Prolog
Sonntag, den 2. Juni, 18 Uhr
Tom
Tom kam sich wie ein Kinoheld vor: wichtig. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Die richtige. Er würde zu seinem Wort stehen. Es durchziehen, selbst wenn es nicht leicht sein würde. Natürlich gäbe es Widerstände. Das gehörte dazu, wenn man seine Träume verwirklichen und sich selbst neu erfinden wollte. Wenn er etwas auf der Studienreise gelernt hatte, dann das!
Tom blickte sich um. Er war allein. Bewusst hatte er sich ein wenig zurückfallen lassen. Er nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche und stellte sie neben sich ab. Er wollte diese wilde Wüstenlandschaft einen Moment lang genießen. Sie nur für sich haben. Die alten Berge lagen majestätisch und kraftvoll vor ihm, rochen nach Hitze und Staub.
Endlich allein. Doch dann machte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung hoch oben in der Luft aus. Er legte den Kopf in den Nacken und sah, wie über ihm Greifvögel im wolkenlosen blauen Himmel kreisten. Ihm fiel ein, dass Carola der Reisegruppe dazu etwas auf der Hinfahrt im Zug erklärt hatte. Was hatte sie nur gesagt? Richtig, der Berg hieß auf Spanisch wohl so etwas wie Geierberg, benannt nach diesen Aasfressern. Plötzlich hörte er ein Rascheln. Vermutlich ein wildes Tier. Tom deutete es als Hinweis, dass er genug pausiert hatte. Es war an der Zeit, das Ziel zu erreichen. Er nahm noch einen Schluck, verstaute die Flasche und setzte sich wieder in Bewegung. Erst lief er durch das Geröll, dann ging es steil bergauf, und kurz danach hatte er den Gipfel erklommen.
Angekommen.
Stolz kletterte Tom auf den Felsüberhang, der vor ihm lag. Obwohl er sich vorsichtig hinsetzte, lösten sich ein paar Steine und fielen nach unten in die Schlucht. Er merkte, dass sich seine Finger instinktiv in den Felsritzen festgekrallt hatten. Vor ihm ging es verdammt tief runter. Tom spürte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn bildete, wagte es aber nicht, eine Hand zu lösen, um ihn abzuwischen. Nachdem er den Aufstieg für leicht befunden hatte, wurde ihm jetzt erst bewusst, wie hoch oben er tatsächlich gelandet war. Er wagte einen Blick in die Tiefe und bemerkte, wie ihm schwindelig wurde.
Es war so still.
Doch dann hörte er in der Ferne Gesprächsfetzen. Er atmete laut aus. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass die Geräusche nicht aus der Nähe, sondern von der anderen Seite des Berges kamen. Mist. Das konnte nur bedeuten, dass sich seine Reisegruppe offensichtlich schon auf dem Abstieg befand. Hatten sie nicht bemerkt, dass er zurückgeblieben war? Zumindest Frank würde doch auf ihn warten!
Plötzlich hörte er hinter sich Schritte, die schnell und zielstrebig auf ihn zukamen. Geht doch. Erleichtert entspannte Tom sich und drehte vorsichtig den Kopf, konnte aber niemanden ausmachen. War das Frank? Tom spürte, wie wackelig seine Knie noch immer waren. Schnell schaute er wieder stur geradeaus. Komisch, früher hatte er keine Probleme mit Höhenangst gehabt.
