Leseprobe Mörderisches Marbella

Kapitel eins

Mittwoch, den 17. Juni, 21 Uhr

Javier

„Also, Javier, wie komme ich zu der Ehre, dass du mich nach Marbella zum Essen ausführst?“ Inma schaute sich verstohlen um und senkte die Stimme. „Dazu noch in ein so luxuriöses Restaurant?“ Javier beugte sich nach vorn und schaffte es gerade noch, „Weißt du, es ist wegen …“ zu sagen, als der Kellner an ihren Tisch trat. „Ich soll Ihnen von dem Hoteldirektor mitteilen, dass Kaffee und Nachtisch aufs Haus gehen. Was hätten Sie denn gern?“ Erleichtert über die Unterbrechung lehnte sich Javier wieder zurück. Die generöse Geste hörte sich ganz nach Ramón an. Sein Bekannter hatte sich schon immer durch Großzügigkeit ausgezeichnet. Javier grinste. „Inma, du zuerst.“

„Also, wenn das so ist, dann nehme ich einen Espresso und ein kleines Vanilleeis.“

„Sehr gern. Und der Herr?“

Javier warf einen Blick auf die Tafel, auf der in dekorativer Schrift die tagesaktuellen Speisen aufgelistet standen. „Ich probiere einen dieser Bio-Blaubeer-Muffins.“

„Sehr zu empfehlen, vegan und allergenfrei.“

„Wunderbar. Genau das Richtige für Ana. Sie mag so was.“ 

Inma stutzte einen kurzen Moment lang und sah ihn dabei so skeptisch an, dass Javier ihre Gedanken zu lesen vermochte. Sie wollte wissen, was er im Schilde führte. Doch bevor er antworten konnte, meldete sich der eifrige Kellner erneut zu Wort. „Natürlich. Das Dessert kommt sofort.“

„Warten Sie, bitte richten Sie Ramón, also Herrn Pérez, ein herzliches Dankeschön von mir aus.“

„Gern. Wird gemacht“, versicherte ihm der Angestellte.

Inma wartete, bis der Kellner außer Hörweite war, dann feuerte sie Fragen auf ihn ab. „Seit wann interessierst du dich für vegane Bio-Blaubeer-Muffins? Und was hat das Ganze mit deiner Tochter Ana zu tun?“

„Okay, okay, ich sag’s dir ja.“ Javier sah, dass seine Liebste die Stirn runzelte. Er mochte das. Es war so typisch für sie. „Also, es ist ganz einfach.“ Inma schwieg und wartete. „Es geht um Folgendes: Ana möchte ihren Freund Abdel heiraten. Na ja, und ich möchte ihr eine Freude machen, und daher überlege ich, ob ich die Feier vielleicht hier ausrichte.“

Inma schaute ihn ungerührt an und sagte weiterhin nichts. Ein schlechtes Zeichen. Schließlich begann sie zu reden. „Verstehe. Unser romantisches Menü heute Abend ist in Wirklichkeit eine Art Test-Essen.“

Javier nickte. „Sag schon, was hältst du von meiner Idee?“ Er spielte mit der Serviette und wartete auf ihre Reaktion. Was würde er jetzt für eine Zigarette geben! Schon sechsunddreißig Tage ohne. Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete sie. „Was sagt denn Ana zu deinen Plänen?“ Zum Glück trat der Kellner in diesem Moment mit dem Nachtisch an ihren Tisch. Diese Aktion gewährte Javier ein paar Minuten Aufschub. Doch nachdem Inma die kalte Süßigkeit gelobt und er den Muffin mit anerkennenden Lauten gekostet hatte, kam seine Lebensgefährtin hartnäckig auf das heikle Thema zurück. Sie hob die Augenbraue und sagte: „Also?“, bevor sie einen weiteren Löffel Eiscreme nahm. Und da war sie wieder, die berühmte Stirnfalte. Javier verbiss sich ein Lächeln. „Nun ja, Ana weiß es noch nicht. Ich überlege noch und möchte sie überraschen.“

„Ist es denn eine Liebesheirat?“

Javier schaute aus dem Fenster in den Innenhof des Hotels, wo die Abendsonne das Wasser des Pools glitzern ließ. „Ich glaube schon. Also, es ist kompliziert. Abdel wohnt schon länger in Spanien. Legal, wenn du weißt, was ich meine. Und ich habe schon das Gefühl, dass die beiden ineinander verliebt sind.“

„Okay. Soweit ich weiß, bekommt man die spanische Staatsbürgerschaft ja auch nicht automatisch durch die Heirat mit einer Spanierin …“

„Nein.“

„Aber ich habe auch gehört, sie beschleunigt die Sache schon ein wenig, oder?“ Inma nahm einen Schluck Espresso und lächelte verschmitzt.

