Kapitel 1
Mittwoch, 25. März 1936
Eynsleigh, Sussex
Der Frühling hat endlich in diesen Breiten Einzug gehalten. An den Hecken blühen die Primeln. Vögel zwitschern ohne Unterlass in den Bäumen, an denen frisches Grün ausschlägt. Nach einem langen, feuchten Winter fühlt es sich an, als würde man aus einem Kokon schlüpfen.
„Es ist endlich Frühling!“, rief ich, ohne mich damit an jemand Bestimmtes zu richten, während ich die schweren Vorhänge meines Schlafzimmers aufzog und aus meinem Fenster schaute. Auf der taubedeckten Wiese funkelte das Sonnenlicht und ich sah eine Gruppe Kaninchen und in der Ferne ein einsames Reh. Durch das offene Fenster (die Fenster in Schlafräumen bleiben immer offen – das ist eine Regel der Oberschicht, ganz egal, wie kalt es draußen auch sein mag) drang lautes Vogelgezwitscher an meine Ohren, die liebliche Melodie eines Roststärlings vermischte sich mit dem schroffen Krächzen der Saatkrähen. Mich überkam eine Welle aus Hoffnung und Vorfreude. Rings herum gedieh das neue Leben und ich war in froher Erwartung eines eigenen neuen Lebens, irgendwann im Juli. Ja, so war es – Darcy und ich erwarteten ein Kind!
Die vergangenen Monate waren recht freudlos dahingestrichen. Das Jahr hatte mit dem Tod des Königs begonnen, und das ganze Land trauerte. Es war immer noch schwer zu glauben, dass mein Cousin David jetzt König und Kaiser Edward VIII. war. Die Königswürde passte nicht zu ihm (seine Mutter hätte ihn als ungeeignet bezeichnet), doch das Volk schien ihn angenommen zu haben. Er hatte immerhin mehr als genug Charme. Ihm gefiel bloß die Anstrengung nicht, die harte Arbeit oder Pflichten mit sich brachten. Er hatte sich immer viel lieber mit einer Yacht aus dem Staub gemacht oder sich auf einem Landsitz die Zeit vertrieben, statt sich der anstehenden Aufgabe zu widmen. Ich fragte mich, ob er zur Besinnung kommen würde, jetzt da er König war, und vielleicht langsam die Tragweite seiner Position begriff.
Und dann war da noch das Problem mit Mrs. Simpson. Eigenartigerweise wusste in England kaum jemand von ihr – da die britische Presse das Gentlemen’s Agreement eingegangen war, sie nicht zu erwähnen. Ich war mittlerweile davon überzeugt, dass David sie heiraten wollte. Er war ganz vernarrt in sie. Doch ich sah keine Möglichkeit dafür, da der König auch das oberste Amt der Church of England innehatte, und die Kirche Scheidungen nicht gestattete. Mrs. Simpson wäre eine zweifach geschiedene Frau, sobald ihre Scheidung vollzogen war. Er könnte sie sich natürlich zur Mätresse nehmen und sie im Hintergrund halten. Das war unter den englischen Königen weit verbreitet. Sein Großvater, King Edward VII., hatte eine Menge Mätressen unterhalten. Doch wenn man Mrs. Simpson kennt, dürfte man wissen, dass sie sich nicht darauf einlassen würde, still und heimlich im Hintergrund zu bleiben. Sie liebt das Rampenlicht und ich glaube, sie hat ihr Herz daran gehängt, Königin zu werden. Oh, je. Ich befürchtete, dass diese Situation bald in einem Fiasko enden würde. Die arme Queen Mary musste wirklich aufgebracht sein, dachte ich. Und dann kam mir ein zweiter, deutlich beunruhigenderer Gedanke – Donnerwetter, ich hoffe, sie schickt nicht nach mir, weil es sie nach Aufheiterung verlangt!
Seit dem Weihnachtsfest in Sandringham House, auf dem ich mehr von den Mitgliedern der Königsfamilie und ihren Problemen mitbekommen hatte, als mir lieb gewesen war, hatte ich mich bedeckt gehalten. Keine Reisen, keine Feste und ganz sicher keine Besuche bei meinen königlichen Cousins. Meine Ausrede war, dass ein kleiner oder eine kleine O’Mara auf dem Weg war. Und meine Schwangerschaft verlief bislang eher entsetzlich. In den vergangenen Monaten hatte ich mit schrecklicher Übelkeit zu kämpfen. Man nennt es Morgenübelkeit, doch mich hat sie gleichermaßen zu jeder Tageszeit heimgesucht. Nur einen Bissen vom falschen Essen und ich durfte zur nächstbesten Toilette sprinten! Daher hatte ich eine ganze Weile nichts anderes essen wollen als Cracker und klare Brühe. Meine Haushälterin Mrs. Holbrook hatte versucht, mich zu verwöhnen, indem sie mir verführerische Häppchen servierte. Doch dann fällt einem wieder ein, dass es sich bei meiner Köchin um keine Geringere als mein ehemaliges Dienstmädchen Queenie handelte. Ja, genau dieses Dienstmädchen. Die wandelnde Katastrophe. Als Köchin ist sie sogar ganz passabel, doch ihr Repertoire ist auf die Gerichte beschränkt, mit denen sie aufgewachsen ist. Nierenfettkuchen, gekochter Kohl und Pudding mit Trockenfrüchten sind nicht gerade besonders bekömmlich, wenn man mit Übelkeit zu kämpfen hat.
Darcy hatte sich große Sorgen um mich gemacht, mich behandelt, als wäre ich aus hauchdünnem Porzellan und vorgeschlagen, eine Krankenschwester einzustellen, die sich um mich kümmern sollte. Ich habe darauf hingewiesen, dass Frauen in der ganzen Welt ständig Kinder zur Welt brachten und dabei noch bis zur Geburt auf dem Feld arbeiteten, doch ich fand es herzerweichend, dass er so besorgt war. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich mir selbst ein wenig Sorgen darum gemacht, dass all die Übelkeit und das Erbrechen einen schlechten Einfluss auf das Kind in meinem Bauch haben könnten. Doch vor wenigen Wochen erwachte ich eines Morgens und fühlte mich schlagartig besser. Ich hatte nicht das Bedürfnis, zur nächstbesten Toilette zu eilen. Und der Regen hatte endlich aufgehört, sodass ich mit den Hundewelpen Spaziergänge an der frischen Luft machen konnte. Plötzlich war ich aufgeblüht und fühlte mich gesund. Und mein Bauch war deutlich runder geworden!
Ich war wieder bereit, Dinge zu unternehmen – nur dass es nichts zu tun gab. Der Haushalt funktionierte wie ein Uhrwerk (abgesehen von den gelegentlichen Katastrophen in Queenies Küche). Darcy war schwer beschäftigt mit seiner Arbeit und verschwand immer wieder für Aufträge, von denen er mir nichts erzählen konnte. Und gestern verkündete mein Großvater beim Abendessen, dass er wohl für eine Weile nach Hause zurückkehren würde. Er hatte sich seit Weihnachten hier im Eynsleigh Cottage aufgehalten, um mir Gesellschaft zu leisten, und ich hatte seine Gegenwart sehr genossen. Daher war es eine unschöne Überraschung für mich, als er mir eröffnete, dass es für ihn wohl an der Zeit sei, nach Hause zu fahren.
„Aber Großpapa, ich wollte, dass du jetzt hier zu Hause bist“, sagte ich. „Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du allein leben, einkaufen und kochen musst. Und ich habe dich gerne bei mir.“
„Ich weiß, mein Schatz“, sagte er und streckte den Arm aus, um meine Hand zu tätscheln. „Und glaube ja nicht, ich wäre undankbar oder so. Es gefällt mir hier sehr, aber es fühlt sich nicht richtig an, von vorne und hinten bedient zu werden ohne sich selbst nützlich machen zu können. Ich bin nicht zum Nichtstun geboren, wie deine Aristokratenfreunde. Ich brauche Beschäftigung.“
„Könnten wir dir nicht hier eine Beschäftigung suchen?“, schlug ich vor.
„Und was soll ich machen? Krocketspiele veranstalten?“ Er schüttelte den Kopf.
