Leseprobe Mord als Sahnehäubchen

Kapitel 1

„Zehn Zentimeter hohe Absätze sollten nur von Frauen getragen werden, die auf dem Rücken liegen“, murmelte Savannah in das winzige Mikrofon, das an ihrer linken Brust genau unter der Spitzenverzierung des lächerlichen roten Bustiers befestigt war. Der spitze Absatz ihres verdammten Schuhs verfing sich in einer Spalte zwischen den Asphaltsteinen, und sie hüpfte herum wie bei einem schottischen Säbeltanz, um das Gleichgewicht zu halten.

„Hey, niemand hat behauptet, dass es leicht ist, auf den Strich zu gehen“, antwortete eine knarzende männliche Stimme aus dem Minikopfhörer, den sie im Ohr hatte. „Im Gegenteil: Es ist harte Arbeit. Nicht umsonst bezeichnet man es schließlich als ‚Gewerbe‘, wenn auch als horizontales.“

Sie sah zu dem Pseudo-Penner hinüber, der sich auf der anderen Straßenseite auf eine Parkbank gelegt hatte, und streckte ihm die Zunge aus. Es war noch nicht ganz hell, und sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Deshalb verschaffte ihr diese Aktion bestenfalls geringfügige Befriedigung.

„Die Damen des horizontalen Gewerbes bekommen wenigstens Geld dafür“, rief sie ihm ins Gedächtnis. Ihre gedehnte Sprechweise im tiefsten Dixie-Akzent klang so weich wie eine laue, nach spanischem Flieder duftende Südstaatennacht. „Und wenn ich mich recht erinnere, sehe ich für das hier keinen müden Dollar.“

„Dafür tust du einem alten Freund einen Gefallen“, antwortete der Penner.

„Mit ‚alt‘ hast du recht. Warum hast du eigentlich keinen richtigen Polizisten gebeten, dir bei dieser Sache zu helfen?“ „Mike und Jake sehen in Frauenkleidern entsetzlich aus. Sie könnten bei einer Strandparty noch nicht einmal einen Wasserfloh aufreißen. Außerdem haben wir beide solche Nummern doch schon hundertmal so gut wie einmal durchgezogen. Schließlich waren wir mal Partner! Warum also machst du so viel Wind darum?“

„Damals stand ich zumindest noch auf der Gehaltsliste des San Carmelita Police Department. Heute bin ich Privatdetektivin, und 

„Und du hast gerade nichts Besseres zu tun und kennst niemanden, mit dem du es besser tun könntest. Wenn du mich nicht hättest, wärst du nicht schon um fünf Uhr morgens auf den Beinen und würdest hier mit deinem Südstaaten-Pfirsichhintern wackeln.“

„Ach, Süßer “ Savannah stützte die Hand auf die Hüfte, stellte sich in Positur und kicherte. „ magst du meinen Pfirsichhintern etwa?“

„Savannah, Schatz, ich liebe deinen Pfirsichhintern. Und gerade im Augenblick würde ich es vorziehen, wenn du eher mit ihm als mit deiner Zunge wackeln würdest. Es kann jetzt jeden Moment losgehen.“

Savannah warf einen Blick über die nahezu verlassene Straße in der Innenstadt San Carmelitas. Nichts rührte sich außer zwei Palmen, die sich in der frühmorgendlichen Brise vom Meer hin und her wiegten. Zu dieser Stunde war in der malerischen südkalifornischen Stadt nur ein einziges Geschäft auf der Lester Street geöffnet – Andys Adult Bookstore, die Buchhandlung für Erwachsene.

Dirk hatte einen Tipp bekommen, dass der Pornoshop der fünfte sein würde, der einem nächtlichen Raubüberfall zum Opfer fallen sollte. Zuerst hatte es den kleinen Kiosk zwei Straßenzüge weiter getroffen. Als Nächstes war die bis zwei Uhr morgens geöffnete Tankstelle auf der Lester Street dran gewesen. Dann hatte man ein paar Bars überfallen. Auch Andy hatte die ganze Nacht geöffnet; es war nur logisch, dass jetzt er an der Reihe war.

Dirk vermisste Savannahs ständiges Gefrotzel und lud sie deshalb gelegentlich ein, ihn bei einer nächtlichen Überwachungsaktion zu begleiten. Dieses Vorgehen wurde durch das Police Departement San Carmelitas nicht gerade gebilligt. Aber Detective Sergeant Dirk Coulter war mit Leib und Seele Schnüffler, und er hatte schon genug Schurken hinter Gitter gebracht, um die Regeln von Zeit zu Zeit beugen zu können und damit davonzukommen.

Savannah wiederum fand es schwierig, ihm irgendetwas abzuschlagen. Fünf Jahre lang waren sie Partner gewesen. Und als sie aus dem Department verbannt wurde, hatte er seine eigene Karriere riskiert und sie verteidigt. Aber besonders liebenswert machte ihn die Tatsache, dass er in all der Zeit niemals erwähnt hatte, dass ihr ‚Südstaaten-Pfirsichhintern‘ mittlerweile bedeutend breiter geworden war. Und falls er bemerkt hatte, dass sie sich von der zierlichen Kleidergröße 38 zu einer üppigen 48 hochgearbeitet hatte, so hatte er ebenfalls nie etwas dazu gesagt. Genauso sollte sich Savannahs Ansicht nach ein Gentleman verhalten. Die Tür zum Andys öffnete sich, und ein Kunde trat heraus, ein Typ von etwa Mitte dreißig, im Anzug der städtischen Müllabfuhr, der dümmlich und satt vor sich hin grinste. Vermutlich hatte er in Andys Sexshop den einen oder anderen Dollar gelassen. Es gab scheinbar nichts Besseres, um den Tag zu beginnen. Dann entdeckte er sie, musterte sie von oben bis unten, und sein Grinsen wurde breiter. „Hey, gut siehst du aus“, sagte er, als er bei ihr anlangte. „Willstn Freier?“

Na großartig. Genau das brauchte sie jetzt. Frühmorgens schon einen zweitklassigen Hansdampf in allen Gassen. „Verpiss dich“, sagte sie und ging an ihm vorbei.

Er folgte ihr. „Ach, komm schon  dafür stehst du doch schließlich hier rum.“

„Du bist nicht mein Typ“, sagte sie.

Über Kopfhörer hörte sie Dirk kichern. Dafür würde er bezahlen müssen. Der Kerl machte einen Schritt auf sie zu und packte sie am Unterarm.

„Ich habe Geld, Baby“, sagte er. „Das sollte mich zu deinem Typ machen.“

Mit einem Ruck des Handgelenks befreite sich Savannah aus seiner Umklammerung, griff nach seinem kleinen Finger und bog ihn nach hinten. Sie hörte und spürte, wie etwas knackte. Er schrie auf.

„Ich sagte, verpiss dich, Perversling“, sagte sie. Sie sah auf seine Hand und entdeckte einen Ehering an dem Finger neben dem, den sie soeben in der Mangel gehabt hatte. „Na, hast du deiner Frau erzählt, dass deine Schicht heute ein bisschen früher beginnt? Liegt sie mit den Kindern noch friedlich im Bett, während du dich hier rumtreibst und dir bei Andy einen wichst?“

Er zuckte nur ganz leicht zusammen – ob aus schlechtem Gewissen oder wegen seines verletzten Fingers, konnte sie nicht sagen. Deshalb beschloss sie, das Messer noch etwas tiefer in die Wunde zu stoßen: „Was würde deine Mutter wohl von dir denken, wenn sie dich jetzt hier sähe, hmm?“

Für den Bruchteil einer Sekunde errötete er vor Scham, dann erholte er sich wieder. „Du solltest den Mund nicht gar so voll nehmen, Schwester, wenn du hier in so ‘ner Aufmachung herumstolzierst.“

„Nun, und du bist eine Schande für deine Uniform. Und jetzt verdufte verdammt noch mal, bevor ich die Bullen rufe!“ Der Typ brummelte ein paar Obszönitäten vor sich hin und trollte sich. Und das keinen Augenblick zu früh. Ein alter, blaugrüner Oldtimer – frühe Siebziger mit zerschmettertem Kotflügel vorne rechts – bog um die Ecke und parkte vor Andys Geschäft.

„Sieht aus, als seien das die Kerle, auf die wir warten“, flüsterte Dirk ihr ins Ohr.

Einige Zeugen hatten eine Beschreibung der Räuber abgegeben: zwei Weiße, einer mager mit kurz geschnittenem, blondem Haar, der andere mit einer schwarzen, strähnigen Mähne und einer Baseball-Kappe. Außerdem hatten sie von einem grünen Schlachtschiff undefinierbarer Marke gesprochen. „Ja, sieht so aus“, flüsterte Savannah und lehnte sich lässig an den Laternenpfahl, um die Männer aus den Augenwinkeln beobachten zu können.