„Ach, Inma. Als ob ich über Abdels Aufenthaltsstatus und Co Bescheid wüsste. Über Liebe und Politik reden Ana und ich prinzipiell nicht.“

„Bevor du ihr hier eine große Feier ausrichtest, solltest du das aber unbedingt tun. Es ist schließlich ihr Fest. Sie und Abdel sollten das aufwendige Hochzeitsbankett auch wollen.“

„Aber dann wäre es keine Überraschung mehr.“

In diesem Moment ertönte ein lauter, dumpfer Knall. Alle Köpfe drehten sich zum Innenhof.

„Was war das?“, fragte Inma und sah ihn mit ihren wunderschönen großen Augen an. Javier brauchte weniger als eine Minute, um den schlaffen, leblosen Körper, das laute Geräusch und die erst mit Verzögerung einsetzenden Schreckenslaute der Hotelgäste einordnen zu können. „Inma, Liebes. Schau da nicht hin.“ Er versuchte, ihr mit seinem Körper die Sicht zu versperren.

„Wieso denn? Was ist denn da?“ Die ersten Hilfeschreie ertönten. Hotelbedienstete rannten zum Pool. Die Restaurantgäste erhoben sich, Stühle wurden verrückt, und mitten in dem Chaos erklang ein helles, hohes Sirren. Ramón stand in der Mitte des Restaurants und schlug mit etwas Metallenem, vermutlich einem Löffel oder einer Gabel, an ein Weinglas. Erst einmal, dann mehrmals, und endlich wurde es leiser. Die Gäste setzten sich wieder und schauten zu dem Hoteldirektor. Javier war stolz auf seinen Bekannten, der in dieser brenzligen Situation die Nerven behielt.

„Meine Damen und Herren. Ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit. Mein Name ist Ramón Pérez, und ich freue mich, dass Sie den Weg in das Restaurant des Parasol-Hotels gefunden haben.“ Der Hoteldirektor ließ die Augen über die Besucher schweifen. Javier nickte ihm kurz zu. Ramón verhielt sich vorbildlich. Javier sah aus den Augenwinkeln, dass sich eine Handvoll Sanitäter dem Poolrand näherte, während der Hoteldirektor sich ins Zeug legte, um seine Gäste durch Small Talk abzulenken. Das Licht des Krankenwagens färbte den Schwimmbadbereich blau. Javier sah, wie die Beleuchtung in ihrem ganz eigenen Rhythmus abebbte, nur um kurz darauf wieder zurückzukommen. Vermutlich war die Person, die auf der Bahre lag, bereits tot. Aber schon aus psychologischen Gründen würden die Sanitäter den leblosen Körper in den Krankenwagen bringen. Bemerkenswert, wie schnell der Rettungsdienst vor Ort gewesen war. Er musste sich ganz in der Nähe befunden haben. Na klar, sie waren in Marbella, dem Treffpunkt der Reichen und Schönen. Aufgrund der entsprechenden finanziellen Ressourcen verfügte Marbella über eine hervorragende Infrastruktur.

Plötzlich stürzte eine Jugendliche, die ein schreiend pinkfarbenes Top trug, auf die Unfallstelle zu. Sie brüllte etwas in einer fremden Sprache. Für Javier klang es wie Deutsch. Zwei Erwachsene traten hinter das Mädchen und hielten sie fest, während die Sanitäter den unbeweglichen Körper an der Kante des Pools hektisch mit Gurten auf der Bahre fixierten. Als sie die Liege anhoben und in Richtung Krankenwagen verschwanden, rutschte ein Arm aus der Befestigung und schaukelte über dem Rand der Trage hin und her. Das Blaulicht glitt über das Mädchen auf der Bahre hinweg, und Javier bemerkte, dass ihre Fingernägel in irgendeinem extravaganten Farbton lackiert waren. Blau, grün, giftgrün? So richtig konnte er das nicht sehen. Er musste schlucken. Seine Tochter Ana hatte ebenfalls ein Faible für auffallende Farben. Im Haar, auf den Fingernägeln, als Schultertattoo. Während er noch darüber nachdachte, bemerkte er, dass es hinter ihm wieder unruhig wurde. Offensichtlich gelang es Ramón nicht mehr, die Anwesenden abzulenken. Rufe nach der Polizei wurden laut.

„Javier, was geht hier vor sich?“, wandte sich Inma an ihn. Javier erhob sich. Ihm gefiel es nicht, sich ins Zentrum des Interesses zu begeben. Schließlich befand er sich hier als Privatperson und nicht beruflich. Außerdem war Marbella nicht sein Revier. Dennoch wollte er Ramón in dieser schwierigen Situation nicht allein lassen.

„Die Polizei ist bereits anwesend. Ich bin Comisario Principal Sánchez. Bitte bewahren Sie Ruhe. Ich möchte die Hotelgäste bitten, sich auf ihre Zimmer zu begeben. Es wird gleich jemand zu Ihnen kommen. Die Restaurantbesucher …“ Javier schaute Ramón fragend an. Sein Bekannter verstand sofort, was er sagen wollte. „Die Restaurantbesucher …“, nahm der Hoteldirektor seine Worte auf, „… begeben sich bitte in den Frühstücksraum links von der Rezeption. Nach der Aufregung möchte ich Sie alle zu einem Espresso einladen. Die Hotelgäste werden vom Roomservice bedient, die Restaurantgäste von unserem Restaurantteam.“

„Soll ich auch in den Frühstücksraum gehen?“, fragte Inma.