„Wir könnten ein paar Hühner anschaffen, um die du dich kümmern kannst.“
Er schmunzelte. „Was weiß ich denn über Hühner? Ich habe mein ganzes Leben in Londons Qualm gelebt, Schätzchen. Diese Hühner würden mich vermutlich zu Tode picken. Außerdem gefällt es mir nicht, dass mein kleines Haus in Essex so lange leer steht, und ich vermisse es, mit den Nachbarn zu plaudern.“
Ich konnte ihn verstehen. Er fühlte sich fehl am Platze. Er hasste es, sich bedienen zu lassen. Natürlich war es befremdlich für ihn, in einem großen Landsitz zu wohnen. Er war in einem schlichten Londoner Reihenhaus aufgewachsen und bis zu seinem Ruhestand als Polizist Streife gegangen. (Falls euch diese Erkenntnis verwirrt, sollte ich vielleicht erklären, dass mein Vater zwar der Enkel von Queen Victoria und dem Duke of Glen Garry and Rannoch war, meine Mutter aber eine berühmte Schauspielerin von bescheidener Herkunft, die sie lieber vergessen wollte.)
Es fiel mir nicht leicht, ihn ziehen zu lassen, doch ich konnte ihn auch nicht anflehen zu bleiben, nur weil ich seine Gesellschaft wollte. Ich wusste, dass ich ohne ihn einsam sein würde. Ich unterhielt keine echten Freundschaften in der Nähe. Die meisten Nachbarinnen und Nachbarn hatte ich kennengelernt und war zum Tee bei ihnen gewesen oder habe mir eine Jagd in der Gegend angesehen, auch wenn ich nicht mitgeritten war, da wir keine Pferde besaßen; und außerdem war ich schwanger. Das waren alles nette Menschen, doch ich hatte noch keine wirklichen Beziehungen geknüpft. Sie alle führten ein intensives Gesellschaftsleben und unternahmen zusammen Dinge, meistens wackere Aktivitäten unter freiem Himmel wie Fasanenschießen, Jagden oder die Organisation von Ponyreiten oder Pfadfindertreffen – alles Unternehmungen, an denen ich mich im Augenblick nicht wirklich beteiligen konnte. Meine engsten Freundinnen waren weit weg. Prinzessin Zamanska, unsere geliebte Zou Zou, verweilte nie länger als zwei Sekunden an einem Ort. Sie drohte sogar damit, in ihrem kleinen Zweisitzer nach Australien zu fliegen, um einen Rekord aufzustellen.
Belinda, meine beste Freundin aus der Schulzeit, war es leid geworden, reich und untätig zu sein (sie hatte Grundbesitz von ihrer Großmutter geerbt), und war nach Paris zurückgekehrt, um mit keiner geringeren als Coco Chanel die Haute Couture zu studieren. Ich erhielt gelegentlich Briefe von ihr, in denen sie mir das Leben in Paris beschrieb, an das sie sich recht gut angepasst zu haben schien. So viele Partys und Nachtclubs, was sich auf so extreme Weise von meinem Lebensstil unterschied, dass ich stets das Gefühl bekam, einen Fantasieroman zu lesen. Versteht mich nicht falsch. Ich beneidete sie nicht gerade. Ich war sehr zufrieden mit meinem Leben als Ehefrau und zukünftige Mutter auf dem britischen Land. Aber ich wünschte … ich bin mir nicht ganz sicher, was ich mir wünschte. Vermutlich, dass etwas Aufregendes passieren würde. Wobei in den vergangenen Jahren zu viele aufregende Dinge geschehen waren; nicht alle davon erfreulich.
So waren also alle beschäftigt, abgesehen von mir. Meine einzige Aufgabe war es, die beiden sehr ausgelassenen Hundewelpen, die wir als Weihnachtsgeschenke bekommen hatten, spazieren zu führen. Der eine war ein schwarzer Labrador, der andere gelb, ein Rüde und eine Hündin, beide gleichermaßen liebenswürdig und schrecklich durchtrieben. Es war uns schwergefallen, passende Namen für die beiden zu finden. Wir hatten mehrere gediegene Namen in Betracht gezogen: Castor und Pollux, Arthus und Guinevere, aber die beiden sahen weder gediegen aus, noch benahmen sie sich so. Darcy hatte zuerst vorgeschlagen, dass wir sie Victoria und Albert nennen sollten.
„Du kannst unsere Hunde nicht nach meinen Urgroßeltern benennen!“, sagte ich.
„Na gut, wie wäre es dann mit Gin und Tonic?“
„Keine Witze.“ Ich schlug ihm scherzhaft auf die Hand.
Er lachte. „Ich hab’s. Bubble und Squeak.“
„Darcy, ich stelle mich doch nicht auf die Wiese und rufe: ‚Squeak, Squeak!‘“
„Gut, dann lass du dir eben Namen einfallen“, sagte er und gab vor, beleidigt zu sein.
„Ich hoffe, dass es uns nicht so schwerfallen wird, einen Namen für unser Kind zu finden“, sagte ich zu Darcy.
„Das ist kein Problem. Den Namen habe ich bereits ausgewählt“, antwortete er.
„Wirklich?“
„Ja. Marmaduke Archibald“, sagte er. „Das sind alte Namen aus meiner Familie. Wir können ihn kurz Marm nennen, wie die Königin.“
„Darcy, das kannst du nicht …“, hob ich an. Dann sah ich sein Gesicht und schlug nach ihm, während ich in Gelächter ausbrach.
„Du darfst mich nicht necken. Ich bin in empfindlicher Verfassung.“
Er schlang die Arme um mich. „Es ist schön, dich wieder lachen zu sehen. Du hast in letzter Zeit sehr betrübt gewirkt.“
„Es war furchtbar, dass es mir so schlecht ging“, sagte ich.
„Aber das hast du jetzt hinter dir. Und bald wirst du es auch vergessen haben.“
„Das hoffe ich“, sagte ich. Ich schaute die beiden Welpen an, die ausgestreckt vor dem Feuer lagen, nachdem sie gerade einen langen Spaziergang hinter sich gebracht hatten.
„Wir sollten ihnen weihnachtliche Namen geben“, sagte ich. „Wir haben uns die beiden immerhin gegenseitig zu Weihnachten geschenkt.“
„Maria und Josef?“
Er neckte mich schon wieder. Ich warf ihm einen ernsten Blick zu. „Nick, nach dem heiligen Nikolaus? Aber was ist mit dem Mädchen?“ Ich blickte zu dem niedlichen, kleinen, schwarzen Welpen, dem Rüden, der sich auf höchst unanständige Weise räkelte. Er war wirklich ein Clown. Unanständig, aber so niedlich, dass ich ihm nur verzeihen konnte.
„Ich weiß“, sagte ich. „Wie wäre es mit Holly und Jolly?“
„Wenn dir die Namen gefallen, ist das für mich in Ordnung“, sagte Darcy.
„Dir gefallen sie nicht?“
„Ich dachte eher an Mitglieder des irischen Königshauses. Queen Mab. Brian Boru. Oder das schottische Königshaus, für deine Seite der Familie. Robert Bruce?“
„Ich will keinen Hund, der Brian heißt“, sagte ich. „Oder Bruce, wenn wir schon dabei sind. Ich will auch nicht auf der Wiese stehen und rufen: ‚Bruce, wo bist du? Komm sofort her.‘“
Er grinste. „Ich scherze nur wieder. Holly und Jolly passt gut. Und wenn wir schon dabei sind, nennen wir unser Kind gleich Donnerwetter, da das dein Lieblingswort ist.“
„Ist es nicht!“, sagte ich erregt. „Oder?“
Er nickte. „Du sagst es recht häufig.“
„Oh je. Ich habe versucht, mir das abzugewöhnen. Aber in aufreibenden Situationen kommt es mir wohl noch über die Lippen.“
Darcy legte einen Arm um mich. „Verändere dich nicht. Ich liebe dich so wie du bist.“ Er gab mir einen Kuss auf die Nase.
Seit diesem Zeitpunkt wurden die beiden Hunde als UFWs bezeichnet (unglaublich freche Welpen). Wir ließen sie anfangs frei im Haus herumrennen, bis es die Bediensteten leid waren, Pfützen am Boden aufzuwischen und sämtliche erreichbaren Objekte, von der Socke oder dem Schuh bis zum Sandwich, aus ihren Mäulern zu retten. Zum Glück liebten sie es, lange Spaziergänge zu machen, Kaninchen zu jagen, sich im Dreck zu suhlen und generell so viel Spaß zu haben, dass sie hinterher eine ganze Weile völlig erschöpft waren.
