Leseprobe Mörderische Tide

Prolog

Mit zitternder Hand gab Fenna Tütken einige Löffel der kräftigen Ostfriesen-Mischung in das Teesieb. Dunkle Knospen fielen neben die geblümte Porzellankanne, die ihr Sohn Heiko ihr vor Jahren geschenkt hatte. Der würzige Duft ließ sie einen Moment lang beinahe die schmerzende Arthrose vergessen. Während sie vor der Anrichte darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, driftete ihr Blick aus dem spaltbreit geöffneten Küchenfenster. Früher einmal war in der Ferne der Deich als grüner Streifen am Horizont auszumachen gewesen, aber mittlerweile verbargen etliche Neubauten die Sicht darauf. Sie atmete tief ein und genoss die salzhaltige Luft, die unverkennbar von der Nähe des Meeres kündete.

Das könnt ihr mir nicht nehmen, dachte sie und kämpfte gegen die leichte Melancholie an, die in ihr aufkam, weil sie die Teezeit ganz allein verbringen musste. Heiko würde erst morgen zu seinem wöchentlichen Anstandsbesuch vorbeikommen und fast alle weiteren Familienmitglieder und Freunde hatte das Leben ihr mit der Zeit genommen. In nicht allzu ferner Zukunft würde Gevatter Tod auch an ihre Tür klopfen. Mit ihren neunundachtzig Jahren hatte sie schließlich bereits ein stolzes Alter erreicht.

Nein, so durfte sie nicht denken, ermahnte sich Fenna. Immerhin war sie bis auf einige mehr oder weniger ausgeprägte Wehwehchen noch immer wohlauf. Ihr Hörvermögen ließ allerdings zu wünschen übrig. Sie trat näher zum Wasserkocher und drückte die Grifftaste. Als sich die Klappe öffnete, beugte sie sich hinunter und prüfte, ob das Wasser bereits kochte. Tatsächlich, sie konnte ihren Tee aufgießen. Wasserdampf benetzte ihre Brillengläser und trübte ihre Sicht. Stöhnend bog Fenna ihren schmerzenden Rücken durch und nahm ihre Brille von der Nase, die sie stets an einer Kette um den Hals trug, um sie am Saum ihrer Strickjacke abzuwischen.

In diesem Moment erklang das schrille Läuten der Türklingel, die Heiko ihr vor einigen Jahren auf die höchstmögliche Lautstärke eingestellt hatte. Überrascht griff sie nach ihrem Gehstock, den sie an die Anrichte gelehnt hatte, und tippelte aus der Küche in Richtung Tür. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Petrus, ihren Wellensittich, trällern, der die Stimme des Nachrichtensprechers im Fernsehen übertönte.

Wer konnte das denn sein? Sie erwartete niemanden. Bis auf Heiko und die Nachbarn, die sich ab und an nach ihrem Befinden erkundigten, kam selten jemand zu Besuch. Ob das wieder irgendeiner dieser Tunichtgute war, der ihr etwas andrehen wollte? Sie kaufte nichts! Das würde sie sofort klarstellen.

Vor der Haustür angekommen schob sie den Vorhang, der das schmale Glasfenster verdeckte, ein Stück zur Seite. Dabei fingerte sie nach ihrer Brille, die vor ihrer Brust baumelte. Als sie schemenhaft die weiße Kleidung ausmachte, die die Person vor der Tür trug, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie spürte, wie die Anspannung aus ihren müden Knochen wich. Am Morgen hatte sie in der Apotheke ihre Pillen kaufen wollen. »För dat Gemööd«, wie sie zu sagen pflegte. Zu ihrem Ärger waren sie allerdings nicht vorrätig gewesen. Früher hätte es das nicht gegeben, dachte sie. Dass man ihr die Medikamente direkt vor die Tür brachte. Erfreut drehte sie den Schlüssel im Schloss herum, riss die Haustür auf und begrüßte ihren Gast mit einem beherzten Moin.

»Moin«, kam es tonlos von ihrem Gegenüber zurück, der sogleich ins Haus trat und die Tür schloss. Überrascht über das entschlossene Eintreten stolperte Fenna einen Schritt zurück und bemühte sich hastig, ihre Brille aufzusetzen. Als ihr dies gelungen war, blinzelte sie mehrmals. Ihr Besuch erschien ihr recht groß und um einiges breiter als sie selbst.

»Brengen Se mi de Pill…«

Die Hände ihres Gegenübers schnellten hervor und packten ihre Gurgel. Bevor sie reagieren konnte, war er bereits hinter sie getreten. Fennas Gehstock glitt ihr aus der Hand und polterte auf die Flurfliesen. Panik flammte in ihr auf, als sie spürte, wie sich die Brillenkette schmerzhaft in ihren Hals grub und ihr die Luft raubte. Sie röchelte, fasste mit ihren Händen an die Kette, rang verzweifelt nach Atem, doch die Kettenglieder schnitten mit solcher Kraft in ihre Haut, dass ihre Kehle zugeschnürt wurde. Ruckartig wurde sie jetzt nach hinten gerissen, ihre Füße verloren die Bodenhaftung. Verzweifelt trat sie um sich und versuchte, sich zu befreien.

Gevatter Tod war schneller gekommen als erwartet, dachte Fenna noch, bevor sie ihr Bewusstsein endgültig verlor. Und er hatte nicht geklopft.

1

Kriminalhauptkommissar Robert Strater biss beherzt in sein Nutella-Brot und gab ein verzücktes Grummeln von sich, als sich der schokoladig-nussige Geschmack auf seinem Gaumen entfaltete. Noch nicht einmal die grässlichen schwarz-weißen Kacheln der ultramodernen Küche, die seine Frau im skandinavischen Stil eingerichtet hatte, konnten diesen Augenblick zerstören.

»Ahhhh!«, gab er von sich und überflog die Schlagzeilen der vor ihm ausgebreiteten Tageszeitung, als das Klackern der Schuhabsätze auf den Flurfliesen seine Morgenruhe jäh unterbrach.

»Morgen«, sagte Saskia knapp im Vorbeigehen als sich ihre Blicke für einen Sekundenbruchteil begegneten. Er erwiderte den Gruß ähnlich enthusiastisch und trank einen Schluck Kaffee, der in Kombination mit dem Zucker aus der Nuss-Nugat-Creme langsam etwas Energie in seinen müden Körper pumpte.

»Dass du nicht irgendwann mal genug von diesem ungesunden Zeug hast.« Saskia hantierte auf der Anrichte herum und sah missbilligend auf seinen Frühstücksteller. Sie rümpfte die Nase, die in ihrem zarten Gesicht seltsam deplatziert, ja beinahe plump wirkte, biss sich auf die Lippen und schüttelte kaum merklich den Kopf. Instinktiv versuchte er, seine Konzentration wieder auf die Zeitung zu richten, aber da war dieser kleine Funken Ärger, der ihn davon abhielt. Nach rund zwanzig Jahren Ehe kannte er seine Frau gut genug, um ihre Mimik so zu interpretieren, dass sie sich gerade eine Bemerkung über sein Übergewicht verkniffen hatte. Betont langsam faltete er die Zeitung zusammen und blickte zu ihr auf. »Ich esse schon seit über vierzig Jahren morgens ein Nutella-Brot, wie du weißt, und sehe nicht ein, warum ich das ändern sollte.« Er ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen. Sie trug einen auffällig kurzen schwarzen Bleistiftrock, der ihre trainierten Beine zur Geltung brachte. Die obersten Knöpfe ihrer enganliegenden weißen Bluse gaben den Blick auf ihr Dekolleté frei.

