Leseprobe Mord auf dem Menü

Prolog

„Bevor ich irgendetwas sage, musst du versprechen, dass du nicht genervt sein wirst.“

Das war noch nie eine gute Art, eine Unterhaltung zu beginnen, oder? Und gepaart mit dem schuldbewussten Ausdruck, auf Nathans Gesicht, war es doppelt beunruhigend. DCI Nathan Withers, lebenslanger Inhaber des Titels ‚Cornwalls attraktivster Polizist‘, stand auf meiner Türschwelle und hielt einen Briefumschlag in seiner Hand.

Ich trat einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. „Oh nein, das funktioniert nicht. Ich verspreche nichts, bis ich weiß, was du angestellt hast …“

Nathan sah auf, als meine Tochter Daisy die Treppe hinter mir herunterkam.

„Hi, Nath-“, begann sie, dann hielt sie inne. Ich drehte mich gerade rechtzeitig, um einen verschwörerischen Blick zwischen den beiden aufzufangen. Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte, aber ein schuldbewusster Ausdruck nahm ihr Gesicht ein, bevor sie es verhindern konnte. Sie sah auf den Umschlag in Nathans Hand. „Ist das …? Ich war gerade – ich geh besser –“ Sie drehte sich auf den Stufen um, um zu flüchten.

„Oh nein, das wirst du nicht“, sagte er. „Du steckst hier auch mit drin.“

„Was um Himmels willen geht hier vor?“, sagte ich, denn langsam wurde ich immer verwirrter.

„Das war alles Daisys Idee“, stieß Nathan hervor. Sie schnaubte.

„Oh danke, Nathan. Ich wusste, dass du unter Druck nicht zusammenbrichst …“

Mum kam aus dem Wohnzimmer. Germaine, unser Hund, hechelte zu ihren Füßen. „Was ist los? Uh, ist das …?“

„OH MEIN GOTT!“, schrie ich. Germaine plumpste auf meinen Fuß und sah zu mir hoch, aber ich ignorierte sie. „WAS GEHT HIER VOR? Wieso ist mein Hauseingang plötzlich zum Zentralbahnhof geworden? Jemand sagt mir in den nächsten dreißig Sekunden besser, was hier los ist, sonst schwöre ich bei Gott –“

„Wir haben dich bei der Best of British Baking Roadshow angemeldet“, spuckte Nathan aus. Er hielt mir den Umschlag hin – mit meinem Namen beschriftet, aber mit seiner Adresse und bereits geöffnet, nahm ich ihn entgegen. „Wir haben dir einen Platz gesichert. Du kommst ins Fernsehen.“

Kapitel 1

„Ich hab euch das immer noch nicht verziehen. Keinem von euch.“

Mum sah sich weiterhin die Speisekarte an, wirkte ganz unberührt, während Daisy schnaubte und die Augen verdrehte; keine Spur von Schuldgefühlen. Wenigstens Nathan versuchte, zerknirscht auszusehen, und blickte mich flehend von der anderen Seite des Tisches an. Unter mir wimmerte meine treue, hündische Freundin mitleidig. Ich lachte.

„Oh mein Gott, euer Hundeblick ist schlechter als Germaines“, sagte ich. „Also gut, ich vergebe euch, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Ich sage es allen immer wieder, ich bin Köchin, keine Bäckerin.“

Es war etwa ein Jahr her, dass ich, mit Daisy im Schlepptau, zurück nach Penstowan gezogen war, der kleinen Stadt in Cornwall, in der ich aufgewachsen war. Wir hatten den Lärm, die Umweltverschmutzung und die Gefahren meiner Arbeit bei der Metropolitan Police von London gegen ein sichereres, friedvolleres Leben eingetauscht, ganz ohne die Risiken meiner früheren Arbeit, wegen der meine Tochter sich gesorgt hatte. Es war auf jeden Fall eine gute Entscheidung gewesen, umzuziehen; ich hatte ein Leben verlassen, in dem ich versuchte, meinem nutzlosen, untreuen Ex aus dem Weg zu gehen, und war in eines voller ehrlicher Liebe, Zuneigung und Respekt mit Nathan gestolpert. Außerdem hatte mein Catering-Geschäft nach ein paar (mörderischen) Stolpersteinen langsam Fahrt aufgenommen. Trotzdem war es ein Glück, dass das Wasser in Cornwall nicht so hochstand, da ich leider immer noch nicht genug verdiente, um mich dauerhaft über der Oberfläche zu halten …

Wir saßen im Cavalier, einem recht schicken ländlichen Pub, der auf Bistro machte und nahe Canworthy Water war. Nathan und der Rest der Familie hatten mich nach meinem ersten Drehtag (ich war zu aufgeregt gewesen, um an dem Morgen selbst zu fahren) abgeholt und er hatte vorgeschlagen, dass wir auf dem Weg nach Hause hier zu Abend aßen. Das Schild des Pubs – das fellbesetzte Gesicht eines Cavalier King Charles Spaniels, der einen Hut im Drei-Musketiere-Stil mit einer wippenden Feder trug – versicherte mir, dass alle fünf von uns drinnen willkommen sein würden.

„Es wird aber richtig gute Werbung für Partys und Pasteten sein –“, begann Nathan.

„Ja, wenn ich nicht schon in der ersten Runde rausfliege“, sagte ich. Mum atmete laut auf und legte die Speisekarte hin.

