Eins
New York City, Juli 1903
„Ladies and Gentlemen. Für meine letzte Illusion werde ich ein Kunststück vollbringen, das Sie verblüffen und in Erstaunen versetzen wird – ein Kunststück, das nie zuvor in der Geschichte der Zauberei versucht wurde, ein Kunststück voller Gefahr und Schrecken.“ Der Entertainer, der dem Publikum als der erstaunliche und sensationelle Signor Scarpelli vorgestellt worden war, machte eine Kunstpause. Die Atmosphäre im Theater war elektrisiert. Eine hübsche, junge Frau trat aus den Schatten der Seitenbühne. Sie trug ein weißes, mit Pailletten besetztes Kostüm, das ab der Mitte ihrer Oberschenkel wohlgeformte Beine entblößte; dazu weiße Netzstrümpfe und kniehohe, weiße Stiefel. Der Illusionist, ein eleganter, kleiner Mann mit eindrucksvollem Schnauzbart, streckte ihr eine Hand entgegen. Sie ergriff die Hand und bewegte sich anmutig ins Scheinwerferlicht. „Ladies and Gentlemen, ich präsentiere Ihnen die liebliche Lily. Heute Abend werde ich versuchen, diese erlesene, junge Dame in der Mitte durchzusägen.“
Aus dem Publikum ertönte entsetztes Keuchen. Ich glaube, ich hatte selbst etwas gekeucht. Ich blickte zu Daniel hinüber, der neben mir saß, und ärgerte mich, als ich sah, dass er grinste. Als ein Polizist, der alles gesehen hatte, war es unwahrscheinlich, dass ihn ein bloßes Bühnenspektakel ängstigen konnte. Ich, immer noch das einfache, irische Bauernmädchen, war von den einfachsten Tricks verblüfft und beeindruckt gewesen, die diesen Abend der Illusionen im Miner’s Theatre auf der Bowery eingeleitet hatten – Tauben, die aus dem Nichts auftauchten, dann in Käfige gesteckt wurden, nur um wieder zu verschwinden; Hüte, die große Blumensträuße hervorbrachten und sogar clevere Kartentricks.
Offen gesagt hatte ich so etwas noch nie zuvor gesehen und ich amüsierte mich ungemein. Ganz besonders genoss ich es, ausnahmsweise einmal einen Abend mit meinem Zukünftigen zu verbringen. Es kam nicht oft vor, dass ein Captain der New Yorker Polizei wie Daniel Sullivan plötzlich Freizeit hatte, um seine Geliebte ins Theater auszuführen.
Eine große Vorrichtung wurde auf die Bühne gerollt. Sie war mit einem roten Samt-Tuch verhüllt, das Scarpelli auf dramatische Weise wegriss und so einen Tisch auf Rollen enthüllte, auf dem eine große, rechteckige Kiste ruhte, die mit grellen Flammen und Sternschnuppen bemalt war. Dann drehte er sie herum, um zu zeigen, dass sich an beiden Enden kleine Öffnungen befanden. Scarpelli öffnete dann den Deckel der Kiste, ließ die Vorderwand herunter und zeigte uns einen mit weißer Seide ausgekleideten Innenraum, so wie man ihn vielleicht in einem höherwertigen Sarg sehen würde. Dann streckte er der Frau eine Hand entgegen.
„Jetzt werde ich meine liebliche Assistentin Lily bitten, in diese entsetzliche Vorrichtung zu steigen“, sagte er.
Lily lächelte und winkte der Menge zu, während sie dem Großen Scarpelli erlaubte, ihr in die Kiste zu helfen, in der sie still dalag, während der Deckel geschlossen wurde, was ihren Kopf am einen Ende und am anderen ihre Füße herausschauen ließ. Dann wurde die Kiste mit zwei großen Schlössern verriegelt. Aus dem Orchestergraben ertönte ein leiser, unheilvoller Trommelwirbel. Der Große Scarpelli holte eine beeindruckend aussehende Säge, bog sie hin und her und wedelte damit herum.
„Ladies and Gentlemen, eine gewöhnliche, alltägliche Säge, mit der die Gentlemen unter Ihnen vertraut sind, da bin ich mir sicher. Dieses spezielle Exemplar wurde bis zur Perfektion geschärft, tatsächlich bin ich mir sicher, dass jeder von Ihnen sie für seinen eigenen Holzstoß begehren würde. Erlauben Sie mir, das zu demonstrieren.“
Ein männlicher Assistent schob einen kleinen Tisch heraus, auf dem ein Holzscheit lag. Der Große Scarpelli zog sein Jackett aus, krempelte sich die Ärmel hoch und begann, den Scheit überaus wirkungsvoll zu zersägen, bis zwei Hälften auf den Bühnenboden fielen.
„Also stimmen Sie mit mir überein, dass ich kein Problem haben sollte, ein so zierliches Exemplar wie die liebliche Lily durchzusägen“, sagte er und grinste das Publikum boshaft an. „Also gut. An die Arbeit. Trommelwirbel, bitte, Maestro.“
Der Trommelwirbel setzte wieder ein, wurde lauter und lauter, bis er das gesamte Theater erfüllte. Ich konnte beinahe spüren, wie die Menschen um mich herum den Atem anhielten. Ich wusste, dass ich meinen anhielt. Vorsichtig platzierte er die Säge in der Mitte der Kiste und begann, sie vor und zurück zu bewegen. Sie ging durch die oberste Holzschicht wie durch Butter. Wir konnten sehen, dass sie bei jedem Stoß herausragte und immer tiefer sank. Sie musste mittlerweile den Körper der Frau erreicht haben. Plötzlich, über den Lärm der Säge und der Trommel hinweg, ertönte ein markerschütternder Schrei. Schreie hallten aus dem Publikum wider. Einige Menschen hatten sich erhoben. Einige Damen wurden bereits ohnmächtig. Es war klar, dass etwas schiefgelaufen war.
„Heilige Mutter Gottes“, hörte ich mich murmeln.
Signor Scarpelli zog die Säge mit einiger Schwierigkeit heraus, warf sie auf den Boden, dann eilte er um den Tisch herum und hantierte verzweifelt an den Schlössern. Das Geschrei hatte jetzt aufgehört und im Theater war es unheilvoll still.
„Hübsches Detail“, murmelte mir Daniel ins Ohr. „So kriegt jeder richtig Angst.“
Dann sahen wir etwas von der Unterseite der Kiste auf den Boden tropfen. Große, rote Tropfen.
„Das ist Blut. Sehen Sie, das ist Blut“, keuchte jemand in der Reihe hinter uns.
„Nein! Das kann nicht sein!“, rief Scarpelli. „Jemand muss mir helfen, sie herauszubekommen.“
Bühnenarbeiter eilten ihm zu Hilfe.
„Keine Sorge“, flüsterte Daniel mir zu. „Das ist alles nur für den Effekt, merk dir meine Worte.“
In diesem Moment riss Scarpelli den Deckel der Kiste auf.
„Oh, Gott im Himmel, nein, nein!“, rief er. „Welcher Teufel hat das getan? Hilfe, jemand muss ihr helfen!“
In diesem Augenblick kam der Theaterdirektor auf die Bühne. „Ladies and Gentlemen“, sagte er und hob die Hände, um für Stille zu sorgen, obwohl der Großteil des Publikums bereits regungslos verharrte und voller Schrecken zur Bühne starrte. „Ich fürchte, es hat ein kleines Malheur gegeben. Es scheint, dass etwas schrecklich schiefgelaufen ist. Ist ein Arzt im Haus?“
„Ja, ich bin Arzt“, ertönte eine tiefe, dröhnende Stimme von irgendwo in der Dunkelheit und ein bedeutend aussehender Mann mit imposantem, grauem Backenbart stieg die Stufen zur Bühne hinauf; für jemanden seines Alters war er rüstig und beweglich. „Bitte treten Sie zurück“, befahl er und schob alle aus dem Weg. Er warf einen Blick auf die dort liegende Frau und sprach dann den Direktor an. „Das sieht äußerst ernst aus“, bellte er. „Rufen Sie sofort einen Krankenwagen und senken Sie den Vorhang.“ Er wandte sich wieder der Frau zu, um ihr zu helfen, während der Direktor an den Bühnenrand trat.
„Ladies and Gentlemen, ich bitte Sie, das Theater zu verlassen und nach Hause zu gehen. Der Rest der Show heute Abend ist abgesagt.“
Nach diesen Worten ertönte verärgertes und enttäuschtes Gemurmel aus dem Publikum, aber die Leute begannen, ihre Plätze zu verlassen.
Die Vorhänge senkten sich. Daniel hatte vor mir den Gang erreicht. Er schob sich wie ein Lachs, der stromaufwärts schwimmt, durch die Menge und steuerte auf die Bühne zu. Ich folgte in seinem Fahrwasser. Der Gedanke, dass ich vielleicht nicht sehen wollte, was dort oben passiert war, kam mir nicht. Ich ging hinter Daniel die Stufen hinauf. Er zog den Vorhang beiseite, der mittlerweile bis auf die Bühne heruntergefallen war. Es war beinahe so, als spielte sich vor unseren Augen die Szene eines Gemäldes ab – die Männer scharten sich um die offene Kiste, der Arzt beugte sich darüber. Sie blickten auf, als sie uns auf die Bühne kommen sahen.
„Sind Sie auch Arzt, Sir?“, verlangte der Arzt zu wissen und sah von seiner Patientin auf. „Denn wenn nicht, bitte ich Sie, augenblicklich zu gehen ...“
„Nein, ich bin Police Detective“, sagte Daniel. „Captain Sullivan.“ Er fischte in seiner Tasche herum und holte seine Marke hervor. „Und ehe irgendwer von Ihnen herumläuft und alles anfasst, schätze ich, dass wir das hier jetzt als Tatort behandeln müssen.“
„Das müssen wir in der Tat, Captain.“ Scarpelli bewegte sich auf Daniel zu. „Jemand muss sich an meinen Gerätschaften zu schaffen gemacht haben. Es war unmöglich, dass die Säge auch nur irgendwie in ihre Nähe hätte kommen können. Ich hatte die Illusion perfektioniert.“
„Wie schlimm ist es?“ Daniel trat näher an die Kiste heran. Ich folgte unbemerkt. Lily lag regungslos und blass in der weiß ausgekleideten Kiste und in ihrer Mitte klaffte ein großer, roter Schnitt. Sie war wirklich beinahe in der Mitte durchgesägt worden. Ihr weißbesetztes Kostüm war jetzt aufgerissen und blutrot befleckt. Noch immer quoll Blut aus der schrecklichen, klaffenden Wunde und tropfte stetig auf den Boden. Ich schluckte die Galle herunter, die in meinem Hals emporstieg.