»So adrett zurechtgemacht?«, fragte er mehr, um das Thema zu wechseln, als aus Interesse.

Resignation war wohl das treffende Wort, das beschrieb, was er mittlerweile in Gegenwart seiner Frau empfand. Saskia war nie die klassische Schönheit gewesen, die irgendeiner Beauty-Zeitschrift entsprungen zu sein schien. Sie war besonders und individuell. Ihre schulterlangen kastanienfarbenen Haare, die offensichtlich frisch geschnitten waren, wie er gedanklich hinzufügte, rahmten ihr gebräuntes Gesicht mit den ausdrucksstarken braunen Augen ein, die ihn auf Anhieb in ihren Bann gezogen hatten. Seine Ehefrau hatte sich mit ihren fünfundvierzig Jahren hervorragend gehalten. Doch die Sportprogramme und Friseurbesuche, die gesunde Ernährung und die exklusiven Beauty-Treatments, von denen Robert zuvor noch nie gehört hatte, waren alle nicht für ihn bestimmt und das hatte ihn, als er zu dieser Gewissheit gelangt war, wie ein Peitschenhieb getroffen.

»Ich habe später einige Außentermine. Ich weiß noch nicht, wann ich heute Abend zurückkomme.« Saskia nahm sich einen Apfel aus dem Obstkorb und schnitt ihn auf einem Teller in mundgerechte Stücke.

Robert blickte auf die dick mit Nutella und Butter beschmierte Brotscheibe. Der Appetit war ihm vergangen. Doch wie zum Trotz stopfte er sich die ganze Scheibe in den Mund und versuchte zu kauen. Saskias Blick ignorierte er. Ja, es war feige. Er könnte sie einfach fragen, ob sie einen anderen hatte. Oder ob sie die Scheidung wollte. Aber irgendwas hinderte ihn daran. Fürchtete er sich vor der Bestätigung? Obwohl es seit einer Weile nicht mehr richtig rund lief zwischen ihnen – das gestand er sich durchaus ein – empfand er doch noch einiges für sie. Saskia lebte ihr eigenes Leben und er war froh, dass er nach seinem Zusammenbruch vor einem Jahr, als er noch in Hamburg tätig gewesen war, seine tägliche Arbeit auf die Reihe bekam. Falls sie mit einer Scheidung liebäugelte, hatte sie davon zumindest noch nichts anklingen lassen. Insgeheim wiegte er sich in der trügerischen Sicherheit, dass Saskia ihr Ruf mehr bedeutete, als ihre Freiheit. Außerdem profitierte sie von den Steuervergünstigungen ihrer Ehe. Sie würde es niemals zugeben, aber Robert wusste, dass Saskia, in Bezug auf Geldangelegenheiten, moralische Aspekte über Bord warf.

Er beobachtete, wie sie ein Glas aus dem Hängeschrank nahm, vor den Kühlschrank trat und die Tür aufzog. Einen winzigen Moment blieb sein Blick an ihrem Hintern haften, als sie sich hinunterbückte, um hineinzusehen, dann hörte er, wie sie einen schrillen Schrei ausstieß und abrupt nach hinten wich. Das Glas fiel ihr aus der Hand und zersprang klirrend auf dem Parkettboden.

»Was zum Teufel ist das?« Ihr Kopf ruckte zu ihm herum und er las Entsetzen in ihren Augen. Robert schob den Stuhl zurück, der daraufhin lautstark über den Boden schabte, und sprang auf sie zu. »Was ist denn los?«

Saskia funkelte ihn wütend an, machte einen Schritt zur Seite und deutete in den Kühlschrank hinein. Aus der Ablage über dem Gemüsefach starrte ihn Shredder treudoof aus seinen runden schwarzen Augen an. Shredder, so hatte Christoph, ihr mittlerweile flügge gewordener Sohn, die rund zwanzig Zentimeter große Gelbwangen-Schmuckschildkröte in Anlehnung an den Erzfeind der Ninja-Turtles genannt, als er das Tier zu seinem achten Geburtstag von Opa Karl geschenkt bekommen hatte. Robert war insgeheim froh gewesen, dass sein Sohn schon immer eine Vorliebe für die Antihelden und Gegenspieler gehabt hatte – da war er sich treu geblieben. Donatello oder Raphael hätte er das Reptil sicher nicht genannt.

Belustigt blickte Strater auf die Rucola-Blätter, die an Shredders Panzer hingen und schaute zu, wie dessen zahnloses, joghurtverschmiertes Maul emsig auf- und zuklappte. Offenbar hatte er die zur Hälfte mit Wasser und etwas Eichenlaub befüllte Kunststoff-Box nicht richtig verschlossen, in die er Shredder zum Überwintern gelegt hatte. Stattdessen hatte das Tier Saskias Salat erkundet und sich seinen angebrochenen Vanille-Joghurt schmecken lassen. Der Becher war umgekippt und der restliche Joghurt bildete eine Lache auf dem Ablagefach.

»Was grinst du denn so blöd?«, fuhr Saskia ihn an. »Was macht das Vieh im Kühlschrank?«

»Du weißt doch, dass man sie nicht im Gartenteich überwintern lassen soll«, sagte er und unterdrückte sein Grinsen. »Mitunter wird es nämlich jetzt schon frostig nachts.«

»Na und?« Saskia stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn entgeistert an. »Dann besorg einen anderen Kühlschrank oder bau endlich das Terrarium im Keller auf.«

»Paludarium.«

»Was

»Es ist ein Paludarium, kein Terrarium.«

»Das ist mir scheißegal, Robert. Kümmere dich darum und nimm das Tier aus dem Kühlschrank.« Sie schien um Fassung zu ringen und schüttelte entgeistert den Kopf. »Irgendwie kriegst du seit einiger Zeit gar nichts mehr auf die Reihe. Ich hab dich jetzt auch schon bereits zwei Mal darauf hingewiesen, dass du nach meinem Auto sehen musst, weil der Motor so komische Geräusche macht.«

»Wieso fährst du nicht einfach mal bei der Werkstatt vorbei?«

»Weil ich keine Ahnung von Autos habe und die mir wahrscheinlich irgendwelche Reparaturen berechnen, die gar nicht nötig sind.«

Da war sie wieder! Diese knauserige Art, die ihn jedes Mal aufs Neue fuchsig machte. Nach ihrem Umzug nach Norddeich verdiente sie als Immobilienmaklerin noch besser als vorher, aber sie war schlicht zu geizig ihr schniekes BMW 4er Coupé in die Werkstatt zu fahren.

»Wozu habe ich denn einen Mann im Haus, wenn …«

Und da … das Naserümpfen, gefolgt von dem kurzen Biss auf die Unterlippe und dem Abwenden des Blickes.

»Wenn was

»Wenn wir ansonsten schon wie Brüderlein und Schwesterlein zusammenleben, Robert.«

Sie bedachte ihn mit einem hochmütigen, geradezu provokanten Blick. Er spürte einen Stich im Herzen. Sie hatten versucht, ihr Eheleben wieder zu beflügeln, aber die Medikamente, die er nach seinem Zusammenbruch hatte nehmen müssen, hatten seine Libido eine Zeit lang beeinträchtigt. Später dann war sie es gewesen, die jegliche Annäherungsversuche seinerseits mit teilweise fadenscheinigen Ausreden abgeblockt hatte.