Der Blonde stieg an der Beifahrerseite aus und sah die Straße hinauf und hinunter. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und Savannah versuchte, eine schnelle Einschätzung seines Intelligenzquotienten vorzunehmen. Wahrscheinlich ähnelte er seiner Schuhgröße. Und er hatte nicht besonders große Füße. Nach insgesamt fünfzehnjähriger Tätigkeit bei der Polizei und jetzt als Privatdetektivin wunderte sich Savannah immer noch darüber, wie sehr sich die richtigen Verbrecher von denen, die man aus Hollywoodfilmen kannte, unterschieden. Oh, sie hatte durchaus ein paar listige und schlaue Kriminelle kennengelernt; aber im Großen und Ganzen waren diejenigen, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, die Gesetze zu brechen, eher Dummköpfe. Wahrscheinlich gingen einfach die meisten Weltraumwissenschaftler davon aus, dass es sich nicht lohnte, einen nachts geöffneten Pornoshop zu überfallen, um dort eine magere Beute zu ergattern.

Ein Blick in die Augen dieses Typen sagte ihr, dass die NASA ihn wohl kaum in der nächsten Zeit als Mitarbeiter anwerben würde.

Nachdem er sie zwei Sekunden lang mit lüsternen Blicken gemustert hatte, drehte er sich um und marschierte in den Laden.

Die vorherigen Opfer des Paares hatten ausgesagt, dass Goldlöckchen das Geschäft immer als Erster betrat, sich hinter irgendeiner Dekoration verbarg und eine schwarze Skimütze überzog. Dann tauchte er mit einer Waffe in der Hand wieder auf und verlangte sämtliches Bargeld und sämtlichen Schmuck. Savannah beschloss, großzügig zu sein und ihm 1,2 Punkte für Raffinesse und 1,1 Punkte für Originalität zu geben. Der Schurke im Auto – der mit den langen, fettigen Strähnen und einer Rundumsonnenbrille  hatte am letzten Freitagabend seine Freundin zusammengeschlagen. Sie arbeitete als Kellnerin und hatte sich ihrer Kollegin anvertraut, die wiederum mit ihrer Maniküre darüber gesprochen hatte. Und Letztere lebte zufällig auf dem gleichen Wohnwagenpark wie Dirk. Gewalt in der Familie blieb in einer kleinen Stadt wie San Carmelita einfach nicht verborgen. Der Klatsch gedieh hier nämlich mindestens ebenso gut wie die Avocados und Zitronen, wenn nicht sogar noch besser.

Auf der anderen Straßenseite hatte sich Dirk von seiner Bank erhoben und torkelte in bester Säufermanier auf sie zu. „Los, Süße“, flüsterte er in ihren Kopfhörer. „Jetzt zeig ihm deinen Pfirsichhintern.“

Und Savannah schlenderte mit großartigem Dixie-Hüftschwung zu dem parkenden Auto hinüber und sorgte dafür, dass Ekel Nummer zwei genug Zeit hatte, um die Ware eingehend zu begutachten. Sie musste sich dranhalten; Blondie war sicher gleich wieder da.

Nachdem sie sicher war, dass sie sein Interesse geweckt hatte, bewegte sie sich näher an die Beifahrerseite heran. Das Fenster war heruntergekurbelt, also lehnte sie sich hinein. Bei dem Gestank nach kaltem Schweiß, Zigarettenrauch und vergammeltem Fast Food, der ihr dort entgegenschlug, atmete sie unwillkürlich flacher.

Nummer zwei war aus der Nähe sogar noch ekelhafter und schmutziger: Er hatte unreine Haut und verfaulte Zähne. Die Baseballkappe hatte er nach hinten geschoben, und die Rundumsonnenbrille war wahrscheinlich dazu gedacht, ihm ein geheimnisvolles Flair zu geben, ließ ihn allerdings eher aussehen wie einen bemitleidenswerten Möchtegern-Terminator. Wahrscheinlich war Blondie sogar das Hirn der Aktion. Wie beängstigend!

„Tag, mein Hübscher“, sagte Savannah und hatte Mühe, nicht an den eigenen Worten zu ersticken. Ja, dafür war Dirk ihr etwas schuldig  etwas richtig Großes. „Kleiner Fick gefällig?“ „Äh  nein  jetzt nicht. Ich bin beschäftigt.“ Sie sah, dass er sein einziges Gramm gesunden Menschenverstand gegen ein viel dringenderes Bedürfnis abwog, welches sich dank ihrer fülligen Büste, die sie durch das offene Fenster schob, in ihm regte.

„Keine Sorge, Süßer. Bei einem Mädel wie mir brauchst du nicht lange.“

Sie ignorierte seinen leisen, halbherzigen Widerspruch, riss die Autotür auf und schlüpfte auf den Beifahrersitz. Dann ließ sie ihren kurzen Lederrock nach oben rutschen und enthüllte den oberen Rand ihrer Strümpfe und ihre Strapse. Selbst durch die dunklen Brillengläser konnte sie erkennen, wie ihm die Augen aus den Höhlen traten. Gut. Er war also ein Strumpffetischist. Na ja, das waren sie schließlich alle.

Er warf einen schnellen Blick zu Andy‘s hinüber, dann stierte er wieder auf ihre Beine. „Ich habe nicht viel Geld  zumindest noch nicht.“

„Dann ist heute dein Glückstag, denn ich verlange auch nicht viel. Nicht für das, was du heute brauchst. Wie wärs mit dreißig Mäusen?“

„Na ja  ich weiß nicht. Ich 

„Zwanzig.“

„Wie ich schon sagte, ich bin ziemlich beschäftigt, und du 

„Ja?“

„Du hast einen ganz schön fetten Arsch.“

Sie widerstand dem Impuls, ihm sein eigenes Gesicht zu fressen zu geben, Auge um Auge, Zahn um Zahn. „Ja, und du hast Titten und einen Bierbauch. Aber wir treiben es doch schließlich nicht auf einem Schönheitswettbewerb, oder? Und jetzt zieh den Reißverschluss auf und mach voran.“

Er zögerte noch einen Augenblick, murmelte: „Na gut“, und begann dann, an seinem Hosenschlitz herumzufummeln. „Nicht den, Süßer“, sagte Savannah, zog die Beretta aus ihrer roten Pailletten-Tasche und hielt ihm die Mündung der Waffe an den Hals. „Für das, was jetzt kommt, kannst du die Hose anlassen.“ „W-wa-was?“

Mit der linken Hand riss sie den Reißverschluss seines schmuddeligen Anoraks auf. „Ich will nicht deine Hose, sondern deine Jacke, die Kappe und die Sonnenbrille. Los, lass sie ‘rüberwachsen, und zwar ein bisschen plötzlich.“

 

Als Franky Morick – alias Frank der Verrückte, alias Ekel Nummer eins – mit einem Kopfkissenbezug voller Beute in der einen und seiner ‘22er in der anderen Hand Andys Buchhandlung verließ, glaubte er zunächst, dass Buzz sich ohne ihn aus dem Staub gemacht hatte. Das Auto war weg! Dieser dumme  Aber nein, er war ein paar Meter weitergefahren, auf die Straßenkreuzung zu. Er hatte keine Ahnung, warum, und er würde später mit Buzz darüber reden müssen. Und wenn sie sich miteinander unterhalten hatten und Buzz erst mal in der Notaufnahme des Krankenhauses lag, würde er sich einen besseren Fahrer suchen. Zum Beispiel einen mit Gehirn. Er rannte auf das Auto zu, riss die Tür auf und sprang hinein. „Fahr! Nun fahr schon, du Arschloch!“, schrie er. Aber der Wagen rührte sich nicht. Genauso wenig wie Buzz. Er saß einfach nur da, starrte unverwandt geradeaus, auf der Nase diese dämliche Sonnenbrille, die vollkommen nutzlos war, weil die Sonne schließlich noch gar nicht aufgegangen war. Frank warf einen Blick zurück auf Andys Laden und sah, dass der Ladenbesitzer mittlerweile im Türeingang stand. Zweifellos notierte er sich soeben das Kennzeichen. Verdammt! Er hatte vergessen, sein eigenes Nummernschild gegen das seiner Mutter auszutauschen, wie er es vor einem solchen Job sonst immer zu tun pflegte.

„Los, verdammt noch mal! Sitz nicht da und porkele dir in der Nase, um Himmels willen! Drück auf die Tube!“

Doch Buzz rührte sich immer noch nicht.

Frank schob die Pistole in den Bund seiner Jeans und warf den Kopfkissenbezug mit dem Geld auf den Boden. Dabei fiel ihm etwas ins Auge.

Er blinzelte. Sicher hatte er im Halbdunkel des Wageninneren gerade eine Erscheinung gehabt. Buzz trug nicht nur seine merkwürdige Sonnenbrille, seine Baseball-Kappe und seinen schmuddeligen Anorak, sondern auch schwarze Nylonstrümpfe  Strapse  und Stöckelschuhe. „Was zum Teufel !“

Frank hob den Blick und sah in den dunklen Lauf eines 9-mm-Revolvers. Jetzt glaubte er, vollkommen den Verstand verloren zu haben. Das war genau ein verrücktes Ereignis zu viel für Frank den Verrückten.