Ich arbeitete daran, sie zu trainieren. Und das war harte Arbeit. Die beiden waren nicht dumm – sie lernten „Komm“, „Sitz“ und „Bleib“. Dabei wedelten sie so lange fröhlich mit den Schwänzen, bis sie Lust auf etwas Ungezogenes bekamen, dann hörten sie auf keinerlei Kommando mehr. Wir hatten sie schließlich in den Bereich der Bediensteten im Untergeschoss verbannen müssen, wann immer wir sie nicht aktiv im Auge behielten, da es dort Steinböden gab und sie leicht nach draußen gelangen konnten. Die beiden Hunde fanden das großartig, da sie immer von Essen umgeben waren und stets die Chance bestand, dass ein Bissen vom Tisch fiel. Sie waren jetzt vier Monate alt und ich hoffte, dass sie nun etwas vernünftiger werden würden. Donnerwetter, ich hoffte, dass es nicht genauso schwer werden würde, ein Kind aufzuziehen. Zumindest würde es nicht so einfach mit meinem Schuh im Mund herumrennen!
Abgesehen von den Welpen versuchte ich zu tun, was man von werdenden Müttern erwartet: eine Säuglingsausstattung anzufertigen. Lasst mich sagen, dass man meine Näh- und Strickkünste bestenfalls als minimal geringfügig bezeichnen kann. Ich bin im Nähunterricht der Schule durchgefallen. Wir hätten eine weiße Bluse anfertigen sollen, doch meine hatte am Ende einen interessanten Grauton und ein Ärmel war falsch herum angenäht. Ich hatte versucht, ein Deckchen für das Kind zu häkeln, dabei aber am Anfang und am Ende jeder Reihe je eine Masche vergessen, sodass die Decke immer schmaler wurde, bis ich merkte, dass ich ein Dreieck häkelte. Zum Glück lebte ich in dem Wissen, dass mein Kind nicht allein von meinen Fähigkeiten abhängig war. Zou Zou würde mit ausreichend Anziehsachen auftauchen, um Drillinge einzukleiden, und meine Mutter würde vermutlich auch in ihrer neuen Rolle als Großmutter auftrumpfen (wobei ich mich fragte, wie sie das Dasein als Großmutter mit ihrer Behauptung in Einklang bringen würde, immer noch fünfunddreißig zu sein).
***
Am Montag kam ein weiterer Brief von Belinda mit der Post. Darcy und ich saßen gerade zusammen am Frühstückstisch – was in den vergangenen Monaten ein seltenes Ereignis gewesen war. Er war gerade dabei, die Oxford-Marmelade von Cooper’s auf seinem Toast zu verteilen. Ich aß einen Räucherhering, als Phipps, unser Diener und Chauffeur, die morgendlichen Briefe auf einem Silbertablett hereinbrachte.
„Mylady, ein Brief aus dem Ausland für Euch“, sagte er, als er mir den Umschlag reichte.
„Oh, er ist von Belinda“, sagte ich mit einem Lächeln. Darcy nahm seine eigenen Briefe entgegen und öffnete einen, was mir die Gelegenheit gab, meinen Brief am Tisch zu lesen.
Liebste Georgie,
Wie geht es dir jetzt? Besser, hoffe ich. Diese Morgenübelkeit klingt wirklich scheußlich. Da kamen bei mir schreckliche Erinnerungen hoch, doch meine war nie so schlimm. Aber sie vergeht, daher hoffe ich, dass du mittlerweile das Schlimmste überstanden hast.
Das Leben in Paris wird mit jedem Augenblick hektischer. Wir sind jetzt mitten in der Produktion für die Frühlings-Modenschauen, die in einigen Wochen stattfinden werden. Eigentlich soll ich Madame Chanels Designassistentin sein, aber jetzt gerade wird jede tüchtige Hand gebraucht und ich nähe, bügle und führe Kleider vor wie alle anderen auch. Es ist wirklich eine wunderschöne Kollektion (die Herbstkollektion, natürlich). Chanels Designs sind atemberaubend – ihre Linien so simpel und elegant. Und das wirst du niemals glauben! Sie hat einen meiner Entwürfe in die Kollektion aufgenommen. Ein Ensemble von Abendmode – rückenfrei, mit Seidenhose und in Schwarzweiß. Ich fühle mich so geehrt und kann mein Glück gar nicht fassen.
Ich wünschte, du könntest herkommen und es auf dem Laufsteg sehen. Ich kenne hier viele Leute, aber habe keine echte Freundin wie dich – eine Freundin, mit der ich lachen und Geheimnisse teilen kann. Und du kennst jedes meiner verdammten Geheimnisse, nicht wahr?
Mein Apartment in Saint-Germain würde dir gefallen, nicht allzu weit von der Seine entfernt. Durch eine Lücke zwischen den Gebäuden kann ich den Fluss sehen, und wenn ich mich aus dem Badezimmerfenster lehne, sogar den Eiffelturm. Es ist wirklich eine entzückende Wohnung mit einem kleinen, schmiedeeisernen Balkon. Es wäre alles perfekt, wenn da nur nicht der alte Drache wäre; die Frau im Erdgeschoss, die unsere Concierge ist. Man würde meinen, ihre gehörte das ganze Haus, dabei ist sie nur die Hausmeisterin. Sie springt aus ihrem kleinen Kämmerchen, wann immer jemand hereinkommt, untersucht, was die Person bei sich hat, oder wer sie begleitet, und sie hat eine gemeine Katze, die auch Leute anspringt und ihnen ins Fußgelenk beißt. Und sie fegt ständig den Hof. Man kann den ganzen Tag den Besen hören. Es ist ein Wunder, dass da überhaupt noch ein einziges Steinchen übrig ist. Ich wette, sie fliegt auf diesem Besen durch die Gegend, wann immer wir nicht hinschauen.
Wie auch immer, die anderen Nachbarn sind deutlich angenehmer, insbesondere der Kerl im obersten Stockwerk. Er wohnt in der Dachstube, unter dem Dachstuhl – recht romantisch eigentlich, und er ist Schriftsteller. Ein Amerikaner namens Harry Barnstable. Recht attraktiv, auf eine akademische, schäbige, gequälte Weise. Und schrecklich intellektuell. Ich habe einige Freunde von ihm kennengelernt, Schriftstellerinnen und Maler, und ehrlich gesagt, verstehe ich bei ihren Unterhaltungen bestenfalls die Hälfte. Aber er war sehr hilfsbereit und hat mich dabei unterstützt, meine Wohnung einzurichten und sie gemütlich zu machen. Er kennt sich bestens auf Flohmärkten aus (Süße, sie sind nicht so schlimm, wie man glaubt, und man kann dort Möbel und Gemälde zu unglaublich günstigen Preisen finden – es macht großen Spaß). So sieht meine Wohnung jetzt très zivilisiert aus und ich habe ein großes Federbett – groß genug für mehr als eine Person, sollte sich die Gelegenheit ergeben.
Harry und ich sind noch nicht so weit gekommen, aber man weiß ja nie. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich wirklich Interesse an ihm habe. Er ist etwas zu alt für mich, und ein wenig zu schäbig. Oh, aber da ist auch noch dieser fürchterlich elegante Edelmann namens Louis-Philippe de Montaigre, der Interesse an mir zeigt. Franzosen sind faszinierend, oder? Ich weiß nicht, ob ich ihn anziehend finde, aber es ist wirklich schön, auf altmodische Weise umworben zu werden. Er schickt mir täglich Blumen, Pralinen und Champagner. Kannst du dir mich als französische Gräfin vorstellen? Man weiß ja nie …
„Gute Nachrichten von Belinda?“, fragte Darcy. „Ich sehe, dass du lächelst.“
Ich legte den Brief ab. „Du kennst Belinda – es geht immer um mindestens einen Mann. In diesem Fall sogar zwei: Ein darbender amerikanischer Schriftsteller in der Dachwohnung und ein französischer Aristokrat, der ihr Champagner und Pralinen schickt.“
Darcy lachte und schüttelte den Kopf. „Sie lebt wirklich gerne gefährlich. Ich wünschte, sie würde damit aufhören und sesshaft werden. Ich dachte, mit Jago in Cornwall hätte sie endlich den Richtigen gefunden.“
„Dachte ich auch“, stimmte ich zu. „Die beiden schienen perfekt zueinander zu passen. Ich hoffe, Jago hat nicht deshalb einen Rückzieher gemacht, weil sie zur Oberschicht gehört und er der Sohn eines Fischers ist. Ich glaube nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hat.“
„Männer sind bei diesem Thema recht dünnhäutig“, sagte Darcy und biss nachdenklich von seinem Marmeladentoast ab. „Sie wollen der Ernährer sein, weißt du? Ich muss zugeben, dass es mir auch nicht leichtgefallen ist, zu akzeptieren, dass wir in einem Haus wohnen, das dir von deinem Großvater vermacht wurde, und nicht in einem, das ich für meine Braut gekauft habe.“
„Sei nicht albern“, sagte ich. „Ich weiß, dass wir beide gleichermaßen mittellos sind und in einer schrecklichen, kleinen Wohnung in London leben würden, wenn Sir Hubert nicht in die Bresche gesprungen wäre.“
Darcy legte die Stirn in Falten. „Aber ich möchte nicht mittellos sein. Ich möchte, dass meine Familie gut leben kann.“
„Wir haben doch ein gutes Leben“, rief ich ihm ins Gedächtnis.