»Egal, ich muss jetzt arbeiten.« Sie hob die Hände, als wolle sie mit ihm und dem Chaos auf dem Boden nichts zu tun haben und stapfte aus der Küche.

Robert nahm den kleinen Wicht aus dem Kühlschrank und trug ihn zur Anrichte. Scherben knirschten unter seinen Schuhsohlen. Er hielt das Tier mit der Linken im Untergriff, dabei ruderte es mit den Vorder- und Hinterbeinen, als würde es Trockenübungen im Schwimmen machen. Mit der freien Hand riss Robert ein Blatt Küchenpapier von einem Wandrollenhalter und tupfte den Joghurt von den gelb gestreiften Wangen der Schildkröte, denen sie ihre Bezeichnung verdankte. »Schmeckt fein der Joghurt, ne? So ein feiner Joghurt, was Shredder?«

Das Telefon klingelte, also legte er Shredder kurzerhand ins Spülbecken und stapfte entnervt in die Diele. Die aufgeregte Stimme von Kriminalkommissar Enno Brunsen drang dumpf in sein Ohr. Sein junger Kollege faselte irgendwas von einer Leiche.

2

Auf der kurzen Strecke nach Norddeich, die er in seinem silbergrauen Audi A6 C8 zurücklegte, versuchte Robert Strater angestrengt, sich nicht über seine Frau zu ärgern. Weitläufige grüne Wiesen zogen an ihm vorüber, auf denen Kühe grasten und sich Windräder wie eine Armee riesiger extraterrestrischer Maschinen aneinanderreihten. Der grenzenlos erscheinende Ausblick ließ Robert unwillkürlich tief durchatmen und der Unmut über Saskia verebbte langsam und wich Gedanken über die vor ihm liegende Aufgabe. Enno hatte von einer schlimm zugerichteten Toten geredet und Robert war gespannt, was ihn erwartete. Anders als die Krimi-Abteilungen der Buchhandlungen vermuten ließen, war Ostfriesland eigentlich kein Hotspot von Kapitalverbrechen und er konnte die Leichen, mit denen er es seit seiner Versetzung nach Norden zu tun gehabt hatte, problemlos an einer Hand abzählen. Hamburg war ein weitaus schlimmeres Pflaster gewesen, dort hatten Tote zu seinem Arbeitsalltag gehört.

Als schlimmste Erinnerung an der Küste geisterte die niedergestochene Angestellte eines Juweliergeschäfts durch seinen Kopf, die Opfer eines Raubüberfalls geworden und später im Krankenhaus ihren Bauchverletzungen erlegen war. Mithilfe der von den Überwachungskameras aufgezeichneten Bilder hatten Robert und sein Team den Mörder, einen ortsansässigen Junkie, nur wenige Stunden später aufgespürt und verhaftet.

Kurz hinter dem Ortsschild des staatlich anerkannten Nordseebads Norddeich, das gerade einmal wenig mehr als tausend Einwohner zählte, dirigierte die monotone Stimme des Navigationsgeräts Strater in ein Wohngebiet. Ein Stück voraus zuckte bereits das Blaulicht zweier Polizeifahrzeuge, von denen eines quer auf der schmalen Straße angehalten hatte. Strater parkte am Wegesrand neben einer mannshohen Hecke und stieg in dem Moment aus, als Enno Brunsen durch ein hüfthohes, grün lackiertes Gartentor trat und ihn energisch zu sich winkte. Sein junger Kollege, der mit seinen blonden Haaren und blauen Augen der Vorstellung eines waschechten Ostfriesen entsprach und wie immer direkt aus einem Modemagazin entsprungen zu sein schien, war für Roberts Geschmack mit seinem ganzen Gehabe eine Spur zu übertrieben. Er redete zu viel, gestikulierte zu theatralisch und lachte zu laut.

Obwohl es bereits Mitte Oktober war, herrschte eine spätsommerliche Wärme und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel. Strater schwitzte in seinem abgetragenen Mantel. Immerhin spendete eine frische Brise etwas Abkühlung, die die Gerüche nach Salz, Algen und Fisch mit sich trug.

»Sieh dir das an, Robert. Wer macht denn so etwas? Die arme alte Dame, Gott habe sie selig. Wenn ich mir vorstellen würde, dass das meine Mutter oder Oma wäre …«

Brunsen trug heute ein hellgrünes Sakko und eine dazu passende Hose. Strater fragte sich, wie groß sein Kleiderschrank war, denn das Repertoire seiner Outfits schien endlos zu sein.

Vorbei an gepflegten Rasenstücken folgte der Kommissar seinem Kollegen über einen kurzen Pflasterweg zu dem kleinen Einfamilienhaus, das wie die meisten älteren Gebäude im Ort aus rotem Backstein errichtet worden war. Vor der Haustür stand ein junger Streifenpolizist mit verdrießlicher Miene und nickte dem Kommissar leicht zu, der die Geste erwiderte.

»Schuhüberzieher und Handschuhe habe ich hier.« Brunsen hielt Strater die Sachen hin.

»Hast du schon die Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin verständigt?«, fragte Strater und zog sie sich über.

»Ich wollte nicht vorgreifen.«

»Mach das jetzt sofort und kümmere dich auch darum, dass die Nachbarn befragt werden. Wo ist die Tote?« Strater drückte die Haustür auf und ging hinein.

»Nicht zu verfehlen«, sagte Brunsen in seinem Rücken, aber da sah der Kommissar sie schon. Die alte Frau lag rücklings auf den hellen Fliesen des spärlich eingerichteten Flurs, das linke Bein ausgestreckt, das rechte leicht angewinkelt. Ihr bauschiger burgunderfarbener Rock war ein Stück hochgerutscht, die transparente Strumpfhose offenbarte dünne Beine. Die weit aufgerissenen Augen der alten Frau blickten starr an die Decke und ihr Mund war wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Am Entsetzlichsten fand Strater das dunkelviolette Strangulationsmal, das sich in ihren faltigen Hals eingebrannt hatte.

Wahrscheinlich war sie mit der Brillenkette erwürgt worden, die um ihren Hals hing. Strater verzog das Gesicht, als der penetrante süßliche Leichengeruch seine Nase flutete und sich Betroffenheit in ihm breitmachte. Mit ihren weißen Locken und der zierlichen Figur erinnerte ihn die alte Frau an seine Schwiegermutter, mit der ihn ein ausgesprochen herzliches Verhältnis verband. Jemand hatte diese Frau brutal aus dem Leben gerissen. Die Endgültigkeit des Todes vertrieb jäh das in ihm wuchernde Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, die Saskia als Lethargie bezeichnete, und jagte einen Adrenalinrausch durch seinen Körper. Die starke Empfindung fühlte sich seltsam fremd an.