„Ach, verdammt nochmal! Deine Kuchen sind immer wahnsinnig lecker, selbst wenn sie so aussehen, als hätte der Hund sie irgendwo ausgegraben.“

„Nicht wirklich hilfreich, Oma“, murmelte Daisy leise.

„Und du bist ausgebildete Köchin“, bemerkte Nathan recht vernünftig. „Ich war überrascht, dass sie dich angenommen haben. Du musst den anderen Teilnehmern gegenüber doch im Vorteil sein.“

„Genau!“ Mum sah sich ungeduldig nach der Bedienung um. „Es ist ja nicht so, als ob du gegen Dr. Oetker oder so jemanden antrittst. Das sind doch eher ein paar Hausfrauen und Büroangestellte. Bestellen wir jetzt, oder was?“ Sie wurde immer ein wenig unwirsch, wenn sie hungrig war.

Ich ließ mir sagen, was Mum und Daisy essen wollten, dann gingen Nathan und ich an die Bar, um zu bestellen. Bevor wir sie erreichten, zog er mich in eine ruhige Ecke und in seine Arme.

„Du verzeihst mir doch wirklich, oder?“, sagte er und starrte mir auf eine Art in die Augen, wegen der ich ihm alles vergeben hätte – stinkige Achselhöhlen, während des Geschlechtsaktes einen fahren lassen (ich muss hinzufügen, dass nichts davon bei ihm zutraf). Tatsächlich alles, vielleicht bis auf den Fall, sollte er die letzten Stücke der Weihnachtsschokolade ohne mich essen, denn a) sollte er es besser wissen, als dass er so etwas tun würde und b) war nach dem 27. Dezember ohnehin kaum noch Schokolade übrig, also hätte er dazu vermutlich nie die Chance.

„So einfach lasse ich dich nicht vom Haken“, sagte ich, obwohl ich das natürlich tat. Er lachte und lehnte sich herunter, um mich zu küssen.

„Du wirst mir später dafür danken. Irgendwann.“

„Ja … Nein, ich danke dir dafür, aber du kennst meine Tortendekorationskünste. Als ich die Einheit verlassen habe, habe ich darüber nachgedacht, anderer Leute Hochzeitstorten und sowas zu machen, aber ich war so nutzlos bei dem ganzen schicken Dekokram, dass ich die Idee aufgegeben habe. Ich habe Angst, dass ich mich lächerlich mache.“

„Das wirst du auf keinen Fall!“, sagte Nathan und drückte mich an sich. „Nicht mehr als sonst jedenfalls.“

„Oh, ha ha.“

Wir bestellten an der Bar und schon bald verspeisten wir wirklich köstliches Essen: einen scharfen Hühnchenfleisch-Burger für Daisy, dem eine lächerlich große Portion knuspriger, goldener Fritten beigelegt war; Mum hatte eine Lasagne (sie hatte behauptet, sie bräuchte nur ‚etwas Leichtes‘ und hatte sich dann einen großen Teller Fleisch, Nudelblätter und blubbernden Käse sowie Knoblauchbrot bestellen lassen); Nathan wählte einen Chicken Pot Pie, der so wunderbar aussah, dass ich mir sofort wünschte, ich hätte ihn auch bestellt; und einen Thai Hühnchensalat für mich, der sehr lecker war, aber dem es, verglichen mit den anderen Gerichten, sehr an Fritten, geschmolzenem Käse und knusprig Gebackenem mangelte. Ich saß da und aß meine Salatblätter und versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass ich mich überlegen und tugendhaft fühlte, dass ich so eine gesunde Wahl getroffen hatte, anstelle eines der fettigen, kalorienreichen und dickmachenden Gerichte, welche meine Begleiter genüsslich in sich hinein schaufelten (natürlich mit besseren Tischmanieren als sich das hier anhört).

Es funktionierte nicht.

„Na mach schon“, sagte Nathan. „Erzähl uns von deinem Tag.“

Die Best of British Baking Roadshow gab es erst seit sechs Jahren, aber sie war jetzt schon so etwas wie eine Institution, so wie man sich während des britischen Frühlings darüber beschwerte, dass Ostern in diesem Jahr zu früh oder zu spät war, dass man von unvorhersehbaren Hitzewellen heimgesucht wurde und genauso unerwarteten Schneestürmen und blühenden Osterglocken.

Die Roadshow tat genau das, was der Titel sagen wollte. Sie war auf den Straßen Großbritanniens unterwegs, hielt in jeder Grafschaft (zumindest in den meisten; ein paar kleinere wurden mit ihren größeren Nachbarn kombiniert) und wählten fünf der besten örtlichen Bäcker aus, die gegeneinander antraten, um herauszufinden, welcher von ihnen der beste der Grafschaft war. Im Finale traten dann die übrigen gegeneinander an, um sich den Titel des Best of British Bakers zu verdienen, dem besten Bäcker Britanniens. Die Nation versammelte sich jeden Sonntagabend, während die Staffel lief, klebte an den Bildschirmen, um zu erfahren, ob Dave aus Doncaster es wohl schaffte, dass sein Croquembouche aufrecht blieb, oder ob Bella aus Brighton mit ihrem in Earl Grey getränkten Kuchen, der mit Zitronencreme bestrichen war, zu viel gewagt hatte. Aber es ging nicht nur ums Backen, es ging auch um die Kameradschaft unter den Bäckern, wie sie sich alle gegenseitig unterstützten und fair miteinander umgingen, obwohl alle gewinnen wollten. Es war irgendwie sehr britisch, sehr im Geiste eines ‚britischen Back-Blitzkriegs‘.