„Aber das haben wir nicht mir zu verdanken.“ Er seufzte. „Ich muss zugeben, dass es wohl an der Zeit ist, mich ins Zeug zu legen und eine anständige Arbeit zu finden, Georgiana.“
Die Tatsache, dass er meinen ganzen Namen verwendete, ließ mich aufblicken. Ich streckte den Arm aus und legte meine Hand auf seine. „Aber Liebster, du lebst für das, was du tust. Ich weiß zwar nicht genau, was es ist, aber ich weiß, dass du die Herausforderung liebst, die Gefahr und das Abenteuer. Mit Schreibtischarbeit würdest du schrecklich unglücklich werden. Menschen wie wir sind nicht für dieses Leben gemacht.“
Er begegnete meinem Blick. „Georgie, die meisten Menschen haben nicht den Luxus, das Leben zu führen, das sie wählen würden. Sie gehen jeden Tag zur Arbeit, in einer Bank, einem Laden oder einem Büro, weil sie eine Familie haben, die darauf angewiesen ist. Was soll passieren, wenn unsere Kinder alt genug fürs Internat sind? Wer wird die Gebühren bezahlen? Und wenn wir Mädchen bekommen, und es Zeit für ihre Einführung in die Gesellschaft wird? Es ist sehr teuer, sich bei Hofe vorstellen zu lassen, oder?“
„Das liegt weit in der Zukunft“, sagte ich. „Denk positiv. Vielleicht bekommen wir sechs Söhne und niemand muss vorgestellt werden.“
Darcy grinste jetzt. „Mach sieben draus, dann können sie ihre eigene Rugbymannschaft bilden.“
„Einen Moment“, sagte ich. „Jetzt geht es mir blendend, aber wenn wir diese Unterhaltung vor einem Monat geführt hätten, hätte ich darauf geschworen, dass ein Kind mehr als genug ist.“
Darcy drückte meine Hand. „Du hattest eine schwere Zeit“, sagte er. „Ich würde das gerne wiedergutmachen.“ Er hielt inne, als würde er nachdenken. „Ich frage mich, was du von einer Reise nach Paris halten würdest.“
Ich starrte ihn an. Ich vermute, dass mein Mund offenstand. „Paris?“, stammelte ich. „Du lädst mich auf eine Reise nach Paris ein?“
Er nickte und grinste angesichts meines schockierten Ausdrucks. „Und? Hast du Lust?“, fragte Darcy erneut. „Meinst du, du bist der Reise gewachsen? Es könnte für eine Weile unsere letzte Gelegenheit zum Verreisen sein.“
„Ob ich mich dem gewachsen fühle?“, fragte ich, während sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht schlich. „Darcy, wir reden nicht von einer Karawane in die tiefste Mongolei. Es ist nur eine Schifffahrt über den Kanal und eine Zugfahrt. Das ist nicht sonderlich beschwerlich. Und wir reden von Paris! Natürlich möchte ich dorthin, aber …“ Ich verstummte, während ich mich an unsere Unterhaltung von vor wenigen Minuten erinnerte. „Wie können wir uns das leisten?“
„Ah.“ Ich sah, dass plötzlich ein wachsamer Ausdruck in seinen Augen lag. „Wir müssen es uns nicht leisten können. Ich muss aus geschäftlichen Gründen nach Paris und dachte, meine Frau würde mich vielleicht gerne begleiten …“
„Deine geschäftlichen Angelegenheiten sind üblicherweise gefährlich“, sagte ich. „Erinnerst du dich an unsere Flitterwochen in Kenia? Ich fragte mich noch, wie du dir das leisten konntest, und dann stellte sich heraus, dass du dort einen nationalsozialistischen Agitator aufspüren solltest.“
„In diesem Fall dachte ich“, sagte Darcy langsam, „dass wir zusammen reisen könnten und du dann bei Belinda bleibst, während ich … meiner Aufgabe nachgehe. Belinda hat dich zu sich eingeladen, oder?“
„Schon mehrmals“, sagte ich. „Und es würde bestimmt Spaß machen, bei ihr zu wohnen. Und die Frühlings-Modenschauen zu sehen und ihre intellektuellen Bekanntschaften zu treffen.“
„Dann haben wir es doch.“ Darcy wirkte erleichtert, fand ich. „Ich glaube, das wird großartig funktionieren.“
Ich fragte mich, was er damit wohl meinte.
Kapitel 2
Montag, 30. März
Eynsleigh
Ich kann gar nicht glauben, dass ich nach Paris fahre. Paris im Frühling. Das ist, als würde ein Traum wahrwerden.
Es würde nicht meine erste Reise nach Paris werden. Die Reise zu meinem Mädcheninternat in der Schweiz, oder der Rückweg von dort, hatte mich mehrfach durch die Stadt geführt, auch wenn ich bloß auf der Taxifahrt zwischen dem Gare du Nord und dem Gare de Lyon einen verlockenden Blick aus dem Fenster hatte werfen können. Ich war stets mit dem Nachtzug eingetroffen und recht erschöpft gewesen, doch ich hatte mir jedes Mal sehnsüchtig die elegant gekleideten Menschen in den Straßencafés und den Parks angesehen. Die Frauen hatten alle so weltgewandt und selbstsicher gewirkt, wie sie sich lässig ihren Schal über die Schulter geworfen oder eine schmale, dunkle Zigarette zwischen den Fingern gehalten hatten. Beim Passieren der schmalen Seitenstraßen hatte ich immer wieder einen Blick auf die unwirklich strahlend weiße Sacré-Cœur hoch oben auf dem Montmartre erhascht. Und wenn wir uns dem Gare de Lyon genähert hatten, war die Seine jenseits eines großen Platzes zu sehen gewesen. Ich hatte jedes Mal aus dem Taxi springen und rufen wollen: „Vergiss die Schule. Ich will jetzt ein bisschen leben.“
Natürlich war ich ein braves, wohlerzogenes Kind gewesen (bis ich Belinda kennengelernt hatte), und pünktlich in den Zug gestiegen, der mich in die Schweiz brachte. Und jetzt sah es endlich so aus, als würde ich meinen Traum leben können. Ich schrieb Belinda, um ihr mitzuteilen, dass ich die Gelegenheit hatte, Darcy auf seiner Reise zu begleiten und ein paar Tage bei ihr bleiben würde, und ich erhielt umgehend eine Antwort:
Süße, ich freue mich unglaublich auf dich! Bleib, so lange du möchtest. Ich kann dir nur vielleicht nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, wie ich sollte, da es die Woche der Vorstellung der Herbstkollektion sein wird und ich wie ein Tier werde schuften müssen. Vielleicht schleife ich dich sogar mit, um zu helfen (in deinem Zustand natürlich nicht als Model, aber um mir dabei zu helfen, mit den richtigen Leuten zu sprechen und so etwas). Aber uns bleiben auf jeden Fall die Abende, wenn du sie nicht mit Darcy verbringst. Harry kennt wirklich interessante Menschen. Künstlerinnen und Schriftsteller – alle äußerst intellektuell und intensiv.