»Warum macht jemand so etwas?«, fragte Enno Brunsen, der hinter ihn getreten war. »Der Täter muss die arme Frau mit brutaler Härte …«

»Ich seh’s, Brunsen. Was haben wir so weit?«

»Die Tote heißt Fenna Tütken, ist neunundachtzig Jahre alt und alleinlebend. Ihr Sohn Heiko hat sie heute Morgen um kurz nach halb acht gefunden.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er sitzt mit der Kollegin draußen auf der Terrasse.« Brunsen hatte sich neben Strater gestellt, fuchtelte mit dem Zeigefinger vor dessen Gesicht herum und deutete auf das gegenüberliegende Ende des Flurs, wo eine Tür halb offen stand. Vorsichtig bahnte sich Strater einen Weg an der Leiche vorbei, registrierte beiläufig den Gehstock, den die alte Frau fallengelassen haben musste, und warf einen Blick in eine zweckmäßig eingerichtete Küche. Gegenüber befand sich das Wohnzimmer, das mit Möbeln, Dekorationsgegenständen und allerlei Nippes überladen war. Im Türrahmen stehend erschrak Strater, als er plötzlich ein lautstarkes Zetern über sich vernahm. Unwillkürlich hob er den Kopf und erblickte einen gelbgrünen Wellensittich, der auf der Tür tippelte. »Sorg dafür, dass der Vogel in seinen Käfig kommt und stell in Gottes Namen die Heizung aus, hier drin ist es warm wie in einem Gewächshaus und dazu noch der Gestank …«

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Strater durch die Tür am Ende des Flurs und durchschritt eine kleine Waschküche, um auf die Terrasse zu gelangen. Dort saßen ein weißhaariger Mann Mitte sechzig mit Schnauzbart und eine junge Polizistin, die die blonden Haare unter ihrer Uniformmütze zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, nebeneinander auf einer Gartenbank. Strater grüßte und wandte sich dem Mann zu. »Heiko Tütken? Mein herzliches Beileid.«

Er stellte sich vor und hielt dem Mann die Hand hin, die dieser ergriff und drückte. Obwohl er kräftig gebaut war, fiel der Händedruck eher schlaff aus. Seine leidgeplagte Miene ließ vermuten, dass ihm der Tod seiner Mutter sehr naheging. Strater zog sich einen Stuhl heran und nahm den beiden gegenüber Platz. Vögel zwitscherten in dem grünen Garten, in dem Rhododendren und Blumen bunte Farbakzente setzten. Das idyllische Ambiente bildete einen starken Gegenpart zum Anlass ihrer Zusammenkunft.

Strater räusperte sich und fragte: »Wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesprochen und gefunden?«

»Gefunden habe ich Sie heute Morgen gegen halb acht. Ich komme meist donnerstags zum Frühstück vorbei. Ich begreife es nicht, das kann doch alles nicht wahr sein. Gestern Nachmittag haben wir noch miteinander telefoniert.«

Der Mann, der einen tannengrünen Pullover mit Kragen trug, vergrub sein Gesicht hinter seinen fleischigen Händen und schüttelte den Kopf. Die Polizistin sah ihn mitfühlend an und legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter.

»Ist Ihnen in der Wohnung etwas aufgefallen oder haben Sie selbst etwas verändert?«

»Ich dachte zuerst, Mama wäre gestürzt und wollte sie wiederbeleben. Aber als ich sie genauer angeschaut habe, war es mir sofort klar und ich bin zurückgewichen. Den Anblick werde ich nie wieder los. Wer ist zu so etwas fähig? Ich bin eine Weile planlos herumgelaufen, bevor ich Sie verständigt habe, aber verändert habe ich nichts. Nur den plärrenden Fernseher habe ich ausgestellt.«

»Gab es Menschen, die Ihrer Mutter nicht wohlgesonnen waren?«

Heiko Tütken nahm die Hände vom Gesicht und sah Strater an, als hätte dieser den Verstand verloren. »Mama ist … war eine liebenswürdige alte Frau, sie wollte keinem was Schlechtes und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr das angetan hat.«

»Sie hatten ein enges Verhältnis zu Ihrer Mutter?«

»Wir waren ein Herz und eine Seele. Früher hatten wir auch mal unsere Probleme, aber in den letzten Jahren war das Verhältnis innig.«

Strater nickte verständnisvoll. »Ich würde Sie bitten, sich noch für weitere Fragen bereitzuhalten und später, wenn die Kollegen so weit fertig sind, zu schauen, ob in der Wohnung Ihrer Mutter irgendetwas fehlt.«

»Lebt Ihre Mutter noch, Herr Kommissar?«, fragte Heiko Tütken, als Strater gerade aufgestanden war.

»Ja«, antwortete er knapp.

»Egal wie alt man ist, es ist immer hart die Mutter zu verlieren. Aber es wäre etwas anderes, wenn sie friedlich eingeschlafen wäre anstatt diese … Hinrichtung.« Tränen schimmerten in den Augenwinkeln des Mannes.

»Ich werde alles tun, um den Mörder zu finden«, versprach Strater und meinte es auch so. Er umrundete das Haus durch den gepflegten Garten und nahm für einen Moment die trügerisch friedliche Atmosphäre in sich auf.

Drinnen herrschte inzwischen emsige Betriebsamkeit, die Kollegen von der Kriminaltechnik, die in ihren weißen Schutzanzügen wie Astronauten anmuteten, waren eingetroffen. Einer von ihnen fotografierte die Leiche aus verschiedenen Blickwinkeln. Über dieser kniete gerade Doktor Paula Rosenfeldt, die Gerichtsmedizinerin, die ebenfalls einen Schutzanzug trug. Als sie Straters Blick auffing, stand sie auf und kam aus dem Haus. Sie streifte die Kapuze des Schutzanzugs ab, woraufhin eine freche silbergraue Pagenfrisur und freundliche grüne Augen zum Vorschein kamen, und nahm ihre medizinische Maske ab. »Moin. Kein schöner Anblick.«

Sie waren sich erst wenige Male begegnet und Strater hatte die Gerichtsmedizinerin, die er auf um die sechzig schätzte, als kompetente, sachliche Frau kennengelernt. »In der Tat. Haben Sie schon etwas für mich?«

»Nach dem Zustand der Leiche, genauer gesagt den Indizien des Henßge-Nomogramms, sowie der Ausprägung der Leichenflecken und der Leichenstarre, liegt der Tod schätzungsweise vierzehn bis sechzehn Stunden zurück. Tatzeitpunkt wäre also …« Dr. Rosenfeldt streifte den weißen Ärmel des Schutzanzugs an ihrem linken Handgelenk hoch und schaute auf ihre filigrane Armbanduhr, »… zwischen sechzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr dreißig gestern Abend. Todesursache ist Erdrosseln, vermutlich mit der Brillenkette, was zu einer Komprimierung der Venen, Arterien und Atemwege und letztlich zum Atemstillstand führte. Genaueres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen.« Doktor Rosenfeldt lächelte entschuldigend und ließ ihren Goldzahn aufblitzen.

»Vielen Dank fürs Erste, damit kann ich arbeiten.« Wieder spürte Strater das Adrenalin durch seinen Körper rauschen, das ihm im direkten Angesicht des Todes eine ungewohnte Lebendigkeit verlieh. Er streckte seinen Rücken durch und nickte der Pathologin entschlossen zu. Er war bereit.

3

»Scheiße! Fuck!«, drang es, gedämpft durch den ohrenbetäubenden Double Bass, von dem mit schwarzem Kunstleder überzogenen Monstrum auf Chrom-Beinen, das in der hinteren rechten Ecke vor dem Fenster stand und ihn dumpf an einen Gynäkologenstuhl erinnerte. Eine der Stimmen gehörte offenbar zu dem bärtigen Mann, der seinen massigen, bis zum Halsansatz tätowierten Oberkörper dazwischen quetschte. Vor dem Stuhl, auf einem schmalen Hocker, saß eine zierliche Gestalt, die soeben aufsprang und Strater mit wild funkelnden Augen förmlich an die Eingangstür nagelte.

Die Musik wurde abgestellt. Straters Blick fiel auf den Holzpfeiler in der Mitte des Raums, der an einen Schiffsmast erinnerte. Darunter war mit Stoff und Seilen eine Art Krähennest befestigt, auf dem Boden davor stapelten sich kleine Holzkisten. Auf einer davon waren bunte Farbtuben arrangiert. Dahinter befand sich eine Liege, die offenbar ebenfalls zum Tätowieren genutzt wurde.