Der Arzt hatte Lilys Puls gefühlt, sah auf und begegnete Daniels festem Blick. „Sie lebt noch, aber nur gerade so“, sagte er. „Ich bezweifle, dass man für das arme Ding irgendetwas tun kann. Die Säge hat ihre Eingeweide Zweifels ohne irreparabel aufgerissen. Und so viel Blut zu verlieren ... nicht mehr lange und ihr Körper wird einen schweren Schock erleiden.“
Scarpelli streckte eine Hand in die Kiste und ergriff Lilys schlaffe, weiße Hand. Sie hatte elegante, lange Finger und ihre Hand war jetzt so weiß, dass sie aus Porzellan hätte sein können. „Lily, meine arme, liebe Lily. Was habe ich dir angetan? Vergib mir, Lily. Gott, vergib mir.“ Er küsste sanft ihre Hand, ehe er sie wieder an ihre Seite legte.
„Hat irgendjemand einen Krankenwagen gerufen?“, fragte Daniel.
„Ernest“, murmelte einer der Bühnenarbeiter.
„Dann sollte einer von Ihnen einen Constable suchen gehen“, befahl Daniel. „Sagen Sie ihm, Captain Daniel Sullivan hat gesagt, dass es einen versuchten Mord gegeben hat und dass er dem diensthabenden Beamten im Hauptquartier Bericht erstatten soll. Ich brauche augenblicklich Männer hier.“
„Versuchter Mord?“ Der Theaterdirektor wirkte fassungslos. „Ein Unfall, sicherlich. Ein schrecklicher Unfall.“
„Der Illusionist behauptet, dass sich jemand an seinen Gerätschaften zu schaffen gemacht hat. Ich muss es daher als versuchten Mord behandeln. Und jetzt geht bitte jemand und sucht einen Polizisten.“ Er zeigte auf einen pickeligen Jüngling, der in der Nähe stand und mit entsetzter Faszination vor sich hinstarrte. „Du, Junge.“
„Sehr wohl, Captain, Sir“, sagte der Jüngling. „Ich weiß, wo ich einen Constable finden kann.“ Er rannte von der Bühne, seine Schritte polterten über den Holzboden und hallten durch den Bereich hinter der Bühne.
„Hol jemand Decken, damit wir sie zudecken können“, befahl der Arzt. „Sie kühlt aus. Wir werden sie verlieren, ehe sie es ins nächste Krankenhaus schafft.“
„Hier, sie kann meinen Überwurf haben“, sagte ich.
Die Männer sahen auf, als bemerkten sie mich jetzt zum ersten Mal. „Junge Dame, Sie sollten nicht hier sein“, sagte der Theaterdirektor. „Das ist kein Ort für eine zierliche, junge Frau wie Sie.“
„Ich gehöre zu Daniel Sullivan“, sagte ich, „und ich habe schon Schlimmeres gesehen.“
Ich bemerkte, dass Daniel mich verärgert ansah. „Ich glaube, der Mann hat recht, Molly. Du solltest nach Hause gehen. Ich lasse dir von einem dieser Burschen eine Droschke rufen. Ich könnte hier länger beschäftigt sein.“
„Das macht mir nichts aus. Ich werde bleiben“, sagte ich. „Vielleicht kann ich etwas Nützliches tun.“
„Ich glaube wirklich nicht–“, sagte Daniel und sah mich jetzt mit einem Blick an, der deutlich sagte: „Ich will, dass du mir ausnahmsweise einmal ohne viel Aufhebens gehorchst.“
„Junge Frau, es gibt hier nichts, was Sie tun könnten. Gehen Sie nach Hause“, blaffte mich der Arzt an. „Je weniger Menschen hier sind, desto besser.“
Ich entschied, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Zweck hatte, eine Szene zu machen oder Daniel zu verärgern. Es gab wirklich nichts, was ich tun konnte, und warum sollte ich hierbleiben und einer armen jungen Frau beim Verbluten zusehen? In Wahrheit war mir etwas übel.
„In Ordnung“, sagte ich. „Ich will hier nicht im Weg stehen.“
„Braves Mädchen.“ Daniel lächelte mich erleichtert an. „Würde einer von Ihnen Miss Murphy eine Droschke rufen? Ich sehe nach meinen Männern.“ Er ging die Stufen hinunter und auf mehrere Police Constables zu, die gerade das Theater betreten hatten.
Ein weiterer Bühnenarbeiter entfernte sich. Ich war drauf und dran, ihm zu folgen, als ich hörte, wie sich schnelle Schritte der Bühne näherten und ein kleiner, muskulöser, dunkelhaariger Mann erschien, dem eine hübsche, zierliche Frau in Pagenkostüm und Strumpfhose folgte.
„Was soll das alles?“, verlangte der Mann zu wissen. „Mir wurde gerade gesagt, dass die Show abgesagt wurde.“ Er näherte sich dem Direktor, seine dunklen Augen blitzten auf dramatische Art, da er komplett geschminkt war.
Ich erkannte ihn augenblicklich als Harry Houdini, den Handschellenkönig, den Mann, den wir zu sehen gekommen waren. Daniel hatte seine Karriere voller Faszination verfolgt, seit er sich vor einigen Jahren im Polizeihauptquartier vorgestellt und die Polizei herausgefordert hatte, Handschellen vorzulegen, aus denen er sich nicht befreien könnte. Sie hatten keinen Erfolg gehabt.
„Das ist richtig, Mr. Houdini“, sagte der Direktor. „Ich fürchte, es hat einen scheußlichen Unfall gegeben und ich hatte keine Wahl, als das Publikum nach Hause zu schicken.“
„Dazu hatten Sie kein Recht“, tobte der kleine Mann. Mir fiel auf, dass er mit einem leichten ausländischen Akzent sprach. „Sie sind gekommen, um mich zu sehen, wissen Sie? Sie haben sie der einen Chance beraubt, den größten Illusionisten im Showgeschäft zu sehen. Diese anderen sind bloß Amateure.“
„Wen nennen Sie hier einen Amateur?“, verlangte Scarpelli zu wissen und drehte sich, um Houdini entgegenzutreten. „Ich bin seit mehr Jahren in diesem Geschäft als Sie warme Mahlzeiten hatten. Glauben Sie nicht, dass Sie hierher zurückkommen und sich wie der große Star aufführen können, nur weil Sie einmal die Hauptattraktion beim Orpheum Circuit waren und in Europa ein bisschen Erfolg hatten.“
„Aber ich bin der große Star“, sagte Houdini und streckte in einer dramatischen Geste die Arme aus. „In ganz Europa habe ich Könige und Kaiser unterhalten. Zar Nikolaus von Russland hat versucht, mich zu überzeugen, als sein persönlicher Berater bei Hofe zu bleiben. Ich bin nur für ein paar Wochen hier, und jetzt wurde mein Debüt in New York durch einen kleinen Unfall ruiniert.“
„Ein kleiner Unfall?“, setzte der Theaterdirektor an und starrte Houdini voller Abneigung an. „Mein lieber Herr, wir reden hier von einer großen Tragödie ...“
Die hübsche Frau legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Reg dich nicht so auf, Harry. Es wird andere Abende geben. Das Publikum wird morgen zurückkommen und ...“ Jetzt war ihr offensichtlich zum ersten Mal die Kiste mit Lily darin aufgefallen und sie schrie entsetzt auf. „Oh, mein Gott, Harry. Sie ist wirklich in der Mitte durchgesägt worden!“ Sie legte sich eine Hand auf den Mund und schwankte, als würde sie ohnmächtig werden. Houdini fing sie auf.
„Es ist okay, Bess, Herzblatt. Du wirst in Ordnung kommen.“ Er half ihr zu einem Stuhl in der Nähe, auf dem sie keuchend und würgend zusammenbrach. Dann erblickte er die blutbefleckte Gestalt in der Kiste.
„Oh je“, murmelte er und legte sich eine Hand auf den Mund. „Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist. Was ist passiert? Was ist schiefgelaufen?“
„Jemand muss sich daran zu schaffen gemacht haben“, blaffte Scarpelli. „Der Trick war idiotensicher. Ich hatte ihn perfektioniert. Es gab keine Möglichkeit ... Jemand muss es darauf abgesehen haben, mir Schaden zuzufügen. Meinen Ruf zu ruinieren. Vielleicht jemand, der sich selbst für den neuen König der Illusionisten hält?“ Er ging auf Harry Houdini zu und starrte ihn an. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber.
„Machen Sie sich nicht lächerlich“, sagte Houdini. „Ich würde mich nie an der Show eines Kollegen zu schaffen machen. So tief würde ich nicht sinken. Und ich würde nie–“ Sein Blick wanderte zu Lily. „Ist sie tot?“
„Ich fühle immer noch einen schwachen Puls“, sagte der Arzt.
„Worauf warten wir dann?“, wollte Houdini wissen. „Das Ding steht auf Rollen, oder nicht? Bringen wir es zum nächsten Ausgang, von wo aus sie ins Krankenhaus gebracht werden kann.“ Er bedeutete den verbliebenen Männern, sich ihm anzuschließen, dann sah er zu Bess zurück, die gebeugt auf dem Stuhl saß, ihr Körper noch immer von heftigem Schluchzen erschüttert. „Jemand sollte meine Frau zurück in unsere Garderobe bringen.“
„Ich mache das“, sagte ich.
„Das wäre sehr freundlich. Sehr verbunden, Miss“, sagte Houdini, ehe sie antworten konnte. „Sie ist selbst zu ihren besten Zeiten ein zierliches, kleines Ding und ein Anblick wie dieser würde selbst die stärkste Konstitution durcheinanderbringen.“
Die Männer machten sich schon bereit, die Kiste samt Lily hinauszurollen. Ich erinnerte mich daran, was ich zu tun vorgehabt hatte, und legte meinen Überwurf über sie. Es war nur ein Seidenüberwurf, wie er zu einem Ausflug an einem Juliabend passt, aber es war besser als nichts und wenigstens bedeckte er diese schreckliche Wunde. Ich blickte ein letztes Mal mitleidig auf sie hinab, dann ging ich zu der gebeugten Erscheinung von Bess und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Kommen Sie, Mrs. Houdini. Ich bringe Sie an einen Ort, wo Sie sich hinlegen können.“
„Danke“, schaffte sie zwischen zwei Schluchzern zu flüstern. „Bringen Sie mich hier raus, bitte, ehe ich mich übergebe.“ Mir fiel auf, dass der Akzent ihre zierliche, puppenhafte Erscheinung Lügen strafte. Pures Brooklyn.
Ich verließ die Bühne und stützte Mrs. Houdini, während ich sie durch den Bereich hinter der Bühne führte und dabei die üblichen Fallen vermied: die Seile, die Gewichte des Vorhangs, die Kulissen. Glücklicherweise hatte ich mal bei einem Fall in der Theaterwelt als Tänzerin gearbeitet, also fühlte ich mich hier wie zu Hause. Es war gut, dass ich Bess Houdini half, denn sie war nicht in der Verfassung, allein zu laufen. Sie taumelte wie eine Betrunkene und umklammerte meinen Arm so fest, dass sich ihre Nägel in meine Haut gruben. „All das Blut!“
„Ich weiß. Es war wirklich schrecklich, aber es gibt nichts, was Sie oder ich für die Frau tun können, und es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie sich erst hinlegen.“
Wir erreichten schließlich am Ende eines langen Flurs die Garderobe der Houdinis. Sie hatte einen Stern auf der Tür, aber innen befand sich nichts Ausgefallenes.