Mit einem Mal zischte ihm jemand etwas ins Ohr. „Du Verräter. Du hast es nicht besser verdient!“ Dann spürte Tom, dass eine Hand in seine hintere rechte Hosentasche griff, dorthin, wo sich sein privates Handy befand. Bevor er etwas sagen konnte, nahm ihm ein Stoß in seinen unteren Rücken den Atem. Die Wucht des Schlages hatte ihn automatisch nach vorn rutschen lassen. Instinktiv lehnte sich Tom in dem Versuch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, mit dem Rücken weit nach hinten. Bloß weg von dem Abgrund! Endlich konnte er wieder atmen. Er schnappte nach Luft. Doch kaum dass er sich gefangen hatte, gingen bereits kleine, aber heftige Schläge auf seinen Kopf nieder. Ihm wurde schummerig. Watte im Kopf. Kurz darauf folgte ein erneuter Hieb auf den unteren Rücken. Sein Körper rutschte noch näher an den Abgrund heran. Tom merkte, wie gefährlich weit seine Beine bereits über der Schlucht hingen. Es war zu spät. Sein letzter Versuch, die Schieflage auszugleichen, scheiterte. Er war zu langsam, zu schwach. Voller Entsetzen spürte Tom noch einen weiteren heftigen Stoß in den Rücken, und dann verlor er jeglichen Halt.
Als er in die Schlucht fiel, sauste der Wind so laut an seinen Ohren vorbei, dass er seinen eigenen Hilfeschrei nur verzerrt hörte. Gleichzeitig sah er Felsen und Kakteen auf sich zukommen. Vor seinen Augen begannen die Bilder durcheinanderzuwirbeln. Die Sträucher und Steine wurden immer größer. Dann prallte er auf.
Ein lauter Knacks. Weißes Licht. Stechen im Kopf. Blut. Blitze.
Ruhe.
Kapitel 1
Montag, den 3. Juni, 7.12 Uhr
Javier
Javier drehte sich im Bett herum. Im Traum saß er mit seiner Tochter Ana in dem kleinen Strandrestaurant in der Nähe des Hafens von Málaga. Sie aßen, tranken und plauderten. Kein Streit, nur wohlige sonnengelbe Harmonie. Seine Traumwelt war so real, dass Javier sogar überzeugt war, im Hintergrund das Kommen und Gehen der blauen Wellen zu hören.
Plötzlich schrillte sein privates Handy. Was sollte das? Er streckte seinen Arm aus und klaubte das Scheißteil vom Nachttisch. Schlaftrunken kniff er die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Irgendwelche Zeichen, die er ohne Brille nicht entziffern konnte, blinkten fortwährend. Er drückte mit dem Daumen auf dem Display herum, bis das Ding endlich Ruhe gab.
Einschlafen konnte er dennoch nicht mehr. Er musste aufs Klo. Unruhig warf er sich noch ein paarmal hin und her und versuchte an die Traumszene am Strand anzuknüpfen. Doch es funktionierte nicht. Nach ein paar Minuten gab er auf und erhob sich. Als er aus dem Bad zurückkam, war er so wach, dass er sein Handy nahm, um nachzuschauen, wer ihn angerufen hatte.
Was?
Inmaculada?
Wie konnte das sein?
Dann fiel es ihm ein. Auf dem Ehemaligentreffen letztes Jahr hatten sie sich zwar nur kurz gesprochen, aber immerhin Telefonnummern ausgetauscht. Javier hatte Inma in der Schule schon immer sympathisch gefunden. Doch kaum war das Colegio beendet, hatten sie sich Jahrzehnte aus den Augen verloren. Was machte sie jetzt noch gleich? Er kam nicht drauf. Erst mal frühstücken, dann alles andere.
Javier befüllte seine silberne Kaffeekanne und stellte sie auf den Herd. Danach fischte er ein schon recht hartes Stück Baguette aus der Papiertüte auf der Ablage. Wenig später tunkte er das mit salziger Butter beschmierte Baguette-Stück in seinen schwarzen Kaffee und bemerkte, wie ihm das Koffein den so dringend benötigten Antrieb gab. Okay, jetzt war es so weit. Nun würde er herausfinden, was Inma von ihm wollte. Sie musste schon einen dringenden Grund haben, ihn noch vor Dienstbeginn aus dem Schlaf zu reißen. Er kramte einen Stift aus der Küchenschublade und drehte einen bunt bedruckten Flyer mit Werbung für den Supermarkt um, damit er sich auf der leeren Rückseite Notizen machen konnte. So gewappnet rief er seine alte Schulfreundin zurück.