Die Roadshow war nach Cornwall gerollt und hatte sich auf dem Gelände von Boskern House, einem wunderschönen Landgut aus dem fünfzehnten Jahrhundert außerhalb von Launceston, eingerichtet. Ein großes Zelt, das mit einer mobilen und dennoch besser ausgestatteten (und schöneren) Küche als meine zu Hause eingerichtet war, nahm das meiste des gestreiften Rasens vor dem Haus ein. Es gab lange Arbeitsplatten in Pastelltönen, mit eingebauten Öfen darunter; sowie alle Arten von Mixern und Rührgeräten, Schüsseln, Schneebesen, Waagen, eigentlich jedes Utensil, das man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen konnte. Es war alles da, was sich ein Bäcker nur wünschen konnte.

Jede Woche wurden fünf neue Bäcker vor eine Reihe von fünf Herausforderungen gestellt, normalerweise mit etwa fünf bis sechs Stunden Arbeitszeit für jede Aufgabe. Das konnte alles Mögliche sein. Technisch komplizierte Gebäcke, deren Herstellung viele verschiedene Arbeitsschritte vorsah, von denen ein jeder für dich vernichtend sein konnte; zarte, zeitaufwendige Dekorationstechniken, bei denen du dich sowohl auf deine künstlerischen Fähigkeiten als auch auf deine Backkünste verlassen musstest; und Rezept-Herausforderungen, die dein Wissen auf die Probe stellten, welche Geschmacksrichtungen, Texturen und Zutaten zusammen harmonierten, und bei denen man sich nicht auf das Traditionelle und Altbewährte verließ. Die ausgewählten Kuchen, Brote und Gebäcke wurden dann von der Jury, bestehend aus Pete Banks und Esme Davies, geprüft.

Banks war einer der ersten Starbäcker gewesen, wenn nicht sogar der Erste. Er hatte in den späten Neunzigern bzw. den frühen Zweitausendern begonnen, für die Reichen und Berühmten zu backen, inklusive eines Kuchens zu Mick Jaggers sechzigstem Geburtstag 2003. Das hatte ihn in die Öffentlichkeit katapultiert und die Stars rissen sich um einen ‚Banks‘ für ihren eigenen Geburtstag, ihre Hochzeiten, Albumpartys, Ende-der-Tour-Partys und so weiter. Er war zur Legende geworden, machte sogar das Kuchenbuffet für Elton Johns Verlobungsparty im Jahr 2013.

Aber das Leben eines Rockstars hat seine Tücken. Seine Ehe scheiterte. Seine Bäckerei-Filialen, die er auf der Spitze seiner Karriere eröffnet hatte, fuhr er gegen die Wand. Nachdem Elton jemand anderen gewählt hatte, der 2014 seine Hochzeitstorte machen würde, hatte Pete die Spritztülle an den Nagel gehängt und sich halb zur Ruhe gesetzt. Aber man kann einen guten Bäcker nicht kleinhalten und schon bald sicherte er sich einen Vertrag zur Veröffentlichung einer Reihe von Kochbüchern. Die ersten paar waren quasi Foodporn Rezepte, die einige seiner berühmtesten (und delikatesten) Kuchen zeigten; nicht die Art, die ein Hobbybäcker zu Hause jemals hinbekommen würde. Seine späteren Bücher waren allerdings zugänglicher und schließlich auch erfolgreicher. Er war zurückgekehrt!

Esme Davis war die neue Delia Smith. Sie hatten ihre Karrieren auf ähnliche Weise begonnen, beide schrieben kulinarische Kolumnen für Zeitungen und tauchten in Fernsehshows auf, bevor ihnen ein eigenes Programm angeboten wurde. Da es die siebziger Jahre waren, ging es noch sehr um das Aussehen der Frau und es dauerte nicht lange, bis die Klatschblätter den ‚Kampf der Backschönheiten‘ verkündeten. Denn bis dahin war der einzige weibliche Koch im Fernsehen Fanny Craddock gewesen, die, um ehrlich zu sein, mit ihrem Aussehen und Temperament etwas gruselig war. Gerüchte kursierten über eine grausame Rivalität zwischen den beiden jungen Frauen, eine erbitterte Feindschaft, während sie um die Einschaltquoten kämpften. Denn was die Presse anging, konnte es, genau wie in dem Film Highlander, nur eine geben.

Ein hohes Tier bei der BBC ging sogar so weit vorzuschlagen, dass es einen Backwettstreit zwischen den beiden geben sollte, bevor solche Sendungen im Vereinigten Königreich überhaupt eine Sache waren. Esme und Delia wären aufgetreten (wahnsinnig aufgetakelt, Haar frisiert und ohne Zweifel gut angezogen) und wären nicht für ihre Backfähigkeiten beurteilt worden, die sie zweifellos besaßen, sondern auch für ihre Haltung, ihre Eleganz und ihre Selbstsicherheit vor der Kamera … Es wäre eher eine Miss-Wahl der Fernsehkochindustrie geworden.

