Leseprobe Mord am Bell Tower

Kapitel 1

Kurland St. Mary, England

Oktober 1817

 

„Die Frage ist doch, Andrew, wie lange braucht eine Frau, um eine einfache Hochzeit zu planen? Bei der Hochzeit von dir und Mrs Giffin schien alles ausgesprochen unkompliziert.“

Major Sir Robert Kurland warf seinem Begleiter Andrew Stanford einen Blick zu, während sie zusammen die mit Bäumen gesäumte Auffahrt von Kurland Hall in Richtung des Dorfes hinunterspazierten, wo gerade das örtliche Dorffest in vollem Gange war.

Es war ein klarer und kühler Herbsttag, unter dessen trügerischem Sonnenschein sich bereits erste Anzeichen des Winters versteckten. Robert hatte sich dazu entschieden, hinunter ins Dorf zu gehen, um sein verletztes Bein zu dehnen. Viel wichtiger war allerdings die Gelegenheit, sich bei seinem besten Freund über die derzeitige Lage beklagen zu können.

„Sophia und ich waren beide verwitwet, Robert, und ich habe eine Sondergenehmigung erhalten, mit der die Lesung des Heiratsaufgebots entfallen ist. Wir wollten beide keine große oder ausgefallene Hochzeit.“

„Ich will das ebenso wenig“, stöhnte Robert. „Alles, was ich brauche, sind ein Geistlicher, meine Braut und zwei Trauzeugen, aber offenbar bedeutet das nur, dass ich schockierend wenig Einfühlungsvermögen für die Gefühle meiner Braut und ihrer Familie zeige.“

„Miss Harrington ist die Nichte eines Earls, mein Freund.“ Andrew lachte. „Du kannst nicht erwarten, dass ihre Familie eine so spartanische Feier hinnimmt. Ihre Hochzeit muss stilvoll sein.“

Robert schnaubte. „Mir kommt es eher wie ein Zirkus vor. Die Brautbekleidung muss angepasst und genäht und Einladungen bis in die letzten Winkel der Erde geschickt werden, um die Harringtons an einem Ort zusammenzubringen, und das Ganze muss auch noch ausgerechnet in London am Hanover Square in der St. George’s Church stattfinden, obwohl ich London verabscheue und sie alle das auch wissen.“ Er musste kurz innehalten, um Luft zu holen. „Um die Wahrheit zu sagen, habe ich das Gefühl, dass ich daran verzweifeln werde, mit Miss Harrington vor den Altar zu treten.“

„Hast du mit ihr darüber gesprochen?“

„Wie könnte ich? Jedes Mal, wenn ich sie sehe, ist sie damit beschäftigt, endlose Listen und Probleme abzuarbeiten. Und da Miss Chingford sie wie ein Wachhund verfolgt, habe ich kaum einen Moment allein mit ihr verbringen können.“

Andrew gluckste, was er unter einem Hüsteln zu verbergen versuchte. Robert sah ihn finster an.

„Du findest das amüsant?“

„Es tut mir leid, mein Freund. Du hast doch Militärerfahrung. Vielleicht musst du nur deine Strategie anpassen.“

„Und was genau soll ich tun? Aufgeben? Ich will verdammt sein, wenn man mich nicht in die Planung meiner eigenen Hochzeit miteinbezieht.“

Robert blickte nach vorn in Richtung der alten Kirche von Kurland St. Mary, die gegenüber dem weit neueren Pfarrhaus stand. Hinter der Kirche lag die Dorfwiese, auf der zurzeit zeltähnliche Stände aufgebaut waren, die ihn an ein ausgesprochen undiszipliniertes Militärlager erinnerten. Die Hälfte der Dorfbewohner und sicherlich sämtliche Kinder aus der Gegend schienen sich zwischen den Zelten zu tummeln. Foley, sein Butler, hatte für die Bediensteten um Urlaub gebeten, damit diese das Dorffest besuchen konnten. Robert war der Bitte nachgekommen. Tatsächlich konnte er seinen Stalljungen Joseph Cubbins erkennen, der gerade über die Wiese in Richtung des Puppentheaters lief. Es war schön zu sehen, dass der Junge zur Abwechslung mal etwas Kindgerechtes tat.

„Rede mit Miss Harrington. Ich bin mir sicher, dass sie deine Sorgen besänftigen kann. Und du willst sie schließlich heiraten, nicht wahr, Robert?“

„Natürlich will ich das.“

„Dann ist das vielleicht der Preis, den du dafür zahlen musst, deine holde Maid für dich zu gewinnen.“

Robert erblickte aus den Augenwinkeln eine Gruppe von Frauen, die gerade das Pfarrhaus verließen. Er beschleunigte seine Schritte. „Vielleicht wird mir auf dem Dorffest ein Moment allein mit meiner Verlobten vergönnt sein. Wenn ich sie von dieser Gorgone trennen kann.“

„Was hältst du davon, wenn ich Miss Chingford in ein Gespräch verwickle, während du mit Miss Harrington die für den Erntewettbewerb eingereichten Erzeugnisse in Augenschein nimmst? Du bist ohnehin einer der Preisrichter, nicht wahr?“

„Offenbar.“ Robert stöhnte. „Letztes Jahr ging es mir noch nicht gut genug, um teilzunehmen. Meine Verlobte hat mich wissen lassen, dass es meine Pflicht ist, mich zu engagieren, und ich habe gelernt, mich ihren Ratschlägen zu fügen.“

Andrew klopfte ihm auf den Rücken. „Gesprochen wie ein Mann, der bereit ist, an die Leine gelegt zu werden. Schau, da vorn sind Miss Chingford und ihre Schwester. Wieso hältst du nicht Ausschau nach Miss Harrington und entführst sie?“

„Ich wünschte, das könnte ich“, murmelte Robert missmutig. „Nach Gretna Green durchzubrennen, klingt inzwischen nach einer erstaunlich guten Idee.“

Andrew schüttelte den Kopf, trat ein paar Schritte nach vorn, bot mit seinem charmantesten Lächeln den beiden Chingford-Schwestern je einen Arm und ging mit ihnen davon, um nach seiner Frau zu suchen.

Robert entdeckte seine Verlobte vor einem kleinen Kind hockend, dem sie die recht verrotzte Nase putzte. Sie trug eine einfache blaue Haube, die ihr Gesicht vor ihm verbarg, und einen praktischen schwarzen Mantel. Robert stützte sich auf seinen Gehstock und half ihr mit der anderen Hand auf die Beine.

„Guten Tag, Miss Harrington.”

„Major Kurland!“ Sie wandte sich ihm zu. Ein Lächeln erhellte ihr sonst so ernstes Gesicht. „Ich freue mich so, Sie zu sehen.“

„Wirklich? Sonst haben Sie mir in den letzten Tagen eher gesagt, dass ich gehen und Sie in Frieden lassen soll.“

Sie seufzte und hakte sich bei ihm ein. „Sind Sie immer noch eingeschnappt deswegen?“

„Ein Gentleman ist niemals eingeschnappt. Wir hatten lediglich eine Meinungsverschiedenheit über die Arrangements für unsere Hochzeit. Ich hülle mich in würdevolles Schweigen, bis Sie wieder bei Sinnen sind und Ihnen klar wird, dass ich recht habe.“

„Sie meinen bezüglich der Vorzüge des Durchbrennens?“ Sie führte ihn zu einem der Zelte. „Sie haben sicherlich nur gescherzt.“

„Es mag ein Scherz gewesen sein, aber er wurde ausgelöst durch meine Verzweiflung über die Unmengen lächerlicher Albernheiten, die offenbar durch eine Hochzeit aufgewirbelt werden.“

„Wir hatten diese Unterhaltung doch schon mehrfach, Sir. Ich kann nicht einfach mit Ihnen durchbrennen.“

Kurz bevor sie den Eingang erreichten, trat Robert einen Schritt zur Seite und zog Miss Harrington in den engen Durchgang zwischen zwei Zelten. Es war dunkel und er musste seine Schritte zwischen den Heringen und Seilen am Boden mit Bedacht wählen.