Offensichtlich ließ sich dieser Houdini nicht wie jemand behandeln, der in seinem Heimatland Könige und Kaiser unterhielt. In einer Ecke stand eine Rosshaar-Couch und ich ließ Bess sich darauflegen. „So“, sagte ich und deckte sie mit einer Afghan-Decke zu.
„Mein Riechsalz“, keuchte sie. „Auf dem Frisiertisch.“
Ich fand es zwischen dem üblichen Theaterzubehör – Theaterschminkstifte, Watte, Feuchtigkeitscreme und verschiedene Arzneien, die die Nerven beruhigen und Vitalität wiederherstellen sollen. Sie hielt sich die kleine Flasche unter die Nase, hustete und gab sie mir wieder zurück. „Schon besser“, sagte sie mit einer normaleren Stimme.
Ich habe nie verstanden, was Frauen mit Riechsalz wollen. Entsetzliches Zeug. Andererseits habe ich auch noch nie ein Korsett getragen, also habe ich nicht die Angewohnheit, so häufig ohnmächtig zu werden.
„Jetzt wird es mir gut gehen. Danke noch mal, Miss–“
„Murphy“, sagte ich. „Molly Murphy.“
Sie sah zu mir auf und lächelte. Sie war wirklich ein liebliches, zierliches kleines Ding. Zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe. „Danke für Ihre Hilfe. Sie sind überaus gütig. Arbeiten Sie hier im Theater?“
„Nein, ich saß mit meinem Zukünftigen im Publikum, der Polizist ist, also ist er natürlich zur Bühne geeilt, als er sah, was passiert war.“
Sie erschauderte und wickelte die Decke fester um sich. „Es ist zu schrecklich, um darüber nachzudenken, oder nicht? Das hätte ich sein können. Und mein Harry riskiert jeden Abend auf der Bühne sein Leben. An jedem einzelnen Abend. Ich weiß, es sind nur Illusionen“, fuhr sie fort, „aber sie müssen diese Aura der Gefahr haben, sonst würde das Publikum nicht kommen. Wenn wir die Nummer machen, die wir Metamorphose nennen, habe ich insgeheim immer Angst, dass ich in der Truhe ersticke, falls ich an einem Abend mal nicht herauskomme.“
„Das ist kein Leben, das ich mir wünschen würde“, sagte ich. „Ich habe eine kurze Zeit im Theater verbracht und kann nicht behaupten, dass ich die Anziehungskraft verstanden habe.“
„Sie waren Schauspielerin?“ Sie sah mich ungläubig an und ich war mir sicher, dass sie meine gesunden Knochen und den entschiedenen Mangel von Schminke und Froufrou bemerkte.
„Eine Tänzerin“, lachte ich. „Ja, ich weiß, ich bin ein bisschen zu groß und sehe zu gesund aus für die durchschnittliche Tänzerin, aber in Wirklichkeit bin ich Privatdetektivin und ermittelte in einem Fall.“
„Ein weiblicher Detektiv? Nein – gibt es so etwas?“
„Gibt es und ich bin eine von ihnen“, sagte ich und griff in meine Handtasche. „Hier ist meine Karte, wenn Sie einen Beweis wollen.“
Sie musterte die Karte sorgfältig, dann sah sie in mein Gesicht, als versuche sie immer noch, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gerade gelesen hatte. „Ein weiblicher Detektiv“, wiederholte sie. „Oh je, das klingt aufregend.“
„Manchmal etwas zu aufregend“, sagte ich. „Mein Zukünftiger will, dass ich es aufgebe, wenn wir heiraten.“
„Nun, das ist verständlich, oder nicht? Ich habe Glück, dass ich einen der wenigen Berufe habe, in dem ich an der Seite meines Ehemanns arbeiten kann. Es gibt zu viele flatterhafte Mädchen in der Theaterwelt, die liebend gerne ihre Klauen in meinen armen Harry schlagen würden.“
„Ich bin mir sicher, er hat nur Augen für Sie“, sagte ich diplomatisch.
„Ich hoffe, das ist wahr“, sagte sie. „Trotz all seines Gepolters und seiner Prahlerei ist er immer noch leicht zu beeindrucken. Im tiefsten Inneren ist er ein einfacher Kleinstadtjunge. Es ist eine echte ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘-Geschichte. Sein Vater war Rabbiner, wissen Sie? Er wurde in Ungarn geboren und als sie herkamen, war die Familie wirklich arm – beinahe am Verhungern.“
Ich dachte, dass ich mich besser aus dem Staub machte, ehe sie mir diese Geschichte im Detail erzählte. „Ich sollte wirklich zurück“, sagte ich. „Eine Droschke wartet auf mich und mein Zukünftiger wird sich fragen, wo ich abgeblieben bin.“
Sie streckte eine zierliche, weiße Hand aus. „Danke noch mal. Sie waren sehr freundlich.“
„Passen Sie auf sich auf“, sagte ich.
„Oh, das werde ich. Um mich mache ich mir keine Sorgen. Es ist Harry. Ich mache mir jeden einzelnen Tag Sorgen um ihn.“
Ich ging hinaus und schloss leise die Tür hinter mir. Ich war ebenfalls im Begriff, jemanden zu heiraten, der einem gefahrvollen Beruf nachging. Würde ich mir jeden einzelnen Tag um Daniel Sorgen machen?
Zwei
Ich kam zur Bühne zurück und fand Daniel, Signor Scarpelli und den Theaterdirektor in einer Unterhaltung vor. Keine Spur von der Kiste mit Lily darin oder von Houdini.
„Molly, du bist immer noch hier?“ Daniel sah überrascht auf. „Ich dachte, die Droschke wäre schon vor Stunden für dich gekommen.“
„Ich habe Mrs. Houdini in ihre Garderobe gebracht und sie war in einem so verzweifelten Zustand, dass ich sie nicht allein lassen konnte, ehe sie sich beruhigt hatte“, sagte ich.
„Gut von Ihnen, Miss“, sagte der Theaterdirektor. „Es war ein überaus erschütternder Anblick. Schrecklich. Ich habe so etwas in meinen Theatern noch nie gesehen, und ich hatte Feuerschlucker, Löwenbändiger, alles Mögliche.“
Daniel räusperte sich, wollte offensichtlich zur Sache kommen. „Nun, Mr. Scarpelli – ist das Ihr richtiger Name?“
„Mein Bühnenname“, sagte der Mann. „Im echten Leben heiße ich Alfred Rosen.“
„Und der Name des Mädchens?“
„Lily Kaufman.“
„Eine Verwandte von Ihnen?“
Scarpelli wirkte beinahe schüchtern. „Nein, nur eine Mitarbeiterin.“
„Ich verstehe.“ Daniel nickte. „Ich brauche Namen und Adresse ihrer Angehörigen. Sie müssen benachrichtigt werden.“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich das lieber selbst tun“, sagte Scarpelli. „Ich fühle mich verantwortlich. Es wäre das Richtige, sie persönlich zu besuchen. Lily hielt große Stücke auf ihre Eltern. Hat ihnen regelmäßig Geld geschickt, jeden Monat.“
„Sehr wohl, aber ich brauche dennoch ihren Namen und ihre Adresse für unsere Akten.“
„Ich kann morgen früh auf Ihre Wache kommen und Ihnen all das bringen, wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte Scarpelli. „Ich weiß die Adresse nicht aus dem Kopf und im Moment bin ich völlig durcheinander. Mein Herz hat noch nicht aufgehört zu rasen. Ich kann es immer noch nicht glauben, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Ich denke immer noch, dass es ein schrecklicher Alptraum ist und ich jeden Augenblick aufwache.“
„Sie haben ausgesagt, dass sich jemand an Ihren Gerätschaften zu schaffen gemacht haben muss“, sagte Daniel und zeigte kein Mitgefühl. „Wieso sind Sie sich dessen so sicher? Wieso kann es nicht einfach eine Fehlfunktion Ihres Tricks gewesen sein?“
„Weil der Trick idiotensicher hätte sein sollen“, sagte Scarpelli.
„Erklären Sie ihn mir.“
Scarpelli hob entsetzt die Hände. „Mein lieber Herr. Ein Illusionist enthüllt niemandem seine Geheimnisse, niemals.“
„Wie Sie wünschen“, sagte Daniel, „aber Sie müssen sich bewusst sein, dass Sie der einzige Beweis sind, den ich bis jetzt dafür habe, dass ein Verbrechen verübt wurde. Sie, der eine Säge schwingt und ziemlich sicher eine junge Frau getötet hat. Eine besonders praktische Art und Weise eine Person loszuwerden, die Sie vielleicht tot sehen wollten.“
Scarpellis Gesicht wurde rot. „Sie glauben, dass ich ... Captain, ich versichere Ihnen, dass ich Lily außerordentlich gernhatte. Ich hätte nie etwas getan, das ihr schadet.“
„Was also lässt Sie glauben, dass jemand anderes ihr würde schaden wollen?“
Scarpelli hielt inne, sah sich um und senkte dann die Stimme. „Es sind Kleinigkeiten passiert“, sagte er. „Kleine Pannen bei der Show. Schlösser, die sich nicht öffnen ließen, Requisiten, die direkt vor Vorstellungsbeginn auf mysteriöse Weise verschwanden. Ich habe diese Vorkommnisse auf Lilys mangelnde Ordnung geschoben. Sie war ein bisschen schusselig, wissen Sie? Aber jetzt frage ich mich, ob jemand die ganze Zeit versucht hat, meine Show zu sabotieren. Es war niemand, der Lily Schaden zufügen wollte, es war jemand, der vorhatte, meinen Ruf als Illusionist zu ruinieren.“
„Also, sagen Sie mir, warum ich glauben sollte, dass der Unfall nicht bloß eine Fehlfunktion Ihrer Gerätschaften war“, beharrte Daniel. „Ihr Geheimnis wird vor Gericht so oder so herauskommen, wenn man Sie wegen Fahrlässigkeit oder, schlimmer noch, Mord anklagt.“
Scarpelli blickte erst zum Theaterdirektor, dann zu mir. „Die beiden dürfen es nicht erfahren“, sagte er.
„Molly, ich glaube, es ist an der Zeit, dass du nach Hause gehst“, sagte Daniel. „Die Droschke wartet seit Stunden und du hast in einer polizeilichen Ermittlung nichts verloren.“
Wie aufs Stichwort platzten etliche Polizisten durch die Vordertüren herein.
„Hier oben, Männer“, rief Daniel. Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter und küsste mich flüchtig auf die Wange. „Geh schon“, sagte er.
Ich hatte keine Wahl, als zu gehen, gerade als die Dinge interessant wurden.