Also lass mich wissen, wann ich mit dir rechnen kann, damit ich Vorräte besorgen kann. Ich muss gestehen, dass ich ohne eigenes Dienstmädchen meistens in einem Café in der Nähe esse. Das Essen in Paris ist so lecker, dass man eigentlich nichts falsch machen kann. Aber ich werde versuchen, alles einzukaufen, was einer Schwangeren schmecken könnte. Wenn du am Wochenende kommst, kannst du dich darauf verlassen, dass ich zu Hause sein werde.
Das wird ein großer Spaß! Wie in den alten Zeiten.
Mit viel Liebe,
Deine Freundin,
Belinda.
Ich rief Zou Zou an, weil ich ihr von den Plänen erzählen wollte, doch ihr Dienstmädchen erzählte mir, dass sie wieder in ihrem kleinen Flugzeug aufgebrochen war und niemand wusste, wo sie steckte. Ich verspürte jedes Mal große Enttäuschung, wenn sie nicht da war. Ich brauchte einen Rat bezüglich der Sachen, die ich nach Paris mitnehmen sollte, und was die Leute dort trugen. Nicht dass ich mit meiner Garderobe abgetragener Kleidung hätte mithalten können. Zou Zou und meine Mutter hatten mich mit einigen modischen Outfits ausgestattet, doch für die war mein Bauch mittlerweile zu groß. Ich befand mich in diesem ungünstigen Übergangszustand, da der Bauch noch nicht dick genug war, um schwanger auszusehen, und ich so bloß wirkte, als hätte ich mir bei der letzten Mahlzeit zu oft vom Treacle Pudding nachgenommen.
Meine Kleidung würde also definitiv ein Problem darstellen. Ich würde mit Belinda unterwegs sein, und, Gott bewahre, möglicherweise auch mit Coco Chanel höchstpersönlich, also durfte ich nicht herumlaufen wie eine schäbige Landfrau. Ich betrachtete meine Garderobe mit Bestürzung. Der lange Kaschmircardigan, den meine Mutter an mich weitergegeben hatte, würde meinen Bauch verstecken, und ich konnte immer noch meinen Tartanrock tragen, wenn ich eine große Sicherheitsnadel an der Taille anbrachte. Aber was war mit Abendgarderobe? Meine wunderschöne, modische, dunkelblaue Culotte würde mir nicht mehr passen. Und meine Abendkleider auch nicht mehr. Ich war verloren, dachte ich – doch dann entschied ich, dass ich vermutlich ohnehin nicht zu abendlichen Veranstaltungen eingeladen werden würde. Und es klang so, als würde sich Belinda hauptsächlich in Künstlerkreisen bewegen, unter Leuten, die Flickenbesetzte Jacketts und Baskenmützen statt Smoking tragen würden, falls wir doch ausgehen sollten. Ich würde mich womöglich wunderbar einfügen.
Eine positive Sache war, dass ich kein Dienstmädchen mitnehmen müsste. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Belinda erwähnt, dass sie keine Bediensteten hatte. Vielleicht eine Putzhilfe, aber sicher keine festangestellten Dienstmädchen. Ich würde Kleidung mitnehmen müssen, die ich ohne Hilfe an- und ausziehen konnte. Meine aktuelle Kammerzofe Maisie war eine liebe junge Frau aus der Gegend, sehr hilfsbereit und äußerst sorgfältig im Umgang mit meiner Kleidung. Doch ihre kranke Mutter lebte in der Nähe und sie weigerte sich schlichtweg, von ihr fortzugehen. Meine Alternative war Queenie. Dazu muss ich nichts sagen. Ich würde kein Dienstmädchen mitnehmen.
Ich sagte Maisie, welche Kleidungsstücke ich mitnehmen würde. Sie sahen schrecklich unangemessen aus, als sie auf meinem Bett ausgebreitet lagen. Es war kein einziges schwarzes Kleid darunter, keine langen Schultertücher aus Seide oder maßgeschneiderte Kostüme. Nicht dass ich besagte maßgeschneiderte Kostüme im Moment überhaupt zubekommen würde, aber ich musste zugeben, dass die ausgewählten Sachen aussahen, als würde ich für ein Wochenende auf dem Land packen, bei dem ich mit den Hunden durch die Heide streifen wollte, aber für Paris? Vielleicht bekäme Belinda ja Mitleid mit mir und würde mich mit ein oder zwei Outfits versorgen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Maisie war noch am Packen, als ich ein Geräusch vernahm, das sich anhörte, als würde eine ganze Herde Elefanten auf mich zustürmen. Während ich mich noch fragte, was das sein mochte, da wir keine großen Tiere besaßen, kam Queenie in mein Zimmer gestürmt. Ihr Gesicht war hochrot vom Rennen und ihre Schürze hatte sich halb gelöst.
„Was in aller Welt ist los, Queenie?“, fragte ich.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte sie wissen. „Ich habe gerade gehört, dass Sie nach Paris fahren, Mistress.“ (Sie hatte nie gelernt, mich mit „Mylady“ anzusprechen, wie es bei meinem Status üblich wäre, sondern hatte mich immer als „Miss“ bezeichnet. Jetzt honorierte sie immerhin, dass ich verheiratet war, und nannte mich „Mistress“. Mehr konnte ich mir wohl nicht erhoffen.)
„Das stimmt. Mr. O’Mara und ich werden für eine Weile nach Paris reisen. Du wirst also eine Pause vom Kochen einlegen können – vielleicht nutzt du die Zeit, um an deinen Fähigkeiten zu arbeiten? Übe doch, neue Gerichte zu kochen.“ Ich lächelte sie strahlend an, doch sie blickte immer noch finster drein.
„Wenn eine Dame nach Paris fährt, nimmt sie ihr Dienstmädchen mit, richtig? Aber Sie haben mich nicht einmal gefragt. Sie werden doch nicht die da mitnehmen, oder?“ Sie deutete auf Maisie, die entsetzt wirkte. „Sie weiß doch gar nichts über das Leben im Ausland. Sie war nie weiter weg als Brighton. Und ich habe Sie überall auf dem Kontinent begleitet. An die Côte d’Azur und dieses Schloss in, wie immer das hieß …“ Sie schäumte immer noch vor Wut. „Sie wird doch nur in Panik verfallen, oder nicht? Wenn sich irgendein ausländischer Kerl das Gepäck schnappt und wegrennt, wird sie zu einem Häufchen Elend zusammensinken und nach Hause zurückkehren wollen.“
„Queenie“, unterbrach ich ihre Tirade. „Maisie wird mich auch nicht begleiten. Ich nehme gar kein Dienstmädchen mit, da ich bei Miss Belinda wohnen werde, und dort gibt es keinen Platz für Bedienstete. Doch wenn ich ein Dienstmädchen mitnehmen würde, und Maisie gewillt wäre, würde sie mich begleiten. Sie ist jetzt meine Kammerzofe und du bist meine Köchin.“
Queenie setzte einen mürrischen Gesichtsausdruck auf. „Ich weiß, dass ich Ihre Köchin bin“, sagte sie, „aber davor war ich Ihre Kammerzofe, oder nicht? Ich war es, die Ihnen geholfen hat, als Sie in Gefahr waren.“
„Das ist wahr. Du warst sehr mutig und das schätze ich sehr. Aber du leistest hier auch als Köchin wichtige Dienste. Der Haushalt würde ohne dich nicht funktionieren.“
Ich sah, dass ihr Gesichtsausdruck sanfter wurde. „Ja“, sagte sie mit einem Nicken. „Das stimmt. Ich werde hier gebraucht, nicht wahr? Ohne mich würden alle verhungern.“ Sie richtete ihre Schürze. „Na gut. Dann wäre das geklärt. Aber brauchen Sie meine Hilfe auch nicht, um Ihre Kleidung vorzubereiten? Oder beim Packen?“
„Danke, Queenie. Wir kommen zurecht.“, sagte ich schnell. Ich erinnerte mich an zu viele Gelegenheiten, bei denen ich mit einem Schuh zu wenig irgendwo eingetroffen war, oder festgestellt hatte, dass meine Reitstiefel in mein bestes Abendkleid gewickelt worden waren. „Warum bereitest du uns nicht ein leckeres Mittagessen zu?“
„Wird erledigt“, sagte sie und eilte davon.