»Lesen müsste man können, was? Alter, ich hab ne Session! Nicht stören! steht auf dem Schild da draußen!« Die letzten beiden Worte spie die Frau ihm ins Gesicht und untermauerte deren Bedeutung mit einer wilden Geste ihrer kleinen Hände. »Ich mach hier keine Sterne«, stellte sie noch klar, bevor sie sich wieder zu dem Bärtigen umdrehte, ein knappes »Sorry, Mann« nuschelte und das Surren ihrer Tätowiermaschine wieder den Raum erfüllte.

Perplex stand Strater in dem geräumigen Zimmer und versuchte, die rüde Begrüßung zu verdauen.

»Mach ma die Mucke wieder an«, sagte die Tätowiererin.

Augenblicklich erfüllte brachiale Death Metal Musik den Raum, die Strater augenblicklich Schweißperlen auf die Stirn trieb.

Was ist denn das für eine? Einen Moment lang überlegte er, zu gehen, doch dann schoss das Blut in seinen Kopf. So nicht!

Er stapfte über den dunklen Laminat im Schiffsplankenstil, der ihm, zusammen mit den dicken Seilen, den riesigen Holzfässern, dem Rettungsring und diversen weiteren maritimen Einrichtungsgegenständen, das Gefühl vermittelte, sich auf einem Piratenschiff zu befinden – ein Eindruck, der sich bei einem Seitenblick auf die Tür zu seiner Linken noch verstärkte: Diese zeigte ein beängstigend realistisches Bild von einem halb durchbrochenen Schiffskorpus, durch den von außen, zwischen zwei Kanonenrohren, schwarzblaues Meerwasser hinein schwappte. An der Wand neben der Tür, an der ein Abtritt-Schild baumelte, prangte unter den Klingen zweier Entermesser eine schwarze Piratenflagge, deren Totenkopf von Tätowiermaschinen anstelle von Knochen durchkreuzt wurde. Darunter stand in weißen Lettern Kante’s Stechkogge. Rechts daneben befand sich eine Schrankreihe, hinter deren Glasscheiben allerlei Farbtuben, Fläschchen mit Desinfektionsmitteln, Salbentuben, sterile Nadeln, Packungen mit Einweghandschuhen und rollenweise medizinisches Klebeband zu sehen waren. Sein Blick fiel auf ein Schild, das auf einen Verhaltenskodex »an Bord« hinwies. Darüber erkannte Strater ungläubig eine Neunschwänzige, ein Bestrafungsinstrument, das aus neun an einem Griff befestigten Lederstriemen bestand und der Auspeitschung auf hoher See diente. Als kleiner Junge hatten es ihm die Schauergeschichten von raubeinigen Piraten besonders angetan – aber jetzt war keine Zeit für Kindergartenspielchen.

»Polizei!«, donnerte seine Stimme durch das gutturale Gegrunze aus den Boxen.

Augenblicklich wurde die Musik ausgeschaltet. Einen Herzschlag später verstummte auch das Sirren der Tätowiermaschine.

Strater blieb in der Mitte des Raums stehen und zückte seinen Dienstausweis.

»Alter, steck’ dir mal eine an«, zischte die Frau in Richtung des Bärtigen, der sich daraufhin, ohne zu widersprechen erhob. »Nein, warte!« Sie nahm eine Tube von dem kleinen Beistelltisch neben ihrem Hocker und cremte dem Mann mit behandschuhten Fingern den Unterarm ein, den sie anschließend mit Klarsichtfolie straff umwickelte. Trotz seiner Wut beobachtete Strater gebannt, wie sie mit flinken Fingern ein Stück blaues Klebeband abriss und damit die Folie befestigte. »Hau jetzt ab, Mann. Wir machen den Rest morgen früh. Komm direkt um neun rüber.«

Damit wandte sie sich von dem Typen ab, der sich aus dem Stuhl zwängte und bemühte, sein T-Shirt überzustülpen, und musterte Strater mit verschränkten Armen.

Obwohl die Frau ihm höchstens bis zur Brust reichte, ging eine Autorität von ihr aus, die ihn einen winzigen Augenblick lang zögern ließ. Ihre dunklen, beinahe schwarzen Augen schienen seine zu durchbohren, aber er hielt ihrem Blick stand.

»Ist alles angemeldet. Ihr könnt mir gar nichts«, schossen ihm ihre Worte entgegen. In ihrem Rücken klingelte es, als die Tür hinter dem Bärtigen zufiel.

Mit einer beiläufigen Geste schob sie sich eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht hinter das Ohr und Strater verkniff sich ein Grinsen. Einen kleinen Moment kostete er den Augenblick des Triumphs noch aus, die Verunsicherung, die sein Erscheinen offensichtlich in ihr ausgelöst hatte. Mit leisem Erstaunen registrierte er, dass seine Wut wie eine sanfte Woge einfach abgeebbt war.

»Ich komme nicht wegen des Studios«, sagte er schließlich mit ruhiger Stimme. Aus der Innentasche seiner Jacke zog er etwas umständlich den Zettel mit der Zeichnung und schob ihn der Frau entgegen. Darauf war ein kleines Tattoo-Motiv zu sehen, das vage an ein verschnörkeltes Rad erinnerte. Am Morgen hatten sie einen Zeitungsausträger aufgespürt, der zur vermeintlichen Tatzeit jemanden von Fenna Tütkens Grundstück hatte kommen sehen – allerdings nur kurz und nur von hinten. Er hatte die Person, die er für eine Frau gehalten hatte, als groß, mit breiten Schultern, hochgesteckten Haaren und einer Kopfbedeckung beschrieben. Auf ihrem Nacken war ihm allerdings rechts eine Tätowierung ins Auge gesprungen, die Strater ihn hatte aufzeichnen lassen.

Reglos blickte die Tätowiererin auf das Blatt zwischen seinen Fingern. »Was ist das?«

Strater drückte ihr den Zettel in die Hand und beobachtete, wie sie diesen betrachtete.

»Was soll ich damit?« Sie blickte auf und runzelte die Stirn. »Willst, dass ich dir ne Kinderzeichnung stech’? Dass du mal wieder zum Zug kommst bei deiner Alten, oder was?«

Strater warf ihr einen finsteren Blick zu, der sie augenblicklich zum Schweigen brachte. »Was ist das für ein Motiv und wer sticht so etwas?«, fragte er scharf.

Augenscheinlich widerwillig blickte sie erneut auf die Zeichnung hinunter. Als Strater das krakelige Bild zwischen ihren behandschuhten Fingern jetzt selbst noch einmal betrachtete, musste er unwillkürlich grinsen. Der Vergleich mit der Kinderzeichnung war nicht weit hergeholt.

»Was lachste so blöd?«, schoss es aus dem Mund der Tätowiererin, die sofort ein entschuldigendes »Sorry, Alter« hinzufügte. »Keine Ahnung«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ich hab echt keine Ahnung, wer so eine Scheiße tätowieren würde.« Sie zog ihre Handschuhe aus und warf sie in einen Mülleimer, der hinter ihr an der Wand stand. Dann lief sie zu einem Tresen hinüber, der sich gegenüber der Eingangstür befand, und verschwand dahinter. Als sie wieder auftauchte, fügte sie hinzu: »Ich jedenfalls nicht. Schau mal.«

Strater machte ein paar Schritte auf den Tresen zu und blieb auf der anderen Seite stehen. Sie streckte ihm mehrere Blätter entgegen, die Skizzen unterschiedlicher Motive zeigten. Er schaute die Zeichnungen durch. Die feinen Linien und zarten Schraffierungen zeugten von einer Präzision, die ihn beeindruckte. Anerkennend nickte er.