Die Droschke brachte mich sicher zu meinem kleinen Haus im Patchin Place. Ich machte mir eine Tasse Tee und ging dann nach oben ins Bett. Das Fenster stand offen und ließ die Sommerbrise und den Duft der Rosen herein, die über meine Gartenmauer wuchsen. Ich stand am Fenster, nahm tiefe Atemzüge und versuchte, das schreckliche Bild aus meinen Gedanken zu vertreiben. Plötzlich fühlte ich mich entsetzlich allein und verletzlich. Ich hatte mich bis jetzt stets für eine starke und unabhängige Frau gehalten. Ich hatte es nie eilig gehabt, zu heiraten und meine Unabhängigkeit aufzugeben. Aber in diesem Moment sehnte ich mich nach starken Armen, die mich umschlossen, und dachte daran, wie beruhigend es wäre, in Daniels Armen einzuschlafen und mich sicher und beschützt zu fühlen. Dann ermahnte ich mich selbstverständlich, dass ich jemanden heiraten würde, dessen eigenes Leben für immer mit Gewalt verknüpft sein würde. Wie Bess Houdini würde ich mich ununterbrochen um meinen Ehemann sorgen, jedes Mal, wenn er spät nach Hause kam.
Schließlich schlief ich ein und erwachte an einem herrlichen Sommermorgen: Die Sonne flutete zum Fenster herein und die Gardine flatterte träge in der Brise. Die Schrecken der Nacht waren vertrieben. Ich stand auf, zog mich an und war bereit, den Tag zu beginnen, als es an meiner Tür klopfte. Ich hoffte, es wäre vielleicht Daniel, der auf seinem Weg zur Arbeit kurz vorbeikam, um mir die Einzelheiten dessen zu berichten, was sich im Theater ereignet hatte, nachdem ich nach Hause gegangen war. Stattdessen war es meine Nachbarin Augusta Walcott, von den Walcotts aus Boston, für gewöhnlich bekannt unter ihrem respektlosen Spitznamen Gus. Sie hielt einen Korb im Arm.
„Guten Morgen“, sagte sie. „Ich war gerade bei der Bäckerei in der Greenwich Avenue und bin mit ofenwarmen Croissants zurückgekehrt. Komm und frühstücke mit uns. Wir brennen darauf, zu hören, was du von diesem Houdini hältst.“
„Was das betrifft: Ich hatte keine Gelegenheit, ihn auftreten zu sehen“, sagte ich. „Ich nehme an, du hast die Morgenausgabe der Times noch nicht gelesen.“
„Nein, habe ich nicht. Im Moment lauert sie zusammen mit den Brötchen im Korb. Abgesehen davon liest Sid sie immer gern zuerst. Houdini ist also gar nicht aufgetreten?“
„Es gab einen schrecklichen Unfall bei der Show, die seiner vorausging“, sagte ich. „Die Illusion sollte sein, eine junge Frau in der Mitte durchzusägen. Aber etwas ging schief und sie wurde wirklich von der Säge aufgeschlitzt.“
„Guter Gott“, sagte Gus. „Wurde sie schwer verletzt?“
Es fiel mir schwer, die Worte herauszupressen. „Man ging nicht davon aus, dass sie überlebt, fürchte ich. Der Direktor unterbrach die Show und schickte alle nach Hause.“
„Wie schrecklich für dich. Du brauchst eine Dosis von Sids Kaffee, um dich wiederherzustellen.“
In Wahrheit brauchte ich Sids Kaffee nicht. Sie machte ihn auf türkische Weise, abscheulich stark und so dick, dass man das Gefühl bekommt, als trinke man zähflüssigen Schlamm. Aber die heitere Gesellschaft meiner Freundinnen machte den Kaffee mehr als wett. Ich folgte Gus über die Straße zu ihrem Haus auf der anderen Seite unseres kleinen, verschlafenen Nests. Es war ein charmanter Zufluchtsort von zwanzig Stadthäusern in einer Gasse mit Kopfsteinpflaster und gab einem das Gefühl, meilenweit weg zu sein vom Verkehr und der Geschäftigkeit der Greenwich Avenue und des Jefferson Market gleich gegenüber.
Gus warf ihre Haustür auf. „Sid, Liebste. Hier ist sie, und sie hat eine wirklich dramatische Geschichte zu erzählen.“
Wir gingen den langen Flur hinunter und durch die Küche zur Rückseite des Hauses. Die beiden hatten sich einen Wintergarten angebaut und Sid saß in einem weißen Korbschaukelstuhl, ein Abbild ländlicher Eleganz.
Ich sollte vermutlich erklären, dass Sids richtiger Name Elena Goldfarb ist. Sie und Gus führten ein überaus genussvolles Künstlerinnenleben, Gus’ Erbe erlaubte ihnen diesen Lebensstil. Ihr Haus war stets voller Künstler, Schriftsteller, Schauspielerinnen – was ziemlich berauschend war für eine junge Frau, die bis vor Kurzem in einem einfachen irischen Cottage gelebt hatte und deren einzige Unterhaltung der gelegentliche Tanz im Gemeindesaal gewesen war.
Sid sprang auf, als wir eintraten. Sie trug einen roten Seidenkimono, über den sich ein goldener Drachen wand, und ihr schwarzes, kurz geschnittenes Haar wirkte erstaunlich orientalisch.
„Molly!“, rief sie und breitete die Arme aus. „Wir sehen dich dieser Tage zu selten und jetzt kommst du, um unser trostloses, kleines Leben mit einer dramatischen Geschichte aufzuheitern.“
Über diese Aussage musste ich lachen. „Trostloses, kleines Leben? Ich kenne kein Leben, das weniger trostlos wäre. Wer sonst würde sein Wohnzimmer in eine mongolische Jurte verwandeln?“
Sie sah überrascht aus. „Nun, wir haben entschieden, dass wir am Ende nicht wirklich in die Mongolei wollen. Zu kalt, windig und düster, weißt du? Also haben wir beschlossen, uns die mongolische Erfahrung nach Hause zu holen. Natürlich mussten wir auf über die Steppe galoppierende Pferde verzichten, aber es gibt Reitställe in der Nähe ...“
Ein Bild von Gus und Sid, die in mongolische Gewänder gekleidet rittlings durch den Central Park galoppierten, blitzte in meinen Gedanken auf, ehe Sid sagte: „Also, erzähl uns deine dramatische Geschichte.“
„Eine schreckliche Geschichte, tatsächlich“, sagte ich und wiederholte, was ich Gus erzählte hatte. Als ich fertig war, herrschte fassungslose Stille.
„Wie zutiefst entsetzlich“, sagte Sid schließlich.
„Sie braucht Kaffee, Sid“, sagte Gus und begann, französisches Gebäck in einen Weidenkorb zu legen.
„Den braucht sie ganz sicher. Du musst letzte Nacht durcheinander gewesen sein. Wieso bist du nicht herübergekommen, als du nach Hause kamst? Du weißt, wie lang wir aufbleiben, und wir hätten dir einen starken Brandy servieren können.“
„Vielleicht war ihr Zukünftiger da und hat mehr Trost gespendet, als wir es gekonnt hätten“, sagte Gus und blickte uns wissend an.
„Nein, ich bin allein nach Hause gekommen. Daniel hat mich in einer Droschke nach Hause geschickt“, sagte ich. „Er musste bleiben, um zu ermitteln.“
„Gewiss war es nur ein schrecklicher Unfall, oder?“ Sid sah auf, nachdem sie eine kleine Tasse dickflüssigen, schwarzen Kaffees vor mir abgestellt hatte.
„Der Illusionist hat nicht daran geglaubt“, sagte ich. „Er meinte, jemand hätte sich an seiner Nummer zu schaffen gemacht.“
„Wer würde so etwas Teuflisches tun?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich musste Mrs. Houdini in ihre Garderobe bringen, also habe ich eine Menge verpasst.“
„Es gibt eine Mrs. Houdini?“
„In der Tat, ja. Ein zierliches, kleines Ding, wie eine Porzellanpuppe. Sie wurde hysterisch, als sie das arme Mädchen sah.“
„So hätten die meisten Frauen reagiert“, sagte Sid und blickte Gus amüsiert an. „Ich fürchte, du hast dich selbst dazu verdammt, gesellschaftlich inakzeptabel zu sein, weil du nicht zu hysterischen Anfällen in der Lage bist, Molly. Eine überaus nützliche Fertigkeit für eine Frau.“
Sid setzte sich neben mich und schlug die Zeitung auf. Sie überflog die ersten Seiten, während Gus und ich das französische Gebäck probierten.
„Ah, hier ist es. ‚Tragödie im Miner’s Bowery Theatre‘. Hier steht die ganze Sache in allen grauenvollen Einzelheiten, geschrieben von jemandem, der es vor Ort beobachtet hat. Sie sind wirklich auf Draht bei der New York Times, nicht? Tatsächlich alles Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden, wie sie immer behaupten.“ Sie las den Artikel laut vor. „Oh, du wirst erfreut sein, das zu hören, Molly. Die Direktion hat zugestimmt, für alle, die Houdini gestern Abend nicht sehen konnten, für eine nachfolgende Vorführung Freikarten auszustellen. Nun, das nenne ich großzügig.“
„The show must go on. Das sagt man doch so, oder nicht?“, kommentierte Gus, während sie mehr Aprikosenmarmelade auf ihr Croissant schmierte. „Wir sollten uns das selbst ansehen, Sid. Werden du und Daniel heute Abend wieder hingehen, Molly?“
„Ich habe keine Ahnung. Das hängt alles davon ab, wann er loskommt. Ich weiß, dass Daniel Houdinis Show sehen will, ehe der wieder nach Europa zurückfährt. In Wahrheit weiß ich nicht, ob ich noch so erpicht darauf bin, nach dem, was ich gestern Abend mit angesehen habe. Ich würde ständig damit rechnen, dass noch etwas schrecklich schiefläuft.“
„Ich bin überzeugt, dass diese Dinge für gewöhnlich absolut sicher sind. Wieso kommst du heute Abend nicht mit uns mit, wenn Daniel nicht frei hat, um dich zu begleiten? Dann können wir danach für eine hitzige Diskussion über die Techniken der Illusionen in ein Kaffeehaus gehen.“
„Ich habe gestern Abend viele davon gesehen und war vollkommen ratlos“, sagte ich. „Selbst bei einfachen Tricks, wie eine Karte aus dem Stapel herausschweben zu lassen. Aber ich bin ja auch Irin und von allem leicht zu beeindrucken, das übernatürlich zu sein scheint, schätze ich.“
„Was sind deine Pläne für heute, Molly?“, fragte Gus. „Seit deiner Verlobung bist du so von deinem Polizisten vereinnahmt, dass wir dich kaum zu Gesicht bekommen haben.“
Ich nickte. „Daniel will, dass ich weiter nach Häusern und Wohnungen suche“, sagte ich. „Dabei will ich nur hierbleiben. Er soll bei mir einziehen. Ich habe ihm versprochen, dass er mein Haus so möblieren kann, dass es seinem Geschmack entspricht, und es ist eine vollkommen akzeptable Adresse, oder nicht? So nah an der 5th Avenue und an seinem Polizeihauptquartier, aber aus irgendeinem Grund ist er von der Idee nicht begeistert.“
Sid und Gus brachen in Gelächter aus. „Aus irgendeinem Grund?“, fragte Sid. „Meine liebe Molly, der Grund sitzt vor dir. Er heißt es nicht gut, dass du mit uns verkehrst. Er fürchtet, dass wir deinen Kopf mit wilden, radikalen Gedanken füllen.“
„Wenn er einen Moment innehielte und nachdächte, würde er erkennen, dass ich mich von niemandem so leicht verführen lasse. Warum sollte ich nicht so nah bei euch wohnen wollen, besonders wenn seine Karriere es mit sich bringt, rund um die Uhr zu arbeiten? Es wäre überaus beruhigend, Freundinnen zu haben, an die mich in der Not wenden könnte.“
„Dann gib nicht nach“, sagte Gus. „Wir wollen nicht, dass du wegziehst. Sag ihm, dass es das neue Ansonia-Gebäude sein soll, sonst ziehst du nicht um.“
Ich lächelte. „Ich würde lieber hier leben als in einem dieser schicken, neuen Gebäude. Und natürlich könnte Daniel nicht so weit uptown wohnen. Er muss in der Nähe des Polizeihauptquartiers leben.“
„Dann scheint mir dieser Ort ideal zu sein“, sagte Gus.