„Major Kurland! Wo in aller Welt wollen Sie hin?“

Er drehte sich zu ihr um und führte eine Hand unter ihr Kinn. „Und wieso können Sie das nicht?“

Sie blickte ihn forschend mit besorgter Miene an. „Weil es so scheint, als hätte ich auch darüber keine Kontrolle. Mein Vater und Onkel scheinen sich in einer Art Krieg darüber zu befinden, wer die beste und ausgefallenste Hochzeit für eines seiner Kinder organisieren kann. Es ist offensichtlich, dass mein Onkel gewinnen wird, aber es scheint, als sei ich nur eine weitere Schachfigur in ihrem lebenslangen Wettstreit.“

Er beugte sich zu ihr hinunter und berührte ihre Nase mit der seinen. „Sagen Sie ihnen allen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen, und laufen Sie mit mir zusammen weg.“

„Und schaffe damit die Grundlage für alle möglichen Gerüchte über meine Familie? Das kann ich einfach nicht. Ich muss auch an den Ruf von Anna und meinen Cousinen denken. Ihre Aussichten auf eine gute Ehe würden darunter leiden, wenn man von mir denkt, dass ich mich unverantwortlich verhalten hätte.“

„Aber wir wären verheiratet.“

„Ich weiß.“ Sie seufzte. „Aber man kann nicht immer nur an sich selbst denken.“

„Ich schon.“ Er küsste sie mit Nachdruck auf den Mund.

Sie legte eine Hand auf seine Brust und schob ihn bestimmt von sich. „Major Kurland, das ist kaum die Zeit oder der richtige Ort für solch eine –“ Er küsste sie erneut, und mit einem sanften Stöhnen erwiderte sie diesmal den Kuss, bevor sie sich besann und einen Schritt zurücktrat. „Das ist wirklich genug.“

„Ich will dich in meinem Haus und in meinem Bett, Lucy Harrington.“

„Da will ich auch sein“, brachte sie stotternd hervor. „Ich meine, ich möchte deine Frau sein. Aber sei bitte geduldig, Robert, ich flehe dich an.“

Er seufzte. „Es scheint, mir bleibt keine andere Wahl. Vielleicht sollte ich noch mal mit deinem Vater sprechen.“

„Oder mit meiner Tante Jane. Sie scheint sich um alles zu kümmern.“

Robert nahm sie bei der Hand und führte sie den Rest des Weges zwischen den Zelten hindurch. „Vielleicht sollte ich Tante Rose auf sie ansetzen. Sie hat erst kürzlich im Handumdrehen eine Hochzeit im gehobenen Kreis organisiert.“

„Dafür gab es aber auch einen guten Grund.“ Miss Harrington blickte ihn mit belustigter Miene an. „Soweit ich weiß, war die Braut in einem sehr interessanten Zustand.“

Robert setzte zum Sprechen an, aber seine Braut hob einen Finger. „Und bitte denk nicht einmal darüber nach, unsere Hochzeit auf diesem Weg zu beschleunigen!“

„Du magst meine Küsse.“

„So ist es, aber ich würde es bevorzugen, wenn wir … alles andere erst in unserem Ehebett teilen.“

„Da spricht die Pfarrerstochter.“ Robert bot ihr den Arm. „Sollen wir los und die Prachtexemplare von Obst und Gemüse bewerten? Foley hat mich wissen lassen, dass Mr Pethridge von Kurland Halls Landgut einige sehr starke Erzeugnisse im Rennen hat.“

Sie blickte zu ihm auf, während sie gemeinsam mit allem gebührenden Anstand zurück zum Eingang des Zelts schritten. „Sind Sie wütend auf mich?“

„Nein.“

„Sind Sie sich sicher?“

„Meine Nerven sind sicherlich etwas angespannt, aber ich wünsche, Sie zu heiraten. Daher werde ich wohl einfach geduldig sein müssen, schätze ich.“

Sie klopfte ihm sanft auf den Arm. „Vielen Dank.“

Er blickte zu ihr hinunter, als er den Stoff am Zelteingang zurückschlug und sie vor ihm eintreten ließ. „Aber ich werde es nicht viel länger bleiben.“

Die Luft im Inneren des Zelts war erfüllt mit dem erdigen Duft von Obst, Gemüse, Blumen und einigen Handwerksprodukten aus dem Ort, die allesamt in ordentlichen Reihen ausgestellt lagen. Zahlreiche Besucher hatten sich versammelt, betrachteten die für den Wettbewerb eingereichten Erzeugnisse und gaben ihre Kommentare zur Pracht der einzelnen Stücke – oder dem Mangel davon – mit ungewöhnlicher Direktheit zum Besten.

Miss Harrington führte ihn auf den ersten Tisch zu, auf dem mehrere Karotten fast wie ein Bataillon Soldaten ausgestellt wurden. Und wie in jedem Bataillon unterschieden sich die einzelnen Karotten ausgesprochen in Form und Größe.

Robert senkte die Stimme. „Was genau soll ich hier tun?“

„Haben Ihre Eltern Sie nie mit auf das Fest genommen?“, fragte Miss Harrington und überreichte ihm ein Stück Papier, auf dem mehrere Nummern standen, die sich offenbar auf die anonym ausgestellten Erzeugnisse bezogen.

„Ich bin mir recht sicher, dass sie das getan haben, aber ich bezweifle, dass ich meine Zeit damit verbracht habe, mir reihenweise Gemüse anzusehen. Ich habe mich viel mehr dafür interessiert, mit den anderen Burschen aus dem Dorf herumzutollen und mich in Schwierigkeiten zu bringen.“

„Jeder Teilnehmer stellt drei Musterstücke aus seinem Garten aus. Als Preisrichter müssen Sie entscheiden, welcher Beitrag insgesamt am besten ist.“

„Also wenn es eine riesige Karotte gibt und zwei kleinere, ist das weniger preiswürdig als drei große Karotten der gleichen Größe?“

„Exakt.“ Miss Harrington bedachte ihn mit einem zufriedenen Lächeln. „Kann ich Sie allein lassen, während Sie Ihre drei Favoriten in jeder Kategorie auswählen, und mich in der Zeit um das Eingemachte und die Backwaren kümmern?“

„Wenn es sein muss.“

Sie entfernte sich und war bald schon am anderen Ende des Zelts mit weit interessanteren Dingen beschäftigt als mit Roberts rohem Gemüse. Aber es war seine Pflicht, sein Dorf zu unterstützen, also machte er tapfer weiter und notierte seine Entscheidungen auf dem Papier, das sie ihm gegeben hatte, und schritt so eine Reihe nach der anderen voller Lauch, Kohl, Zwiebeln und Kartoffeln ab. Während er seine Urteile bildete, wurde ihm bewusst, dass er von mehreren Blicken verfolgt wurde. Wenn man bedachte, dass dies nur ein kleiner Wettbewerb im Dorf war, fühlte er sich stärker unter Druck gesetzt, als er vielleicht erwartet hätte.