Als ‚Buzz‘ die Brille herunterschob und Frank über den Rand hinweg fixierte, starrte er in die kältesten blauen Augen, die er je gesehen hatte.

Eine weiche, weibliche Stimme sagte in gedehntem Südstaatenakzent: „Leg die Hände auf das Armaturenbrett, Süßer, bevor ich dir deine Gehirnzellen rauspuste  alle beide.“

„Aber Sie sind eine  wer sind  wo ist ?“

„Wo dein Freund ist?“ Savannah kicherte und deutete mit einem Kopfnicken quer über die Straße, wo Frank Buzz neben einem Penner in einem zerknitterten Regenmantel stehen sah. Buzz sah nicht allzu glücklich aus, und Frank nahm an, dass es etwas mit den Handschellen zu tun hatte, die er trug. „Wer zum Satan ist das?“, fragte Frank die Frau mit den blauen Augen und der Waffe, die sie auf seinen Kopf richtete. „Sind Sie ein Bulle oder so was?“

„Ich bin eher ein ‚oder so was‘“, antwortete sie. „Aber der Penner ist ein Cop.“

„Dann bin ich also verhaftet oder was?“

„Im Augenblick bist du ‚oder was‘. Wenn du hier neben mir sitzen bleibst, wirst du gleich auch verhaftet. Und wenn du dich allerdings bewegst, bist du ein toter Mann. Wofür entscheidest du dich?“

Sie sah aus, als ob sie es ernst meinte.

Frank der Verrückte beschloss, einfach sitzen zu bleiben.

 

Savannah fuhr ihren 68er Camaro die Auffahrt hinauf und stellte den Motor ab, aber das alte Gefährt tuckerte, pfiff und zitterte weiter, als weigere es sich, ihr zu gehorchen. „Ruhe jetzt, oder es gibt eins mit dem Vorschlaghammer“, drohte sie und schlug auf das Lenkrad. Das Auto gab ein rüdes Hupen von sich.

„Ich werde wohl langsam alt. Diese Nachteinsätze bringen mich noch um“, murmelte Savannah und hievte ihren müden Körper aus dem Auto. Dann humpelte sie hinauf zu dem winzigen Haus im spanischen Stil, das sie als ihr Zuhause bezeichnete – wenn sie ihm nicht andere, eher abschätzigere Namen gab, denn das Dach war undicht, die Grundmauern sackten ab, und es war von Termiten verseucht.

Auf der Hälfte des Weges zu ihrem Haus blieb sie stehen, um sich die Stöckelschuhe auszuziehen. Sie klemmte sie unter den Arm und sah, wie ihre Nachbarin, die neugierige alte Mrs. Normandy, zum Küchenfenster herausspähte. Einmal hatte Savannah ihr zu erklären versucht, warum sie manchmal so seltsam gekleidet war, wenn sie das Haus verließ. Aber Mrs. Normandy schien nicht in der Lage zu sein, das Konzept, das dem Begriff ‚undercover‘ zugrunde liegt, zu verstehen. Vielleicht war es für die alte Frau ja auch einfach nur interessanter zu denken, dass sie Tür an Tür mit einer Frau lebte, die die Hälfte der Zeit als Privatdetektivin und die andere Hälfte als Nutte arbeitete. Mrs. Normandy war zudem davon überzeugt, dass Aliens Jimmy Hoffa aus ihrem Hinterhof entführt hatten, deshalb verschwendete Savannah nicht viel Zeit damit, sie wegen ihrer gewagten Kleidung zu besänftigen. Savannah hatte den Schlüssel gerade ins Schloss ihrer Haustür geschoben, als eine fröhliche Stimme über den Rasen hinweg ertönte: „Hey, Savannah! Ich bin hie-ier!“ Der nasale Ostküstenakzent zerrte an ihren übermüdeten Nerven.

Sie sah auf die Uhr und bemerkte, dass es genau neun Uhr war. Verdammt, das Mädchen war pünktlich.

Sie drehte sich um. Die Auszubildende ihrer Detektei, Tammy Hart, joggte über den Rasen auf sie zu.

Savannah liebte Tammy heiß und innig; die junge Frau war intelligent, gutherzig und ein Genie am Computer – genau das Gegenteil des dummen Blondchens, das sie auf den ersten Blick zu sein schien. Aber einen großen Charakterfehler besaß Tammy doch: Sie war ein Morgenmensch.

Ihr kurzer, goldener Pferdeschwanz schwang von einer Seite zur anderen, als sie auf die Veranda trabte, wo sie weiterhin auf der Stelle hüpfte, hüpf  hüpf  hüpf, bis Savannah glaubte, dass ihr schon vom bloßen Zusehen schlecht würde. Sie trug ein Lächeln auf den Lippen, das vor dem Mittagessen verboten sein müsste, und leuchtend gelbe Shorts, bei deren Anblick Savannah sich wünschte, noch Buzz‘ Sonnenbrille auf der Nase zu haben.

„Hoffentlich bin ich nicht zu spät dran“, schwadronierte Tammy los. „Mein Käfer wollte nicht anspringen, deshalb habe ich beschlossen, einfach zur Arbeit zu joggen  den Kreislauf in Wallung zu bringen, weißt du.“

Tammys klassischer Volkswagen war das einzige Auto auf der Welt, das noch unzuverlässiger war als Savannahs Camaro. Aber deshalb joggen? Es mussten fast zehn Meilen zwischen Tammys Wohnung und Savannahs Haus liegen, und sie war noch nicht einmal verschwitzt – nur dieser hübsche Schimmer auf der Stirn, der auf ihrer goldenen, kalifornischen Sonnenbräune so ladylike wirkte.

Manchmal hasste Savannah sie geradezu.

„Hübsches Outfit, besonders die Schuhe!“ Tammy hüpfte weiter.

Savannah warf ihr die Stöckelschuhe entgegen. „Hier, du kannst sie haben.“

„Wow, danke. Mal sehen, ob sie mir passen.“

„Das werden sie schon“, grollte Savannah, wobei sie sich die Bemerkung verkniff, dass die Schuhgröße wohl das Einzige war, dass sie jemals gemeinsam haben würden. Die zierliche Tammy trug doch tatsächlich Kleidergröße 34! Bis zu dem Tag, da Savannah sie zu Boden geworfen, dort festgehalten und ihren Blusenkragen nach außen gestülpt hatte, um sich das Schild anzusehen, hatte sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas wie eine Größe 34 überhaupt gab!

Savannah schloss die Tür auf und traf auf zwei hungrige und unglückliche Katzen. Diamante und Cleopatra ähnelten eigentlich eher zwei schwarzen Miniaturleoparden als zwei Hauskatzen, und ihr Appetit war genauso gesund wie der ihrer Herrin. „Oooh, die Süßen!“, gurrte Tammy, während sie Savannah ins Haus folgte und beugte sich dann hinunter, um die Katzen zu streicheln. „Guten Morgen!“

„So etwas gibt es nicht“, grummelte Savannah.

„Wie bitte?“

„Ich sagte, so etwas wie einen guten Morgen gibt es nicht. Das ist ein Oxymoron.“

„Oh, du bist doch nur miesepetrig, weil der dumme, alte Dirk dich die ganze Nacht über auf den Beinen gehalten hat.“

Wenige Minuten, nachdem sie ihn kennengelernt hatte, hatte Tammy Savannahs ehemaligen Kollegen als ‚dummen, alten Dirk‘ bezeichnet, und nur selten sprach sie seitdem seinen Namen ohne die begleitenden Adjektive aus. „Ich bin nicht miesepetrig.“ Savannah warf ihre Tasche auf einen Seitentisch und betrat das Zimmer, das ihr früher als Wohnzimmer gedient hatte, das mittlerweile jedoch zum Büro der Moonlight Magnolia Detective Agency umfunktioniert worden war. „Ich bin eben nur kein Morgenmensch“, fügte sie hinzu. „Ich hasse die Morgenstunden, und ich hasse Morgenmenschen  wie dich.“

Tammy lachte so laut, dass es Savannah in den Ohren wehtat. „Wie lustig. Du bist köstlich, Savannah, selbst wenn du miesepetrig bist.“

„Tammy, ich meine es ernst! Lass deine dummen Bemerkungen. Ich bin nicht dazu aufgelegt. Und bevor ich kein heißes Bad genommen und ein paar Stunden geschlafen habe, reden wir auch nicht über unseren Puls oder über messbare Gehirnwellen.“

Savannah zwang sich, in die Küche zu gehen und etwas Gourmet-Katzenfutter in die beiden Schalen unter der Arbeitsplatte zu füllen. Sie wurde von sanftem Schnurren und dem seidigen Gefühl des Katzenfells an ihren Knöcheln belohnt. Unerschrocken tanzte Tammy im Sambaschritt durchs Büro, schaltete Computer und Drucker ein und überprüfte das Fax. „Und wage es ja nicht, die Jalousien auch nur anzurühren“, warnte Savannah sie. „Wenn du auch nur einen Sonnenstrahl in dieses Zimmer lässt, bist du gefeuert.“

Tammy war offensichtlich von dieser Drohung zu Tode erschrocken, denn sie trällerte eine mitreißende Erwiderung vor sich hin: „Dum-die-dei-die-dödel-du.“

„Und hör auf, dieses blöde Lied zu singen“, sagte sie, „Es sei denn, irgendeinem Kerl hängt der Dödel raus.“

„Bitte?“

„Egal.“ Savannah seufzte. Gegen zwanghaften Optimismus und Frohsinn war eben kein Kraut gewachsen  mal abgesehen von Mord, aber dafür war ihre Laune nun auch wieder nicht schlecht genug.