„Mir auch“, sagte ich.
„Du hast noch nicht das Geheimnis deiner neuesten Fälle enthüllt.“ Sid zog ihren Stuhl näher zu mir heran. „An welchem heimtückischen Verbrechen oder welcher schäbigen Scheidung arbeitest du gerade? Komm schon, raus damit. Wir werden dich nicht gehen lassen, ehe du gestehst.“
„Ich wünschte, ich hätte etwas zu gestehen“, sagte ich. „In Wahrheit bin ich gegenwärtig arbeitslos. Nicht ein Fall am Horizont. Ich schätze, die Menschen verlassen in den Sommermonaten die Stadt.“
„Die Art Menschen, die sich scheiden lassen wollen, tun das“, sagte Gus. „Ich weiß, dass es in meiner Familie und ihren Kreisen dieser Tage üblich ist, sich scheiden zu lassen. Es war mal ein ziemlicher Skandal. Jetzt ist es Mode.“
„Ich hasse Scheidungsfälle“, sagte ich. „Ich finde sie so hinterlistig und unerfreulich – vor Schlafzimmerfenstern zu lauern ist nicht mein Fall.“
„Also wirst du deine Karriere aufgeben, wenn du heiratest?“, fragte Sid.
„Selbstverständlich will Daniel, dass ich das tue, und ich muss gestehen, dass es manchmal etwas zu gefährlich ist, aber ich genieße es, so frei und selbstständig zu leben und mein eigenes Geld zu verdienen. Sagen wir, es ist ein kleines Detail, für das wir noch eine Lösung finden müssen, ehe wir heiraten.“
Ich trank meinen Kaffee aus und stand auf. „Ich sollte euch nicht länger aufhalten. Ich bin mir sicher, euch steht ein geschäftiger Tag bevor.“
„Ich schätze, das stimmt“, sagte Gus. „Sid muss die Tagesordnung für das nächste Treffen der Suffragetten planen, das hier in unserem Haus stattfinden wird, und ich habe versprochen, etwas mit einem mongolischen Thema für unsere Jurte zu malen.“
Ich kicherte, als ich ging. Solch ein genussvolles Leben, dachte ich. Dann erinnerte ich mich daran, dass ihr Lebensstil von den meisten anständigen Familien missbilligt wurde. Sie hatten sich im Grunde genommen selbst vom Großteil der feinen Gesellschaft, zu der sie gehörten, abgeschnitten.
Drei
Ich lief zur Post, um zu sehen, ob P. Riley and Associates – die kleine Detektei, die ich geerbt hatte, als mein Mentor, Paddy Riley, ermordet worden war – irgendwelche Anfragen erhalten hatte. Es gab keine. Und keine Aussichten auf einen neuen Auftrag. Ich war nie gut darin gewesen, um Aufträge zu werben. Jetzt musste ich vielleicht meinen Stolz herunterschlucken und meine Freunde besuchen (wie den Stückeschreiber Ryan O’Hare, der über alle Gerüchte der Theaterwelt im Bilde war), um zu schauen, wer vielleicht meine Dienste benötigte – und wer es sich leisten konnte, mich zu bezahlen.
Ich kehrte nach Hause zurück und ging augenblicklich meinen Ordner von Leuten durch, die mich bereits beauftragt hatten. Ich verfasste einen Brief, in dem ich darauf hinwies, dass ich entzückt wäre, sämtlichen Freunden beizustehen, denen sie mich vielleicht empfehlen mochten, dann zerriss ich ihn. Es klang irgendwie kriecherisch, und darin war ich nie gut gewesen. Also stand ich auf, fegte die Küche, pflückte ein paar Blumen in meinem winzigen Gartenviereck und lief dann verärgert auf und ab. Müßiggang gefiel mir gar nicht. Ich konnte mir mich nicht als Dame vorstellen, die ein Leben der Muße führte. Was um alles in der Welt taten die den ganzen Tag? Es war unmöglich, dass ich glücklich sein könnte, während ich über meinen Schneider diskutierte oder den besten Ort, um Federn zu kaufen.
Gegen Mittag war ich drauf und dran, mich auf den Weg zu machen und Ryan in seinen Räumlichkeiten im Hotel Lafayette am Washington Square aufzusuchen, als es erbittert an der Tür klopfte und Daniel hereinstürmte, ohne darauf zu warten, dass ich öffnete.
„Diese verdammte Frau“, tobte er.
„Solche Ausdrücke, Daniel. Wirklich, deine Sprache ist verkommen, seit wir uns verlobt haben“, sagte ich mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Ich hoffe, du beginnst nicht bereits damit, mein empfindliches Zartgefühl zu übergehen.“
„Es tut mir leid“, sagte er, dann schien er zu begreifen, was ich zu ihm gesagt hatte. „Seit wann hast du ein empfindliches Zartgefühl?“
„Ich könnte es mir zulegen“, sagte ich. „Ich habe gehört, es sei eine nützliche Fähigkeit. Also, welche Frau hat dich so sehr verärgert, dass du darauf zurückgreifst, in Gegenwart einer Dame zu fluchen?“
Er zog sich einen Stuhl heran und streckte seine langen Beine aus. „Mensch – das Mädchen, das gestern in der Mitte durchgesägt wurde.“
„Sie schien nicht in der Lage zu sein, irgendjemanden zu beleidigen“, sagte ich. „Erzähl mir nicht, dass sie am Ende doch überlebt hat.“
„Das kann ich dir nicht sagen. Es ist kaum wahrscheinlich, aber heute früh ist sie nirgends aufzufinden. Meine Männer haben es in allen Krankenhäusern versucht und keins scheint sie aufgenommen oder überhaupt behandelt zu haben.“
„Sie war wahrscheinlich tot, ehe sie aufgenommen werden konnte“, führte ich an. „Sie hatte viel Blut verloren und war so gut wie tot, als ich sie sah.“
„Ich habe es auch in der Leichenhalle versucht“, blaffte er. „Dazu kommt, dass auch dieser Scarpelli verschwunden ist.“
„Verschwunden? In der Tat, ein guter Illusionist.“
„Nun, er hat eine Nachricht für den Theaterbesitzer hinterlassen, in der es hieß, dass er niemandem gegenübertreten könne, nach dem, was er getan habe, und dass er Zeit für sich und seine Trauer brauche.“
„Na bitte“, sagte ich. „Das erklärt alles. Ich erinnere mich, dass er sagte, er wolle Lilys Eltern die Nachricht persönlich überbringen. Wetten, er hat ihre Leiche nach Hause gebracht, sodass sie im Familiengrab beerdigt werden kann?“
„Das ist eine Möglichkeit, schätze ich“, sagte er widerwillig, weil er offensichtlich noch nicht daran gedacht hatte. „Aber wir haben keine Ahnung, wo ihr Zuhause ist, und keine Chance, ihn zu finden. Meine persönliche Meinung ist, dass er einen hübschen, kleinen Mord durchgezogen und die Stadt verlassen hat, ehe wir eine Chance hatten, herauszufinden, ob er ein Motiv hatte.“
„Was für ein Motiv könnte er haben?“, fragte ich.
„Mir fallen mehrere ein. Sie fing an, ihm zur Last zu fallen. Sie hat ihn erpresst. Vielleicht hat er mit ihr zusammengelebt und irgendwo eine anständige Ehefrau zurückgelassen. Oder sie war vielleicht in anderen Umständen und bestand darauf, dass er sie heiratet.“
„Denkst du stets das Schlimmste von den Menschen und lässt dir düstere Motive einfallen?“, fragte ich.
Er lächelte. „Die Erfahrung hat mich gelehrt, das Schlimmste zu erwarten und nichts als gegeben hinzunehmen.“
„Ich nehme an, du wirst es schaffen, ihn aufzuspüren und eine ganz simple Erklärung für all das zu finden“, sagte ich.
„Wenn ich die Leute erübrigen könnte, würde ich Männer auf die Jagd nach ihm schicken“, knurrte er. „Unter den gegebenen Umständen haben wir Wichtigeres zu tun. Der Secret Service sitzt uns wegen eines gewaltigen Zuflusses von Falschgeld im Nacken. Derart große Mengen, dass sie sogar die amerikanische Währung zu Fall bringen könnten, wenn das nicht unterbunden wird.“
„Meine Güte“, sagte ich.
„Wie du dir vorstellen kannst, wollen der Commissioner und mein Boss vor dem Secret Service gut dastehen und haben jeden verfügbaren Mann darauf angesetzt.“
„Ich könnte dir helfen, wenn du willst“, sagte ich fröhlich.
„Du?“ Er sah mit scharfem Blick zu mir auf.
„Wieso nicht? Du hast selbst gesagt, dass ich eine gute Detektivin bin. Ich könnte zum Theater zurückgehen, ein paar Fragen stellen, herausfinden, wo Scarpelli logiert hat ... all diese Sachen. Menschen sind eher bereit, mit einer Frau zu tratschen, weißt du?“
„Molly, du weißt sehr wohl, dass ich dich unmöglich in Polizeiarbeit involvieren kann“, sagte er gereizt.
„Niemand muss davon erfahren.“
„Oh, und wie würde es aussehen, wenn herauskäme, dass ich meine zukünftige Ehefrau benutzt habe, um mir bei der Aufklärung eines Falles zu helfen? Ich wäre die Lachnummer der Truppe.“
„Ah, ich verstehe“, sagte ich. „Also ist es nicht so, dass es mir nicht erlaubt wäre, sondern du willst leidglich nicht wie ein Idiot aussehen, ja? Darf ich dich daran erinnern, dass du immer noch im Gefängnis wärst, wenn ich nicht einen sehr ernsten Fall angenommen hätte?“
Er stand wieder auf. „Das ist mir bewusst, und ich bin dir ewig dankbar dafür. Natürlich könntest du dich auch nicht auf eine bevorstehende Hochzeit freuen, wenn du meine Unschuld nicht bewiesen hättest.“
„Oh, ich soll mich also darauf freuen, ja?“, neckte ich.