Schließlich bahnte er sich seinen Weg durch die Menge hinüber zu Miss Harrington, die gerade in ein Gespräch mit Andrews Frau und einem unbekannten Mann vertieft war.

Miss Harrington winkte Robert zu sich und wandte sich dem Gentleman neben ihr zu. „Ich glaube, man hat Ihnen noch nicht den neuesten Gast im Pfarrhaus vorgestellt, Sir. Major Sir Robert Kurland, das ist Mr Nathaniel Thurrock.“

„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Sir Robert, oder bevorzugen Sie es, auch mit Ihrem militärischen Rang angesprochen zu werden?“

„Sir Robert reicht völlig.“

Mr Thurrock verneigte sich etwas schwerfällig, und Robert vernahm eindeutig das Knarzen eines Korsetts.

„Es ist mir eine Freude, Sir, eine große Freude.“

„Mr Thurrock, sind Sie vielleicht mit unserem geschätzten Küster verwandt?“

„Er ist mein Bruder. Ich bin aus Cambridge angereist und seit zwei Wochen bei ihm zu Besuch.“

Robert rief sich das Aussehen des hochgewachsenen, schlanken und bescheidenen Küsters ins Gedächtnis und konnte kaum eine familiäre Ähnlichkeit erkennen. „Ich hoffe doch, dass Sie Ihren Aufenthalt hier genießen.“

„Das tue ich in der Tat. Der Pfarrer und ich sind seit Jahren in Kontakt bezüglich einiger Angelegenheiten der Familie Thurrock und auch einiger interessanter historischer Fragen zur Grafschaft Hertfordshire. Wir waren zusammen an der Universität.“ Er glättete das Revers seines Mantels. „Ich muss gestehen, dass ich mich, auch wenn ich beruflich ein Mann des Gesetzes bin, in meiner Freizeit als Amateurhistoriker betrachte.“

„Wie faszinierend.“ Robert versuchte die Aufmerksamkeit von Miss Harrington auf sich zu ziehen. „Sie müssen mich vor Ihrer Abreise zum Abendessen in Kurland Hall besuchen.“

„Das wäre sehr großzügig von Ihnen, Sir, ausgesprochen großzügig.“ Mr Thurrock verbeugte sich tief. „Ich hatte mir bereits erhofft, Sie um einen kurzen Einblick in die Aufzeichnungen Ihres Anwesens bitten zu können, war aber nicht sicher, ob ich als würdig genug gelten würde, um Sie ansprechen zu dürfen.“

Robert zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin ja kein Oger, Mr Thurrock. Ich bin mir sicher, dass mein Landverwalter Mr Fletcher Ihnen nur zu gern Einblick gewähren wird, in was auch immer Sie wünschen.“

„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir Robert. Wirklich sehr freundlich und zuvorkommend von Ihnen.“ Mr Thurrock lächelte Miss Harrington an. „Ihr Vertrauen in Sir Robert war gerechtfertigt, Madam. Er ist in der Tat ausgesprochen freundlich.“

„Wann verlassen Sie das Dorf wieder, Mr Thurrock?“, fragte Robert just in dem Moment, als er seinen jungen Landverwalter erblickte, der gerade das Zelt betreten hatte. Er winkte ihn herüber.

„Frühestens in einer Woche, Sir.“

Robert lächelte Dermot Fletcher an, den jüngeren Bruder des Dorfarztes und Roberts neuesten Angestellten.

„Dermot, darf ich Ihnen Mr Nathaniel Thurrock vorstellen? Er würde gern die Familienarchive von Kurland Hall einsehen. Bitte vereinbaren Sie einen passenden Termin zu einem Besuch im Herrenhaus mit anschließendem Abendessen.“

„Sehr wohl, Sir Robert.“

Robert verabschiedete sich von Mr Thurrock mit einem kurzen Nicken, bot Miss Harrington den Arm und führte sie weg vom Eingang. Am anderen Ende des Zelts sprach der hochgewachsene Küster mit Andrew und den Chingford-Schwestern, die gerade die Handwerksprodukte in Augenschein nahmen.

„Was geschieht mit dem Obst und Gemüse nach dem Wettbewerb?“, fragte Robert.

„Das meiste davon wird für den Erntedankaltar in der Kirche gespendet. Danach wird es entweder an den Besitzer zurückgegeben, ans Armenhaus gespendet oder zum Schweinehof bei Kurland St. Anne gebracht.“

„Ich bin froh zu hören, dass nichts verschwendet wird. Nach den furchtbaren Sommern in den letzten zwei Jahren gibt es einige, die durchgefüttert werden müssen.“

Roberts Gedanken wanderten zum flachen Land und seinen endlosen Bemühungen, seine Ländereien zu entwässern, eine vernünftige Ernte einzufahren und Überflutungen zu vermeiden. Hätte er nicht darauf bestanden, zur Armee zu gehen, wäre er viel besser auf die landwirtschaftlichen Katastrophen der letzten zwei Jahre vorbereitet gewesen. Er konnte nur Gott danken, dass sein Einkommen im Gegensatz zu den meisten Landbesitzern hauptsächlich aus dem Handel und der Industrie stammte. Für viele Adelige zwar eine obszöne Vorstellung, aber Robert kümmerte es nicht, solange es seine Leute am Leben hielt.

„Und, haben Sie Ihre Gewinner ausgewählt?“

Roberts Gedanken kehrten zurück zu Miss Harrington. „Ich habe sie wie gewünscht notiert.“

Sie nahm das Papier entgegen und begann mit gerunzelter Stirn zu lesen. „So können Sie das nicht machen. Man muss auch diplomatisch sein und sichergehen, dass jede Familie im Dorf wenigstens irgendetwas gewinnt.“

Er nahm die Liste wieder an sich. „Das wäre doch Betrug, meine Liebste. Als ich meine Entscheidungen traf, hatte ich keine Ahnung, welche Nummer zu welchem Dorfbewohner gehört. Ich habe die besten ausgewählt und ich stehe zu meiner Entscheidung.“

„Ich habe keine Zeit, mit Ihnen darüber zu diskutieren, aber machen Sie sich auf einige recht ungehaltene Wettbewerber gefasst.“

„Als ob sich jemand um solche Unwichtigkeiten scheren würde.“

Sie runzelte die Stirn. „Major, Sie haben ja keine Ahnung …“

Während draußen unheilversprechender Donner ertönte, drängten sich noch mehr Leute ins Zelt. Der Geruch der vielen ungewaschenen Personen und die feuchte Luft erinnerten Robert nur allzu schmerzlich an seine Tage bei der Kavallerie.

„Können wir die Gewinner jetzt verkünden?“

Miss Harrington schaute sich um, während er sprach. „Da ist mein Vater. Er wird die Gewinner bekannt geben, während wir die Preise aushändigen. Versuchen wir, ihn davon zu überzeugen, umgehend anzufangen.“

 

Lucy begutachtete noch einmal die Liste des Majors, ergänzte die wirklichen Namen der Gewinner und fragte sich insgeheim, ob sie die Gelegenheit hätte, eine eigene Liste zu erstellen. Da sie die aufbrausende Natur ihres Verlobten kannte, hatte sie keinen Zweifel, dass er aufstehen und sie denunzieren würde, wenn sie auch nur versuchte, das Ergebnis zu verändern.