„Ich denke, das wäre hilfreich.“ Javier nahm seine Geliebte in den Arm. „Inma, es tut mir leid, dass unser schönes Abendessen so furchtbar geendet hat.“

„Wieso furchtbar? Mir ist immer noch nicht klar …“ Doch bevor Inma ihren Satz beendet hatte, stand mit einem Mal Ramón neben ihnen. „Danke, Javier. Was für ein Glück, dass du hier bist. Wie ich dieses Balconing hasse. Warum machen die Touristen so etwas? Jetzt hat es ein deutsches Schulmädchen erwischt. Schrecklich. Stell dir vor, es wäre deine Tochter.“ Ramón brach ab. „Entschuldigung, das war taktlos.“

„Ich verstehe nicht ganz“, schaltete sich Inma ein. „Was hat die junge Deutsche gemacht?“

Ramón wiederholte das englische Wort Balconing, war aber mit den Gedanken schon wieder woanders, da eine Angestellte ihn etwas fragte.

Balconing ist eine Seuche“, regte auch Javier sich auf. „Aha“, kommentierte Inma ironisch seine Bemerkung.

Erst jetzt wurde dem Comisario Principal bewusst, dass Inmaculada keine Ahnung hatte, wovon Ramón und er sprachen. „Vor allem britische und deutsche Touristen haben diese schwachsinnige Mutprobe namens Balconing erfunden. Entweder klettern sie von einem Hotelbalkon zum nächsten, oder sie versuchen, vom Hotelbalkon in den Pool zu springen.“ Er sah, wie Inma nachdachte und dann nickte.

„Ja, jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich daran, davon in der Zeitung gelesen zu haben. Aber …“ Sie runzelte konzentriert die Stirn.

Hinreißend, dachte Javier.

„Das ist aber schon einige Zeit her.“ Inma dachte laut. „Vor zehn Jahren oder so. Aber ich dachte, das würde nur auf Mallorca vorkommen.“

„Die Insel war nur das Epizentrum dieser Wettbewerbe. Sauftourismus in Magaluf. Junge Männer aus Großbritannien, die auf die Pauke hauen. Doch leider gibt es auch hier an der Costa del Sol immer mal wieder solche Vorfälle.“ Er wollte gerade zu einer längeren Erklärung ansetzen, als ihn jemand auf Englisch ansprach.

„Entschuldigung. Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von der Polizei sind?“

Javier drehte sich um und erkannte einen der beiden Erwachsenen, die das weinende Mädchen zurückgehalten hatten, als die Bahre mit dem Unfallopfer in den Krankenwagen gebracht wurde. „Ja.“

„Mein Name ist Martins. Ingo Martins. Ich bin einer der Lehrer. Das Mädchen im Krankenwagen ist … Robyn. Sie ist unsere Schülerin.“

„Sie kommen aus Deutschland?“

„Ja. Meine Kollegin Frau Bauer und ich sind mit unseren Kursen auf Abschlussfahrt. Wir kommen aus Freiburg, und ich wollte fragen, ob es hier so etwas wie eine psychologische Notfallbetreuung gibt.“ Der etwa Mitte dreißigjährige, schlanke, große Mann zeigte auf das Mädchen im knalligen pinkfarbenen Top, das immer noch weinend vor dem Pool kauerte. „Vielleicht auf Englisch oder sogar auf Deutsch? Cara steht unter Schock, glaube ich.“

Javier dachte nach. „Da wenden Sie sich am besten an die deutsche Botschaft.“ Einen Moment später fuhr er fort: „Freiburg sagen Sie?“ Das würde Ärger geben. Wenn deutsche oder englische Touristen ums Leben kamen, schlugen die Wellen immer besonders hoch. Solche internationalen Vorfälle waren überaus heikel. „Sie bringen mich da auf eine Idee.“ Javier drehte sich um, nahm sein Handy aus der Innentasche seines Sommer-Jacketts und ging seine Kontaktdaten durch. Da war auch schon die Nummer, die er suchte. Unter „S“ wie Sandra hatte er auch die Nummer von Sandras Chef abgespeichert. Steinberg. Jörg. Einen Moment später wurde er mit dem Kölner Kommissariat in Deutschland verbunden. Im holprigen Englisch berichtete Javier dem Kollegen, der die Nachtschicht ableisten musste, was sich ereignet hatte.