Er kam um den Tisch herum, nahm mich in die Arme und hielt mich so fest, dass ich beinahe erdrückt wurde. „Willst du mir erzählen, dass du dich nicht auf den Tag freust, an dem wir zusammen sein können?“
„Ich schätze, das sollte ich“, sagte ich und hielt ihn auf Distanz, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. „Ich kann es nicht erwarten, eine Dame zu werden, die ein Leben der Muße führt und mit dem Sticken und der Zucht von Pekinesen anfängt.“
Er lachte und hauchte mir einen Kuss auf die Haare. „Ich freue mich auf eine Zeit, in der ich anfangen kann, dich so zu küssen ...“ Diesmal küsste er mich überschwänglich und heftig auf den Mund. „... und nicht aus Angst davor, dass wir uns hinreißen lassen, zurückgewiesen zu werden.“
Ich gestand nicht, dass ich mich ebenfalls auf diesen Teil freute. Daniels Liebeswerben machte mich immer atemlos, also musste ich ihm Einhalt gebieten, solange ich noch Herrin der Lage war. „Dann, bist du nur gekommen, um jemanden zu haben, dem gegenüber du deinen Frust ablassen kannst?“, fragte ich und wandte mein Gesicht von seinem Kuss ab.
„Nein, ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich heute Abend keine Zeit haben werde, um erneut mit dir ins Theater zu gehen; und um mich dafür zu entschuldigen, dich der Möglichkeit zu berauben, Houdini zu sehen. Ich glaube nicht, dass ich Freizeit haben werde, ehe er nach Europa zurückfährt.“
„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin mir sicher, es wird noch etliche Gelegenheiten geben“, sagte ich. „Alle reden über ihn. Sein Stern steigt eindeutig am Firmament auf und ich bin mir sicher, dass er bald wieder nach New York eingeladen wird. Und da ich eine Show gesehen habe, die schrecklich schieflief, weiß ich nicht, ob ich allzu erpicht darauf bin, jemandem dabei zuzusehen, wie er bei einem todesverachtenden Trick sein Leben riskiert.“
„Ah, aber dieser Mann ist anders“, sagte er. „Es ist weniger Illusion als vielmehr Fertigkeit und Körperkraft. Es gibt keine Handschellen, die ihn halten, kein Schloss, dass er nicht öffnen könnte“, sagte er. „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, als er in die Mulberry Street kam. Er hat uns aufgefordert, ein Paar Handschellen vorzulegen, aus denen er sich nicht befreien könnte. Wir haben ihm die Arme mit vier oder fünf unserer besten Handschellen hinter dem Rücken gefesselt und er war im Nu raus. Wirklich erstaunlich.“
„Dann komme ich das nächste Mal mit, wenn wir eine Gelegenheit haben, das verspreche ich“, sagte ich. „Und in der Zwischenzeit steht noch immer mein Angebot, dem Theater einen Besuch abzustatten und mich für dich umzusehen.“
„Und meine Antwort ist immer noch ein entschiedenes Nein. Unter keinen Umständen sollst du in einem Kriminalfall mitmischen oder irgendwie den Anschein erwecken, mir bei meiner Arbeit zu helfen.“
„Sehr wohl, Sir“, sagte ich. „Ich höre und gehorche.“
„Das ist mein Mädchen“, sagte er und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, ohne den Sarkasmus in meiner Antwort zu bemerken. „Aber wenn du wirklich etwas tun willst, um mir zu helfen–“
„Ja?“ Ich sah erwartungsvoll auf.
„Du könntest mir ein schönes Sandwich machen, das ich mitnehmen kann. Ich werde heute keine Zeit haben, um irgendwo für einen Happen anzuhalten.“
„Oh, ich verstehe.“ Meine gute Stimmung verblasste endgültig. „Alles, wozu ich gut bin, sind kalte Rindfleisch-Sandwiches.“
„Mir fallen auch andere Dinge ein“, sagte er, und versuchte mit seinem Blick mit mir zu flirten, begegnete aber meinem kühlen Starren. Dann streckte er eine Hand aus und streichelte meine Wange. „Molly, alle Kriminalfälle beinhalten Gefahren, und es ist mein Job, dich um jeden Preis zu beschützen. Sicher verstehst du das. Ich will für dich sorgen. Ich will mir keine Sorgen um dich machen müssen.“
Ich war drauf und dran zu sagen, dass ich ziemlich gut für mich selbst sorgen kann, dann erinnerte ich mich an bestimmte Momente in meinem Leben, in denen ich tatsächlich in Gefahr und das nicht sehr angenehm gewesen war.
„Ich schätze schon“, gab ich widerwillig zu. „Dann mache ich wohl besser ein Sandwich.“
Vier
Sid und Gus überredeten mich schließlich, sie an diesem Abend ins Theater zu begleiten. Ich protestierte und sagte, dass Daniel es wahrscheinlich vorzöge, dass ich wartete, bis ich Houdini mit ihm zusammen sehen könnte, aber sie hielten das für Unsinn. „Du musst ihm nicht von allem, was du tust, erzählen“, sagte Sid. „Eine gute Ehefrau lernt, wann sie den Mund aufmachen und wann sie vernünftigerweise schweigen sollte.“
„Als ob du viel darüber wüsstest, was es heißt, eine gute Ehefrau zu sein“, lachte ich.
„Ich bin eine gute Beobachterin meiner Mitmenschen“, führte sie an.
Also begleitete ich die beiden, nur um eine riesige Menschenmenge anzutreffen, die sich vor den Eingangstüren des Theaters herumtrieb. Der Direktor stand direkt auf der Schwelle und versuchte, sie zu vertreiben.
„Es hat keinen Zweck, hier zu stehen, wir sind komplett ausverkauft, ich sage es Ihnen doch. Es ist kein einziger Platz frei. Gehen Sie nach Hause, wie brave Leute.“
„Aber Sie haben uns gestern Abend versprochen, dass wir zurückkommen könnten“, sagte eine wütende, männliche Stimme.
„Woher sollte ich wissen, dass die Nachricht in der heutigen Zeitung dafür sorgen würde, dass das gesamte Engagement in New York ausverkauft sein würde? Und es ist nicht so, als ob Scarpelli heute auf dem Programm stünde.“
Es gab weiteres, wütendes Gemurmel, außerdem ein paar Sympathiebekundungen.
„Natürlich ist er zum aktuellen Zeitpunkt nicht in der Verfassung, mit seiner Show fortzufahren“, sagte der Direktor.
„Wir sind gekommen, um Houdini zu sehen“, rief jemand aus der Menge. „Er ist es, den wir sehen wollen.“
„Er ist nur für eine Woche hier.“
Der Direktor hob eine Hand, um das anschwellende Gemurmel verstummen zu lassen. „Ich sage Ihnen was – ich werde schauen, ob wir am Sonntag eine Aufführung arrangieren können, obwohl das Theater sonntags normalerweise geschlossen ist. Und die, die Houdini gestern Abend verpasst haben, dürfen sich als Erste Plätze aussuchen. Fairer geht es nicht, oder?“
Wir gingen mit dem Rest der Menge.
„Es ist erstaunlich, dass großer Schrecken mehr Leute anlockt als große Anmut“, sagte Gus. „Sie sind gekommen, um zu sehen, ob heute Abend vielleicht noch ein Mädchen in der Mitte durchgesägt wird.“
„Sie hätten kein Glück gehabt“, sagte ich. „Signor Scarpelli hat sich aus dem Staub gemacht, sehr zur Verärgerung von Daniel und dem Police Department.“
„Nun, würdest du nicht auch verschwinden wollen, wenn du für jemandes Tod verantwortlich wärst?“, fragte Gus. „Kommt schon, der Abend ist noch jung. Hast du Der Zauberer von Oz schon gesehen, Molly?“
„Der Zauberer von Oz. Ist das nicht ein Stück für Kinder?“
„Sie haben es in ein entzückendes Musical-Spektakel verwandelt. Wir haben es schon zwei Mal gesehen, aber ich würde es mir glatt noch mal anschauen. Wie steht es mit dir, Sid?“
„Ich bin jederzeit für jede Form von Unterhaltung zu haben, wie du sehr wohl weißt“, antwortete Sid. „Komm schon, Molly. Das geht auf uns. Lass uns eine Droschke suchen, Gus.“
Also ging es eilig zum Majestic, in einen eher heilsamen Teil der Stadt. Es war eine Kindergeschichte über gute und böse Hexen und einen nutzlosen Zauberer, aber ich muss sagen, dass es mir gefiel. Selbstverständlich war das Spektakel an sich atemberaubend. Figuren flogen über die Bühne und reichlich Bühnenmaschinerien sorgte dafür, dass der Zauberer besonders furchterregend wirkte. Während ich zusah, wurde mir bewusst, dass auf einer Bühne alles bis zu einem gewissen Grad eine Frage der Illusion ist. Ein guter Darsteller kann das Publikum alles glauben lassen.
***
Als ich am nächsten Morgen meinen Kleiderschrank durchsuchte und mich darauf vorbereitete, eine Menge Wäsche zu waschen, fiel mir etwas auf, das ich bis jetzt übersehen hatte: Ich hatte das arme Mädchen mit meinem Überwurf bedeckt. Und natürlich erkannte ich, dass ich jetzt eine Ausrede hatte, wie sie im Buche steht, um zum Theater zurückzugehen. Und ich würde nicht gegen Daniels Anordnungen verstoßen, wenn ich mich zufällig ein wenig umsah und ein paar Fragen stellte, während ich dort war, nicht wahr?
Ich verschwendete keine Zeit und kehrte zum Miner’s Bowery Theatre zurück. Bei Tageslicht sah es ziemlich schäbig aus. Die Vordertüren waren so früh am Tag noch verschlossen. Ich suchte in einer Seitengasse, die von Müll überhäuft war und nach Katzen und Schlimmerem roch, und fand den Bühneneingang. Bei meiner kurzen Zeit im Theater hatte ich gelernt, dass der Türsteher des Bühneneingangs derjenige ist, der genau weiß, was vor sich geht. Ich stieß die Tür auf und trat in völlige Dunkelheit.
„Wo wollen Sie denn hin?“, ertönte eine schroffe Stimme von der Seite.
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich sah einen Glatzkopf gespenstisch weiß über der unteren Hälfte einer teilbaren Tür schweben. Es war erstaunlich, dass alle Türsteher gleich aussahen. Ich lächelte ihn, so hoffte ich, mit bezaubernder Unschuld an.
„Hallo“, sagte ich fröhlich. „Ich war vor zwei Tagen hier, als der Unfall mit der armen Lily passierte.“
„Falls Sie eine von diesen Reporterinnen sind, können Sie sich direkt wieder umdrehen und gehen, ehe ich ein paar unserer Bühnenarbeiter rufe und Sie rauswerfen lasse“, sagte er mürrisch. Ich sollte hinzufügen, dass die meisten Türsteher an Bühneneingängen auch mürrisch sind, zumindest bis sie einen kennengelernt haben.