Delia hatte sich nie öffentlich zu diesem vorgeschlagenen Fernsehprogramm geäußert, aber Esme hatte es getan. Und wie sie das hatte. Sie hatte die BBC lautstark für ihren Sexismus verurteilt und auf spektakuläre Art gekündigt, und zwar mitten in einem Interview in Michael Parkinsons Show zur besten Sendezeit. Es hatte nie eine Rivalität gegeben; sie und Delia waren Freundinnen und hatten sich als Pionierinnen betrachtet, die den Weg für andere Frauen ins Fernsehen ebnen wollten. Aber nun nicht mehr. Esme entfernte sich von den Kameras und, wie Pete, begann sie Kochbücher zu schreiben. Ihr wurde außerdem eine wöchentliche Kochsendung beim Sender Radio 4 eingeräumt, der sich zögerlich über den furchtbaren Kapitalismus der BBC 1 stellte.

Esme wurde langsam zu einer unbedeutenden Gestalt, ausgegrenzt von den üblich beliebten Köchen; ihre Bücher wurden mit der Art von Ehrfurcht betrachtet, die normalerweise religiösen Werken vorbehalten war. Und in dieser Zurückgezogenheit blieb sie, bis Channel 4 vor zehn Jahren einer Gruppe Studenten den Auftrag gab, eine Kochsendung auf die Beine zu stellen. Esme ging zu diesem Zeitpunkt auf die Siebzig zu und die Studenten dachten, es wäre lustig, einen älteren, großmütterlichen Typ dabei zu haben, der ihnen half. Sie hatten wahrscheinlich erwartet, dass sie die Pointe ihrer Witze sein würde, aber das war für sie nach hinten losgegangen. Esme hatte alle mit ihrem Sinn für Humor verzaubert und ihrem immer noch sehr starken Sinn für Gerechtigkeit. Sie veröffentlichte gleichzeitig mit der Show ein neues Buch, Kuchen ist Sache der Feministinnen,

und plötzlich wollten sie alle wieder kennenlernen. Als die Idee mit der Roadshow aufkam, gab es nur eine Person, die auf jeden Fall mit an Bord sein musste: Esme Davis.

Sie und Pete bekamen für die abschließende Entscheidung ein Trio an Gästen dazu: Berühmtheiten, die etwas mit der Grafschaft zu tun hatten, oder ein oder zwei lokale Größen. Die ganze stressige (aber lustige) Woche der Bäcker wurde in eine einzige neunzigminütige Episode gepackt. Und dann würde die Roadshow in die nächste Region weiterziehen.

Die Show wurde von dem angenehm ruhigen Comedian Russell Lang moderiert, oder besser gesagt, von seinem Alter Ego Barbara Strident, einer vorlauten Karaoke-Queen aus Essex, die dem Zuschauer erklärte, dass sie die Show als Vorsprechen für die Real Housewives of Clacton-on-Sea nutzen wollte. Barbara war so anders als Russell, dass es schwer war, sich vorzustellen, dass sie ein und dieselbe Person waren; aber er war immer mit dabei, versteckt unter Schichten von Make-up und Perücken, bei denen sogar Dolly Parton grün vor Neid werden würde, und mit einer Garderobe, die Elton John dazu bringen würde, seinen Stylisten zu entlassen und stattdessen Barbaras Schrank zu durchwühlen. Sie war urkomisch, auf eine etwas-anstößig-aber-nicht-schlimm-genug-um-sich-angegriffen-zu-fühlen Art.

Zumindest dachte ich so. Nicht alle meine Bäckerkollegen fanden Barbara so witzig …

„Und was war heute die Herausforderung?“, fragte Nathan, schluckte ein Stück seines Chicken Pies herunter und tupfte sich ein wenig Soße vom Kinn. „Ich weiß, dass es eine Festtagstorte war, aber sie bringen doch immer noch etwas Unerwartetes in die Aufgabe rein, oder?“

„Ja. Zum Glück war es eine Runde, in der man nicht rausfliegen konnte, sondern in der man sich eingewöhnen sollte“, erklärte ich. „Du weißt ja, dass sie uns eine Schritt-für-Schritt-Anleitung schreiben lassen, damit, was wir heute backen werden und wie wir es dekorieren wollen?“

„Damit ihr es in der vorgegebenen Zeit schafft, ja“, bestätigte Mum. Ich schüttelte den Kopf.

„Sie haben gelogen …“

***

Es hatte alles so gut angefangen. Meine Bäckerkollegen und ich hatten etwa eine Stunde gearbeitet, lange genug, dass unsere Kuchen im Ofen waren und wir uns ein wenig entspannen konnten. Wir tauschten uns vor dem Wettbewerb (und dem Dreh) ein bisschen aus, aber nicht lange genug, um uns oder unsere Eigenheiten besser kennenzulernen. Aber nachdem die erste Phase vorbei war, hatten wir alle einen Moment zum Verschnaufen und plauderten mit dem Bäcker neben uns.