„Ist notiert. Sonst noch was?“

„Wenn es möglich wäre, würde ich gern wieder mit Sandra König zusammenarbeiten. Am besten wäre es, wenn sie noch einmal an die Costa del Sol abgeordnet werden könnte.“

„Ich kann Ihnen nichts versprechen, gebe es aber so weiter.“

Gracias.“

Kapitel zwei

Donnerstag, den 18. Juni, 10 Uhr

Sandra

„Na, meine Schöne. Hungrig geworden?“ Giancarlo legte die Polaroidkamera weg und schaute Sandra listig an. Sie nickte. Ein opulentes Frühstück mit starkem Milchkaffee war einer der überzeugendsten Gründe, das Bett zu verlassen. „Willst du zuerst ins Bad?“

„Nö, geh du nur.“

Das ließ Giancarlo sich nicht zweimal sagen. Schon hatte er sich schwungvoll erhoben und machte sich nackt in Richtung Dusche auf. Natürlich und selbstbewusst.

Was für ein Mann, ging es Sandra durch den Kopf. Sie fand es unfassbar attraktiv mitzuerleben, wie wohl er sich in seinem Körper fühlte. Ihr Lover konnte sich aber auch sehen lassen. Klar, als Polizist musste er in Form sein. Sandra dachte an die letzte sinnliche halbe Stunde zurück, und für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie Giancarlo nicht einfach in die Dusche folgen sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen und nahm stattdessen ihr Handy zur Hand. Schnell tippte sie einen Post.

Pol-Sol: Neues von der Polizei unter Spaniens Sonne
Auch deine Freund*innen und Helfer*innen brauchen mal eine Verschnaufpause. Zurück in Spanien, diesmal privat statt beruflich. Urlaub machen, wo andere arbeiten.
#polizei #spanien

Sandra hatte erst vor Kurzem die Welt der Social Media für sich entdeckt. Auch wenn sie bislang nur eine Handvoll Beiträge hochgeladen hatte, lag die Zahl ihrer Follower und Followerinnen schon im zweistelligen Bereich. Nicht schlecht für eine Newbie, fand sie. Sie überflog ihren jüngsten Post noch einmal, unsicher, ob sie ihn so online stellen konnte. Einerseits würden nur diejenigen die Anspielung verstehen, die wussten, dass sie im letzten Sommer als deutsche Oberkommissarin die spanische Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützt hatte. Andrerseits war es vielleicht sogar gut, wenn ihr Beitrag Fragen aufwarf und neugierig machte. Während sie sich Gedanken über die Hashtags machte, klingelte ihr Handy. Sie ignorierte es. Und schon hatte sie ihren Beitrag hochgeladen. Pling. Eine Nachricht war eingegangen. Jetzt erst schaute Sandra neugierig nach, wer sie hatte erreichen wollen. Eine Audio-Aufnahme von Jörg Steinberg, ihrem Vorgesetzten. Was? In ihrem Urlaub? Sie spielte die Sprachnachricht ab.

Buenos días, Sandra. Hör mal, es ist mir wirklich fürchterlich peinlich, dich im Urlaub zu stören.

Immerhin.

Aber, weißt du, bei uns ist gestern Abend, schon ziemlich spät, ein Anruf von Javier eingegangen. Der Comisario Principal möchte unbedingt, dass ich dich für ein paar Tage nach Andalusien abordne.

Plötzlich saß Sandra aufrecht im Bett. Javier brauchte ihre Unterstützung. Ihr Puls erhöhte sich. Ohne nachzudenken, rief sie ihren Vorgesetzten zurück.

„Jörg? Was ist passiert?“ Sandra hörte aufmerksam zu, während ihr Chef ihr erklärte, was in Marbella geschehen war. „Javier braucht dich“, schloss er seine Zusammenfassung ab. „Um die Klasse zu beruhigen und um die Ermittlungen möglichst schnell abzuschließen.“ Jetzt stockte ihr Vorgesetzter. „Ähm, und damit meine ich … also, wenn es geht, … sofort.“

Sandra schwieg. Es war harte Arbeit gewesen, ihre Impulsivität in den Griff zu bekommen. Doch mittlerweile konnte sie schon etwas besser mit den manipulativen Appellen ihres Chefs umgehen. Als sie nichts sagte, sprach Jörg weiter.

„Das sollte kein großes Problem für dich sein, denn ich habe von Julia gehört, dass du sowieso schon in Spanien bist. Dort gerade Urlaub machst.“

„Soso, das hat sie dir also erzählt.“ Sandra wunderte sich. Ihre Kollegin Julia war in der Regel überaus diskret und alles andere als eine Klatschtante. Sandra wartete. Ihr Chef ebenfalls. Er gab zuerst auf. „Okay, was sind deine Bedingungen?“ Es dauerte eine Weile, aber dann wurden sie sich handelseinig. Jörg versprach Sandra einen üppigen Ausgleich für ihre Überstunden.