Ich seufzte erleichtert. Einen Haushalt zu führen, war immer noch eine Herausforderung für mich. Ich wusste, dass ich sie hätte zurechtweisen sollen, ihr sagen sollen, dass sie sich danebenbenahm und ich als Hausherrin auswählen würde, wer mich begleitete. Außerdem hätte ich ihr sagen müssen, dass sie auf der Stelle entlassen werden würde, wenn sie jemals wieder so in mein Zimmer gestürmt käme. Das hätte eine echte Hausherrin getan. Doch ich wollte immer noch den Frieden wahren und alle glücklich machen.
„Oh, Mylady, das tut mir so leid“, flüsterte Maisie, sobald Queenie wieder gegangen war. „Sie ist schrecklich eifersüchtig, weil ich jetzt Eure Kammerzofe bin. Ich glaube, es liegt daran, dass sie unten in der Küche festsitzt und Euch nicht mehr so viel zu Gesicht bekommt.“ Sie sah mich besorgt an. „Ich mache doch gute Arbeit, oder? Ich kümmere mich um Eure Kleidung und all das.“
Ich lächelte. „Du machst ausgezeichnete Arbeit, Maisie“, sagte ich. „Ich könnte gar nicht glücklicher sein.“ Ich hätte beinahe hinzugefügt, wie erleichtert ich darüber war, ein Dienstmädchen zu haben, das den Samt nicht falschherum bügelte, mir ein Loch in den Bademantel brannte oder einen der Schuhe meines Hochzeitsoutfits verlor. Es war ein stetiger Strom aus Katastrophen gewesen. Doch ich wollte den anderen Bediensteten keine Munition gegen Queenie liefern. So anstrengend sie auch war, ich hatte sie irgendwie gern. Stattdessen sagte ich: „Aber sobald sich deine Mutter wieder erholt hat, erwarte ich, dass du mich auf Reisen begleitest.“
„Ins Ausland, meint Ihr? In andere Länder? Fremde Teile der Welt?“
„Ja, natürlich. Wenn es denn in der Zukunft wieder dazu kommen sollte, dass ich reisen muss.“
„Oh, nein, Mylady. Ich glaube nicht, dass ich fremden Ländern gewachsen bin. Dort spricht man doch ganz seltsam, oder? Und Queenie sagte, dass sie einem in den Hintern kneifen.“
Ich versuchte, nicht zu lachen. „Nein, ich glaube nicht, dass es bald dazu kommen wird, Maisie, da ich mit einem Neugeborenen erst einmal zu Hause bleiben werde.“
Sie strahlte. „Ich freue mich so für Euch, Mylady. Ich kann es kaum erwarten, Euch mit dem kleinen Kind zu helfen. Das wird wundervoll.“
Ich nickte zustimmend. „Ja, das wird wundervoll.“
„Wann werdet Ihr ein Kindermädchen anstellen?“, fragte sie. „Wird es jemand aus der Gegend sein?“
Donnerwetter. Das würde meine nächste Herausforderung mit den Bediensteten werden. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft, einen Koch oder eine Köchin einzustellen – auch das, weil ich Queenies Gefühle nicht verletzen wollte. Doch der Gedanke, ein Kindermädchen einzustellen – ein vernünftiges Kindermädchen in gesteifter Kleidung, die den jungen Master zum zukünftigen Herrscher des Empires erziehen würde. Tatsächlich wollte ich mein Kind gerne selbst erziehen, doch ich musste hinnehmen, dass Personen von meinem Stand immer ein Kindermädchen hatten. Mein eigenes Kindermädchen war die Ausnahme von der Norm gewesen – freundlich, liebevoll und gutherzig. Es war eine Schottin aus der Nähe gewesen, die mich auf ihren Schoß gehoben und mir vorgesungen hatte, als ich klein war. Ich werde versuchen, jemanden wie sie zu finden!
Kapitel 3
Samstag, 18. April
Auf dem Weg nach Paris.
Ich kann gar nicht glauben, dass wir unterwegs sind. Leider haben wir uns dafür nicht den besten Tag ausgesucht.
Es war kein sehr verheißungsvoller Start unserer Reise. Ich weiß, dass man im April mit Regen rechnen sollte, aber wir brachen in einem ausgewachsenen Unwetter auf. Als ich erwachte, prasselte Regen gegen mein Fenster und der Wind heulte in den Schornsteinen.
„Das Wetter könnte besser sein“, sagte Darcy mit seiner üblichen Untertreibung, während er die Vorhänge öffnete.
„Könnte?“, fragte ich, während irgendwo am Boden ein Schieferziegel zerschellte, der von Dach losgerissen worden war. „Da draußen heult der Sturm. Glaubst du, die Schiffe dürfen überhaupt auslaufen, um den Ärmelkanal zu überqueren?“
„Vielleicht ist das Wetter bis zum Mittag besser“, sagte er. „Und ich glaube, die Schiffe laufen bei jedem Wetter aus. Wenigstens dauert die Überfahrt nicht lange.“
Das fand ich nicht allzu beruhigend.
„Wir könnten die Reise auch verschieben und an einem anderen Tag fahren“, schlug ich vor.
Darcy schüttelte den Kopf. „Oh, nein, das sollten wir lieber nicht tun.“
„Du hast ein Treffen, an dem du teilnehmen musst?“, fragte ich.
„Etwas in der Art.“ Er verschwand ohne einen weiteren Kommentar im Bad.
Meine Eingeweide verkrampften sich in einem leichten Anflug von Sorge. Darcy hatte mir nie gesagt, worin seine Arbeit bestand, doch ich wusste, dass es um irgendwelche verdeckten Ermittlungen ging, meistens für die britische Regierung. In anderen Worten: Ich vermutete, dass mein Ehemann ein Spion war. Und mir wurde bewusst, dass der aktuelle Auftrag gefährlich für ihn werden könnte. Die Schreibtischarbeit, mit der er gedroht hatte, kam mir plötzlich sehr verlockend vor.
Unser Chauffeur Phipps fuhr uns zum Bahnhof. Wir hatten ursprünglich geplant, dass Phipps uns ins nahe Newhaven fahren würde, von wo aus wir eine Fähre nach Dieppe nehmen konnten, doch das wäre eine längere Überfahrt und darauf hatte bei diesem Wetter keiner von uns Lust. Also hatten wir uns dafür entschieden, nach London zu reisen und mit der Golden Arrow die direkte Verbindung über Dover und Calais bis nach Paris zu nehmen. Der erste Reiseabschnitt war sehr gemütlich, während draußen die verregnete Landschaft von Kent vorüberzog. Doch als wir den Hafen von Dover erreichten, hatte sich das Wetter immer noch nicht verbessert. Wir stiegen aus, suchten uns einen Gepäckträger und machten uns auf den Weg zur SS Canterbury. Bis wir an Bord ankamen, waren wir durchnässt, vom Wind zerzaust und völlig außer Atem.
„Meiner Erfahrung nach gibt es nur eines, was man angesichts einer solchen Überfahrt tun kann“, sagte Darcy.
„Sich irgendetwas zum Festhalten suchen oder sich hinlegen?“
„Nein, direkt zur Bar gehen und einen großen Brandy mit Ginger Ale trinken“, sagte er. „Das wirkt Wunder.“
Er führte mich in die warme Bar, die überraschend leer war, und wir setzten uns mit unseren Brandys an einen Tisch in der Ecke. Ich trank argwöhnisch einen ersten Schluck und musste zugeben, dass er recht hatte. Der Drink wärmte mir wunderbar den Magen. Ich war es nicht gewohnt, vor dem Mittagessen viel zu trinken, auf leeren Magen, und so fühlte ich mich ein wenig beschwingt und zufrieden, als wir den Hafen verließen.
„Es ist gar nicht so schlimm.“ Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ein heftiger Ruck durchs ganze Schiff ging. Danach sackte das Schiff immer wieder in Wellentäler, wurde durchgeschüttelt und rollte auf der ganzen Überfahrt nach Calais heftig. Gläser fielen von den Tischen. Stühle rutschten über den Boden. In das Knarren des Schiffes mischten sich Geklirr und dumpfe Kollisionen – begleitet von menschlichem Stöhnen und Ächzen. Ich malte mir aus, wie unsere Koffer herumgeschleudert oder auf Deck völlig durchnässt wurden. Andere Reisende in der Bar liefen grün an und verschwanden, bis wir fast allein dort saßen. Selbst Darcy war auffällig still geworden. Mir ging es erstaunlich gut, dafür, dass ich in den vergangenen Monaten so sehr mit Übelkeit zu kämpfen gehabt hatte.
