanke Neid.

»Schon wieder beim Plausch?«, schneidet Dürris Stimme Ilinas Lächeln entzwei.

Mit einem Schlag sieht sie aus wie vorher, in einem normalen Maß hübsch. Mich wird von jetzt an eine Sorge umtreiben, das ist mir klar: Hoffentlich wird Frank diese Frau mit den unglaublichen Füßen und der Hammerfigur niemals zu Gesicht bekommen. Geschmeidig schlängelt sie sich an Dürri vorbei, um sich einer anderen Arbeit zu widmen.

»Waren Sie erfolgreich?« Dürri wippt von den Fersen auf die Zehenspitzen und zurück.

»Nein, tut mir leid, aber ich versuche es sofort weiter.«

»Das will ich meinen.«

Er schnappt nach meiner Kaffeetasse, führt sie zu seinem Mund, und ich sehe noch die gelben Mausezähnchen, bevor er schlürfend genau an der Stelle seine Lippen ansetzt, an der das eine Blütenblatt der Mohnblume bis über den Rand nach innen reicht. Das ist meine Lieblingsstelle! Niemals mehr werde ich aus meiner Tasse trinken können, ohne Dürri vor Augen zu haben. Dieser Arsch macht das extra!