„Okay, ich werde versuchen, heute Abend in Málaga zu sein. Sag Javier, dass er mir wieder die Dachstube im Hotel Victoria reservieren soll.“

„Danke, Sandra. Ich weiß das zu schätzen. Vielen Dank.“

„Schon gut“, beendete sie kurz angebunden das Telefonat. Weder das versprochene Geld noch die zugesagten Extra-Urlaubstage würden den emotionalen Preis wettmachen, den sie bezahlen musste: die Trennung von Giancarlo! Das vorzeitige Verlassen ihres kleinen gestohlenen Paradieses. Die wenigen gemeinsamen Tage, die sie mit Giancarlo verbringen konnte, waren ein Ausnahmezustand. Er wohnte in Turin, Italien, sie in Köln, Deutschland. Er war verheiratet, sie solo. Sie hatten Ewigkeiten gebraucht, den Kurztrip nach Barcelona, der Stadt, in der sie sich im Rahmen eines Erasmus-Austauschprogramms für Polizistinnen und Polizisten kennengelernt hatten, zu organisieren. Drei von fünf Tagen waren bereits um.

Sandra starrte vor sich hin. Auf der einen Seite war es himmlisch mit Giancarlo, denn beide zeigten sich von ihrer allerbesten Seite, vermieden alles, was mit Alltag oder Konfliktthemen zu tun hatte. Auf der anderen Seite war es unglaublich anstrengend, einen perfekten Liebesurlaub zu inszenieren. Außerdem hatten sie beide ein schlechtes Gewissen. Noch am Tag zuvor hatte Sandra Giancarlo dabei ertappt, seiner Frau Francesca heimlich Nachrichten zu schicken. Und sie selbst fühlte sich in der Rolle der Geliebten ebenfalls mehr als unwohl. Aber sie war schon so lange allein. Und die Zeit des Spanien-Austauschs mit Francois und Giancarlo in Barcelona war bislang unangefochten die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Noch nie hatte sie sich so frei und lebendig gefühlt. Und da war eben das passiert, was niemals hätte passieren dürfen. Giancarlo und sie hatten ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Doch es war mehr als eine heiße Affäre. Schon bald träumten sie davon, zusammen ein neues Leben in Barcelona anzufangen. Ein Traum, den sie nie realisiert hatten. Bis auf diesen Kurzurlaub. Und schon diese paar Tage dem normalen Leben abzuringen war unfassbar aufwendig gewesen. Doch letztendlich war es ihnen gelungen, fünf Tage in Barcelona zu arrangieren. Eine kleine rosa Wolke ihrer so groß geträumten Liebe. Sandra seufzte. Sie hatte Geräusche aus dem Bad vernommen. Ein paar Momente später stand Giancarlo mit feuchtem, lockigem Haar im Türrahmen, ein Handtuch lässig um seinen Unterkörper gewickelt. 

Augenblicklich wurde Sandra sich bewusst, dass sie sich falsch entschieden hatte. Wieso hatte sie ihrem Beruf den Vorrang über ihr Liebesleben gegeben? Jede annektierte Sekunde mit Giancarlo wollte genossen werden. Ihre romantische Beziehung war so labil, dass sie jederzeit zerbrechen konnte. Er würde ihr den abrupten Aufbruch nicht verzeihen. Er würde sie ghosten, den Kontakt zu ihr abbrechen. Ihr vorwerfen, dass sie ihn noch nicht einmal in die Entscheidungsfindung mit einbezogen hatte.

„Mit wem hast du telefoniert?“, fragte Giancarlo.

Sie wollte auf ihn zugehen, ihn umarmen, seinen Duft riechen, ihn fühlen, seine Zunge auf ihrer Haut spüren. Er jedoch hielt sie mit kühlem Blick auf Abstand. Ein deutliches Signal, dass er nicht offen für Zärtlichkeiten war.

„Mit meinem Vorgesetzten. Weißt du, es ist ein Notfall. Ich muss nach Málaga. Heute noch.“

Er setzte sich aufs Sofa und klopfte auf den leeren Platz neben sich. Kaum, dass sie neben ihm saß, schlang er seinen Arm um sie und küsste sie leidenschaftlich. Danach streichelte er ihr Gesicht. „Du willst Javier helfen, dem Comisario Principal.“

Er hatte recht. Es ging ihr nicht um den Beruf, sondern um ihre Freundschaft zu Javier. Sie wollte Javier nicht im Stich lassen, denn bei ihrem letzten Treffen auf dem Burgberg in Málaga hatte sie ihm versprochen, ihn zu unterstützen, wenn er sie brauchte.

„Hör mal, ehrlich gesagt, passt mir das ganz gut. Francesca hat mich die Tage wissen lassen, dass sie mich dringend in Turin braucht. Ich wollte darauf eigentlich nicht eingehen, aber jetzt würde es vielleicht doch passen.“ Er strich Sandra eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wir hatten so eine fantastische Zeit. Das können wir eh nicht mehr toppen. Lass uns doch heute noch in einem Mietwagen ein wenig die Küste hinunterfahren … bis nach Valencia oder so, und dann steigst du in den Zug, und ich fahre nach Barcelona zurück und nehme den nächsten Flieger nach Italien.“

„Wieso Valencia?“, fragte Sandra, verwirrt von Giancarlos Reaktion.