„Nichts dergleichen“, sagte ich. „Sehen Sie, ich bin mit meinem Begleiter auf die Bühne gegangen, als er zu helfen versuchte, und der Arzt bat um eine Decke, um das arme, sterbende Mädchen zu bedecken. Also habe ich sie mit meinem Überwurf bedeckt, bis man etwas Wärmeres gefunden hätte. Ich bin lediglich in der Hoffnung zurückgekommen, dass er im Theater zurückgelassen wurde. Ich weiß, er wird wahrscheinlich voller Blut und nicht mehr zu gebrauchen sein, aber ich mochte ihn sehr.“
Er starrte mich eine Weile an und versuchte, mich einzuschätzen.
„Ich habe ihn nicht gesehen“, sagte er.
„Ich weiß nicht, ob das Mädchen zur Vordertür hinausgetragen wurde oder ob sie hier entlangkam.“
„Vorne raus. Ich habe sie gewiss nicht zu Gesicht bekommen. Sie hätten hier nie eine Trage durchbekommen. Zu viele Stufen, und die Gasse ist verdammt schmal.“
Ich neigte meinen Kopf anmutig zur Seite, auf die Art, wie es Kinder tun und dabei glauben, es sei einnehmend. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich nach meinem verlorenen Überwurf suchte? Ich weiß, dass er mittlerweile wahrscheinlich weggeworfen wurde, aber ich würde mich ohrfeigen, wenn er noch irgendwo in einem Mülleimer läge. Ich habe ihn wirklich gerngehabt, wissen Sie?“
Es entstand eine weitere lange Pause, dann sagte er: „Sie werden mich wahrscheinlich meine Stelle kosten, aber gehen Sie schon. Zu dieser Uhrzeit ist eh niemand hier, also können Sie auch keinen Schaden anrichten. Aber schnüffeln Sie nicht in den Garderoben herum oder sowas. An die Requisiten der Illusionisten kommen Sie eh nicht ran. Die sind immer gut und sicher weggeschlossen.“
„Wirklich? Schließt jeder Illusionist seine Requisiten separat weg oder sind sie alle in einem verschlossenen Raum?“
Das brachte ihn zum Lachen. „Hören Sie, Mädchen, dieser Haufen würde der eigenen Großmutter misstrauen. Sie leben in der ständigen Angst, dass ein rivalisierender Illusionist ihnen die Tricks stiehlt. Wenn Sie von der Brüderlichkeit der Magier hören, glauben Sie nicht dran. Rivalen, das sind sie. Die würden sich gegenseitig die Kehle durchschneiden, wenn sie Gelegenheit dazu hätten.“ Dann wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte. „Das habe ich nicht so gemeint“, stammelte er.
„Da bin ich mir sicher“, sagte ich beschwichtigend. „Aber nach dem, was die Leute sagen, verstehe ich es so, dass sich Scarpelli und Houdini nicht sonderlich grün waren.“
„Sie alle können Houdini auf den Tod nicht ausstehen“, sagte der alte Mann im Vertrauen. „Nur weil er wie kein anderer dafür sorgt, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen – und auch, weil er gut bezahlt wird. Aber keiner von ihnen vermag, was er kann – überall im Land Police Departments und jeden beliebigen Menschen herauszufordern, sich ein Schloss oder eine Gefängniszelle auszudenken, die ihn halten könnten. Und ich habe ihn beobachtet, junge Dame. Wenn das Illusionen sind, esse ich meinen Hut. Wenn Sie mich fragen, ich vermute, der Mann ist nicht ganz menschlich. Einer der Bühnenarbeiter sagte, er müsse mit dem Teufel im Bunde sein, und ich bin geneigt, ihm zu glauben.“
„Was ist mit Scarpelli? Hat er sich mit den anderen gut verstanden?“
„Scarpelli? Ich glaube nicht, dass er sich jemanden zum Feind gemacht hat. Hat sorgfältig seine Requisiten bewacht, aber das tun sie alle.“
„Also glauben Sie nicht, dass sich jemand an diesem Abend an seinen Requisiten zu schaffen gemacht haben könnte? Denn das hat er behauptet – dass es jemand darauf abgesehen hätte, seinen Ruf zu ruinieren und ihm Schaden zuzufügen.“
„Das ist Unsinn“, sagte der alte Mann. „Ihm Schaden zufügen? Unter uns, junge Dame, er war keine besondere Bedrohung. Zumindest nicht, bevor ihm sein jüngster Trick einfiel. Wenn es nicht schiefgelaufen wäre, die Dame in der Mitte durchzusägen, hätte er sich einen Namen gemacht. Niemand sonst auf der Welt bringt diese Illusion dieser Tage auf die Bühne, obwohl ich gehört habe, dass ein Franzmann sie vor langer Zeit aufgeführt haben soll.“
Davon machte ich mir im Geist eine Notiz. Ein neuer Trick, den sonst niemand beherrschte. Natürlich hätte der Scarpelli auf eine andere Stufe gehoben. Und ein Magier-Kollege könnte sehr wohl dafür gesorgt haben, dass der Trick misslang.
Ich beschloss, mein Glück noch etwas mehr herauszufordern. „Dieses arme Mädchen schien so süß und nett zu sein“, sagte ich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen wie sie auch nur einen Feind auf der Welt hatte.“
„Hatte sie nicht. Und ich sage Ihnen was – er hielt große Stücke auf sie. Scarpelli, meine ich. Für sie gab es nichts, das ihm zu viele Schwierigkeiten machte. Sie hätten ihn und Houdini hören müssen, wie sie bei den Proben einen Wirbel um ihre Frauen machten. Beide mussten rausrennen, weil ihr ‚Honiglämmchen‘ oder ihr ‚Herzblatt‘ eine Limonade oder ein paar Süßigkeiten wollte. Wenn Sie je zwei Männer am Gängelband gesehen haben, dann sind es diese beiden.“
„Es ist erstaunlich, oder nicht?“ Ich lachte mit ihm. „Und ist Ihnen aufgefallen, dass es immer die kleinen, zierlichen Frauen sind, die ihre Männer an der Nase herumführen können? Wenn ich das mit meinem Verlobten täte, würde er mir sagen, dass ich mir meine eigene Limonade oder Süßigkeiten holen solle!“
Er kicherte. „Sie haben recht. Es zahlt sich nicht aus, als Frau zu unabhängig zu sein.“
Ich entschied, dass ich mein Glück lange genug herausgefordert hatte. „Ich gehe besser und suche nach dem Überwurf“, sagte ich. „Ich habe gerne mit Ihnen geplaudert, Mr–?“
„Ebenfalls, Miss. Und ich bin Ted. Man nennt mich Old Ted.“ Er nickte auf überaus höfliche Weise. „Achten Sie drauf, wo Sie da hinten hintreten. Überall liegen Dinge herum, über die man stolpern kann, wenn man unvorsichtig ist.“
Ich dankte ihm erneut und ging los, den dunklen Gang hinunter, bis ich mich im Bereich hinter der Bühne wiederfand. Der ganze Bereich wurde von einigen kraftlosen elektrischen Birnen beleuchtet, die gerade stark genug waren, kleine Lichtkreise zu werfen. Die Bühne war in Dunkelheit getaucht, die verschiedenen Requisiten und Kulissen türmten sich wie drohende Schatten über mir auf. Obwohl ich mir sagte, dass ich keinen Grund hatte, ängstlich zu sein, stellte ich fest, dass ich den Atem anhielt. Immerhin, falls Scarpellis Missgeschick keine Fehlfunktion oder Fehleinschätzung gewesen war, dann hatte jemand eine Person so dringend tot sehen wollen, dass er in ebendiesem Theater, genau an dieser Stelle ein entsetzliches Risiko eingegangen war. Und es schien, als müsse Scarpelli selbst dieser Jemand gewesen sein, falls die Requisiten wirklich weggeschlossen waren, wie der Türsteher vom Bühneneingang mir erzählt hatte. Natürlich durfte ich nicht vergessen, dass der Hauptakt auf dem Programm der selbsternannte König der Handschellen war, der jedes Schloss öffnen konnte. Aber er hatte schockiert und überrascht gewirkt, als er sah, was passiert war. Er war außerdem, so erinnerte ich mich, derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, dass Lily mit einem Krankenwagen weggefahren werden sollte, ehe die Polizei eintraf, um irgendwelche Hinweise am Tatort zu finden.
Vorsichtig und auf Zehenspitzen schlich ich über die Bühne, meine Schritte klangen in dem gewaltigen, leeren Raum unnatürlich laut. Dies war in etwa die Stelle, an der die Tragödie stattgefunden hatte. Ich kniete mich hin und untersuchte den Boden, suchte nach Blutflecken, aber er war gut geschrubbt worden. Dann streifte ich im Bereich hinter Bühne umher. Ich stieß auf große hölzerne Kisten mit Vorhängeschlössern, zusätzlich von einigen Planen verdeckt, um die ebenfalls mit großen Vorhängeschlössern verschlossene Ketten gelegt waren. Ich vermutete, dass dies die Requisiten der Magier waren, die sie so sorgfältig bewachten. Ich fragte mich, ob Scarpelli seinen Zersäg-die-Frau-Trick unter einer vergleichbaren Plane aufbewahrt hatte. Falls ja, dann wäre er wahrscheinlich ziemlich leicht zu manipulieren gewesen, besonders für einen Magier-Kollegen – erst recht für einen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Schlösser zu knacken.
In Wahrheit hatte ich wenig Hoffnung, meinen Überwurf zu finden. Es gab keinen Grund, warum ihn irgendjemand von Lilys Körper hätte entfernen sollen, bevor man sie ins Krankenhaus transportiert hatte. Und da anscheinend kein Krankenhaus sie aufgenommen hatte, war der Überwurf zusammen mit der Frau und dem Illusionisten verschwunden. Nicht, dass ich ihn tatsächlich wiederhaben wollte, so voller Blut. Dann kam mir ein weiterer Gedanke – Scarpelli hatte sehr deutlich gemacht, dass er seine Illusion gegenüber niemandem offenbaren würde. Wenn er geflohen war, hätte er dann nicht dafür gesorgt, dass er nichts zurückließ? Aber hätte er auch diese Apparatur mitgenommen? Sie wäre blutüberströmt und wahrscheinlich nicht mehr zu gebrauchen gewesen, barg aber immer noch das Geheimnis der Illusion. Deswegen hatte er dafür gesorgt, dass sie hinausgefahren wurde, während Lily noch in der Kiste lag.
Ich hatte nicht gesehen, was geschehen war, als sie den Krankenwagen erreicht hatte, und ob sie zu diesem Zeitpunkt aus der Kiste herausgehoben und auf eine Trage gelegt worden war. Wenn dem so war, was war dann mit der Apparatur passiert? Ich starrte sehnsüchtig die Planen an. Wenn ich nur darunter spähen könnte, würde ich vielleicht eines der Tischbeine erkennen. Vielleicht waren noch immer Blutspuren daran. Und falls die Apparatur noch hier war, war Scarpelli am Ende vielleicht doch nicht davongelaufen. Vielleicht hatte der Mörder sichergestellt, dass er sowohl Scarpelli, als auch seine Assistentin erledigte. Ich kniete mich auf den Boden und versuchte, den unteren Rand der Plane anzuheben.