Sie stöberte in ihrem Kühlschrank herum und fand etwas, das ihre Stimmung augenblicklich hob: ein Schokoladenmuffin mit Käsesahnefüllung. Savannah stellte eine Tasse mit kaltem Kaffee in die Mikrowelle und veredelte ihn mit einem Schuss Baileys und Sahne. Ah, Frühstück.

Aber in dem Augenblick, da sie Tasse und Teller ins Büro trug, warf Tammy ihr ‚den Blick‘ zu.

„Oh, halt bloß den Mund, trink dein reines Quellwasser und knabbere deine natürlichen Karottenstücke“, sagte Savannah zu ihr.

Tammy grinste und zuckte die Achseln. „Ich habe kein Wort gesagt.“

„Ja, ja. Aber ich habe trotzdem jedes Wort verstanden. Nicht jeder lebt ebenso spartanisch wie du.“ Savannah ließ sich in ihren Lieblingssessel fallen  gut gepolstert, genau wie sie es am liebsten hatte, und genau wie sie selbst. „Einige Menschen“, sagte sie, atmete das Aroma des Kaffees ein und freute sich auf ihren Schokoladenmuffin, „sind eben echte, unbestechliche Hedonisten.“ Tammy setzte sich an den Computer und begann zu tippen. „Wie auch immer.“

„Und was soll das nun wieder heißen?“

Mit vollkommen unschuldiger Miene antwortete Tammy: „Wenn du dich mit allen möglichen Giftstoffen vollpumpen willst, den vollkommenen Körper, den die Natur dir gegeben hat, verunreinigen willst, dann ist das natürlich dein gutes Recht. Aber Ms. Valentina sagt 

„Oh bitte! Fang jetzt bloß nicht an, Kat Valentina zu zitieren. Sie ist wohl kaum eine Ernährungsexpertin oder eine Expertin für irgendetwas anderes.“

„Ich mag Kat.“

Tammy sagte diese drei Worte ganz schlicht und ruhig, aber Savannah konnte hören, wie verletzt sie war. Aus irgendeinem Grund, der Savannahs Verständnis überstieg, mochte Tammy ihre ‚andere‘ Arbeitgeberin. Sie war die Besitzerin des berühmten Royal Palms Kurhotels, das auf dem Hügel errichtet worden war, von dem aus man einen Überblick über ganz San Carmelita hatte.

Es handelte sich um eine Art Eldorado der Möchtegern-Neureichen und Beinahe-Berühmten. Kein oscarverdächtiger Schauspieler oder hochgelobter Regisseur war je innerhalb dieses Komplexes gesehen worden. Royal Palms war selbst für Hollywood zu protzig.

In den frühen Siebzigern hatte Kat Valentina in einem sehr erfolgreichen Film mitgespielt, der den Titel Disco Diva trug. Die Kritiker hatten ihn in der Luft zerrissen, aber die Fans waren in Scharen in die Kinos gestürmt und hatten Kat Valentina zur Kultfigur erhoben.

Wie Savannah gehört hatte, war Kat niemals wirklich über die Gewohnheiten der Siebzigerjahre hinweggekommen. Noch immer lebte sie nach dem Motto ‚Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment‘. Royal Palms stand in dem Ruf, lediglich eine Erweiterung ihrer eigenen hedonistischen Einstellung zu sein. Obwohl der Club sich selbst als Kurhotel bezeichnete, beschäftigten sich die Gäste eher damit, herumzutändeln als Aerobic zu betreiben. Sie nahmen mehr halluzinogene Drogen als reinigende Kräutertees ein, und statt nach ihrer seelischen Mitte zu suchen, schmiedeten sie Intrigen. Savannah war also nicht allzu glücklich gewesen, als Tammy ihr vor drei Monaten gestanden hatte, dass sie dort einen Teilzeitjob als Aerobic-Lehrerin annehmen wollte. Aber wenn man bedachte, wie wenig Savannah ihr bezahlen konnte, durfte sie sich wohl kaum beschweren.

„Ich weiß, dass du sie magst“, sagte Savannah und verfluchte ihr mangelndes Einfühlungsvermögen. „In Zukunft behalte ich meine Ansichten für mich, zumindest solange du mich mit deinen Ernährungstipps verschonst. Okay?“

„Ja klar. Kein Problem.“ Tammys Miene heiterte sich sofort wieder auf. Auch das war ein Charakterzug an ihr, den Savannah liebte: ihre Fähigkeit, zu vergeben und zu vergessen. „Übrigens, wo wir gerade von Geld sprechen ...“, begann Savannah.

„Ach, tun wir das?“

„Nun, zumindest jetzt. Hat Mr. Barnett uns eigentlich das letzte Honorar gezahlt, das er uns für 

Das Klingeln des Telefons unterbrach sie, und Tammy griff sofort zum Hörer, wobei sie nicht nur eine gewisse Professionalität, sondern auch die Atemlosigkeit einer Marilyn Monroe an den Tag legte.

„Moonlight Magnolia Detective Agency“, hauchte sie. „Kann ich Ihnen helfen?“

Savannah hörte aufmerksam zu. Sie hatte das ungute Gefühl, dass es nur Dirk war, der sie um einen weiteren Gefallen bitten oder sich auf eine Pizza und ein Bier bei ihr zum Abendessen einladen wollte. Ein Festessen. Aber man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass es womöglich doch ein neuer Klient war. Bei Gott, sie brauchte unbedingt Aufträge, wenn sie Diamante und Cleopatra auch weiterhin ihr Gourmet-Katzenfutter geben wollte.

„Ja, hier spricht Tammy.“ Sie sah etwas verwirrt aus. „Oh, hi, Mr. Hanks.“

Hanks? Lou Hanks? Savannah erinnerte sich, ihn ein oder zweimal getroffen zu haben. Er war Kat Valentinas Ex-Mann und Geschäftspartner. Ihm gehörte die Hälfte des Royal Palms. „Ja, ich komme heute Nachmittag, um den Stepptanz-Kurs zu leiten“, sagte Tammy gerade. „Oh, warum nicht? Geschlossen? Aber was ?“

Als Savannah sah, wie aus Tammys sonnengebräuntem Gesicht alle Farbe wich, stellte sie ihren Muffin und ihren Kaffee auf ein Tischchen.

„Oh nein! Wirklich? Oh, Mr. Hanks  Ich  Es tut mir so leid  ich  natürlich, ich verstehe. Wenn ich irgendetwas tun kann, rufen Sie mich an 

Tammy legte auf und sah Savannah an. Ihre Augen waren vor Schmerz und Schreck weit aufgerissen, und sie schlug eine Hand vor den Mund.

„Was ist los?“, fragte Savannah. Doch sie wusste es. Sie kannte diesen Blick. Er bedeutete immer nur das eine. „Das war Mr. Hanks.“ Tammy begann, am ganzen Körper zu zittern. Savannah erhob sich, ging zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was hat er gesagt, Liebes?“, fragte sie.

„Es geht um Ms. Valentina. Kat ist tot.“

Kat Valentina war Anfang vierzig, und Savannah hatte sie erst vor zwei Wochen in einer Boutique in der Innenstadt getroffen. Sie hatte zwar ein bisschen mitgenommen ausgesehen, doch Savannah hatte das auf Drogenmissbrauch oder ihren Alkoholkonsum zurückgeführt. Ganz bestimmt hatte sie nicht wie jemand ausgesehen, der ein paar Tage später den Löffel abgibt.

„Hat er gesagt, wie sie gestorben ist?“, fragte Savannah und streichelte Tammys Schulter in dem Versuch, ihr ein bisschen Trost zu spenden.