»Ich mach eigentlich fast alles. Außer Sterne.« Sie verdrehte verächtlich ihre Augen und fügte hinzu: »Die meisten wollen maritime Motive. Klar. Kante’s Stechkogge und die ganze Aufmachung hier.« Sie deutete vage in Richtung des Raums. »Kommen auch viele Touris. Guck’ mal.« Sie zeigte auf eines der Zeichenpapiere, die an der Wand rechts neben dem Tresen hingen und eine Reihe unterschiedlicher Seemannsmotive darstellten. »Anker.« Sie kicherte. »Oder anderes Old School-Zeug eben. Ich hab schon einen Haufen Stammkunden, die wollen aber meist Free Hand. Is’ meine Spezialität, kannste so sagen. Meist düster, Totenköpfe mit Tintenfischbeinen, Oktopusse mit Klingen an den Tentakeln, verstümmelte Wasserleichen und so sickes Zeug. Maritimes eben.« Sie grinste. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Aber gerade im Sommer sind es meist Touris. Die wollen ihre Alte beeindrucken und kommen mir mit ihrem Scheiß an.« Sie lachte laut auf. »Aber Sterne und Schmetterlinge, so was mach ich echt nicht. Dann zeig ich eben die Premades hier, meine Ankerkollektion, klar die wandel’ ich immer ein bisschen ab, soll ja jeder ein Unikat haben, oder Rosen und den ganzen Old School Kram. Das mach ich schon.«

»Also?« Strater blickte kurz auf seine Uhr. Es war mittlerweile kurz vor sechzehn Uhr und er hatte sich vorgenommen, das Paludarium noch aufzubauen, um es sich mit Saskia nicht vollends zu verscherzen. Bei dem Gedanken an ihr Gesicht, als Shredder sie mit joghurtverschmierter Schnauze aus dem Kühlschrank angestarrt hatte, entfuhr ihm ein gehässiges Grinsen. »Wer würde denn so ein Tattoo stechen? Sie kann ich ja offenbar schon mal ausschließen.«

Die Frau war im Begriff zu antworten, schien es sich dann aber anders zu überlegen und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. »Von mir erfährste nix.«

Da war er wieder! Der latente Ärger in seinem Bauch, der nur darauf wartete, einen Anlass zu finden. Und davon hatte die kleine Tätowiererin ihm allmählich genug entgegen gerotzt. Er spürte, wie die Farbe in seine Wangen schoss, verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen und wollte gerade zu einem Inferno ansetzen, als die Frau grinsend in Richtung eines Computerbildschirms rechts hinter dem Tresen deutete und sagte: »Aber der da, der kennt sie alle!«

4

Als Strater kurze Zeit später die Haustür aufschloss, musste er schmunzeln. Antonella Lestrato hatte auf ihrem Pass gestanden, den sie ihm nach einigem Protest schließlich über den Tresen geschoben hatte. Oder Kante, wie sie sich ihm zum Abschied vorgestellt hatte. Das Bild der zierlichen Frau, die ihn hinter dem Tresen aus ihren dunklen Augen angefunkelt hatte, über ihr Porträtabbildungen von Frauen in Seeräuberkleidung, von denen er eine als Mary Read, die andere als Anne Bonny zu identifizieren glaubte, gefiel ihm.

»Saskia?«, rief er in die Stille des Flurs und wunderte sich nicht, dass ihm niemand antwortete. Er entledigte sich seines Mantels und begab sich schnurstracks in den Keller, wo er die nächsten annähernd anderthalb Stunden damit verbrachte, das Paludarium aufzubauen. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus einem Aquarium und Terrarium – ein Glaskasten mit einer Sumpflandschaft im Miniaturformat, zu deren ordnungsgemäßen Betrieb verschiedene Wasserfilter, Lüftungssysteme sowie eine spezielle Beleuchtung beitrugen. Vorerst verschönerten künstliche Wasserpflanzen das Behältnis, Robert nahm sich jedoch vor, auch noch einige echte Aquarienpflanzen zu besorgen, um ein natürliches Ambiente für Shredder zu schaffen. Die Aquaristik war ein aufwendiges Themenfeld, mit dem sich Strater mehr oder weniger gezwungenermaßen hatte auseinandersetzen müssen, nachdem ihr Sohn Christoph für sein Studium ausgezogen war und Shredder bei ihnen ließ. Christoph hatte die Schildkröte bekommen, als diese noch ein Baby gewesen war, und wie bei Kindern üblich, hatte die anfängliche Begeisterung für das Tier schnell nachgelassen und wich anderen Interessen. Dennoch hatte sich ihr Sohn bis zu seinem Auszug um die Schildkröte gekümmert, seitdem fiel jedoch Robert diese Verantwortung zu. Inzwischen fand er sogar Gefallen daran, auch wenn er manche Aufgaben, wie eben den Wiederaufbau des Paludariums in ihrem neuen Haus, gerne mal vor sich herschob.

Wenig später – Shredder war inzwischen vom Kühlschrank in sein neues Heim umgezogen – stand Robert unter der Dusche und ließ lauwarmes Wasser über seinen Körper prasseln. Seine Gedanken drifteten von der Schildkröte zu Saskia und er fragte sich unwillkürlich, was sie gerade trieb. Gleich darauf schwirrte das imaginäre Bild von Kante durch seinen Kopf, die irgendetwas an sich hatte, was ihn reizte. Schließlich dachte er an die alte Frau. Erdrosselt in ihrem schmalen Flur, die Augen starr vor Schreck. Er stellte das Wasser ab und schüttelte sich wie ein Hund, aber das Bild in seinem Kopf ließ sich nicht vertreiben. Er streckte seine Hand in Richtung Handtuchhalter neben dem Waschbecken aus, griff aber ins Leere. Saskia hatte das Handtuch, das er am Morgen benutzt hatte, offenbar in die Wäsche gegeben. Fluchend durchschritt er das weiß geflieste Tageslichtbad und holte sich ein frisches Tuch aus dem Schrank in der Ecke. Er begann sich abzutrocknen und sein Blick haftete sich unwillkürlich auf den Ganzkörperspiegel an der Wand. Strater hielt in der Bewegung inne, trat zwei Schritte vor und betrachtete sich genauer. Natürlich sah er sich morgens und abends im Badspiegel, auch unterwegs fing er hin und wieder sein Abbild auf, aber so gezielt hatte er sich schon länger nicht mehr begutachtet. Sein Bauch wölbte sich wie der einer Schwangeren vor und war, wie viele Stellen seines Körpers, von dichten schwarzen Haaren bedeckt, die seine käsig-weiße Haut kontrastierten. Lediglich dort, wo die Haare hingehörten, nämlich auf dem Kopf, wuchsen sie immer spärlicher. Er dachte an seinen Besuch in dem Tattoo Studio. In jungen Jahren hatte er öfter mit einer Tätowierung geliebäugelt, die Idee in Ermangelung eines passenden Motivs aber nie in die Tat umgesetzt. Einige der maritimen Illustrationen, die Kante ihm gezeigt hatte, fand er richtig ansprechend. Aber so ein kunstvoll ausgestalteter Anker auf seinem Körper? War das nicht lächerlich? Dafür sollte man schließlich einen halbwegs ansehnlichen Körper haben.