„Hey, was tun Sie da?“, rief eine Stimme von der anderen Seite der Bühne.
Ich sprang schuldbewusst auf und stellte erleichtert fest, dass es nur ein Bühnenarbeiter war und nicht einer der Illusionisten persönlich. Er war ein großer, kräftiger Mann in Hemdsärmeln und Hosenträgern, also beschloss ich, die hilflose Frau zu mimen.
„Ach du meine Güte, Sie haben mich erschreckt“, sagte ich und legte mir in einer dramatischen Geste die Hand auf die Brust. „Es ist so dunkel hier, nicht wahr?“
„Der Öffentlichkeit ist es nicht erlaubt, hinter die Bühne zu kommen“, sagte er noch immer finster. „Wer hat Sie reingelassen?“
„Ihr Türsteher sagte, ich dürfe reingehen und nach meinem verloren gegangen Überwurf suchen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
„Ihr Überwurf?“
Ich nickte. „Ich war neulich Abend hier, als der schreckliche Unfall geschah, und ich habe meinen Überwurf benutzt, um das arme Mädchen zu bedecken, bis jemand Decken für sie gefunden hätte. Ich bin auf gut Glück zurückgekommen, in der Hoffnung, dass er noch immer hier ist, obwohl ich wahrscheinlich nichts mehr damit werde anfangen können, so über und über mit Blut befleckt, wie er ist. Wie dem auch sei, ich hätte ihn gern zurück, wenn möglich. Er ist aus Paris, wissen Sie? Hat mich mehr als einen Monatslohn gekostet.“ Ich hoffte, wie eine zerstreute Frau zu plappern. Ich versuchte mich sogar an einem hübschen Lächeln.
„Da drunter finden Sie ihn nicht“, sagte der Bühnenarbeiter und blickte mich frostig an. „Die Sachen gehören den Illusionisten und sie sind da sehr eigen.“
„Oh je. Natürlich sind sie das. Es tut mir leid.“ Ich wich hastig zurück. „Sie haben keinen Überwurf gefunden, oder? Ein hübscher Fliederton mit einem seidenen Saum, aber natürlich wäre Blut daran gewesen. Ihnen wäre die Farbe vermutlich nicht aufgefallen.“
Er schüttelte den Kopf. „Kann nicht behaupten, dass ich sowas gesehen habe, und der Boss ließ uns nach der Tragödie die Bühne saubermachen. Ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, so viel Blut aufzuwischen. Wir haben bis in die Puppen geschrubbt.“
„Wie schrecklich für Sie. Ich bin mir sicher, es war eine überaus schreckliche Aufgabe“, sagte ich.
„Auch nicht deine Lieblingsaufgabe, oder Ernest?“, rief der Bühnenarbeiter einem anderen Kerl zu, der uns offenbar aus den Schatten heraus beobachtete. Der erste Bühnenarbeiter wandte sich wieder zu mir und hatte ein Grinsen im Gesicht. „Der hat Allüren. Denkt, er sei zu gut für die niederen Tätigkeiten. Ich fragte ihn, warum er nicht in die alte Heimat zurückgeht, wenn es ihm hier nicht gefällt.“
Ernest sah uns voller Verachtung an. „Ich komm einfach nur ungern mit Blut in Berührung“, sagte er. „Da, wo ich herkomme, bedeutet es Pech, wenn jemand im Theater stirbt.“
Er sprach mit einem leichten Akzent, dem von Houdini nicht unähnlich. „Was will die junge Dame?“, fragte er.
„Sie sucht nach einer Stola, die sie hiergelassen hat“, sagte der erste Bühnenarbeiter.
„Etwas wurde gestohlen?“, fragte Ernest und legte die Stirn in Falten.
Der erste Bühnenarbeiter und ich teilten ein Lachen und ich sah, wie sich seine Haltung mir gegenüber veränderte. „Eine Stola“, sagte er. „Du weißt schon, ein Überwurf, ein Schultertuch.“
„Ah. Sowas habe ich nicht gesehen.“
Ich blickte den Mann, der nicht Ernest war, schüchtern von der Seite an. „Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, sehe ich mich ein letztes Mal um, nur für den Fall, dass er in eine Ecke geworfen wurde, dann gehe ich.“
„In Ordnung, Miss.“ Der Erste sah mich jetzt an, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass ich eine Frau war. „Gehen Sie nur nicht in die Nähe der Sachen, die den Illusionisten gehören. Es ginge um mehr als meinen Job, wenn irgendjemand dabei erwischt würde, wie er sich hier umsieht.“
„Keine Sorge. Ich gehe nicht in die Nähe der Sachen, versprochen“, sagte ich.
Er nickte und fuhr damit fort, einer Säule einen Anstrich zu verpassen. Ernest starrte mich lange kritisch an und verschwand dann wieder in den Schatten.
Ich spähte in die Ecken und drehte mich dann wieder zu meinem Freund um. „Diese Apparatur, um die Dame in der Mitte durchzusägen“, sagte ich. „Hat Scarpelli sie unter einer dieser Planen unter Verschluss gehalten?“
„Hat er.“
Ich schauderte dramatisch. „Ich habe die ganze Sache gesehen. Es war schrecklich, oder nicht? Ich fühle mich immer noch der Ohnmacht nahe, wenn ich daran denke. Die Apparatur ist nicht mehr hier, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Sie ist mit dem Mädchen drin in den Krankenwagen gekommen. Ich habe geholfen, sie rauszutragen.“
„Ach ja? Wenn sie so wie die anderen Sachen mit Ketten gesichert war, kann ich mir nicht vorstellen, wie sich jemand vorzeitig daran hätte zu schaffen machen können; Sie etwa?“
„Da bin ich überfragt“, sagte er in unbeteiligtem Tonfall. „Es sei denn, man ist Houdini. Diese Schlösser wären ein Kinderspiel für ihn. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Houdini sich an der Nummer eines Kollegen zu schaffen machen würde. Er ist der große Star, oder nicht?“
„Und wenn jemand von draußen hereingekommen wäre?“, schlug ich vor. „Was hätte der für eine Chance?“
„Um sich an der Apparatur der Illusionisten zu schaffen zu machen?“ Er legte seinen Pinsel hin und sah zu mir auf, als würde er zum ersten Mal begreifen, was ich gesagt hatte. „Moment, worauf wollen Sie hinaus? Sie sind eine von diesen Reporterinnen, nicht wahr? Schleichen sich unter einem fadenscheinigen Vorwand hier herein und stellen dann Fragen.“
Er stand auf und türmte sich über mir auf.
„Oh, nein.“ Ich wich zurück. „Ich verspreche Ihnen, ich bin keine Reporterin. Ich schätze, es ist lediglich morbide Neugier. Ich war auf der Bühne, sehen Sie, habe das Mädchen mit meinem Überwurf bedeckt und hörte Mr. Scarpelli sagen, dass sich jemand an seiner Apparatur zu schaffen gemacht haben müsse, also habe ich mich nur gefragt, wie man das hätte bewerkstelligen können.“
„Neugier ist der Katze Tod“, sagte er unverblümt.
„Ich weiß. Meine Mutter hat mir immer wieder gesagt, dass ich zu viele Fragen stelle. Das ist eine Schwäche von mir, und ich stehle Ihnen Ihre Zeit. Ich sollte gehen. Danke noch mal.“
Ich wandte mich ab.
„Ich wüsste nicht, wie irgendwer sich an Scarpellis Tisch hätte zu schaffen machen können“, sagte er. „Für den Anfang, wie sollte man hier reinkommen? Man müsste am Bühneneingang an Ted vorbei.“
„Gelangt man nicht auch durch die Vorderseite des Theaters zur Bühne?“
„Nee. Wir öffnen die Türen erst eine Stunde vor der Vorführung, und außerdem ist hinter der Bühne immer etwas los. Wir sind alle hier, oder nicht? Die Illusionisten bereiten sich vor. Ein Außenseiter würde im Handumdrehen auffliegen.“
„Natürlich. Sie haben mich sofort entdeckt, nicht wahr?“
„Und falls irgendein Bühneneingang-Verehrer sich hier hereinschleicht, fliegt er achtkantig raus.“
„Ich habe Ihnen wirklich genug Zeit gestohlen“, sagte ich eilig. „Ich sollte gehen. Es war nett, mit Ihnen zu reden, Mr. ...“
„Reg“, sagte er. „Einfach nur Reg.“
„Nett, mit Ihnen zu reden, Reg.“
„Ebenso, Miss.“ Jetzt sah ich, dass er mich voller Interesse beäugte. Vielleicht glaubte er, dass ich mit ihm geflirtet hatte. „Dann arbeiten Sie selbst nicht im Theater?“
„Das habe ich mal“, sagte ich und dehnte die Wahrheit nur ein wenig. „Im Augenblick arbeite ich nicht.“
„Das geschieht den besten Darstellerinnen“, sagte er. „Sagen Sie, würden Sie gern irgendwann mal was mit mir trinken gehen?“
„Das ist nett von Ihnen, aber ich habe einen sehr eifersüchtigen Freund“, sagte ich.
Ich trat schnell den Rückzug an und kehrte zum Bühneneingang und zu Ted zurück.
„Kein Glück, Miss?“, fragte er.
„Ich hatte nicht wirklich erwartet, ihn zu finden“, sagte ich, „aber wenigstens kann ich jetzt sagen, dass ich es versucht habe.“
Er nickte voller Sympathie.
„Ted, Sie sind die ganze Zeit hier, oder nicht? Sie würden wissen, wenn jemand versucht, sich ins Theater zu schleichen?“
„Ich bin seit zwanzig Jahren Türsteher am Bühneneingang“, sagte er voller Stolz. „Ich kann besser als jeder andere unerwünschte Eindringlinge fernhalten.“
„Also haben Sie vor ein paar Tagen niemanden entdeckt, der ins Theater gelangen wollte?“
Er schüttelte den Kopf, dann legte er die Stirn in Falten. „Worauf genau wollen Sie hinaus?“
„Ich habe mich gefragt, ob jemand Scarpelli übelwollte und absichtlich versuchte, seine Nummer zu sabotieren.“
Er kniff die Augen zusammen. „Sie scheinen sich besonders dafür zu interessieren. Sind Sie sich sicher, dass Sie keine Reporterin sind? Old Ted kann es nicht leiden, reingelegt zu werden, wissen Sie?“
„Ich schwöre, ich bin keine Reporterin“, sagte ich. „Ich schätze, ich war lediglich neugierig. Wissen Sie, wenn so etwas passiert, kann man nicht anders, als sich zu fragen, warum. Und ich habe mich gefragt, ob es wirklich ein Unfall war oder ob jemand gegen Lily und Scarpelli selbst einen Groll hegte.“
„Keine Ahnung“, sagte Ted. „Ich stehe hier nur auf meinem Posten und kümmere mich um meine Angelegenheiten, und Sie sollten das Gleiche tun, junge Dame. Es zahlt sich nicht aus, sich einzumischen oder zu viele Fragen zu stellen.“
Ich trat in die Gasse hinaus. War das lediglich ein allgemeiner Ratschlag gewesen oder war ich gewarnt worden?