„Nicht so richtig. Aber er hat gesagt, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen soll, weil der Club geschlossen ist.“

„Das überrascht mich nicht  wenn man bedenkt 

„Ja, schon, aber er hat gesagt, dass die Polizei die Schließung angeordnet hat.“

Kapitel 2

Nachdem Savannah sich etwas Passendes angezogen hatte, fuhren sie und Tammy zum Royal Palms Kurhotel. Als sie dort ankamen, war die Polizei noch da, und auch die Medien hatten Wind von der Geschichte bekommen. Fernsehleute aus Los Angeles und das Zweimannteam des Lokalsenders von San Carmelita drängten sich vor dem Haupteingang, wurden aber abgewimmelt. Scheinbar war Kat Valentina nach wie vor in der Lage, einen gewissen Aufruhr zu verursachen, besonders wenn sie plötzlich verstarb.

Savannah ließ ihre Lizenz als Privatdetektivin aufblitzen, als ob es eine Polizeimarke wäre. Auf diese Weise gelang es ihr, sich einen Weg durch die Menge und sogar durch den Eingang zu bahnen. „Siehst du“, flüsterte sie Tammy zu, die ihr auf dem Fuße folgte. „Auf die richtige Handbewegung kommt es an.“ Drinnen halfen ihr ihre freundschaftlichen Beziehungen zur Polizei, durch die protzigen, mit Gold bemalten Türen in den Empfangsbereich zu gelangen. Die Lobby war Kat Valentinas Vorstellung von einer alten römischen Villa nachempfunden worden, eine albtraumartige Collage von Pseudo-Artefakten. Zwei riesige weiße Gipsstatuen beherrschten das Halbrund des Raumes: zwei Nackte, ein Mann und eine Frau, die wahrscheinlich das ideale Männchen und Weibchen der Spezies darstellen sollten. Schlanke und dennoch muskulöse Wesen, die geradewegs den Seiten eines Superheldencomics entsprungen zu sein schienen. Anatomisch gesehen war jedes Detail am richtigen Platz, aber viele der körperlichen Merkmale waren dermaßen übertrieben dargestellt, dass man sie in der Realität nur durch eine plastische Operation hätte erreichen können. „Was für riesige Titten man sich da machen lassen müsste!“, murmelte Savannah, als sie mit Tammy an den Standbildern vorbeihastete. „Und um einen dermaßen großen Schwanz zu kriegen, braucht man ein Penisimplantat  und zwar eines mit einem zehn Pfund schweren Bleigewicht. Man sollte den Club belangen – wegen unerlaubter Werbung.“

Da Tammy nur verletzt schwieg, ermahnte Savannah sich, den Mund zu halten. Gott mochte verhüten, dass sie weiterhin über die Tote herzog.

Sie fragte sich, wer eigentlich für diese dumme Regel, dass man von Toten nur gut sprechen durfte, verantwortlich war? Wahrscheinlich jemand, der nicht etwa grundsätzlich gnädig mit den Toten war, sondern einer, der vor der Heimsuchung durch verärgerte Verstorbene Angst hatte.

Sie gingen an den griechischen Säulen vorbei, von denen bereits die Farbe abblätterte. Auf dem Boden lag ein blauer Teppich, der auch schon bessere Tage gesehen hatte  vor zehn Jahren. Die Plastikgrünpflanzen im Atrium zu ihrer Linken waren von der Sonne gebleicht und vergilbt. Niemand hatte heute Morgen den Brunnen eingeschaltet, deshalb blieb der ‚Wasserfall‘ trocken. Der Goldfisch war ohnehin schon vor langer Zeit aus dem Teich verschwunden.

„Geht es dem Laden finanziell gesehen eigentlich gut?“, fragte Savannah Tammy leise, als sie den Flur entlangeilten und sich dem Bereich näherten, der das Zentrum aller Aktivitäten zu sein schien. Dort, wo die Badehäuschen standen. „Ich weiß es nicht genau, aber Mr. Hanks hat uns gedrängt, Kunden zu akquirieren, und bietet seit Neuestem eine Menge preiswerter Sondertarife an. Wahrscheinlich geht es dem Club also nicht allzu gut.“

Ein junger Mann und eine junge Frau kamen ihnen auf dem Flur entgegen. Beide trugen dünne Togen aus Gaze, die ihre geschlechtsspezifischen Kostbarkeiten kaum zu verhüllen vermochten. Die Frau war eine attraktive Brünette mit üppigen Locken. Der Mann sah aus wie ein Strandgigolo oder ein Rettungsschwimmer, der als griechischer Gott verkleidet ist. „Brett, Karen, was ist passiert?“, flüsterte Tammy angespannt, obwohl außer ihnen niemand in der Nähe war. „Wir wissen es nicht.“ Die hübsche junge Frau machte einen gleichermaßen verängstigten wie eingeschüchterten Eindruck. „Mr. Hanks hat sie heute Morgen in einem der Fangobäder gefunden. Sie war bereits  du weißt schon 

„Die Polizei ist hier und überprüft alles und jeden“, fügte Brett hinzu. „Sie haben die Badehäuser abgesperrt. Nicht dass ich auch nur den leisesten Wunsch verspüren würde, hineinzugehen. Man hat sie nämlich noch nicht weggebracht.“ Gut, dachte Savannah. Vielleicht konnte sie ja einen Blick auf den Tatort werfen, bevor die Leiche abtransportiert wurde. Natürlich hatte sie kein offizielles Interesse an dem Fall, aber sie war unwillkürlich neugierig geworden. Außerdem hatte sie das irrationale Gefühl, dass sie es Tammy schuldig war, sich die Sache zumindest einmal anzusehen.

„Wie hat Mr. Hanks es aufgenommen?“, fragte Tammy. „Er ist sicher am Boden zerstört.“

Brett und Karen tauschten einen Blick, den Savannah unter ‚wissend‘ abspeicherte.

„Davon ist zumindest nichts zu merken“, flüsterte Brett. „Er scheint in der Hauptsache wütend darüber zu sein, dass der Detective ihn eine halbe Stunde lang auf kleiner Flamme weichgekocht hat. Die Cops benehmen sich, als ob es sich um Mord handelte.“

„Davon müssen sie auch zunächst einmal ausgehen“, sagte

Savannah. „Zumindest, solange sie nicht das Gegenteil bewiesen haben. Ich bin sicher, es ist nur Routine, dass sie ihn verhören.“

Karen zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht, aber dieser Cop ist ein ziemlich ordinärer Kerl und ein Arschloch obendrein. Nicht gerade Mr. Hanks Typ.“

Ein ordinärer Kerl und ein Arschloch, dachte Savannah, während sie  mit Tammy im Schlepptau – auf die Badehäuser zuging.

Sie hatte da so eine Ahnung.

 

Jawohl. Es war tatsächlich Dirk, der am Tatort herumfuhrwerkte. Er stand draußen im offenen Hof hinter dem Hauptgebäude, regelte den Verkehr und bellte dem forensischen Team, das den Tatort untersuchte, Fragen und Befehle zu. Selbst unter den besten Umständen war Dirk nicht unbedingt ein modisch aussehender Typ. Aber jetzt war er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, wie Savannah sehr wohl wusste, und der Schlafmangel hatte sein ohnehin etwas heruntergekommenes Erscheinungsbild nicht gerade verbessert. Obwohl er die Penner-Klamotten inzwischen ausgezogen hatte, war der Unterschied kaum zu erkennen.

Er trug noch dieselben ausgelatschten Turnschuhe wie in der Nacht. Seine Kakihosen waren zerknittert, und seine Krawatte hing schief wie immer. Das bisschen Haar, das er sein eigen nannte, stand ihm vom Kopf ab. Das allerdings war ungewöhnlich. So schlampig er auch in Bezug auf den Rest seiner Körperpflege sein mochte, sorgte Dirk doch im Allgemeinen dafür, dass seine wenigen Haare ordentlich über der Glatze lagen. Vor langer Zeit war Savannah zu der Erkenntnis gekommen, dass jeder Mensch seinen eitlen Punkt hat. Selbst ein Kerl wie Dirk.

Auch seine Umgangsformen waren durch den Schlafmangel nicht gerade verfeinert worden.

„Sofort raus hier, zum Teufel!“, hörte sie ihn ein paar togabekleidete Angestellte anschreien, die über das gelbe Band geklettert waren, welches das Gebiet um eines der Badehäuschen absperrte. Der Ort des Verbrechens  wenn es überhaupt ein Verbrechen gegeben hatte  war die letzte in einer Reihe winziger, cottageähnlicher Hütten mit weißen Stuckwänden und leuchtend blauen Ziegeldächern.

„Jedes Haus hat sein eigenes Bad“, erklärte Tammy. „Bei manchen handelt es sich nur um ganz normale heiße Wannen, bei manchen um Fangobäder.“

Savannah widerstand dem Drang, Tammy mitzuteilen, dass ihr dieser Ort durchaus vertraut war. Vor Jahren, als sie gerade erst nach San Carmelita gekommen war, war sie auf dem nahe gelegenen Friedhof zur Streife eingeteilt gewesen und häufig in den Club gerufen worden, um dort den Streit von Betrunkenen zu schlichten. Damals wurden die Hütten jedenfalls noch für erheblich intimere Aktivitäten benutzt als für Fangobäder. Vielleicht waren Orgien ja aufgrund der Angst vor Aids mittlerweile nicht mehr in Mode, trotzdem vermutete Savannah, dass einige dieser Hütten auch heute noch für erheblich irdischere Arten des Zeitvertreibs genutzt wurden als zur Meditation und Seelenerforschung.