„Weil das der nächste Schritt unserer Beziehung ist. In den letzten Tagen haben wir in der Vergangenheit geschwelgt. Jetzt fangen wir etwas Neues an. Etwas Eigenes, ohne die Erinnerungen an den Erasmus-Austausch, ohne Francois und die anderen.“

Sandra wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Giancarlo war ein Rhetoriktalent. Er schaffte es, ihr sogar den vorzeitigen Abschied als Intensivierung ihrer Gefühle zu verkaufen. Während er sie streichelte und küsste, löste Sandra sein Handtuch und führte ihn zurück zu ihrem Doppelbett.

Kapitel drei

Donnerstag, den 18. Juni, 11 Uhr

Javier

Javier ordnete sich auf dem Autobahnzubringer nach Marbella ein. Seltsam, dass er sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden gleich zweimal auf den Weg dorthin begab. Auch wenn die Luxusstadt mit dem Auto nur eine gute Dreiviertelstunde von Málaga entfernt lag, besuchte er sie lediglich zu besonders feierlichen Anlässen. Marbella war exquisit, taugte aber nicht für den Alltag. Javier warf immer wieder einen missbilligenden Blick aus dem Fenster, während er an den wasserfressenden grünen Wiesen der Golfplätze, den pompösen Privatvillen und den schamlos exklusiven Geschäften vorbeifuhr. Auch wenn er nur wenig mit dieser glitzernden Schicki-Micki-Welt anfangen konnte, musste er zugeben, dass ihn der zur Schau gestellte Reichtum auch faszinierte. Für das Hochzeitsessen seiner einzigen Tochter zum Beispiel schien ihm ein wenig Prunk und Noblesse durchaus angebracht. Er wollte ihre Hochzeit so eindrücklich wie möglich gestalten. Schon allein um die Tatsache wettzumachen, dass Anas Mutter Carmen nicht mehr unter ihnen weilte. Es tat noch immer weh, sich vor Augen zu führen, dass seine Tochter noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen war, als ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ana jetzt bei der Gründung einer eigenen Familie ein unvergessliches Fest zu schenken, war das Mindeste, was er für sie tun konnte.

Das war sein Plan. Doch Inmas Bemerkung hatte ihn verunsichert. Vielleicht war ein aufwendiges Hochzeitsessen nur das, was er, nicht aber das, was seine Tochter wollte …

Sei’s drum, das hatte Zeit. Jetzt ging es erst einmal darum, Ramón zu unterstützen. Javier dachte an den Fall mit dem deutschen Schulmädchen. Wie kam man auf die schwachsinnige Idee, eine Klassenfahrt an den Luxusort Marbella zu machen? Sevilla, ging klar. Málaga, kein Problem. Aber ausgerechnet Marbella? Da fiel ihm nichts zu ein.

Es dauerte nicht lange, und Javier näherte sich erneut dem Hotel Parasol, in das er Inma am Abend zuvor ausgeführt hatte. Er selbst hätte seinen Kollegen in Marbella die Ermittlungen überlassen, aber Ramón hatte Javier eindringlich um seine Mithilfe gebeten. Da Javier Augenzeuge war und Kontakte nach Deutschland besaß, war ihm der Fall der deutschen Schülerin tatsächlich übertragen worden. Von der Staatsanwältin Díaz höchstpersönlich. Erstaunlich, denn sie hatte ihm schon mehr als einmal das Leben schwer gemacht! Javier steuerte das Auto auf den Parkplatz. Angekommen. Als er den Gurt löste, klingelte sein Handy. „Javier?“ Er begrüßte Sofía, seine Sekretärin.

„Guten Morgen, Javier. Ich habe gerade mit Sandras Vorgesetztem gesprochen. Sie hat ihre Pläne geändert und wird ihren Urlaub verschieben. Jedenfalls wurde mir mitgeteilt, dass sie heute Abend in Málaga ankommen wird.“

„Ach ja?“ Javier hatte nicht mehr mit Sandra gerechnet, denn er hatte mittlerweile erfahren, dass sich seine deutsche Kollegin im Urlaub befand. Jetzt konnte er sein Glück kaum fassen. Nachdem er das Organisatorische mit Sofía geklärt hatte, fragte er sie nach dem deutschen Mädchen. „Weißt du, ob schon jemand die Eltern der verunglückten Schülerin über den Tod ihrer Tochter informiert hat?“

„Ja, eine Kollegin von Sandra ist nach Freiburg gefahren und hat es Robyns Eltern zusammen mit einem Polizisten vor Ort mitgeteilt.“

„Sandras Kollegin Julia?“

„Genau. Sie ist wieder die Kontaktperson der Oberkommissarin.“

„Oberkommissarin?“

„Ja, Javier. Oberkommissarin. Warum fragst du?“

Arme Sandra, dachte Javier. Noch immer nicht befördert. Dann musste er grinsen. Diese Information überraschte ihn nicht. Sandra vermutlich ebenso wenig. Sie erwartete schon gar nicht mehr, dass ihre überdurchschnittlichen Leistungen mit einer Beförderung anerkannt wurden. „Nur so. Okay, bin gerade in Marbella angekommen. Werde jetzt aussteigen und mit Ramón sprechen.“