An der nächsten Station neben mir war Elaine, eine lächelnde, freundliche Frau in ihren Dreißigern aus Redruth. Sie hatte leise eine Melodie vor sich hin gesummt, während sie ihren Teig gerührt hatte, was hätte nerven können, tatsächlich aber sehr süß war; es war auf jeden Fall besser als die peinliche, nervöse Stille, die sonst das Zelt erfüllt hätte. Sie kicherte verlegen, als sie begriff, was sie tat, was mich auch zum Lachen brachte, und wir tauschten ein Lächeln aus. Sie bemühte sich danach, still zu bleiben, aber nach ein paar Minuten war das Summen wieder da. Elaine hatte eine wunderschöne, glänzende, kastanienbraune Lockenmähne, die sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden hatte und die mich verdammt neidisch machte. Mein eigenes Haar war mit einem breiten Schweißband aus dem Gesicht verbannt, wie bei einem Tennisspieler, denn meine widerspenstige Mähne hatte die Angewohnheit, Haarbändern zu entwischen, und mein Pferdeschwanz rutschte, je länger der Tag wurde, tiefer und tiefer und es waren immer weniger Haare darin. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Esme Davis in meinen Kuchen beißen und an einem Haarknäuel ersticken würde. Sie war der Liebling der Nation und ich würde wahrscheinlich deportiert werden.

Die Station vor mir war von Ravi besetzt, einem jungen Inder, der sich eine Pause von seinem Job als Anästhesist im Krankenhaus in Truro gönnte, um dem Land seine Backkünste vorzuführen. Er machte ein Gajar Ka Halwa – eine Art indischen Karottenkuchen –, der voll mit wohlduftenden Gewürzen war und köstlich roch. Er hatte alles genau abgemessen, während Barbara sich über ihn beugte, flirtete und Witze machte und versuchte ihn dazu zu bringen, seine Zutaten zu verraten; er war nett zurechtgemacht und sah gut aus und sie hatte offensichtlich etwas für ihn übrig. Er ging sehr entspannt damit um und lachte die ganze Zeit. Ich mochte ihn auch.

Eine Person, die ich NICHT mochte, war der Typ im hinteren Teil des Zelts. Martin war auch ein Koch (aber kein Bäcker), der in einem Café in Bodmin arbeitete. Er sah aus, als wäre er um die vierzig, aber er war einer dieser Typen, die sehr viel älter oder jünger sein konnten, als sie aussahen. Er trug ein Batik-T-Shirt und eine Lederkette mit einem Kristall daran um seinen Hals. Sein Haar lichtete sich vorne, aber anstatt es zu akzeptieren und auch den Rest seines Haares abzurasieren (was die beste Art wäre, damit umzugehen, meiner Ansicht nach), ließ er wachsen, was noch übrig war, wodurch an seinem Hinterkopf ein langer, strähniger blonder Pferdeschwanz baumelte. Wenn man also ‚Humorloser New Age Hippie‘ googeln würde, würde die Topantwort ein Bild von Martin sein. Aber sein Aussehen war nicht das Problem (so oberflächlich bin ich nicht); es war sein Verhalten. Er war viel zu ernst. Natürlich war er nervös, das waren wir alle; aber der Rest von uns sah sich nicht verstohlen um, was die anderen taten (wir waren offen neugierig und redeten miteinander). Er blieb todernst, hatte sogar seine eigenen Utensilien mitgebracht – nichts Besonderes, nur die üblichen Messbecher und Schneebesen und so. Er hatte über keinen von Barbaras Witzen gelacht oder überhaupt wahrgenommen, dass noch andere Leute im Raum waren. Vielleicht war ich gemein. Vielleicht war er wirklich einfach nervös.

Aber was auch immer der Grund war, er war plötzlich gezwungen, ihn fallen zu lassen, zusammen mit uns anderen, als Barbara uns nach einer Stunde dazu aufrief, innezuhalten.

„Okay, meine hübschen Jungs –“, was von einem lasziven Grinsen in Richtung Ravi begleitet wurde und uns alle zum Kichern brachte, „und meine hübschen Mädels! Bitte lasst alles stehen und liegen und bewegt eure Hintern zu den Arbeitsplätzen hinter euch.“ Ein weiteres anzügliches Zwinkern ging an Ravi. „Findest du deinen Hintern nicht, Ravi Schätzchen? Ich helf dir gerne dabei …“ Wir alle lachten wieder, während Ravi spaßeshalber seine Hände hob, um unsere liebestolle Moderatorin abzuwehren, und praktisch zu dem nächsten Arbeitsplatz rannte.

Wir alle folgten, murmelten vor uns hin und fragten uns, was los war. Alle taten es, bis auf Martin, der sich offensichtlich nicht wegbewegen wollte. Ich stand vor ihm und lächelte.

„Ich nehme an, dass du zu dem Arbeitsplatz ganz vorne gehen musst“, sagte ich recht freundlich. Er runzelte die Stirn.

„Was soll das?“

Barbara rollte demonstrativ mit den Augen (was beinahe genauso aussah wie Daisys widerspenstiges Teenagerverhalten). Sie schnippte ungeduldig mit ihren Fingern in der Luft.

„Kommt schon! Kommt schon! Setz deinen Motor in Bewegung, Martin! Komm nach hier vorne, Schätzchen!“ Martin ließ seinen Kuchen widerwillig zurück und machte sich auf an den Arbeitsplatz, der kurz zuvor von der fünften Teilnehmerin, Lynda aus St Ives, verlassen worden war.

Pete Banks trat vor. „Ich nehme mal an, dass ihr euch fragt, was los ist“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, das für mich in Wirklichkeit beinahe schon böse aussah.

„So könnte man es sagen“, sagte Elaine und wir alle nickten zustimmend.