„Wahrscheinlich ist es besser, wenn du hier wartest“, sagte Savannah zu Tammy, bevor sie auf die Absperrung zuging. „Eigentlich dürfte er selbst mich nicht hinüberlassen, geschweige denn uns beide. Wir wollen ihn nicht reizen, da er jetzt schon in ‚Knöter‘-Stimmung ist.“

Tammy zögerte, dann sah sie lange fragend in Savannahs Augen.

„Ja, auch deshalb“, gab Savannah zu. „Es ist schon schlimm genug, wenn es ein Fremder ist. Aber wenn es jemand ist, den du kennst  wirst du es möglicherweise nie mehr vergessen können.“

Tammy blinzelte die Tränen fort und ging zu den Tennisplätzen hinüber, wo sich die meisten Zaungäste versammelt hatten und herüberstarrten. Ihre Gesichter waren erschrocken und ungläubig.

Es gelang Savannah, Dirks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er nickte ihr kurz zu, und sofort kletterte sie über das Band. Die anderen Zivilisten würden vermuten, dass sie zum Team der Ermittler gehörte.

Die übrigen Polizisten kannten sie und freuten sich, sie zu sehen. Ihre Vorgesetzten hätten einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie gewusst hätten, dass sie hier war, aber im Augenblick war eben Dirk der ranghöchste Officer.

„Wenn Captain Bloss oder der Chief auftauchen, verduftest du sofort“, murmelte Dirk und schob sie auf die Tür den Cottages zu.

„Kein Problem. Was hast du bisher herausgefunden?“

„Noch gar nichts. Doc Liu ist hier. Ich nehme an, dass sie dir einiges sagen kann.“

„Wie meistens.“

Savannah brauchte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die – im Vergleich zu dem strahlenden Sonnenschein draußen  relative Dunkelheit des Innenraumes im Badehäuschen gewöhnt hatten. Schließlich erkannte sie die Gerichtsmedizinerin Dr. Jennifer Liu, die auf den blauweißen Kacheln neben dem lehmverschmierten Leichnam einer Frau kniete. Savannah hätte Kat Valentina, den Liebling der Discogeneration, nicht wiedererkannt. Ihr berühmtes langes, blondes Haar hing in lehmigen Strähnen über ihrem früher einmal so hübschen Gesicht. Auch ihr Körper war mit Lehm bedeckt, der zu trocknen begonnen hatte, was ihm ein gesprenkeltes, verfaultes Aussehen gab.

Kat Valentina war eine eitle Frau gewesen; es hätte ihr nicht gefallen, auf diese Weise zu enden. Aber, dachte Savannah, das wäre wohl jedem so ergangen.

„Hey, Dr. Jennifer“, rief Savannah, als Dirk sie zu der Gerichtsmedizinerin hinüberführte, die gerade einen kleinen Schnitt im Bauchbereich des Leichnams vorgenommen hatte und ein langes Thermometer in die Leber einführte.

„Selber hi, Süße.“ Sie begrüßte Savannah mit einem warmherzigen Lächeln. Die beiden Frauen waren mit der Zeit gute Freundinnen geworden. Es verband sie nämlich nicht nur die Liebe zur Lösung von Kriminalfällen, sondern auch ein Faible für einen etwas raubeinigen Umgang mit dem männlichen Geschlecht und für Schweizer Schokolade. Insgesamt also ideale Voraussetzungen für eine gute Frauenfreundschaft. Obwohl Jennifer Liu eine attraktive Asiatin mit sportlicher, zierlicher Figur und langem, weich fließendem, schwarzem Haar war  kaum der Typ Frau also, bei dem man eine Gerichtsmedizinerin vermutet hätte , hatte Savannah schon mehr als einmal mitbekommen, wie sie ziemlich morbide Witze erzählte, die einem einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunterjagten. Ja, hinter Dr. Jennifer Liu steckte mehr, als man auf dem ersten Blick vermutete.

„Wonach sieht es aus, Doc?“, fragte Dirk und kniete auf der anderen Seite des Leichnams nieder. „Unfall, Selbstmord, oder 

„Kann ich noch nicht sagen.“ Jennifer überprüfte das Thermometer und notierte sich die Ergebnisse auf ihrem Klemmbrett. „Beim Tod durch Ertrinken ist es am schwierigsten herauszufinden.“

„Ertrinken?“ Savannah schaltete ihren Verstand ein und versuchte nicht daran zu denken, dass dieses leblose Stück Fleisch noch vor wenigen Stunden ein menschliches Wesen gewesen war. Sie hatte die Frau nicht gemocht, aber sie verabscheute es zutiefst, wenn das Leben eines Menschen vorzeitig endete. „Noch nicht einmal das kann ich mit Sicherheit sagen.“ Dr. Liu wischte das Blut vom Thermometer, schüttelte es herunter und steckte es in das mit Schlamm gefüllte Bad. „Es gibt keine offensichtlichen Wunden, abgesehen von der, die ich ihr gerade bei gebracht habe“, sagte sie. „Keine Verletzungen durch Geschosse oder spitze Gegenstände. Obwohl wir nicht endgültig sicher sein können, bevor wir sie ins Leichenschauhaus gebracht und abgespritzt haben. Ich sehe keine Würgemale am Hals oder sonstige Quetschwunden. Aber es ist schwer, durch die Schlammkruste überhaupt etwas zu erkennen.“

„Was ist da drin?“, fragte Savannah und deutete mit einem Kopfnicken auf das Bad. „Ich rieche etwas wie Minze und Blumen  vielleicht Geißblatt?“

„Ich finde, es stinkt“, sagte Dirk und rümpfte die Nase. „Diese Leute sind doch plemplem – sich wie ein paar Schweine in den Matsch zu setzen! Und das nennen die dann auch noch Bad.“

„Sagen Sie so was nicht, bevor Sie es nicht ausprobiert haben“, antwortete Jennifer mit einem Grinsen.

„Sie haben es ausprobiert?“ Dirk schien aufrichtig schockiert zu sein.

„Aber sicher. Ich habe alles schon einmal ausprobiert, und das meiste sogar zweimal“, antwortete sie.

Das passt zu ihr, dachte Savannah. Manchmal fragte sie sich, was für ein Leben Jennifer Liu geführt hatte, bevor sie zur respektablen Gerichtsmedizinerin des San-Carmelita-Distrikts mutiert war.

„Wie ich sehe, hat die Leichenstarre schon eingesetzt“, sagte Savannah, die die steife, unnatürliche Außendrehung der Arme des Leichnams bemerkt hatte. „Ich nehme an, dass sie seit etwa acht bis zwölf Stunden tot ist, oder?“

„Normalerweise hättest du recht.“ Jennifer las ihr Thermometer ab und notierte sich auch dieses Messergebnis. „Aber der Schlamm ist wärmer als 37 °C. Die Hitze lässt sie schneller steif werden. Außerdem ist das Opfer ziemlich dünn. Wahrscheinlich hat die Leichenstarre also recht schnell nach ihrem Tod eingesetzt.“

Savannah beobachtete, wie Dirk langsam um die Ecke der Wanne bog und die wenigen Utensilien betrachtete, die auf den Kacheln lagen. „Sieht aus, als ob sie Margaritas getrunken hat“, sagte er und deutete auf das fast leere Glas, dessen Rand zur Hälfte mit einer Salzkruste bedeckt war.

„Ja.“ Jennifer zog eine Plastiktüte um beide Hände des Opfers und verschloss sie. „Das habe ich auch bemerkt. Alkohol und ein heißes Bad sind eine ziemlich üble Mischung. Vielleicht ist sie sogar an einem Hitzschlag gestorben. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine solche Kombination eine tödliche Wirkung hat.“

„Ich trinke Margaritas in der heißen Badewanne, wann immer ich kann“, sagte Savannah. Nicht dass sie allzu viele Gelegenheiten dazu hatte. Meistens fehlte ihr die Zeit. „Nun, dann hör lieber auf damit, sonst habe ich eines Tages dich auf dem Seziertisch liegen.“ Jennifer erhob sich und nickte ihren Assistenten zu, die gerade mit einem weißen Plastiksack für die Leiche hereingekommen waren. „Ihr könnt sie jetzt haben. Vorsicht, sie ist glitschig.“

Dirk hielt ihr einen winzigen Fetzen aus schwarzer Seide und Spitze entgegen, der vielleicht einmal ein Tanga gewesen sein mochte. Er drehte ihn vor und zurück und überprüfte jeden Millimeter. „Ich nehme an, das hier hat sie getragen. Ziemlich knapp, das Teil.“

„Wenn sie sich seit damals nicht erheblich verändert hat“, sagte Savannah, „dann bin ich überrascht, dass sie überhaupt etwas anhatte. Sie war nicht gerade berühmt für ihre Schamhaftigkeit.“

Savannah erinnerte sich an eine Nacht, als sie wegen ruhestörenden Lärms in den Club gerufen worden war. Sie hatte Kat nackt über den Rasen schreiten sehen, und es hatte sie scheinbar keine Sekunde lang gekümmert, dass plötzlich Polizisten anwesend waren.