„Bekommt man hier irgendetwas zu essen?“, fragte ich.
Darcy schaute mich an, als wäre ich wahnsinnig geworden. „Du hast Hunger?“
„Tatsächlich, ja. Das Frühstück ist lange her.“
„Ein paar Chips vielleicht?“, bot er an.
„Wie wäre es mit einem Schinkensandwich? Oder einer Fleischpastete?“
Darcy schüttelte den Kopf und lief schwankend zum Tresen. Er musste sich unterwegs an einer Säule festhalten, doch er kam mit einem Würstchen im Teigmantel zurück. „Das ist alles, was sie unter diesen Umständen anbieten können“, sagte er. „Dem Koch ist gerade nicht nach kochen zumute.“
Ich aß und ließ mir jeden Bissen schmecken. Als ich gerade fertig war, hörte das Rollen auf.
„Es fühlt sich an, als würden wir in den Hafen einlaufen“, sagte Darcy.
Wir liefen durch das Schiff und kamen an mehreren Menschen vorbei, die sich auf Bänken oder Liegen ausgestreckt hatten und aussahen, als wären sie dem Tode nah. Manche stöhnten, als wir vorüberliefen. Am Boden war Erbrochenes zu sehen und der entsetzliche Geruch ließ mich mein Taschentuch herausholen und es mir an die Nase pressen, bis wir die frische Luft an Deck erreicht hatten. Es regnete immer noch. Eine steife Brise wehte, doch es war kein Sturm mehr. Im Gegenteil, der Wind fühlte sich frisch und anregend an und erinnerte mich an meine Kindheit in Schottland.
Am Ufer zogen pastellfarbene Reihenhäuser an uns vorüber und die Docks von Calais lagen direkt vor uns. Wir schlossen uns den Menschen an, die über die Gangway an Land strömten. Unser Gepäck wurde ausfindig gemacht und zum Zug gebracht, wo wir den Mittelgang entlangliefen und unsere Plätze suchten. Als wir unser Abteil erreichten, öffnete Darcy mir die Tür. Ehe ich eintreten konnte, kam ein Mann mit einem Filzhut auf uns zu, der den Kragen seines Regenmantels aufgestellt hatte.
„Entschuldigen Sie“, sagte er, als er sich an Darcy vorbeischob. „Ein schrecklicher Tag für eine Überfahrt, nicht wahr?“
„Nicht der beste“, entgegnete Darcy, „aber wir haben es überlebt, nicht wahr?“
Er trat zur Seite, um mich zuerst das Abteil betreten zu lassen. Da ich in meiner Vergangenheit selbst schon ein wenig Detektivarbeit geleistet hatte, spürte ich etwas: eine Schwingung zwischen Darcy und diesem Mann. So sehr sie sich höflich und distanziert gaben, ich hätte schwören können, dass sie einander kannten. War der Mann einer der Personen aus der Bar gewesen? Hinter uns in einer Ecke hatte sich ein einzelner Mann hinter einer Zeitung versteckt. Und dann versuchte ich, mich an etwas anderes zu erinnern: Hatte er Darcys Hand berührt und ihm möglicherweise etwas übergeben?
Ich warf meinem Ehemann einen fragenden Blick zu, doch er antwortete nur mit einem ermutigenden Lächeln.
„Ich kann es kaum fassen, wie gut du diese Überfahrt gemeistert hast“, sagte er. „Ich muss zugeben, dass mir auch ein wenig schlecht geworden ist, und ich habe normalerweise keine Probleme auf See. Auf diesem Schiff sah es aus wie in einem von Dantes Kreisen der Hölle, oder?“
„Es war ziemlich furchtbar, ja“, pflichtete ich ihm bei. „Tatsächlich habe ich …“ Ich verstummte überrascht und legte mir eine Hand auf den Bauch.
„Was ist los?“ Darcy wirkte sofort alarmiert. „Stimmt irgendetwas nicht?“
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Das Baby hat gerade getreten. Ich habe bislang nur ganz leichte Regungen gespürt, aber so etwas noch nicht. Hier. Leg deine Hand da hin.“ Ich nahm seine Hand und legte sie auf meinen Bauch. Das Baby kooperierte und trat noch einmal zielsicher zu. Darcy begegnete meinem Blick. Er sah geradezu ehrfürchtig aus.
„Das wird ein Rugbyspieler. Ich wusste es“, sagte Darcy und strahlte jetzt.
„Freu dich nicht zu früh“, ermahnte ich ihn. „Vielleicht wird es auch ein athletisches Mädchen.“
„Das wäre auch schön“, sagte er. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Oh, ich kann noch ein wenig warten. Ich möchte zuerst Paris genießen.“
„Ich hoffe, dass du dort eine schöne Zeit verbringen kannst“, sagte er. „Mach das Beste draus. Es könnte eine Weile dauern, bis wir wieder reisen können.“
Jemand blies eine Pfeife. Ein Ruck ging durch den Zug und wir verließen den Bahnhof.
„Darcy …“, setzte ich an, während die schmutzigen Gassen von Calais an uns vorbeizogen. „Deine geschäftliche Angelegenheit. Das wird doch nicht gefährlich, oder?“
„Mach dir keine Sorgen. Da ist alles unter Kontrolle“, sagte er.
Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte, doch es war die Einzige, die ich bekommen würde.
„Möchtest du für ein spätes Mittagessen in den Speisewagen gehen?“, fragte Darcy. „Oder war das Würstchen im Teigmantel genug? Ich nehme an, dass jemand mit Kaffee und Sandwiches vorbeikommen wird.“
„Ich habe immer noch großen Hunger“, sagte ich. „Lass uns etwas essen gehen.“
Eine Stunde später kehrten wir in unser Abteil zurück, nachdem wir die Wunder der französischen Küche genossen hatten – ein luftig lockeres Omelett für mich und ein blutiges Steak mit Pommes frites für Darcy, gefolgt von einem Maronenbaiser für mich und Käse für ihn. Ich malte mir einige glückliche Tage aus, mit Essen, das nicht von Queenie zubereitet worden war. Ich döste eine Weile und als ich wieder erwachte, hatte es aufgeklart. Die Sonne brach zwischen fröhlichen, weißen Wolken hindurch. Die flache, französische Landschaft breitete sich auf beiden Seiten des Zuges aus: eine Reihe von Pappeln entlang einer Straße, ein Gehöft mit braunen Fensterläden, von denen die Farbe abblätterte, und dicke cremefarbene Kühe, die auf einer Wiese grasten.
Dann kamen die Vororte von Paris und schließlich die Stadt selbst – die Eckcafés, die Fensterläden und die fremden Schriftzüge an den Wänden riefen mir ins Gedächtnis, dass ich mich in einem anderen Land befand. Auf einer Wand stand Dubo Dubon Dubonnet neben dem Bild einer Flasche. Ich schaute aus dem Fenster und hoffte, einen Blick auf den Eiffelturm zu erhaschen. Ich wurde belohnt, als wir über eine Eisenbahnbrücke fuhren. Da stand er; erhob sich in der Ferne über die anderen Gebäude. Plötzlich erfasste mich Begeisterung. Ich war in Paris. Ich würde bei Belinda wohnen, wir würden uns zusammen die Sehenswürdigkeiten anschauen und eine Menge Spaß haben, wie in den guten, alten Zeiten. Wir wurden langsamer, fuhren in den Gare du Nord ein und kamen sanft zum Stehen. Als die Tür des Waggons geöffnet wurde, brach eine Flut aus Geräuschen über uns herein; das Schnaufen und Zischen der Dampflock, Pfiffe, die Rufe der Gepäckträger. Darcy engagierte einen für uns und bald waren wir in ein Taxi umgestiegen und fuhren durch die Straßen der Stadt. Es war halb sechs und die Leute saßen bei einem Glas Wein draußen in den Straßencafés.
„Es wäre vermutlich gut, wenn du heute noch bei mir im Hotel schlafen würdest“, sagte Darcy. „Du musst erschöpft von der Reise sein. Am Morgen können wir dann zu Belinda gehen. Ist das in Ordnung?“
„Natürlich“, sagte ich. „Und du hast völlig recht. Belinda würde mich zweifellos gleich am ersten Abend in einen Nachtclub schleifen.“
Wir fuhren eine breite, gerade Prachtstraße entlang, die von diesen typischen Pariser Häusern aus gelbem Sandstein gesäumt war, mit schmiedeeisernen Balkonen und den typischen Fensterläden. Dann bogen wir in eine Seitenstraße ein und hielten vor einem unscheinbaren Gebäude.