Das Zelt war inzwischen fast voll und ihr Vater winkte sie und den Major auf die provisorische Bühne.

In einer Ecke des Zelts war Penelope Chingford in ein Gespräch mit Dr. Fletcher vertieft. Keiner von ihnen lächelte, was nicht gerade ungewöhnlich war, da die beiden fast wegen allem aneinandergerieten und dies auch ausgesprochen zu genießen schienen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie vermutet, dass sich Penelope zu dem verflixten Mann hingezogen fühlte. Aber ihre ehemalige Rivalin, die sich wider alle Wahrscheinlichkeit zu ihrer Freundin gewandelt hatte, hatte es auf einen Mann mit Reichtum und Land abgesehen. Der Dorfdoktor hatte nichts davon zu bieten.

„Lucy, komm her, meine Liebe“, rief ihr Vater mit recht gereizter Stimme. „Ich warte.“

Sie raffte ihre Röcke und kletterte auf das provisorische Podium.

„Bitte sehr, Vater. Die Liste der Gewinner von Major Kurland und mir.“

„Vielen Dank.“ Ihr Vater setzte seine Brille auf und räusperte sich lautstark. „Dürfte ich alle Anwesenden um ihre Aufmerksamkeit bitten? Major Sir Robert Kurland und ich möchten Ihnen dafür danken, dass Sie an diesem Fest teilnehmen und die besten Stücke Ihrer Ernte für diesen Wettbewerb zur Verfügung gestellt haben. Ich möchte wetten, dass es schwer war, die Gewinner auszuwählen, nicht wahr, Major?“

Major Kurland verneigte sich. „Das war es in der Tat, Herr Pfarrer.“

„Dann werde ich mit der Verkündung des Gewinners der besten Rübe beginnen.“

Von ihrem Standpunkt auf der leicht erhobenen Bühne hatte Lucy die Gesichter aller Zuschauer gut im Blick. Während ihr Vater die Gewinner verkündete, wurde ihr bange und das Geflüster und Gemurmel lauter.

„Gute Güte!“ Er strahlte über die Menge hinweg. „Ich glaube, dass unser Küster, Mr Ezekiel Thurrock, heute mehr erste Preise gewonnen hat als jeder andere Wettbewerber in den letzten zwanzig Jahren.“ Er winkte dem Küster zu, der nahe am Ende des Zelts stand. „Kommen Sie hier hoch und nehmen Sie Ihre Preise entgegen, Mr Thurrock, und gut gemacht, Sir!“

Die Menge machte Platz, um dem eingeschüchterten Küster den Weg zum Podium frei zu machen. Auf Lucy wirkte es weniger wie eine einladende Geste als wie eine angriffslustige Meute, die ihr Ziel umzingeln wollte. Mehrere der Dorfbewohner sprachen inzwischen ihren Unmut über die Entscheidung laut aus und bedachten den armen Küster mit gemurmelten Kommentaren, während er nervös durch die Reihen ging.

„Das is’ falsch“, sagte einer der älteren Bauern so laut, dass es bis zum Podium zu hören war. „Ich hab den Preis fünf Jahre hintereinander gewonnen und meine Rüben waren viel besser als seine.“ Der alte Mann erhob seine Stimme und wurde von bestätigendem Gemurmel unterstützt. „Merkwürdig, dass der Küster dieses Jahr alles gewonnen hat, wo der Pfarrer derjenige ist, der die Preise vergibt.“

Als der Küster endlich das Podium erreichte, sah er recht ängstlich aus und murmelte: „Ich verdiene eine solche Ehre gar nicht. Ich würde nur allzu gern darauf verzichten und auch anderen die Möglichkeit geben zu gewinnen.“

„Hört, hört!“, rief jemand.

Major Kurland trat vor und seine herrische Stimme übertönte problemlos die Menge. „Mr Thurrock, Sie haben Ihre Preise in einem gerechten Wettbewerb ohne jede Voreingenommenheit gewonnen. Bitte nehmen Sie sie an und dann fahren wir mit den Handwerksprodukten fort.“

Das Gemurmel verstummte, die Unzufriedenheit auf vielen der Gesichter blieb allerdings. Der arme Mr Thurrock ging seitlich vom Podium, wo ihm lediglich sein Bruder zum Sieg gratulierte. Lucy wandte sich zum Major und bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. Als Antwort hob er skeptisch eine Augenbraue und nickte ihrem Vater zu, der mit seiner Rede fortfuhr.

„Lassen Sie uns also weitermachen mit den zarteren weiblichen Künsten und hoffen, dass Mr Thurrock sich nicht auch noch an der Nähkunst versucht hat.“

Sein Versuch eines Scherzes wurde von der noch immer unruhigen Menge nicht gut aufgenommen. Nachdem Lucy die Preise an die Gewinnerinnen übergeben und damit hoffentlich den zuvor nicht bedachten Familien zumindest ein bisschen Grund für Stolz gegeben hatte, kehrte sie zu Major Kurland zurück, der sich inzwischen mit Mr Stanford unterhielt.

Er blickte mit seinen eindringlichen blauen Augen zu ihr herunter, als sie sich näherte. „Ich werde Mr Thurrock und seinen Bruder zurück zum Pfarrhaus begleiten. Der arme Küster ist besorgt, dass man ihm auflauern könnte.“

„Ich habe ja versucht, Ihnen zu sagen, dass Ihre Wahl nicht auf allgemeine Zustimmung stoßen könnte.“

„Guter Gott, Miss Harrington, es geht hier um bescheidene Preise für Gemüse! Wer hätte gedacht, dass das gesamte Dorf diesen albernen Wettbewerb so ernst nehmen würde?“

Lucy senkte die Stimme. „Einige dieser Familien kämpfen seit Generationen in diesen albernen Wettbewerben, Sir. Für viele ist es eine Frage des Stolzes, dass sie einige davon jedes Jahr gewinnen.“

„Was nur passiert ist, weil Sie und die anderen Preisrichter wie eine korrupte Gemeinde die Abstimmung manipuliert haben.“

„Zum Besten für alle, Major.“ Sie erwiderte seinen ungehaltenen Blick. „Viele dieser Leute haben kaum etwas Wertvolles in ihrem Leben und so einen Wettbewerb zu gewinnen – in irgendetwas die Besten zu sein –, stärkt ihre Moral und gibt ihnen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit.“

„Unfug.“ Major Kurland schüttelte den Kopf. „Sie sehen diese Sache viel zu emotional, Miss Harrington. Wenn ein Mann glaubt, dass sich sein Wert an der Länge seiner Karotte messen lässt, dann ist es vielleicht an der Zeit für ihn, nach Höherem zu streben.“

Lucy sah ihn lediglich an, bevor sie sich kopfschüttelnd abwandte. Manchmal war es schwer zu glauben, dass der Major und sie im gleichen Dorf aufgewachsen waren. Sein Verständnis für sein Umfeld ließ einiges zu wünschen übrig, aber man musste bedenken, dass er mit sieben ins Internat fortgeschickt worden und direkt danach zum Militär gegangen war.