„Javier? Bist du es?“
„Morgen Inma. Was gibt’s?“
„Du musst sofort kommen. Es ist schrecklich.“
Javier war diese Art Anruf leider nur zu vertraut. Er arbeitete schon lange genug als Comisario Principal bei der nationalen Polizei in Málaga und hatte schon so einige Mordkommissionen geleitet, um diese Art von Telefonstottern einordnen zu können: Die Wortlosigkeit unter Schock war typisch für Menschen, die das erste Mal in ihrem Leben mit dem Opfer eines Gewaltverbrechens konfrontiert wurden.
„Ganz ruhig, Inma. Sag mir doch erst einmal, wo du bist.“
„In El Chorro. Ich wollte mich mit meiner Wandergruppe auf den Caminito del Rey begeben.“
Wanderführerin.
Genau, das hatte sie ihm erzählt. Nach der Familienzeit hatte sie sich zur Wanderführerin ausbilden lassen und verdiente sich ihr Geld damit, dass sie mit einheimischen Touristen Tagestouren rund um Málaga veranstaltete. Javier konzentrierte sich wieder auf das Telefonat.
„Wo genau?“
Sie nannte ihm die Adresse. In der Nähe des Dorfes El Chorro, notierte sich Javier. Danach fing sie an zu schluchzen.
„Da gibt es einen … Verletzten?“, tastete er sich vorsichtig heran.
„Ja, und so viel Blut. Ich habe einen bewusstlosen jungen Mann gefunden. Er ist anscheinend vom Berg gestürzt. Weißt du, ich bin hier mit meiner Wandergruppe unterwegs. Du bist doch Polizist. Man soll doch immer Rettungssanitäter und Polizei informieren …“
„Du hast alles genau richtig gemacht, Inma. Hört sich so an, als ob du bereits für Erste Hilfe gesorgt hättest.“
„Ja.“
„Das ist erst einmal das Wichtigste. Alles andere können wir gleich klären. Allerdings muss ich dich noch um ein, zwei Kleinigkeiten bitten …“
„Okay.“ Sie flüsterte mehr, als dass sie sprach.
„Pass auf, erstens: Fass nichts an, sorg dafür, dass niemand den …“ Javier überlegte, wie er es formulieren konnte, ohne Inmaculada mit kriminaltechnischen Fachbegriffen zu erschrecken. „Ich meine, stelle einfach sicher, dass niemand weggeht.“
„Aber …“
„Ich setze mich jetzt sofort ins Auto und werde gleich da sein. Und achte zweitens darauf, dass nicht irgendwelche Paparazzi wie wild herumfotografieren.“
„Warum? Wer sollte das tun?“
„Bin gleich da.“
Javier kam schnell durch. Vormittags fuhren viele Pendler nach Málaga rein, aber kaum jemand fuhr aus der Stadt raus. Es dauerte nur wenige Minuten Fahrzeit durch die Berge Andalusiens, und schon befand sich Javier auf dem Land. Während er an Olivenbäumen und weiß gekalkten Bauernhäusern vorbeifuhr, informierte er die Kollegen, dass er sich um den Vorfall kümmerte und bereits unterwegs wäre. Gleichzeitig forderte er die Spurensicherung an. Nachdem er das Dienstliche erledigt hatte, genoss er den Blick aus dem Autofenster. Er kam viel zu selten aus Málaga raus. Dabei war die Gegend hier unfassbar schön. Wie erhaben die Berge vor ihm lagen. Er stieß einen Seufzer aus. Dios mío, wie sehr er diese Landschaft liebte!
Er schaute auf die Uhr. Gleich würde er bei Inma sein. Die Straßen wurden immer schmaler, er fuhr durch einen Tunnel, und dann kam er in El Chorro an. Was für ein Anblick. Im Hintergrund das wuchtige Bergpanorama, das man aus so einigen nationalen und internationalen Westernfilmen kannte, und im Vordergrund ein fast karibisch grünblau leuchtender Stausee. Javier hielt in einer Parkbucht und schaute auf seine Notizen auf der Rückseite seines Werbeflyers. Der Geierberg. Er gab den Namen in seinem Navi ein und bahnte sich auf staubigen Straßen mit Schlaglöchern den Weg zum Tatort.