„Moment, Javier. Ich habe noch eine weitere wichtige Information für dich. Sandras Kollegin Julia lässt dir ausrichten, dass der Vater des toten Mädchens, Herr Lehmann, völlig aufgebracht ist. Er wollte sich sofort nach Andalusien aufmachen. Nur, damit du vorgewarnt bist. Vermutlich kommt sein Flugzeug heute an und er wird sich wutschnaubend bei dir melden.“

Mierda“, fluchte Javier und setzte sich wieder in den Fahrersitz zurück. „Wenn wir irgendwas überhaupt nicht brauchen, dann ist das jemand, der die Nerven verliert. Ramón und ich tun nämlich alles, um die Privatsphäre der Schüler zu schützen. Sie aus dem Fokus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Ein wütender Stier ist da alles andere als hilfreich. Hast du gewusst, dass die meisten der deutschen Jugendlichen, wenn nicht sogar alle, noch minderjährig sind?“

„Nein. Ich gehe davon aus, dass ihr eine Art Nachrichtensperre verhängt habt, oder?“

„Ja. Wir haben mit den Medienvertretern eine Sperrfrist von sechsunddreißig Stunden vereinbart. Mehr ging nicht, auch wenn die Lehrer um mehr Zeit gebeten haben, um das weitere Vorgehen mit ihrem Schulleiter abzusprechen.“

„Was für eine grässliche Geschichte.“

„Allerdings. Und meinem Bekannten Ramón ist die Schonfrist natürlich ebenfalls recht. Er will sein Hotel so lange wie möglich aus den Schlagzeilen heraushalten.“

Claro ques sí“, sagte Sofía. „Schließlich ist Herr Pérez der Hoteldirektor des Parasols. Die Presse wird noch früh genug über ihn herfallen. Schon allein, um das Sommerloch zu füllen.“

„Das befürchte ich auch. Aber das Wichtigste bleibt nach wie vor die Privatsphäre von Robyns Familie. Aber klar, abgesehen davon ist es auch für die Ermittlungen hilfreich, wenn die Geschichte nicht sofort an die große Glocke gehängt wird.“ In Javiers Kopf schnellten die Gedanken wie Billardkugeln von einer Bande zur nächsten. Wie sollte er dem cholerischen Vater gegenüber auftreten? „Okay, danke für die Informationen, Sofía.“ Javier stieg aus dem Auto aus. Jetzt eine Zigarette! Doch er verdrängte den Gedanken an eine Raucherpause sofort wieder und betrat, ohne zu zögern, das Parasol.

An der Rezeption wurde er vom Empfangschef begrüßt. „Herr Sánchez? Bitte folgen Sie mir doch zu dem Büro von Herrn Pérez.“ Höflich hielt er Javier die Tür auf und schloss sie leise von außen, sobald Javier eingetreten war.

„Javier, gut, dass du hier bist. Hier ist der Teufel los. Eine Tote in meinem Hotel. Jetzt kann ich gleich schließen.“ 

Javier war es unangenehm, seinen Bekannten so aufgelöst zu erleben. Eigentlich kannte er Ramón nicht sonderlich gut. Sie trafen sich hauptsächlich auf den vielen Feiern ihrer gemeinsamen Bekannten. Lidia, die halb Andalusien kannte, war berühmt für ihre ebenso aufwendigen wie überfüllten Partys, bei denen sie sich gern mit Promi-Gästen schmückte. Javier wollte lieber nicht genauer darüber nachdenken, warum er seit Jahren zu ihren Festlichkeiten eingeladen wurde. Er wandte sich dem Hoteldirektor zu. „Es tut mir leid für dich, Ramón. Es war schrecklich mitzuerleben, wie die deutsche Schülerin gefallen ist. Entsetzlich.“

„Es kommt noch schlimmer. Wusstest du, dass es ein Live-Video von dem Sturz gibt? Es ist noch in derselben Nacht gepostet worden.“

„Nicht wahr.“ Javier war entsetzt. „Kannst du es mir zeigen?“

„Ja. Mittlerweile ist es zum Glück endlich gesperrt, aber ich habe es mir vorher noch herunterladen lassen.“

Ramón gab Javier sein Handy. Der Comisario Principal setzte sich seine Lesebrille auf, konnte aber nicht sonderlich viel erkennen. Er versuchte, das Bild durch das Spreizen von Daumen und Zeigefinger zu vergrößern. Als er wieder auf den Bildschirm schaute, war der Sturz schon vorbei. Man hörte Schreckensschreie und sah Personen, die panisch auf den Körper des Mädchens zuliefen. Javier holte tief Luft und schaute sich den Anfang des Videos noch einmal an. Schon zu Beginn, ganz am Anfang des Mitschnitts, saß das Mädchen auf der Balkonbrüstung. Man sah Robyn von hinten, also hauptsächlich ihre langen blonden Haare, die wild und ungekämmt um ihren Kopf lagen. Einmal kam ein Fingernagel ins Bild. Neongrün. So bunt, so viel Lebenslust. Javier schaute sich das Video noch ein drittes Mal an. Robyn fiel mit dem Gesicht nach vorn nach unten, wurde immer kleiner und schlug dann neben dem Pool auf.