„Auf der Arbeitsplatte vor euch sollten die Anleitungen liegen, die eure Mitbewerber aufgeschrieben haben“, fuhr er fort. „Die Aufgabe heute besteht darin, dass ihr die Kuchen eurer Rivalen fertig machen müsst, indem ihr ihren Anleitungen folgt.“

Ein lautes Stöhnen fuhr durch das Zelt. Die Jury und Barbara lächelten. Sie genossen unser Leiden.

„Also, das hier ist keine Ausscheidungsrunde“, sagte Esme. Die liebe Esme, jedermanns liebste Omi. Nun war sie es nicht mehr. „Aber es wird für den besten Kuchen Punkte geben, die auf den morgigen Tag übertragen werden. Diese Punkte gehen an den ursprünglichen Bäcker des Kuchens, NICHT an den Bäcker, der ihn vollendet hat.“ Es folgte weiteres Stöhnen. Pete grinste und sah jeden von uns bedeutungsvoll an.

„Also habt ihr eine Wahl“, verkündete er. „Ihr könnt entweder euer Bestes geben, folgt den Instruktionen vor euch und gebt euch alle Mühe, verdient die Punkte für euren Rivalen, oder –“

„Oder ihr könnt ihn sabotieren“, beendete Esme den Satz. „Die Frage ist also: Übervorteilt ihr den Gegner oder spielt ihr fair und riskiert selbst sabotiert zu werden?“

„Oh, das ist BÖSE“, murmelte ich. Barbara nickte.

„Ja, Liebes, das ist es“, sagte sie. „Bei Kuchen und in der Liebe ist alles erlaubt.“

***

Mum, Nathan und Daisy starrten mich alle mit offenen Mündern an. Ich lachte.

„Eure Gesichter! Ihr seht genauso schockiert aus, wie wir es waren.“

Nathan fing sich wieder. „Ich wette, das ging gut aus. Wer hat deinen Kuchen bekommen?“

„Ravi“, sagte ich. „Er war super. Er hat es besser gemacht, als ich es je hinbekommen hätte.“

„Und du hast den Kuchen der Möchtegern-Hippie-Nervensäge bekommen?“, fragte Mum. Nathan hatte gerade einen Schluck seines Getränks genommen und verschluckte sich an seinem aufkommenden Lachen.

„Shirley, ich kann nicht glauben, dass du nie als Poetin ausgezeichnet worden bist.“

„Die Arbeitszeiten von Poeten sind furchtbar“, sagte sie, was ihn noch mehr zum Lachen brachte.

„Ja“, sagte ich. „War verdammt kompliziert und all das.“

„Hast du ihn sabotiert?“, fragte Daisy eilig. Sie wirkte enttäuscht, als ich meinen Kopf schüttelte.

„Nein, aber ich wünschte verdammt noch mal, ich hätte es getan …“ Ich erinnerte mich an den Ausdruck auf Martins Gesicht, als er die fertige Torte sah. Es war nicht so, als ob ich nicht mein Bestes gegeben hätte; es war offensichtlich, dass ich es nicht mit Absicht verdorben hatte. Oder vielleicht bildete ich es mir selbst ein; vielleicht waren meine Bemühungen wirklich schlecht. Wie auch immer, er war fuchsteufelswild. Er sah aus, als würde er explodieren, aber er erinnerte sich im richtigen Moment daran, dass die Kameras unsere Reaktionen filmten, und hielt sich zurück, während sein Gesicht knallrot wurde.

Die Jury ging herum und inspizierte jede Torte, beurteilte nicht nur die Präsentation, sondern auch den Geschmack – und das auch in Bezug auf die geschriebene Anleitung. Meiner bekam, dank Ravis extrem genauer Dekorationstechniken (die Art, wie er Zuckerpaste in Sterne und Blumen schnitt, ließ mich denken, dass er besser Chirurg hätte werden sollen und nicht Anästhesist) und meiner Fähigkeit, einen wirklich guten, luftigen Karamell-Schokokuchen zu machen, eine viel höhere Punktzahl als ich erwartet hatte. Elaine hatte Ravis Torte bekommen und ihre Dekorationen waren von einem anderen Planeten; aber traurigerweise war der Karottenkuchen selbst eine kleine Enttäuschung, was mich überraschte. Lynda hatte Elaines Victoria Sponge übernommen und selbst aus der Ferne konnte ich erkennen, dass ich nicht die schlechteste Tortendekorateurin im Zelt war … Zum Glück wurde der Kuchen selbst von Esme als einer der besten bezeichnet, den sie je probiert hatte, und Pete streckte Elaine seine Hand zu einem Highfive hin, was ein seltenes Vorkommen war. Martin hatte einen oberflächlichen Job an Lyndas Torte geleistet; er war offensichtlich extrem begabt, also waren seine schlechtesten Bemühungen immer noch besser als die der meisten. Der Teig wurde leider nicht mit Lob bekleckert und ich dachte, Gott sei Dank war es keine Ausscheidungsrunde, denn sonst wäre sie die A303 zurück nach St Ives geschickt worden.