Er hatte nie wirklich unter den Dorfbewohnern gelebt wie sie und die anderen Kinder im Pfarrhaus. Und es war auch eigentlich nicht vorgesehen, dass er diejenigen verstand, die für ihren Lebensunterhalt auf ihn angewiesen waren. In seiner Position war er imstande, ihr Leben grundlegend auf den Kopf zu stellen. Damit war er für sie kaum etwas anderes als eine launenhafte Gottheit und wie der Großteil des Landadels weit über jede Kritik oder Widerstand erhaben. Dadurch ging er einfach davon aus, dass man ihm fraglos gehorchte, wenn er einen Befehl gab. Lucy sah sich im Zelt um, wo noch immer einige Gruppen der Dorfbewohner versammelt standen. In diesem Fall hatte sie das Gefühl, dass die endgültige Entscheidung des Majors einige Probleme mit denen, die sich dadurch gekränkt fühlten, verursachen würde. Sie konnte nur hoffen, dass es zu nichts Gefährlicherem als ein paar gemurmelten Beschimpfungen des armen Küsters kommen würde, bevor das Ereignis eine Fußnote der Dorfgeschichte wurde. Es würde zwar nicht vergessen werden – nichts wurde je wirklich vergessen –, aber es würde weit genug in der Vergangenheit liegen.

Kapitel 2

„Ich werde dich heute Morgen begleiten, Lucy. Ich habe mich bereit erklärt, Dr. Fletcher dabei zu helfen, einige Flaschen Holunderblütenhustensaft an die Dorfbewohner in Kurland St. Anne zu verteilen. Wir werden uns bei seinem Haus treffen.“

Penelope schnürte wie üblich voller Entschlossenheit bereits die Bänder ihrer Haube zu. Lucy brachte es nicht über sich, mit ihr darüber zu diskutieren. Miss Chingford und ihre Schwester wohnten nun schon seit Monaten im Pfarrhaus, während ihre Verwandtschaft in erbittertem, aber höflichem Streit lag, um zu vermeiden, jegliche Verantwortung für sie zu übernehmen. Offenbar wollte niemand zwei Schwestern mit wenig Geld und einem zweifelhaften Familienruf bei sich aufnehmen.

Sobald Anna von ihrer Saison in London zurückkehrte und die Zwillinge über Weihnachten nach Hause kamen, würde das Haus wieder aus allen Nähten platzen. Lucy klopfte sanft auf ihr Retikül. Immerhin wusste sie, dass ihr Bruder Anthony, der im alten Regiment von Major Kurland diente, bester Gesundheit war Sie hatte am Vortag einen Brief von ihm erhalten, den sie so bald wie möglich an Anna weiterleiten wollte.

Ihre jüngere Schwester erwartete, dass Lucy sie bald schon in London besuchen würde. Allerdings versuchte Lucy die Reise so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie hatte den furchtbaren Verdacht, dass sie vor ihrem Hochzeitstag nicht mehr zurückkehren würde, wenn Tante Jane sie erst einmal in ihre Finger bekäme. Und Lucy hatte Besseres zu tun, als in irgendeinem Gesellschaftszimmer in London zu sitzen und sich von ihrer Tante belehren zu lassen.

„Lucy? Kommst du?“

Sie nahm ihren Schirm und folgte Penelope durch die Küche hinaus, wo Betty gerade eine Kanne Tee zubereitete.

„Guten Morgen, Miss Harrington. Gehen Sie den Major besuchen?“

„Vielleicht werde ich im Laufe des Vormittags bei ihm vorbeischauen, aber ich habe noch ein paar Dinge im Dorf zu erledigen. Brauchen wir irgendetwas?“

„Zimt, Miss.“ Betty runzelte die Stirn. „Zumindest glaube ich, dass Mrs Fielding das gesagt hat.“

„Wo ist Mrs Fielding?“

„Ich glaube, sie hat dem Pfarrer gerade sein Frühstück nach oben gebracht, Miss.“

Betty vermied es, Lucys Blick zu erwidern. Sie beide wussten genau, wie die Beziehung zwischen dem Pfarrer und der Köchin aussah, aber keine von ihnen führte dazu Näheres aus. Das war auch der Grund, warum der Pfarrer die Köchin in seinem Haushalt überhaupt tolerierte und es ihr gestattete, Lucys Anweisungen mit Füßen zu treten. Nach dem Einzug in Kurland Hall würde Lucy Mrs Fieldings Unverschämtheit nicht vermissen.

„Betty, da mein Vater Maisey eingestellt hat, um Ihre Aufgaben zu übernehmen, werden Sie doch mit mir nach Kurland Hall kommen, sobald ich verheiratet bin, nicht wahr?“

„Aber ja, Miss! Ich freue mich schon ungemein darauf.“

„Sie werden meine persönliche Zofe sein und ich werde dafür sorgen, dass Ihr Gehalt entsprechend steigt.“

„Vielen Dank, Miss.“ Betty machte einen Knicks und ihre Wangen erröteten. „Ich kann es kaum erwarten, meinen Eltern davon zu erzählen.“

„Sie haben heute frei, oder?“

Betty nickte und wischte die Hände an der Schürze ab.

„Sie sollten etwas von dem Chutney, das wir gemacht haben, für Ihre Eltern mitnehmen.“

„Das wäre wunderbar, Miss, allerdings hat Mrs Fielding ausdrücklich gesagt, dass davon nichts abgegeben werden darf.“

„Und ich sage, Sie dürfen mindestens zwei Gläser mitnehmen.“

 

Betty grinste. „Wie Sie wünschen, Miss Harrington. Sie ist ganz niedergeschlagen, weil sie beim Dorffest keinen einzigen ersten Platz belegt hat. Ich habe gehört, wie sie Mrs Pethridge erzählt hat, dass es offensichtlich sei, dass der Pfarrer seine Bediensteten nicht bevorzugt behandelt habe. Sonst hätte sie gewonnen. Sie meinte, Major Kurland sei daran schuld, dass Mr Thurrock alle Preise gewonnen hat.“

„Major Kurland hat nur seine Pflicht getan.“

„Und ich glaube, er hatte recht damit, Miss. Einige dieser Leute sind langsam etwas überheblich wegen ihrer Lauchstangen und Kohlköpfe geworden. Ich habe sogar gehört, dass einige im Pub gewettet haben, wer gewinnt, und dabei auf sich selbst gesetzt haben.“

Lucy verzog die Miene. „Das überrascht mich ganz und gar nicht. Ich denke, Major Kurland hatte keine Ahnung, wie ernst unsere Dorfbewohner diese Wettbewerbe nehmen. Ich hoffe, dass niemand all seinen Lohn für solche Albernheiten verspielt hat.“

Penelope streckte ihren Kopf erneut zur Tür herein. „Lucy! Ich komme zu spät.“

Mit einem resignierten Seufzen verabschiedete Lucy sich von Betty und folgte Penelope nach draußen. Die Bäume hatten bereits die Hälfte ihrer Blätter abgeworfen, die übrigen strahlten in Goldgelb. Unter ihren stabilen Stiefeln raschelte das trockene Laub, die feuchten und rutschigen Blattreste darunter erschwerten das Gehen allerdings sehr. Den Weg die Auffahrt hinunter hielt sie den Rock gerafft, da der Saum sonst in kürzester Zeit mit Matsch verdreckt gewesen wäre.

Penelope ging strammen Schrittes voran und redete ohne Unterlass entweder darüber, wie furchtbar ihre Verwandten seien oder welche Albernheiten Dr. Fletcher zu ihr gesagt habe. Lucy war nicht ganz klar, was davon für Penelope das größere Übel war, denn es war sowohl mental als auch physisch viel zu schwierig, mit ihrer Begleiterin Schritt zu halten. Sie gingen an der Kirche vorbei weiter zum Dorfzentrum. Die Festzelte auf der Dorfwiese waren abgebaut worden, aber im Gras waren noch immer platt gedrückte Stellen, die zeigten, wo sie gestanden hatten und die Besucher über den schlammigen Untergrund getrampelt waren.