„Hôtel Saville, Monsieur?“, fragte der Taxifahrer und klang etwas überrascht.
„Oui“, sagte Darcy und half mir beim Aussteigen.
Ich muss gestehen, dass ich auch ein wenig überrascht und auch enttäuscht war, wenn ich ehrlich bin. Ich hatte nicht erwartet, dass wir im Ritz übernachten würden, aber ich hatte damit gerechnet, dass Darcy in einem richtigen Hotel wohnen würde, nicht in einer Pension, erst recht, wenn jemand anderes die Rechnung beglich! Dieses Gebäude war wirklich im höchsten Maße unscheinbar. Nur eine Glastür mit dem Schriftzug Hôtel Saville darüber deutete überhaupt darauf hin, dass es eine Pension war. Ich stand auf dem Bürgersteig und nahm den Geruch der Gegend wahr – ein leicht unangenehmer Gestank aus dem Gully, ein Hauch der würzigen, französischen Zigaretten und ein etwas verlockenderer Geruch von bratendem Knoblauch.
„Das ist es?“, ich versuchte, nicht enttäusch zu klingen.
„Komm. Lass uns reingehen“, sagte Darcy, führte mich einige Stufen hinauf und dann durch die Eingangstür. Innen erwartete uns ein kleiner Empfangsbereich, recht sauber aber nicht nobel. Darcy ging zum Empfangstresen und unterhielt sich kurz mit der Frau in Schwarz dahinter. Darum tragen Französinnen immer Schwarz?, fragte ich mich. Es sieht einschüchternd aus.
„Et ma femme“, hörte ich ihn sagen. Und meine Gattin. Sie sah mich an und nickte.
„Bonjour, Madame“, sagte sie. Dann wünschte sie uns einen angenehmen Aufenthalt. Ich war verwirrt. Darcy hatte gesagt, dass ich bei Belinda wohnen würde, während er sich um seine geschäftlichen Angelegenheiten kümmerte. Jetzt hatte es so geklungen, als würde ich mit ihm zusammen hier unterkommen. Er nahm den Schlüssel entgegen, an dem ein großer Holzblock hing, was ich sehr unterhaltsam fand. Ich folgte ihm eine schmale Treppe hinauf und in ein Zimmer mit Blick auf die Straße. Auch dieser Raum war schlicht aber sauber. Darcy testete die Bettfedern, nickte und lächelte. „Das wird genügen, nehme ich an. Muss es wohl.“
Ich setzte mich auf das Bett. „Darcy, ich werde morgen zu Belinda gehen, richtig?“, fragte ich. „Denn was du gerade dieser Frau gesagt hast, klang so, als würde ich hierbleiben.“
„Ah, nun.“ Er wirkte ein wenig kleinlaut. „Es ist besser für alle Beteiligten, wenn man glaubt, dass ich hier einen kleinen Urlaub mit meiner Frau verbringe. Ich werde die Frau wissen lassen, dass du deine zahlreichen Freundinnen in Paris besuchst, während du hier bist.“
„Na gut“, sagte ich, fühlte mich aber immer noch ein wenig unbehaglich. Mir missfielen solche Täuschungsmanöver.
„Ich werde dich gleich am Morgen zu Belinda bringen.“
„Oh, ja, natürlich“, sagte ich. „Ist das weit von hier?“
„Nicht allzu weit, nein. Du müsstest nur dieser Prachtstraße folgen und die Seine überqueren, über die Île de la Cité. Ihre Wohnung sollte in der Nähe des Quai liegen. Wir werden morgen ein Taxi nehmen, aber es gibt sonst auch die Metro, wenn dir nicht nach Laufen zumute ist.“ Er hielt inne, blickte auf seine Uhr und sagte: „Warum legst du nicht eine Weile die Füße hoch? Ich werde rausgehen, mir eine Telefonzelle suchen und einen Anruf machen. Dann suchen wir uns fürs Abendessen ein Restaurant und genießen unsere erste Nacht in Paris, ja?“
Ich nickte, wartete, bis er gegangen war, und legte mich dann hin. Das Fenster stand einen Spaltbreit offen und ich konnte die Geräusche der Stadt hören – das Hupen der Autos, Rufe, Akkordeonklänge. Ich war zu aufgeregt, um zu schlafen. Stattdessen setzte ich mich an den Sessel am Fenster und schrieb in mein Tagebuch. Dann hörte ich eine vertraute Stimme. Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Darcy stand unten auf dem Bürgersteig und unterhielt sich mit einem Mann, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte. Er trug einen Filzhut und ähnelte dem Mann, der sich im Zug an uns vorbeigeschoben hatte. Auf jeden Fall sprachen die beiden Englisch. Ich versteckte mich hinter dem Vorhang und lehnte mich so weit hinaus, wie ich konnte. Sie unterhielten sich leise und waren schwer zu verstehen.
„Wird sie es tun?“, fragte der andere Mann.
„Ich habe sie noch nicht gefragt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie involvieren möchte“, antwortete Darcy.
„Es würde alles sehr viel einfacher machen. Sie können ihr vertrauen, oder nicht? Sie wird doch wohl nichts ausplaudern?“
„Natürlich kann ich ihr vertrauen. Es ist nur … nun, wir wissen nicht genug, oder? Man könnte sie beschatten. Ich will sie keiner Gefahr aussetzen.“
„Es geht um Leben und Tod“, sagte der andere Mann. „Ich dachte, wir wären uns einig, was den Plan angeht.“
Ein Pferdekarren ratterte vorbei und zur selben Zeit ein Bus. Ich lehnte mich noch weiter hinaus, um dem Gespräch weiter folgen zu können, verlor das Gleichgewicht und konnte nur verhindern, auf die Straße zu stürzen, indem ich mich an den Vorhang klammerte. Ich hörte ein bedrohliches Reißen, als ich mich wieder in Sicherheit zog. Zum Glück hielt der Vorhang. Ich musste wohl einen leisen Schrei ausgestoßen haben, da Darcy kurz nach oben schaute. Doch ich war schon wieder mit pochendem Herzen hinter dem Vorhang verschwunden.
Doch mit diesem dramatischen Moment waren mir einige Sätze der Unterhaltung entgangen. Ich hörte wieder bewusst zu, als der Mann sagte: „Und was soll ich dann Berlin melden?“
„Sie kommen erst nächste Woche an, richtig?“, fragte Darcy. „Wir haben also noch ein paar Tage.“
Der andere Mann antwortete etwas, das ich nicht hören konnte, da ein Transporter gerade einen Fußgänger auf Abwegen anhupte.
„Dann gewöhnen wir uns erst mal ein und machen dann die endgültigen Pläne.“
„Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig diese Sache ist“, sagte der Mann. „Wir treffen uns am Montag. Am üblichen Ort.“
Er hob seinen Hut zum Gruß und entfernte sich. Darcy blieb noch eine Weile stehen und blickte ihm hinterher, dann drehte er sich um und lief in die andere Richtung. Das alles war recht verstörend gewesen. Ich wusste nicht, wer die weibliche Person war, von der die beiden gesprochen hatten, und warum „man“ sie vielleicht beschatten würde. Wer war damit gemeint und warum ging es in der Angelegenheit um Leben und Tod? Und Berlin? Ein Angstschauer durchfuhr mich. Ich war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass mein Ehemann ein Spion war, doch ich hatte immer angenommen, dass er für die britische Regierung arbeitete. Was, wenn er für die andere Seite arbeitete? Was, wenn er bezahlt wurde, um Hitler zu helfen? Ich wusste, dass Darcy glaubte, er müsste seine Familie besser versorgen. Was, wenn er seine Dienste an den Höchstbietenden verkauft hatte? Mir wurde schlecht und ich ließ mich aufs Bett sinken. Ich wünschte, ich hätte nicht gelauscht. Ich konnte ihn auf keinen Fall zur Rede stellen. Für meinen Ehemann mochte das etwas Alltägliches sein, doch für mich war es sehr verstörend, zu wissen, dass er in eine Angelegenheit verwickelt war, bei der es um Leben und Tod ging.