Die Nachbarn des Clubs hatten sich ständig über ihre Blöße und über die Orgien, die dort regelmäßig stattfanden, beschwert. In dieser recht vornehmen Gegend, wo die Menschen mehr Geld hatten, als sie ausgeben konnten, die Republikaner wählten und jeden Sonntag in die Kirche gingen, hielten selbst die Tolerantesten Kat Valentina für ein lästiges Ärgernis. Der Rest bezeichnete sie lediglich als ‚Hollywood-Abschaum‘. Savannah beobachtete, wie die sterblichen Überreste der unbeliebten Nachbarin in eine weiße Plastiktasche gepackt und der Reißverschluss geschlossen wurde.

Nein  was auch immer Kat Valentina gewesen sein oder getan haben mochte  sie hätte ein solches Ende weder gewollt noch erwartet.

Kapitel 3

Savannah blickte über den Tisch hinweg in die schönsten grünen Augen, die sie je gesehen hatte. Sie war absolut scharf auf Mr. Perfect, ansonsten unter dem Namen Ryan Stone bekannt. Er war in jeglicher Hinsicht der ideale Mann. Etwa um die Vierzig, groß, dunkel und so gut aussehend, dass sich allein bei seinem Anblick ihr Herz zusammenzog, und Savannah romantisch und empfindsam wurde. Und er bewunderte sie; jedenfalls hatte er das schon häufig gesagt. Aber einen Haken gab es eben immer.

Ryan war gebunden, liebte jemand anderen, hatte sich diesem anderen mit ganzem Herzen, ganzem Körper und ganzer Seele verschrieben. Und ach ja  er war schwul. Sein Lebensgefährte, John Gibson, saß neben Savannah und war ebenso gut aussehend und bezaubernd wie Ryan. Ein Mann mittleren Alters mit dickem, silbernem Haar, einem melodischen britischen Akzent, trockenem Humor und altmodischem Charme  kein Wunder, dass Ryan ihn liebte. Und Savannah liebte sie beide.

„Danke für die Einladung zum Abendessen. Es war herrlich“, sagte sie. Savannah genoss das Ambiente des Chez Antoine, ihres französischen Lieblingsrestaurants. Wie immer hatte Ryan im Voraus angerufen und Antoine gebeten, seine Lachsmousse zuzubereiten – nur für sie. Gibson hatte ihr eine einzelne, vollkommene, lavendelfarbene Rose mitgebracht, die jetzt in einer funkelnden Rosenvase aus Kristall neben ihrem Weinglas stand.

Vielleicht konnte sie es ja doch irgendwie schaffen, gleich alle beide zu heiraten.

Hinter den Topfpalmen erschien nun Antoine selbst, ein winziger Mann mit magerem Gesicht und zu schwarzem Haar, das er mit Gel aus seiner hohen Stirn gekämmt hatte. Seit sie ihn vor Jahren kennengelernt hatte, fand Savannah, dass er vielleicht nicht allzu attraktiv war, dass er aber die besten Crêpe Suzettes der Stadt machte. Und auf Savannahs Prioritätenliste stand ein gutes Dessert immer erheblich höher als ein fescher Haarschnitt.

Er nahm ihre Hand und küsste sie an diesem Abend nun schon zum vierten Mal. „Und, meine liebste Savannah, haben Ihnen die Speisen geschmeckt, die ich für Sie zubereitet habe?“, sagte er, und seine Stimme triefte förmlich vor französischer ‚mystique‘. Okay, er trug wirklich ein bisschen dick auf. Aber sie hörte es eben gern.

„Sehr, Antoine. Alles war vollkommen.“

Er seufzte, und sein Lächeln verblasste. „Dann fürchte ich, dass Ihr vollkommener Abend gleich ruiniert sein wird. An der Tür wartet ein  Gentleman  der behauptet, ein Freund von Ihnen zu sein. Er möchte sich zu Ihnen setzen.“ Antoine senkte die Stimme und beugte sich zu ihr vor, wobei er das Beste aus dieser Gelegenheit machte, indem er in den tiefen Ausschnitt ihres Abendkleides blickte. „Dieser Mann  verzeihen Sie  er macht einen recht ungehobelten Eindruck. Ich weiß nicht, ob Sie seine Gesellschaft willkommen heißen werden.“

„Dirk.“ Savannah warf Ryan und John einen bedauernden Blick zu. „Habt Ihr was dagegen?“

Natürlich hatten sie etwas dagegen. Dirk-nach-dem-Nachtisch war wohl kaum der geeignete Abschluss für ein schönes Abendessen. Aber sie waren viel zu gut erzogen, um das auch auszusprechen.

„Führen Sie den ‚Gentleman‘ an unseren Tisch, Antoine, und bringen Sie ihm einen Stuhl“, sagte Ryan.

„Du bist wirklich lieb“, sagte Savannah dankbar. Sie wollte gar nicht daran denken, was für eine Szene Dirk gemacht hätte, wenn der winzige Antoine versucht hätte, ihn hinauszuwerfen.

Ryan warf Gibson einen schnellen und eindeutig säuerlichen Blick zu. „Ja, nicht wahr? Das bin ich.“

„Wahrscheinlich ist es wichtig, sonst würde er mich hier nicht aufsuchen“, sagte sie. „Er hätte vermutlich Angst, dass man ihm schon etwas berechnet, wenn er auch nur durch die Tür kommt.“

„Ich werde mal mit Antoine über die Einrichtung einer solchen Gebühr sprechen“, murmelte Ryan.

John hingegen setzte ein einigermaßen freundliches und unendlich duldsames Gesicht auf.

Einen Augenblick später schlenderte Dirk ins Restaurant, schlängelte sich an den Abtrennungen aus facettiertem Glas vorbei, duckte sich unter den Palmwedeln. Er sah sogar noch heruntergekommener aus als üblich, und er schien keineswegs glücklich darüber zu sein, dass sie hier ausgerechnet mit jenen beiden Männern zusammensaß, die er schon vor langer Zeit zu verachten beschlossen hatte.

Er grüßte Ryan und John mit einem kurzen Kopfnicken, das sie erwiderten, und ließ sich auf einen Stuhl neben Savannah fallen. Dann hielt er inne, um sich zu orientieren, musterte sie von oben bis unten, nahm die französische Frisur, die tropfenförmigen Perlenohrringe, das schlichte und dennoch elegante schwarze Kleid in sich auf.

„Verdammt, du hast dich aber ganz schön ‚rausgeputzt‘, sagte er. „Warum machst du so einen Heckmeck nicht auch, wenn ich dich ausführe?“

„Nun, ich finde Perlen etwas übertrieben, wenn man die Iss-so viel-du-kannst-für-einen-Dollar-Happy-Hour in Joes Sports Bar frequentiert.“

Dirk bückte sich um und sah aus wie eine nervöse Katze in einem Zimmer voller Schaukelstühle. „Also, ich wette, hier servieren sie einem für nen Dollar noch nicht mal ein Glas Wasser.“

Antoine erschien wie aufs Stichwort. „Guten Abend, Sir. Was kann ich Ihnen bringen?“

„Was sie gerade offen haben.“

Antoine wartete, aber als keine weiteren Informationen mehr kamen, zog er die Nase kraus und sagte: „Also  Bier  für Monsieur.“

„Und Bretzeln.“

Antoine hob eine Augenbraue. „Bretzeln, Monsieur?“

„Genau. Eine ganze Schüssel voll, und machen Sie voran, ich bin nämlich am Verhungern.“

Antoine warf zunächst Ryan und dann John einen fragenden Blick zu. Aber beide Männer interessierten sich gerade außerordentlich für den Saum ihrer jeweiligen Servietten. Savannah wusste nicht so recht, ob sie erröten oder kichern sollte. „Tut mir leid, Monsieur“, sagte Antoine, doch seine Stimme klang alles andere als bedauernd. „Aber so etwas wie  Bretzeln  haben wir nicht.“

„Aber hier muss es doch irgendwas zum Knabbern geben! Wie stehts mit Chicken Wings?“

Antoines Augen weiteten sich. „Chicken Wings, Monsieur?“ Ryan räusperte sich lautstark und hob eine Hand. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er zu Dirk. Dann wandte er sich Antoine zu und sagte: „Ich denke, ich weiß, was dem Gentleman munden würde: Les cuisses de grenouille mit einer hübschen sauce piquante.“ „Hey, warten Sie mal! Das klingt aber teuer.“ Schon allein der Gedanke daran, Geld ausgeben zu müssen, machte Dirk nervös.