Und dann kamen sie zu Martins Torte. Wie gesagt, ich hatte mir Mühe gegeben. Es war kein furchtbarer Versuch; aber seine Anleitung war nicht besonders klar formuliert gewesen – wie wir anderen auch, hatte er nicht erwartet, dass sie von jemand anderem gelesen werden würde, ganz abgesehen davon, dass jemand anderes ihr folgen sollte. Also hatte ich getan, worin ich gut war. Was, laut Martin, nicht Tortendekoration war.

Die Jury hatte einen Blick auf seine Torte geworfen und gelacht, wenngleich mitleidig, nachdem sie seine komplexe Anleitung gelesen hatte. Er war darüber nicht glücklich. Aber Barbara hatte es noch zehnmal schlimmer gemacht.

„Uh, du hast eine Disney Torte gemacht!“, rief sie aus. Martin schien verwirrt. Barbara lachte und ihre Stimme wurde einige Oktaven tiefer und nahm einen schottischen Akzent an. Sie klang mehr wie ein Fußballfan mit Glasgower Akzent als eine aufgedonnerte Hausfrau, die Disco Diva spielt. „Disnicht besonders gut, wenn du verstehst, was ich meine, Liebes?“

Martin starrte sie mit dem Todesblick nieder. Sein Ausdruck war so feindselig, dass Barbara kurzzeitig durcheinanderkam, was nicht oft passierte, wie ich vermutete. Aber dann hatte Esme seinen geschichteten Zitronen-, Himbeer- und Pistazienkuchen probiert und dabei beinahe orgiastisch gestöhnt. Was, Gott sei Dank (wenn auch etwas unanständig, denn sie war kein junger Hüpfer mehr), die eisige Atmosphäre wieder erwärmte.

„Dann ist er also ein Arsch, ja?“, sagte Daisy und wir alle lachten, wonach ich sie maßregelte, weil sie das A-Wort (sie schien manchmal zu vergessen, dass sie erst dreizehn war) verwendet hatte. Aber sie hatte Recht. Er war einer.

***

Wir beendeten unsere Mahlzeit und gingen auf den Ausgang zu, hielten aber noch kurz an, da Mum gehen und die ‚sanitären Anlagen‘ nutzen wollte, wie sie es euphemistisch vor Nathan ausdrückte. Während wir warteten, stupste mich Daisy an und nickte zu ein paar Typen hinüber, die an einem Ecktisch saßen.

„Mum, ist das nicht Russell Lang?“, flüsterte sie. Ich blinzelte und versuchte, einen besseren Blick auf ihn werfen zu können, wobei ich diskret sein wollte, falls er es doch nicht war.

„Ich glaube schon … Er ist schwer zu erkennen ohne die Perücke und die falschen Brüste“, sagte ich.

„Können wir hin und Hallo sagen?“ Daisy war schon auf halbem Weg, als Nathan einen Arm ausstreckte und sie aufhielt.

„Das würde ich nicht tun“, sagte er. „Es sieht aus, als würden sie streiten.“ Und jetzt, da ich sie näher betrachtete, war es offensichtlich, dass sie es taten. Russells Gesellschaft streckte seine Hand aus, um ihn zu berühren, ihn zu überzeugen, aber Russell schüttelte ihn wütend ab.

„Was sehen wir uns an?“, sagte Mum, die zu uns stieß. „Uh, ein Streit unter Liebenden. Können wir jetzt nach Hause? Meine Unterwäsche zwickt und ich kann es kaum erwarten, meinen BH auszuziehen.“

Kapitel 2

Am nächsten Morgen war ich früh wach. Ich ging mit Germaine auf einen frühmorgendlichen Spaziergang. Mein süßes, fluffiges, harmloses Baby knurrte den dicken alten Labrador im Garten unseres Nachbars an, auf, wie sie wohl hoffte, besonders böse Art. Er hatte sie hoffnungsvoll angesehen, mit heraushängender Zunge und wedelndem Schwanz, während wir an seinem Tor vorbeikamen.

„Er will doch nur dein Freund sein“, sagte ich, aber Germaine interessierte das nicht. Das war ihr Terrain.

Wieder zu Hause, die Hundeblase war komplett entleert, holte ich Daisy aus dem Bett und ging sicher, dass Mum alle ihre Pillen einnahm. Daisy stromerte herum, stöhnte darüber, dass sie zur Schule gehen musste, während ich bei der Backshow den ganzen Spaß hatte. Ich war halb versucht, sie mit mir kommen zu lassen (ich bin ein großer Verfechter davon, dass die Schule nicht die einzige Bildungsstätte ist; Lebenserfahrung ist ebenso eine und je mehr verschiedene Erfahrungen ich Daisy liefern konnte, desto besser), aber bald wären ohnehin Osterferien, also konnte ich es nicht.

Nathan war gestern Nacht nicht geblieben. Er blieb nun einige Male in der Woche über Nacht und langsam wurde es offensichtlich, da er auch Miete für sein Cottage bezahlte, wie dämlich dieses Arrangement war, aber keiner von uns traute sich, das Thema seines Einzugs anzusprechen. Ich war zunächst vorsichtig damit gewesen, dass er übernachtete, denn es war ja nicht so, dass ich das Haus für mich allein hatte, aber Mum und (um genauer zu sein) Daisy mochten ihn sehr gerne und schienen es genauso sehr zu genießen, ihn bei uns zu haben, wie ich. Aber er musste heute früh aufstehen und Papierkram aufholen, was man am besten tat, wenn es auf der Wache ruhig war – also musste ich heute allein nach Boskern House fahren.