„Ich dachte immer, dass die Jugendlichen auf diesen ganzen Social-Media-Kanälen eine Riesenshow in ihren Videos machen und sich in Szene setzen, aber Robyn wirkt eher unbeteiligt.“

„Jaja, das ist normal.“

„Wie meinst du das?“

Balconing machen die meisten Touristen im Suff. Sie trinken sich Mut für die Challenge an und sind meist schon ziemlich hinüber, wenn sie zur Tat schreiten.“

„Für die Challenge?“ Er kniff misstrauisch die Augen zusammen. Die sozialen Medien und diese sogenannte Generationen A, B, C, X, Y, Z waren ihm suspekt. All diese modernen Begriffe sagten ihm kaum etwas.

„Soweit ich weiß“, erklärte Ramón „geht es bei diesen Challenges in den sozialen Medien immer um so eine Art Mutprobe. Die jungen Leute gehen an ihre Grenzen, filmen sich dabei und laden dann das Ganze hoch. Robyn ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen, sie hat das Ganze als Live-Video direkt beim Drehen mit anderen geteilt.“

„Tatsächlich?“, antwortete Javier verwirrt. Er hatte sich lediglich mit Luis, einem Kollegen aus Mallorca, ein paarmal über Balconing und die damit verbundenen Videoaufnahmen unterhalten und hoffte, dass Sandra mehr darüber wusste. Schließlich war sie jünger und kannte sich deshalb höchstwahrscheinlich besser mit digitalen Themen aus als er. „Und weißt du, wie der Stand der Dinge bezüglich der Geheimhaltung ist? Wissen die Jugendlichen bereits, dass ihre Mitschülerin tot ist?“

Ja, die Lehrer haben es ihnen heute Morgen nach dem Frühstück mitgeteilt. Der Direktor der Schule hat in Deutschland zur selben Zeit wohl alle Eltern persönlich per Telefon informiert.“

„Und, Ramón, was sagst du zu den Lehrern? Was ist dein Eindruck von ihnen?“

„Hm, womit soll ich anfangen?“ Der Hoteldirektor strich mit der Hand am Kinn entlang, gerade so, als ob er seinen nicht vorhandenen Bart ordnen wollte. „Sie heißen Herr Martins und Frau Bauer.“

Javier bat Ramón, ihm die Namen zu buchstabieren.

„Haben die keine Vornamen?“ 

„Soweit ich weiß, werden Lehrer in Deutschland in der Regel nicht geduzt wie bei uns.“

Vale. In Ordnung. Und wie sind sie so?“

„Hm. Nicht so doll.“ Ramón waren Javiers Fragen offensichtlich unangenehm. „Sie sind überfordert und nervös. Außerdem haben sie die Jugendlichen nicht im Griff. Die jungen Leute trinken ohne Ende Alkohol, die Mädchen tragen sehr freizügige Kleidung.“

„Das hört sich zwar nicht toll, aber recht normal an, oder?“

„Ach, Javier.“ Sein Bekannter stützte seinen Kopf in die Hand. „Was denkst du, was unsere Stammgäste davon halten, dass die Jugendlichen durch die Gänge rennen, die Nächte durchmachen und sich maßlos Essen auf die Teller schaufeln? Kleine Anmerkung: Natürlich sind wir es, die die Reste anschließend in den Müll werfen dürfen. Wir haben lange überlegt, wie wir diese Art Gäste vermeiden können, aber die Zeiten sind schwer. Marbella ist nicht mehr das, was es einmal war. Dann noch die langen Coronajahre. Und überhaupt ist es fast unmöglich, zuverlässiges Service-Personal zu finden. Als dann die Anfrage von dieser Freiburger Schule kam, habe ich in den sauren Apfel gebissen und zugesagt.“

Javier machte sich Notizen und schaute dem Hoteldirektor in die Augen. „Deine Hotelgeschäfte laufen nicht gut.“

Ramón schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Das kann ich nicht schönreden. Und wir haben das gesamte Vermögen unserer Familie in die Pacht des Parasols investiert.“

Javier war sich nicht sicher, aber mit einem Mal kam es ihm so vor, als könnte der Hoteldirektor nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Er fand es fast peinlich, seinen Bekannten so emotional zu erleben. Plötzlich kam ihm eine Idee. Ramón war offensichtlich überfordert und viel zu involviert, als dass er ihm objektive Informationen über die deutschen Schüler und Lehrer liefern konnte. Er bräuchte einen nüchternen Beobachter von außen. Jemanden, der ihm die Stimmung in der Schulgruppe sachlich beschreiben konnte. Am besten jemanden, der Deutsch als Muttersprache beherrschte. Er dachte einen Moment nach. Und dann wusste er auch schon, wer diesen Part übernehmen würde.