Als er ihn erreichte, machte er sich ein erstes Bild von der Lage: In der Mitte des Parkplatzes stand der Rettungswagen. Inma saß auf einem großen Felsbrocken am Rand, eine dieser gold-silbernen Wärmedecken über den Schultern. Ein kleiner Reisebus mit dem Kennzeichen von Málaga parkte direkt neben der Zufahrt. Sobald Javier mit dem Polizeiauto an dem Kleinbus vorbeifuhr, pressten sich jede Mengen Nasen an die Busscheiben. Inmas Schützlinge. Etwa zwanzig Meter vom Parkplatz entfernt, machte Javier die orangen Warnwesten der Sanitäter aus.
Er stieg aus dem Wagen und ging als Erstes auf Inma zu.
„Hallo, Inma.“ Er gab ihr Küsschen auf beide Wangen und hielt die zierliche Frau mit dem blondierten, kinnlangen Haar einen Augenblick in seinen Armen.
„Wie geht es dir?“
„Alles klar“, sagte sie mit beherrschter Stimme. „Als ich heute Morgen …“
„Gut. Hör mal, es tut mir leid, dich unterbrechen zu müssen. Ich komme gleich wieder, und dann kannst du mir alles erzählen. Aber erst einmal muss ich mir ein Bild vom Tatort machen.“
„Tatort?“ Sie sah ihn misstrauisch an.
„Von der Unfallstelle“, beruhigte er sie. Sie hatte recht. Vielleicht handelte es sich um einen Unfall am Berg. Wäre nicht unüblich in dieser Gegend. Bevor der berühmte Wanderweg Caminito del Rey systematisch abgesichert wurde, gab es hier einige Unglücksfälle.
Javier hielt auf die Sanitäter zu. Es waren eine Handvoll junger Männer Anfang zwanzig, im Alter seiner Tochter Ana. Javier stellte sich kurz vor und schaute auf die Bahre, die neben einer riesigen Blutlache auf dem Boden lag. Unter einem Laken zeichnete sich der Körper eines schlanken Erwachsenen ab.
„Er ist soeben gestorben. Da war nichts mehr zu machen“, sagte einer der Sanitäter.
„Er hat zu viel Blut verloren.“ Javier schaute auf die Lache.
„Wir vermuten, dass er auch innere Blutungen hatte.“
„Kann ich mal das Gesicht sehen?“
Vorsichtig deckte einer der Männer das Laken auf. In diesem Moment erleuchtete ein Blitzlicht die Szene.
„Das ist ja wohl nicht wahr!“ Javier schaltete schnell und jagte dem Fotografen hinterher. Bald hatte er die Frau eingeholt. Er konfiszierte die Kamera und ließ sich ihren Ausweis zeigen. „Ab morgen können Sie sich Ihre Kamera auf der Wache abholen.“ Er händigte ihr eine Visitenkarte aus. „Und jetzt sollten Sie besser gehen, bevor …“ Sie warf ihm ein freches Lächeln zu und verschwand, bevor er den Satz beenden konnte.
Kapitel 2
Montag, den 3. Juni, 11 Uhr
Sandra
Sandra war gerade dabei, den Bürokalender der Kölner Polizeiwache von der Wand zu nehmen und das Blatt von Mai auf Juni umzublättern, als ihre Kollegin Julia nach ihr rief. Julia und sie arbeiteten oft im Team zusammen. Gerade die Tatsache, dass sie einen Fall von Grund auf verschieden angingen, führte immer wieder zu erstaunlich schnellen und außergewöhnlich guten Ergebnissen.
„Sandra, der Chef will dich sprechen.“ Julia brüllte die Info durch die Kölner Dienststelle, warf sich auf ihren Bürostuhl und packte geräuschvoll ein Croissant aus.