Nach der desaströsen Preisverleihung hatten sich einige der Dorfbewohner geweigert, ihr Obst und Gemüse für das Erntedankfest in der Kirche Ende der Woche bereitzustellen. Das bedeutete, dass Lucy diesmal noch einfallsreicher bei der Dekoration werden müsste als sonst, was nicht gerade zu ihren Stärken gehörte. Wäre doch nur Anna zu Hause. Sie hatte ein gutes Auge für derartige Angelegenheiten.

„Also habe ich ihm gesagt, dass er ein völliger Narr sei. Und was glaubst du, hat er darauf geantwortet?“

Lucy sah Penelope an. „Ich habe keine Ahnung.“

„Er sagte, er sei wirklich ein Narr, weil er sich in mich verliebt habe.“

„Dr. Fletcher hat das gesagt?“ Lucy blieb stehen, um Penelopes hochrotes Gesicht besser studieren zu können.

„Wieso überrascht dich das so?“ Penelope hob das Kinn. „Ich bin sehr attraktiv, musst du wissen. Männer verfallen mir recht häufig.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ich nehme an, du hast ihn ausgelacht?“

„Das … habe ich nicht.“

„Wieso nicht? Er verkörpert alles, von dem du mir gesagt hast, dass du es dir von einem Ehemann nicht wünschen würdest.“ Sie hob die Hand und zählte an den Fingern die einzelnen Punkte ab. „Er hat kein Geld, keinen Titel, er ist Ire, vermutlich römisch-katholisch, und er arbeitet für seinen Lebensunterhalt.“

„Das weiß ich doch alles.“

„Aber?“

„Ach, ich weiß auch nicht“, platzte Penelope auf recht ungewohnte Art hervor. „Ich kann einfach an niemand anderen als ihn denken.“

„Dann erwiderst du vielleicht seine Gefühle?“

„Wie könnte ich? Es stimmt alles, was du über ihn gesagt hast, und ich bin mit dem Adel verwandt.“

„Ich nehme an, das hast du ihm auch gesagt.“

„Natürlich habe ich das. Es gibt keinerlei Geheimnisse zwischen uns. Er weiß genau, was ich von ihm halte. Er behauptet, mich nur zu gut verstehen zu können.“

„Und stimmt das?“

„Er sagt, er müsste mich über sein Knie legen, mir den Hintern versohlen und mich dann ausgiebig küssen.“

Lucy blinzelte. „Er klingt perfekt für dich.“

„Oh Lucy, ich schätze, ich kann dir den Scherz nicht verübeln. Immerhin heiratest du Major Kurland, den Mann, den ich abgewiesen habe.“

„Ich meine mich daran zu erinnern, dass Major Kurland derjenige war, der dich zurückwies. Und versuche nicht, das Thema zu wechseln. Was willst du bezüglich Dr. Fletcher unternehmen?“

Penelope ging weiter. „Was ich unternehmen werde? Ich werde gar nichts tun. Ich denke, dass er nicht glücklich damit ist, in mich verliebt zu sein. Ich schätze, dieser Umstand verärgert ihn ebenso sehr wie mich. Er würde mich nie dazu zwingen, ihn zu heiraten. Er besitzt Moralvorstellungen, Lucy, und er glaubt, dass jeder Mann und jede Frau in diesem Land das Wahlrecht besitzen und frei ihren Glauben ausleben dürfen sollten.“

„Vielleicht sollte er dann nach Amerika auswandern. Ich habe gehört, da drüben zerstören sie nur zu gern das antiquierte soziale Gefüge. Auch Major Kurland hegt Sympathien dafür.“

„Major Kurland ist ein Baronet! Sicherlich besitzt er Vertrauen in die Monarchie, der er diesen Titel verdankt.“

Lucy blieb vor dem Dorfladen kurz stehen. „Ganz und gar nicht. Während seiner Zeit in der Armee auf dem Kontinent hat er sich einige ungewöhnliche Ansichten zu eigen gemacht.“

„Ausländer.“ Penelope erschauderte. „Von ihnen kann man nicht viel mehr erwarten, aber Major Kurland ist ein gebürtiger Engländer.“

„Und dein Dr. Fletcher ist in Irland geboren worden, einer Nation, deren Einwohner von unserer Regierung gerade so als zivilisiert angesehen werden.“

„Er hat seine Ausbildung in England durchlaufen und war zusammen mit Major Kurland in der Armee. Seine Mutter ist Engländerin und ist mit seinem Vater gegen den Wunsch ihrer Familie durchgebrannt.“

„Dann ist er ja immerhin halb zivilisiert und ein ausgezeichneter Arzt. Ihm gehört außerdem ein recht ansehnliches Haus im Dorf.“

„Es gehört ihm nicht. Er mietet es für einen symbolischen Betrag von Major Kurland.“ Penelope seufzte schwer. „Ich wünschte, er wäre nie hierhergekommen.“

„Weil er deine Pläne durchkreuzt, für Geld und Ansehen zu heiraten?“

„Für dich ist es leicht, dich lustig zu machen, Lucy – schließlich hast du es geschafft, dir beides zu sichern.“

„Wie es das Schicksal so will, empfinde ich auch eine sehr tiefe Zuneigung zu Major Kurland“, gab Lucy zögernd zu. „Er mag vielleicht manchmal unausstehlich sein, aber er hat ein gutes Herz. Wenn du wirklich Gefühle für Dr. Fletcher hast, dann solltest du ihn das wissen lassen.“

„Ich soll es ihm sagen? Und was dann? Soll ich dann erwarten, dass er auf die Knie geht und um meine Hand anhält?“

„Wieso nicht? Ich bin mir recht sicher, dass er nicht so dumm wäre, dich nur als Geliebte zu nehmen. Major Kurland würde das definitiv nicht gutheißen!“

„Er … hat mir noch keinen Antrag gemacht.“

Lucy studierte Penelopes entschlossene Miene. „Vermutlich, weil er denkt, dass du zu weit über ihm stehst.“

„Was ja auch stimmt. Ich bin ihm in jeder Hinsicht überlegen.“

„Aber wenn du etwas für ihn empfindest …“

„Ich muss mich auf den Weg machen, Lucy. Dr. Fletcher erwartet mich. Ich werde dich dann später im Pfarrhaus sehen.“

Penelope ging weiter am Rand der Dorfwiese entlang, vorbei am Ententeich in Richtung des ansehnlichen Steinhauses am anderen Ende des Platzes. Darin befand sich die Praxis von Dr. Fletcher. Langsam, aber sicher kamen neue Patienten zu ihm, da sich der alte Arzt nur noch dann um die Dorfbewohner kümmerte, wenn es ihm gerade passte.

Der Gedanke, Penelope aus dem Pfarrhaus auszuquartieren, war erstaunlich motivierend. Vielleicht könnte Major Kurland seinen ehemaligen Kameraden fragen, was für Absichten er verfolgte, oder ihm sogar einen Anreiz dafür bieten, um Penelopes Hand anzuhalten. Aber würde der Major wollen, dass sich seine ehemalige Verlobte direkt vor seiner Tür niederließ?

Lucy nahm ihre Einkaufsliste. Wenn sie wählen musste zwischen Penelope als neuer Herrin im Pfarrhaus und Major Kurlands Seelenfrieden, würde Lucy die Entscheidung nicht schwerfallen. Die Frage war nur, wie dies einzurichten wäre.