Er schüttelte resigniert den Kopf und fühlte sich seltsam unverbunden mit dem, was ihm da aus ungläubigen Augen aus dem Spiegel entgegenstarrte. Es passte nicht zu dem Strater von früher. Was war geschehen? War er zu sehr damit beschäftigt gewesen, Verbrechen aufzuklären und mit seinen Problemen klarzukommen, um davon Notiz zu nehmen? War das die Quittung? Der Zahn der Zeit, der unnachgiebig an einem nagte, bis er nichts als einen abgekauten Zombie zurückließ?

Sexy ist definitiv etwas anderes!

Das Ding im Spiegel sackte vor seinen Augen in sich zusammen. Kein Wunder, dass Saskia keine Lust mehr auf ihn hatte.

5

Am nächsten Morgen saß Strater schlecht gelaunt und müde hinter dem Schreibtisch in seinem Büro und wartete darauf, dass der Computer hochfuhr. Am Vorabend hatte er noch lange zu Hause in seinem Arbeitszimmer über den Fall gebrütet, bis er irgendwann auf der Couch eingeschlafen war. Saskia hatte er spätabends nach Hause kommen hören.

Als es klopfte, hob er träge den Kopf und beobachte, wie Gerald Zadel hereinkam, der leitende Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Norden mit dem silbergrauen Militärhaarschnitt. Zadel war ein kleiner, schlanker Mann Mitte sechzig und strahlte trotz seiner besonnenen Wesensart eine natürliche Autorität aus, um die Strater ihn an manchen Tagen beneidete. Mit seinem schwarzen Jackett über einem blütenweißen Hemd war er auch heute tadellos gekleidet.

»Moin Robert«, grüßte er. Nachdem Strater den Gruß erwidert hatte, irrte Zadels Blick, offenbar nach einer Sitzgelegenheit suchend, zwischen den mit Akten und Papieren überfüllten Besucherstühlen, dem überladenen Schreibtisch und den vollgestopften Regalen herum. Schließlich blieb er resigniert stehen.

»Ich war gestern in Hannover und hab das mit der ermordeten alten Frau deshalb nur am Rande mitbekommen. Was ist da passiert?« Zadel stellte sich mit dem Rücken zum Fenster und stützte sich mit den Händen auf einem Heizkörper ab. Strater lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und fasste die wesentlichen Informationen für ihn zusammen.

»Was denkst du, steckt dahinter?«

»Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht genau. Laut dem Sohn, der die Tote gefunden hat, hat der Täter eine silberne Brosche entwendet, die Fenna immer trug.«

»Also ein Raubmord?«

Strater schüttelte den Kopf. »Er war definitiv auch in ihrem Schlafzimmer und hat dort den Schrank mit ihrer Unterwäsche und ihren Strumpfhosen durchwühlt. Das Schmuckkästchen, das kaum zu übersehen auf einer Kommode stand, hat er jedoch unberührt gelassen. In einer Küchenschublade lag zudem Bargeld, das er ebenfalls nicht mitgenommen hat. Einbruchsspuren fanden sich auch keine und der Sohn beschrieb seine Mutter als vorsichtig und argwöhnisch, also hätte sie einen Fremden nicht ohne Weiteres hineingelassen.«

»Doch eher eine Beziehungstat?«, fragte Zadel.

»Es gab offenbar nicht viele Menschen, mit denen Frau Tütken Beziehungen pflegte. Viele ihrer Verwandten und Freunde sind bereits verstorben. Wir sind aber noch dabei, ihre Lebensumstände genauer zu durchleuchten.«

»Was ist mit dem Sohn, kommt der als Täter infrage?«

»Wenn mich mein Gespür nicht vollkommen täuscht, eher nicht. Seine Betroffenheit wirkte echt. Als ich ihn später nach seinem Alibi fragte, musste er allerdings passen. Er war bis siebzehn Uhr in seinem Büro und ist dann nach Hause gefahren, wo er allein lebt.«

»Was ist mit Zeugen?«

»Durch die Befragung in der Nachbarschaft sind wir auf einen Zeitungsausträger gestoßen, der zur vermeintlichen Tatzeit in dem Wohngebiet unterwegs war. Er hat jemanden, vermutlich eine Frau, in weißer Kleidung, wie bei einer Pflegerin, vom Grundstück der Ermordeten kommen sehen. Allerdings sah er sie nur von hinten – doch immerhin fiel ihm eine Tätowierung am Nacken ins Auge. Die Frau ist momentan unsere heißeste Spur.«

Zadel kniff sich in die Nasenwurzel. »Ich hoffe, dass wir den Fall schnell abschließen können, denn eine alte Frau, die bei uns hier in Norddeich so brutal in ihrem Zuhause …«

Die Tür flog so heftig auf, dass Strater zusammenzuckte, und Enno Brunsen betrat mit einem Strahlen im Gesicht das Büro.

»Ich hab sie geschnappt!« Er klatschte beherzt in die Hände. »Ich wusste, dass ich sie eher früher als später kriegen würde, das hat mir mein kriminalistisches Gespür schon heute Morgen geflüstert.« Brunsen zwinkerte und blickte Beifall heischend zuerst zum Kriminaldirektor, dann zu Strater.

»Über wen reden wir?«, fragte Strater reserviert.

»Na, über die Apothekenangestellte! Sitzt unten im Vernehmungsraum, obwohl ich sie am liebsten direkt eingebuchtet hätte.«

Brunsen rieb sich die Hände. Mit seinen leuchtenden Bäckchen und dem pelikanfarbenen Jackett sah er aus, als sei er einer billigen Modezeitschrift entsprungen. Strater hob eine Augenbraue und tauschte mit Zadel einen vielsagenden Blick, dann stand er auf.

6

»Kaffee?«

»Verpiss dich, Alter.« Kante schob den Koloss, der ihr in der Nacht ein bisschen Spaß verschafft hatte, unsanft durch den Türrahmen und schloss hinter ihm ab. Durch die Scheibe vergewisserte sie sich, dass das Schild noch immer auf »Closed« gedreht war. Dann schlappte sie hinter die Theke und drückte eine Aluminiumkapsel in ihre Kaffeemaschine. Einmal hatte ein Kunde gemeint, sie belehren zu müssen. Die Dinger seien eine Umweltkatastrophe. Sie hatte ihn mit ihrem Blick niedergestochen und die Tür geöffnet. Typen wie du sind eine Umweltkatastrophe.

Sie lauschte dem monotonen Surren der Maschine, griff nach dem Espressotässchen, das die Form eines zusammengedrückten Plastikbechers hatte, und kippte die schwarze Flüssigkeit herunter. Dann stellte sie das Tässchen erneut unter die Maschine, drückte die alte Kapsel raus und schob eine neue hinterher. Verpesten die Umwelt mit ihren beschissenen Sprüchen und ihrer Besserwisserei. Sie musste an den Typen von gestern denken. Den Bullen mit den spießigen Halbschuhen. Was für ein Spinner. Kam mit einer dämlichen Kinderzeichnung an und wollte allen Ernstes von ihr wissen, wer so etwas stach. Sie lachte freudlos auf, nahm das dampfende Tässchen und setzte sich damit auf ihren Barhocker an die Theke. Die Zeit am Morgen gehörte ihr allein.