Sandra lächelte. Ihre Kollegin hatte die Ruhe weg.
„Oha“, murmelte Sandra halblaut und setzte sich Julia gegenüber. „Weißt du, was er will?“
Bevor sie antwortete, kaute Julia genussvoll zu Ende. Dann grinste sie Sandra an. „Nö, hörte sich aber unaufgeregt an. Nichts Schlimmes.“
Was für eine Frohnatur ihre Kollegin war, dachte Sandra. Es gehörte schon einiges dazu, in einer Polizeiwache nichts Schlimmes zu erwarten.
„Erst mal ’nen Tee?“ Julia schob ihr den gut gefüllten Deckel ihrer Thermoskanne herüber.
„Nee, danke. Ich bringe es am besten sofort hinter mich.“
Sandra stand auf und lief zu Jörgs Büro hinüber. Sie klopfte.
„Komm rein, Sandra“, hörte sie ihren Chef durch die Tür rufen.
„Kannst du mittlerweile durch Türen hindurchschauen?“
„Schön wär’s“, ging Jörg auf den lahmen Witz ein. „Setz dich.“
Julias Einschätzung schien richtig gewesen zu sein. Nichts Dramatisches. Sandra entspannte sich ein wenig.
„Sandra, die spanischen Kollegen verlangen nach dir.“
Was? Sandra setzte sich unweigerlich aufrecht hin. Spanien? Schon das Wort allein triggerte sie. Es stand für ein anderes Leben. Einen fantastischen Sommer.
„Barcelona?“, fragte sie atemlos nach. Dort hatte sie das Erasmus-Austauschprogramm für europäische Polizistinnen und Polizisten absolviert, zusammen mit Giancarlo aus Turin und François aus Marseille.
„Nee, Südspanien. Da ist ein Deutscher zu Tode gekommen, und sie möchten gerne von uns Unterstützung bei der Ermittlung. Da habe ich sofort an dich gedacht. Du bist einer unserer besten Polizisten …“
„Polizistinnen“, unterbrach sie ihn.
„Wie dem auch sei, jedenfalls sprichst du Spanisch und hast in Barcelona schon einmal mit den spanischen Kollegen zusammengearbeitet.“
„Also ich weiß nicht …“ Natürlich freute Sandra sich über Jörgs Kompliment. Doch gleichzeitig fühlte sie sich überrumpelt. Wie immer eigentlich. Zu oft schon hatte Sandra sich von ihm um den Finger wickeln lassen. Sie wusste, dass das auch an ihr lag. Sie war manchmal zu verträumt und gutmütig. Jedenfalls hatte Jörg sie immer wieder vertröstet, was ihre Beförderung zur Polizeihauptkommissarin anging. So schnell würde ihr das nicht noch einmal passieren. Ihre Gegenstrategie: Weniger impulsiv reagieren und sich Julias ruhige Art zum Vorbild nehmen. Jetzt zum Beispiel bot sich ihr eine wunderbare Gelegenheit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
„Also …“, sie lehnte sich so lässig, wie sie konnte, auf ihrem Stuhl zurück. „Wie sind denn die Rahmenbedingungen?“
Jörg warf ihr einen langen Blick zu. Sofort kam Sandra sich manipuliert vor. Doch sie würde sich nicht zu einer vorschnellen Reaktion hinreißen lassen. Stattdessen lächelte sie ihm zu und wartete.
„Was meinst du damit?“
„Was genau hätten welche spanischen Kollegen gerne, dass ich es täte?“
Jörg lachte kurz auf. „Kannst du das bitte noch ein wenig umständlicher formulieren?“
„Mehr Informationen, bitte.“
„Na ja, die Details kenne ich auch noch nicht so wirklich. Im Prinzip geht es wohl darum, dass du sofort nach Málaga fliegst. Die Kollegen haben dort bereits ein Hotel für dich für erst einmal zehn Tage gebucht. In Málaga sollst du mit einem erfahrenen Kollegen zusammenarbeiten. Mit dem, Moment mal, dem Comisario Principal. Ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen. Ein gewisser Herr Sánchez …“
„Málaga, Andalusien?“ Jetzt erst verstand Sandra, worum es ging. Sie war beim Träumen falsch abgebogen. Das Angebot hatte mit Barcelona nichts zu tun.