 

***

 

„Dieser Küster hätte mit seinen Karotten nicht gewinnen dürfen, Sir. Ich muss zugeben, dass sein Lauch meinem weit überlegen war, aber seine Karotten? Schauen Sie sich die doch an, Sir. Ich bitte Sie eindringlich.“

Robert seufzte innerlich, während Mr Pethridge, der dem Gehöft von Kurland Hall vorstand und mit dessen Erträgen das Anwesen versorgte, unaufhörlich weitersprach.

Wer hätte damit rechnen können, dass sich die Geister so sehr an ein paar Karotten scheiden könnten? Jeder Einzelne, mit dem er seit dem Dorffest gesprochen hatte, hatte dazu eine Meinung loswerden wollen. Und jetzt stand er auf einem matschigen Feld bei beißendem Wind und starrte auf ein leeres Stück Land, von dem Mr Pethridge gerade erst die letzten seiner angeblich überlegenen Karotten geerntet hatte.

„Das ist sehr interessant, Mr Pethridge, aber –“

„Und ich weiß, dass der Küster behauptet, dass er nur gewonnen hat, weil der Boden beim Pfarrhaus ganz neu aufgetragen wurde, aber ich dünge meinen Acker jedes Jahr mit Kompost und dem besten Pferdemist aus den Kurland-Ställen, daher glaube ich, dass mein Boden viel reichhaltiger ist.“ Er bückte sich, nahm eine Handvoll davon hoch und hielt sie Robert unter die Nase. „Was meinen Sie, Sir? Wahre Prachterde, oder?“

„In der Tat. Könnten wir jetzt vielleicht unsere Pläne für das nächste Jahr besprechen?“ Robert verlagerte das Gewicht von seinem kaputten Bein auf das andere. „Und wir sollten einen etwas weniger windigen Ort aufsuchen.“

Mr Pethridge ließ die Erde fallen und wischte sich die Hand an der Hose ab. „Es ist ein wenig böig heute, nicht wahr, Sir? Lassen Sie uns reingehen und ein schönes Glas Cider trinken.“

Während Mr Pethridge etwas davon murmelte, dass er noch Unterlagen holen wollte, und kurz darauf durch eine der Türen im Haus verschwand, hängte Robert seinen Hut und seine Handschuhe an die Garderobe neben dem steinernen Eingangsbogen des Bauernhauses. Aus den Aufzeichnungen des Anwesens wusste er, dass das Gebäude einst zum Kloster von Kurland St. Anne gehört hatte und während der Auflösung der englischen Klöster durch König Heinrich VIII. geräumt worden war. Zurück blieb ein robust gemauertes Haus mit dicken Wänden, tiefen Fundamenten und großen Kellern, die sich perfekt zur Vorratshaltung eigneten.

Es war außerdem dankenswerterweise im Inneren recht warm. Mrs Pethridge begrüßte ihn mit einem Knicks und einem Lächeln.

„Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen etwas warmen Gewürz-Cider anbieten?“

„Darüber würde ich mich sehr freuen, Mrs Pethridge.“

Sie nickte und führte ihn in den besten Salon des Hauses, wo bereits ein Feuer im gewaltigen Kamin brannte.

„Wie geht es Ihrer Familie?“

„Sehr gut, Sir. Danke der Nachfrage.“ Sie deutete auf einen Sessel in der Nähe des Feuers. „Ich bin mir sicher, Gareth wird jeden Moment zurück sein. Bitte setzen Sie sich doch und wärmen Sie sich auf. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat, Sie bei diesem Wetter aufs Feld zu führen.“

Robert setzte sich und streckte unauffällig sein verletztes Bein in Richtung des Kamins. „Ich glaube, es ging um die Überlegenheit seiner Karotten.“

Sie seufzte. „Das dachte ich mir schon. Dieses Dorffest hat nichts außer Tratsch und Böswilligkeit gebracht. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht das Ende der Welt sei und er nächstes Jahr besser abschneiden würde, aber hat er auf mich gehört?“

Robert konnte Mrs Pethridge nur zustimmen. Wenn es nach ihm ginge, würde er den Rest seines Lebens keine Karotte mehr sehen müssen. Selbst Foley hatte am Abend zuvor beim Servieren von Roberts Essen die Befürchtung geäußert, dass der Gutshof ihnen in Zukunft schlechteres Gemüse liefern könnte, da der Major die von seinen eigenen Angestellten eingereichten Erzeugnisse nicht als die besten des Dorfes gewürdigt hatte.

Mrs Pethridge verließ den Raum, um den Cider zu holen. Robert lehnte sich in dem sehr gemütlichen Sessel zurück und gestattete sich einen Moment, die Wärme einfach nur zu genießen. Er war zu Fuß vom Herrenhaus gekommen und würde den ungemütlichen Weg den Hügel hinauf noch bestreiten müssen, wenn er nicht um eine Mitfahrgelegenheit betteln wollte. Er erinnerte sich daran, dass das Wetter nichts war im Vergleich zu den Wintern in Spanien und Portugal, die er im Kampf mit den Truppen Napoleons erlebt hatte. Doch aus irgendeinem Grund ging es ihm dadurch nicht besser.

Ein Ackerwagen fuhr an der Vorderseite des Hauses vorbei und verschwand irgendwo hinter dem Seitenflügel. Mrs Pethridge kehrte mit dem warmen Cider zurück, den er dankend annahm und sofort probierte. Das Getränk war mit Honig und Gewürzen verfeinert und ausgesprochen wohlschmeckend. Gerade als er seiner Gastgeberin ein Kompliment aussprechen wollte, vernahm er näher kommende Stimmen. Er erhob sich schwerfällig.

Ein recht erschöpft wirkender Mr Pethridge trat in Begleitung eines weiteren bekannten Gesichts ein.

„Major Kurland, Sir! Wie geht es Ihnen?“

Robert nahm die ihm angebotene Hand und schüttelte sie. „Mallard. Wie stehen die Dinge in Kurland St. Anne?“

„Gut genug, wenn man bedenkt, was für einen schlechten Sommer wir gerade hinter uns haben.“ Jim Mallard verzog die Miene. „Sie wissen ja selbst, wie es war, Sir.“

„In der Tat. Wir können nur hoffen, dass uns die Schicksalsgötter nächstes Jahr gewogen sind und uns einen denkwürdigen Sommer bescheren.“

„Dank Ihrer Verbesserungen am Land und an dem Gutshof müssten wir den Winter in jedem Fall überstehen.“

„Das braucht allerdings seine Zeit. Ich hoffe, dass ich meine Pläne für das Landgut und die umliegenden Gehöfte so schnell wie möglich umsetzen kann, jetzt, wo ich Mr Fletcher als meinen Landverwalter eingestellt habe. Brauchen Sie in St. Anne irgendetwas, um Sie gut durch den Winter zu bringen?“

Jim setzte zu sprechen an, schloss den Mund nach einem Blick zu Mr Pethridge aber wieder.