Früh genug würde die Klingel an der Tür den ersten Termin ankündigen. Sie blätterte durch ihren Kalender. Elf Uhr dreißig würde der erste Kunde erscheinen. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte wohlig. Noch viel Zeit. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen und atmete den würzigen Kaffeeduft ein.

Da war doch noch etwas, waberte es dumpf durch ihren Kopf. Scheiße! Sie fuhr hoch. Der Dicke mit dem brennenden Dolch! Sie hatte ihn um neun herbestellt.

»Fuck«, grummelte sie und nahm einen weiteren Schluck. Immerhin war sie schon hier. Der Camper, wie sie den schrottreifen Transporter, in dem sie normalerweise pennte, spöttisch nannte, stand einige Meter vom Studio entfernt am Straßenrand und wartete auf seinen nächsten Einsatz. Sie hoffte inständig, dass er die dreihundert Kilometer zur nächsten Convention überstand. Noch bis vor wenigen Tagen hatte sie in dem Wagen auf einer wenige Hundert Meter entfernten kleinen Einfahrt vor einem zugewucherten Grundstück geschlafen. Sie wechselte ihren Schlafplatz häufig, da sie keine Lust auf Scherereien mit der Polizei hatte. Aber als die Scheiben innen komplett beschlugen und sie am frühen Morgen ihren Atem sehen konnte, hatte sie sich mit steifen Gliedern eingestehen müssen, dass es mittlerweile draußen zu kalt geworden war, um im Auto zu schlafen. Wie schon im letzten Jahr hatte sie kurzerhand ihr kleines Bündel geschnappt und es hinter die Ladentheke verfrachtet. Nachts pennte sie einfach auf der Tätowierliege. Das war nicht so bequem wie auf der Matratze auf der Ladefläche ihres Campers, aber es war ein Schlafplatz, und das allein zählte.

Sie drückte kurz auf die Seitentaste ihres Handys und das Display erhellte sich. Sieben Uhr fünfundvierzig. Sie atmete erleichtert auf. Der Dicke würde nicht viel sagen, sie würden einfach Musik hören. Aber spätestens am Nachmittag, wenn wieder ein Pulk nervtötender Touris hier rein marschierte, war es mit der Ruhe vorbei. Sie würde die Zähne aufeinanderbeißen und an die Kohle denken. Dafür würde sie das Geschnatter und Geblöke ertragen und ab und an einen Halbsatz herausquetschen. Aber jetzt war erst einmal Kante-Zeit!

Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Espresso und wandte sich wieder ihrem Handy zu. Mal gucken, was es heute wieder für krankes Zeug in den Nachrichten gibt. Sie öffnete die App einer Lokalzeitung auf ihrem Handy, die sie sich kürzlich installiert hatte. Die Hauptschlagzeile ploppte auf, darunter ein Bild.

»Fuck!«, entfuhr es ihr. Das Handy fiel ihr vor Schreck aus der Hand. Sie bückte sich und griff mit zitternden Fingern erneut danach, drückte die Taste und wieder wurde das Display hell.

Erstarrt las sie die Schlagzeile unter dem Bild ein zweites Mal.

Rentnerin grausam erdrosselt in Wohnung aufgefunden.

Dann flog ihr Blick wieder zurück zu dem Foto. Das grün gestrichene Gartentor, das den Weg zu einem gepflegten Rasenstück freigab. Dahinter der rote Klinkerbau. Das war nicht möglich! Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, das Bild größer zu zoomen. Ihr wurde kalt. Die letzte Ziffer der Hausnummer war nun zu erkennen. Mit einem dumpfen Tok landete das Handy erneut auf dem Fußboden. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie schüttelte sich, aber das Gefühl blieb. Das war nicht möglich. Es war schlicht nicht möglich! Sie hatte die alte Frau mit dem Rollator erst vor zwei Tagen getroffen. Sie hatten geschnackt, so wie oft abends, wenn sie sich trafen. Kante erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung irgendwann im Winter. Sie war das kleine Küstensträßchen entlang geradelt, auf dem Weg zum Supermarkt. Es war bereits dunkel gewesen, doch wie immer hatte ihre Lampe am Rad nicht funktioniert, was sie zunächst nicht weiter gestört hatte, doch plötzlich war vor ihr in der Dunkelheit ein Licht aufgeblitzt. Sie hielt an aus Angst, jemanden zu überfahren. Der fahle Lichtschein pulsierte durch die Dunkelheit. Ein. Aus. Wie verirrt. Er kam näher, ganz langsam, beinahe wie in Zeitlupe. Auch wenn sie es nie zugegeben hätte – ihr rutschte an jenem Abend das Herz in die Hose und beinahe wäre sie vor Schreck umgedreht. Aber ihre Neugierde hatte letzten Endes gesiegt. Sie schwang sich wieder auf das Fahrrad und radelte in die Richtung des Irrlichts. Kurz bevor sie es erreichte, flackerte ein weißer Haarschopf hinter dem Licht auf und sie erkannte den Umriss eines Rollators. Von da an hatten sie und Fenna Tütken sich öfter auf der Küstenstraße getroffen. Sie hatte die Alte ins Herz geschlossen, genau dort, wo sie jetzt einen schmerzhaften Stich verspürte.

Was ist passiert? Noch nie zuvor hatte sie einen liebenswürdigeren Menschen als Fenna kennengelernt. Mit einem wehmütigen Lächeln dachte sie daran zurück, wie ihre Konversationen stets abgelaufen waren: Fenna hatte von ihrem Sohn Heiko gesprochen, von dem, was sie in der Zeitung gelesen oder was ihre Nachbarin erzählt hatte. Sie selbst hatte zustimmend genickt und von den abstrusen Wünschen ihrer Kunden oder von ihrem Kummer geredet. Sie hatte schnell kapiert, dass Fenna kein einziges Wort von dem verstand, was sie von sich gab. Wenn sie zum Beispiel gesagt hatte: »Der Typ hat gequiekt wie ein Schweinchen, als ich die Tätowiermaschine noch nicht einmal angesetzt hatte«, hatte diese geantwortet: »Jaja, so ein schöner Tag.« Und wenn sie ihr von einer der miserableren Nächte berichtet hatte, die sie mit einem der Holzköpfe verbracht hatte, hatte sie erwidert: »Ich lese ja immer alles im Küstenkurier. Den mag ik an`n leifsten.« Fenna war auch der Grund gewesen, warum sie sich diese dämliche Küstenkurier-App heruntergeladen hatte. Ein Klatschblättchen war es, nicht mehr. Dass ausgerechnet Fenna selbst irgendwann die Hauptschlagzeile liefern würde, damit hätte sie sicher im Traum nicht gerechnet.

Kante spürte ein salziges Brennen auf ihrer linken Wange und wischte sich die Träne aus ihrem Augenwinkel. Wann hatte sie zuletzt geweint? Es war irgendwie beruhigend gewesen, mit der alten Dame zu sprechen. Wenn sie nach Hause zurückkehrte, war es ihr stets leichter ums Herz gewesen. Das alles sollte nun vorbei sein? Fenna Tütken war tot? Ermordet? Durch den Tränenfilm hindurch versuchte sie, die Worte zu entziffern, aber irgendwie wollte es ihr nicht gelingen. Man hatte sie tot in der Wohnung gefunden. Mehr musste sie nicht wissen. Sie beendete die Handy-App, schlurfte zurück zur Tür und schloss diese vorsichtshalber von innen ab. Dann schleifte sie sich zur Liege und ließ ihren Körper auf das Lederimitat sinken. Sie würde heute für niemanden mehr aufstehen.