„Wenn man sie in französischer Sprache bestellt, klingen alle Gerichte teuer“, erklärte Savannah.

„Kümmern Sie sich nicht um die Kosten“, sagte Ryan. „Es wird mir ein Vergnügen sein.“

Dirk zögerte einen Augenblick, doch dann murmelte er ein halbwegs freundliches Dankeschön. „Und was ist das jetzt genau  das Zeug, das Sie bestellt haben?“ Savannah biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszukichern. Gibsons Augen blitzten, während er an seinem Cognac nippte. Ryan sah Dirk geradewegs an und sagte: „Na ja, eben Chicken Wings auf Französisch. Sie wollten doch Hähnchenflügel, oder nicht?“

„Ich will nur nicht hinterher feststellen müssen, dass ich Schnecken und Scheiße esse. So ein Zeug krieg ich nicht runter.“ Savannah versetzte Dirk einen Knuff. „Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?“, fragte sie, um das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken.

„Bin bei dir vorbeigefahren. Miss Zimperliese war da.“ Savannah wandte sich Ryan und John zu. „Das ist sein Kosename für Tammy. Die beiden kommen großartig miteinander klar.“

Dirk grunzte. „Sie hat mir gesagt, dass du dich hier durchfutterst, und da dachte ich, ich komm mal vorbei und erzähl dir das Neueste über Kat Valentina.“

Savannah spitzte sofort die Ohren. „Liegt der Autopsiebericht mittlerweile vor?“

„Ja. Dr. Liu hat ihn vor ein paar Stunden rübergebracht.“ „Dann erzählen Sie uns mal“, warf Ryan ein und grinste schwach, „wie Ms. Valentina  abgekratzt ist.“ John Gibson wäre beinahe an seinem Cognac erstickt. Savannah betupfte sich wie wild mit der Serviette ihre Lippen. Dirk blickte misstrauisch von einem zum anderen, bevor er antwortete.

„Als Todesursache gibt Dr. Liu einen Unfall an. Kat starb an Hyperthermie  das heißt, ihr wurde in ihrem Fangobad zu heiß, zumal sie auch noch Tequila zu sich genommen hat – deshalb ist sie ohnmächtig geworden und ertrunken.“ Ryan war jetzt kaum noch zu bremsen. „Und wie ist Dr. Liu auf diesen  Trichter  gekommen?“

Dirk ignorierte ihn und wandte sich Savannah zu. „Wie sie schon am Tatort gesagt hat, sollte man eben in einem heißen Bad keinen Alkohol zu sich nehmen. Scheinbar hat sich Kat die Margaritas ganz schön schnell hinter die Binde gekippt.“

„Hmmm “ Savannah trommelte mit den Fingernägeln auf den Fuß ihres Weinglases. „Seltsam!“

„Aber das sind doch gute Neuigkeiten“, sagte Gibson. „Zumindest wurde die arme Frau nicht ermordet.“

„Natürlich ist es eine gute Nachricht.“ Savannah wunderte sich über ihre eigene Reaktion. Ein unerwarteter Todesfall war schon tragisch genug, auch ohne den zusätzlichen Schrecken, der entstand, wenn es sich um einen Mordfall handelte. Für diejenigen, die Kat Valentina gemocht hatten – wie Tammy – konnte es gar keine besseren Nachrichten geben.

Warum also fühlte sie sich so unbehaglich? War sie etwa kleinbürgerlich genug, um das Schlimmste gehofft zu haben. Nein, so sehr hatte sie die Frau nun auch wieder nicht verabscheut. Sicherlich

„Was hast du für ein Gefühl dabei?“, fragte sie Dirk. „Eine Akte weniger auf meinem Schreibtisch“, antwortete dieser sachlich. „Hey, da kommen ja meine Chicken Wings.“ Er beugte sich über den Teller, den Antoine vor ihn hingestellt hatte und musterte die dünnen, flachen Fleischstücke, die kunstvoll in einem Halbkreis arrangiert und mit Grünzeug garniert waren.

„Die sehen ja gar nicht aus wie Chicken Wings“, sagte er und warf Ryan einen misstrauischen Blick zu.

Ryan lächelte gutmütig. „Natürlich nicht. Es sind ja auch französische Hühner.

 

Eine halbe Stunde später hatte Dirk seine Hühnerflügel verspeist und noch ein paar zusätzliche Bier hinuntergekippt. Immerhin war er nicht im Dienst, und – was noch wichtiger war – es ging alles auf Ryans Rechnung.

Savannah bot an, ihn nach Hause zu fahren.

„Hey, Dirk“, sagte sie, als sie das Restaurant verließen. „Willst du einen dummen kleinen Witz hören, den ich schon seit Jahren kenne?“

„Na gut. Schieß los.“

„Wie isst du einen Frosch?“

Er machte ein grimmiges Gesicht, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich glaube nicht, dass mir der Witz besonders gut gefallen wird  also wie denn nun?“

„Ist ganz leicht. Du legst dir den einen Schenkel wie einen Brillenbügel über das eine Ohr, dann das andere Bein über das andere Ohr und dann 

 

Als Savannah ihre Wohnungstür öffnete, wurde sie wie immer von Diamante und Cleopatra begrüßt. Ihr glänzendes, schwarzes Fell, ihre blassgrünen Augen, ihre mit Strasssteinen besetzten Halsbänder glitzerten im Lampenlicht.

Sie schlichen um ihre Beine und schnurrten, als Savannah sich nach vorn beugte, um sie zu streicheln.

„Hallo Mädels. Ja ja, ich freu mich auch, euch zu sehen. Irgendwelche Kater, die hier herumgestreunt sind, während ich aus war?“

Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als sie sah, dass irgendetwas in ihrem Briefkasten steckte. „Sieht aus, als wäre tatsächlich jemand hiergewesen“, sagte sie und griff nach dem großen beigefarbenen Umschlag. „Ich erinnere mich genau, dass ich heute Mittag die Post herausgenommen habe.“ Auf dem Umschlag waren weder Briefmarke noch Adresse. Aber er war sorgfältig zugeklebt, und zwar mit einigen Lagen Klebeband.

Savannah trug den Umschlag in die Küche und öffnete ihn mit einem Steakmesser. Grün. Zuerst war das das Einzige, was sie wahrnahm. Der Umschlag steckte bis zum Rand voller Dollarnoten.

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. In der guten alten Zeit, als sie noch eine Dienerin des Volkes gewesen war, hatte ein Umschlag voller Geld nur Ärger bedeutet, und sie hätte ihn ganz sicher nicht behalten können.

Aber als Privatperson  vielleicht  nur vielleicht  Unter dem Geld fand sie einen kleinen Zettel, genauso beigefarben wie der Umschlag.

Darauf stand in Maschinenschrift eine kurze Nachricht:

 

Liebe Ms. Reid,

 

ich habe allen Grund zu der Annahme, dass Kat Valentina ermordet worden ist. Ich möchte, dass Sie das beweisen. Wenn Sie es tun, bekommen Sie noch mehr Geld. Bitte nehmen Sie dieses hier als Vorschuss für Ihre Nachforschungen. Beginnen Sie sofort mit der Arbeit. Ich werde mich bei Ihnen melden.

 

Ermordet. Das Wort schoss förmlich durch Savannahs Hirn, bestätigte etwas, das ein Teil von ihr schon die ganze Zeit über gewusst hatte. Es war auch der Grund für ihr Unbehagen beim Abendessen gewesen, als sie gehört hatte, dass Jennifer Liu Kats Tod für einen Unfall hielt. Savannah konnte es nicht erklären, trotzdem hatte sie das starke Gefühl, dass Kat Valentina Opfer eines Mordes und nicht nur ihrer eigenen Unachtsamkeit geworden war.

Und wer immer diese Nachricht in ihrem Briefkasten hinterlassen hatte, glaubte das ebenfalls.

Allein der Gedanke daran, ein Verbrechen aufzuklären, das Schwein zu verfolgen, das es begangen hatte, sandte einen Adrenalinschub durch Savannahs Körper. Niemand hatte es verdient, dass man ihm das Leben nahm. Und jeder Mensch verdiente Gerechtigkeit. Sogar jemand wie Kat Valentina. Und dann waren da natürlich noch die Worte  bekommen Sie noch mehr Geld.

Obwohl auf ihrem Küchentisch ein Stapel überfälliger Rechnungen lag und ihr Sparkonto immer stärker dahinschmolz, redete sich Savannah ein, dass ihr Adrenalinschub nichts mit dem Stapel grüner Dollarnoten und dem Versprechen, noch mehr zu bekommen, zu tun hatte. Nein. Absolut gar nichts.