„Das Thema sollten wir vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt besprechen, Sir. Ich bin nur hier, um ein paar Eier abzuliefern, und muss bald schon weiter.“

„Ich werde Dermot Fletcher darum bitten, ein Treffen auf Ihrem Hof zu arrangieren, dann kann ich direkt selbst sehen, was es zu tun gibt.“

Jim schüttelte erneut seine Hand. „Das wäre am besten, Sir. Jetzt muss ich mich allerdings verabschieden.“ Er wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. „Stimmt es, dass Sie die Gewinner auf dem Dorffest gestern ausgewählt haben, Sir, oder hat der Pfarrer seine Angestellten bedacht?“

Robert richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich habe die Gewinner ausgewählt.“

Jim verzog die Miene. „Ihre Auswahl hat für einige Diskussionen gesorgt, Sir.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst.“

„Einige behaupten, dass Ezekiel Thurrock betrogen hat.“

„Ist das so?“

Roberts herausfordernder Blick schien Jim nicht zu beeindrucken.

„Gibt es für diese Anschuldigung denn irgendwelche Beweise?“

Jim kratzte sich am Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, Sir, schließlich bin ich nicht derjenige, der sich beschwert hat. Ich weiß, dass ich mit meinen Rüben hätte gewinnen müssen, aber in diesem Dorf gibt es einfach kein Ankommen gegen einen Thurrock, nicht wahr? Es ist doch immer das Gleiche.“

Der feindselige Tonfall des Mannes ließ Robert eine Augenbraue nach oben ziehen, und Jim trat hastig einen Schritt zurück.

„Auf Wiedersehen, Sir.“

Robert setzte sich wieder, während Mr Pethridge seinen Gast zu dessen Kutsche begleitete. Nach einer Weile kehrte er zurück.

„Ich muss mich entschuldigen, Major. Jim Mallard ist ein sehr direkter Mann, genau wie sein Vater.“

„Ich weiß und ich nehme es ihm nicht übel. Ich komme viel besser mit ihm zurecht als mit jemandem, der hinter vorgehaltener Hand tratscht.“ Robert nahm einen weiteren Schluck Cider. „Ich kann kaum glauben, wie aufgebracht die Leute wegen der Sache sind. Ich wurde darum gebeten, die Qualität von Gemüse rein nach dessen Aussehen zu beurteilen. Hätte ich jedes verdammte Stück probiert, wäre ich vielleicht zu einem anderen Schluss gekommen. Ich weiß zum Beispiel, dass das Gemüse, das Sie dem Anwesen liefern, immer exzellent ist.“

„Vielen Dank, Sir.“ Mr Pethridge neigte den Kopf. Robert hoffte, dass er genug gesagt hatte, um sicherzustellen, dass die Qualität der Lieferungen ans Herrenhaus gleich blieb. Miss Harrington würde es nicht gefallen, wenn sie als seine Braut einzog und eine Zumutung von einer Küche vorfand.

Für einen Sekundenbruchteil wünschte er, er hätte sich bei der Auswahl der Gewinner doch von ihr umstimmen lassen, aber ein Mann kurz vor der Hochzeit sollte keinen solch bedenklichen Präzedenzfall schaffen. Seine Sorgen verschwanden nach einem weiteren Schluck Cider und einer vielversprechenden Diskussion über seine Hoffnungen für das nächste Erntejahr. Er war sich recht sicher, dass die Angelegenheit wie die meisten Vorfälle im Dorf bis zum nächsten kleinen Skandal schon wieder vergessen sein würde.

 

Viel später, nachdem sie ihre restlichen Aufgaben abgearbeitet hatte, durchquerte Lucy erneut das Dorf und ging in Richtung der Kirche, wo sie sich um die Vorbereitungen für das Erntedankfest kümmern musste. Inzwischen regnete es ohne absehbares Ende und die Blätter auf dem Weg waren entsprechend rutschig. Sie hatte weder Penelope noch Dr. Fletcher gesehen und konnte nur hoffen, dass die beiden entweder in Kurland St. Anne vor dem Sturm untergekommen waren oder einen Weg gefunden hatten, trockenen Fußes zurückzukehren.

Vielleicht hätte sie Penelope ihren Schirm anbieten sollen, aber Lucy war recht froh, ihn selbst bei sich zu haben. Um Lucys Nerven noch weiter zu strapazieren, hatte der Regen beschlossen, nicht in gerader Linie vom Himmel zu fallen, sondern mit jeder Böe aus einer anderen Richtung unter ihren Schirm zu wehen, sodass es trotz aller Bemühungen fast unmöglich war, trocken zu bleiben.

Sie freute sich, den dunklen Umriss der Kirche vor ihr durch den Regen ausmachen zu können, und eilte zum nächsten Eingang, der in den Glockenturm führte. Die alte Eichentür ließ sich nur widerwillig mit einem Knarzen aufziehen. Ein dabei eindringender Windstoß blies sofort die Kerzen im Inneren aus. Ein weiterer Luftzug warf die Tür hinter Lucy krachend ins Schloss. In der Dunkelheit des Glockenturms war der Sturm draußen nur noch als Pfeifen durch die Spalten und Ritzen des alten Baus zu hören.

Lucy murmelte etwas für diesen heiligen Ort ausgesprochen Unangemessenes und trat mit ausgestreckter Hand vorsichtig einen Schritt tiefer ins Innere. Sie versuchte, sich langsam auf die andere Seite des Turms vorzuarbeiten, wo eine weitere Tür in den Hauptteil der Kirche führte. Sie kannte jeden Winkel des Gebäudes und hatte keinen Zweifel, dass sie auch im Dunkeln den Weg finden würde. Doch dann stieß sie mit der Fußspitze gegen ein unerwartetes Hindernis. Glücklicherweise fand ihre Hand an der rauen Mauer Halt, sodass sie einen Sturz nach vorn gerade noch verhindern konnte.

Vorsichtig tastete sie mit der Spitze ihres Stiefels in der Dunkelheit umher. Da war ein schweres, unbewegliches Etwas. Mit einem leisen Stöhnen ging sie langsam auf dem kalten Steinboden in die Knie und berührte etwas, das sich wie Stoff anfühlte.

„Oh, guter Gott.“

Sie warf jegliche Würde über Bord und kroch um das Hindernis herum. Sie erreichte die Tür am anderen Ende des Turms und fand dort auch eine Zunderbüchse. Mit zitternden Händen versuchte sie einen Funken hervorzubringen. Nach einigen Anläufen gelang es ihr schließlich, eine der Kerzen zu entzünden, mit der sie wiederum eine kleine Laterne zum Leuchten brachte.

Sie wandte sich um und streckte die neue Lichtquelle in Richtung der dunklen Form am Boden. Unwillkürlich keuchte sie auf.

„Mr Thurrock?“

Ihre Stimme hallte von den steinernen Wänden des Glockenturms wider. Weit über ihr ertönte dumpf die Glocke, die von einer Windböe in Schwung versetzt worden sein musste. Nach Lucys viel zu nahen Begegnungen mit dem Tod in der Vergangenheit war sie nicht überrascht, dass keine Antwort von Mr Thurrock kam. Sie ließ den Lichtstrahl über den reglosen Körper wandern, bis er auf das zerzauste silberne Haar traf. Sie rang nach Luft.

Sein Kopf …

Lucy presste die Hand auf den Mund und ging langsam rückwärts durch die Tür ins Hauptschiff der Kirche und rannte dann durch die Sakristei hinaus.

 

Ihr Vater blickte verärgert auf, als sie in sein Arbeitszimmer platzte, wo er gerade zeitunglesend seinen Brandy genoss.

„Was ist denn jetzt wieder, Kind? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“

Sie legte sich eine Hand auf den Brustkorb, um wieder zu Atem zu kommen. „Mr Thurrock …“

„Was soll mit ihm sein?“

„Ich glaube, er ist tot!“