„Hm, ja. “
„Habe ich das richtig verstanden, dass ich schon heute Abend in Spanien sein soll?“
Jörg nickte.
„Und wann soll ich meinen Koffer packen?“
„Also, deine temporäre Abordnung würde von uns aus ab sofort gelten.“
„Falls ich zusage.“
„Hör mal, Sandra. Warum denn nicht? Was spricht denn gegen Sonne, Meer und Tapas essen?“
Das war Sandra zu billig.
„Was ist denn das für eine Geschichte mit dem Deutschen? Warum ist er gestorben?“
„Ganz genau das ist dein Job. Du fliegst da runter, um das herauszufinden.“
Sandra starrte ihren Chef an. Sie hasste es, nicht ernst genommen zu werden. Nach einer unangenehmen Pause räusperte er sich und hob zu einer längeren Erklärung an.
„Also, es handelt sich um den sechsundzwanzigjährigen Thomas Schmittig. Er hat an einer … Moment mal …“ Jörg scrollte mit seiner Maus das Dokument herunter. „Also, soweit ich das sehe, hat er an einer Bildungsreise teilgenommen. Also diese ganze Mail ist so komisch ins Deutsche übersetzt …“
Er scrollte angestrengt weiter.
„Bei dieser Studienreise soll es um irgend so etwas wie Rhetorik und Kommunikation gehen. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Köln. Es handelt sich wohl um ein Seminar in Málaga, und von da aus wurden wohl auch verschiedene Exkursionen angeboten.“
Was war nur los mit Jörg? Der war doch sonst nicht so. Sandra beschlich das Gefühl, dass ihr Vorgesetzter die Mail gerade selbst zum ersten Mal las.
„Mord?“
„Warte mal.“ Jörg überflog den Text und fand dann die Stelle, die er suchte.
„Es ist wohl noch nicht ganz klar, ob es sich um einen Unfall, Selbstmord oder um Mord handelt. Also, mir scheint, die Kollegen stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen.“
Sandra dachte an Spanien. Sofort überkam sie ein warmes, wohliges Gefühl. Wie viel Spaß sie in der internationalen Gruppe gehabt hatten! Eine der wenigen Zeiten in ihrem Leben, in denen sie ohne Wenn und Aber gerne Polizistin gewesen war. Eine deutsche Polizistin in Spanien war bei vielen Landsleuten gern gesehen, denn sie sprach Deutsch und verkörperte ein Stück Zuhause.
Sandra schaute auf den stark vergrößerten Stadtplan hinter Jörgs Schreibtisch. Hier in Köln war es andersherum: Normalerweise hassten es die Hinterbliebenen, wenn die Polizei kam und sie in ihrer Trauer mit indiskreten Fragen zu dem möglichen Hintergrund des Verbrechens störte.
Sandra brauchte nicht länger nachzudenken. Sie wollte wieder die Polizistin sein, die als Freund und Helfer wertgeschätzt wurde. Also gab sie sich einen Ruck, drehte sich zu Jörg um und nickte.
„Alles klar, Jörg. Ich mach’s … Aber nur wenn Julia meine Kontaktperson in Deutschland ist.“
„Klar. Sonst noch was?“
Doch wieder reingefallen. Offensichtlich hätte sie noch wesentlich mehr herausschlagen können. Spesen, Urlaubstage, ihre schon so lange fällige Beförderung. Doch bevor sie diese Gedanken zu Ende geführt hatte, war Jörg schon aufgestanden.
„Prima, Sandra. Dann sind wir uns einig. Ich schicke dir gleich mal alle Unterlagen zu. Guten Flug, und blamier uns nicht.“