Ich packte Daisy ein und brachte sie in das Haus ihrer Freundin Jade, das ein paar Häuser weiter war. Die Mädchen liefen normalerweise gemeinsam zu und von der Schule nach Hause, es sei denn, es war schlechtes Wetter, außerdem hatten Jades Mutter Nancy und ich eine gegenseitige Vereinbarung wegen der Zeit nach der Schule; wenn eine von uns auf der Arbeit oder mit etwas anderem beschäftigt war, nahm die andere die Mädchen zu sich und versorgte sie, wenn die Abendessenszeit nahte. Es hatte sich für uns beide in der Vergangenheit als sehr nützlich erwiesen und heute wäre dies auch der Fall, denn ich hatte keine Ahnung, wann der Drehtag enden würde.

Es war erst nachdem Daisy weg war und ich kurz davor war zu gehen, dass ich bemerkte, dass Mum nicht ihr aufgewecktes (wenn auch ein wenig verrücktes und nerviges) Selbst war. Sie saß am Küchentisch und starrte ins Leere.

„Mum?“, fragte ich und sie erschrak ein wenig, als ob sie gedanklich meilenweit entfernt gewesen war. „Alles okay? Was hast du heute vor?“

„Ich weiß nicht“, sagte sie vage. „Brenda und Malcolm haben mich zu sich eingeladen, aber ich weiß nicht, ob ich Lust darauf habe …“

Brenda und Malcolm Penhaligon waren seit Jahren mit meiner Mum und meinem Dad befreundet gewesen. Brenda war überzeugt, dass wir eines Tages tatsächlich verwandt sein würden (durch Heirat); und dass ihr Sohn Tony, mein ältester Freund auf der Welt, und ich heiraten würden. Wir waren 1994 für zwei Wochen miteinander ausgegangen und hatten uns erst letzten Oktober wieder geküsst, als ich dachte, Nathan wolle zurück nach Liverpool ziehen; und trotz der Tatsache, dass Tony nun tatsächlich attraktiver war, als er es 1994 gewesen war, war es seltsam, und wir beschlossen, dass wir sehr eng befreundet bleiben würden, aber rein platonisch.

Ich fragte mich, warum Mum eine Einladung der Penhaligons ablehnen würde. Hatten sie sich zerstritten? Und dann sah ich sie an und, plötzlich, gemeinsam mit einer Welle von Schuldgefühlen, begriff ich, welcher Tag heute war.

„Oh, Mum!“, rief ich aus, setzte mich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. „Es tut mir so leid. Ich kann nicht glauben, dass ich es vergessen habe.“

„Sei nicht dumm“, sagte sie und schniefte ein wenig. „Dad würde nicht erwarten, dass du den Tag jedes Jahr wahrnimmst. Es ist nicht so, dass du ihn deshalb vergisst. Du hast viel zu tun, du hast Daisy und Nathan und jetzt diese Backgeschichte …“

„Und wenn schon“, sagte ich und fühlte mich wie die schlechteste Tochter der Welt. Es war der Jahrestag des Unfalls, der meinen Vater vor acht Jahren das Leben gekostet hatte. Er war einer Gruppe dummer Teenager gefolgt, die ein Auto gestohlen hatten, und zu Beginn fuhren sie ruhig, doch es entwickelte sich zu einer Verfolgungsjagd und endete mit einem Knall in einer nicht einsehbaren Ecke auf der A39. Ich musste in den folgenden Jahren sichergehen, dass ich vorbeikam und den Tag mit meiner Mutter verbrachte, nicht, um irgendetwas Bestimmtes zu tun, aber um sich an meinen Dad zu erinnern, über ihn zu reden und in sein Lieblingscafé in Penstowan zu gehen. Und dieses Jahr war ich schon hier, an Ort und Stelle, und hatte es vergessen.

„Alles in Ordnung“, sagte Mum und obwohl sie lächelte, fühlte ich mich trotzdem schuldig. Ich konnte sie auf keinen Fall zu Hause lassen.

***

„Das lässt sich einrichten“, sagte Camilla. Die Regisseurin war in ihren späten Dreißigern und drückte sich sehr gewählt aus. Sie hatte diese Art von Stimme, bei der ich sie mir in einem Kostüm und mit einer Perlenkette vorstellte, auch wenn sie das gar nicht trug, so wie heute. Oder auch gestern nicht, um ehrlich zu sein. Sie war vielleicht unheimlich vornehm, sie war aber auch sehr nett. Als ich endlich (zu spät) auftauchte, mit Mum im Schlepptau, und zu ihr gegangen war, um die Situation zu erklären, und Mum dabei im hinteren Teil des Zeltes auf einem Stuhl zurückgelassen hatte, hatte sie genickt und beruhigende Geräusche von sich gegeben.

„Das ist in Ordnung“, sagte sie wieder. „Es könnte für sie etwas langweilig werden, aber wenigstens wird sie so nicht allein sein. Lass mich mal nachsehen, ob ich etwas Komfortableres für sie zum Sitzen finde.“

Camilla winkte einen der Produktionsassistenten her, einen Typen, der um die achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt sein musste, kurzes, dunkles Haar hatte und etwa einen Meter siebzig groß war … Eine automatische Reaktion aus den Tagen, als ich Polizistin gewesen war; ich registrierte immer das Aussehen der Leute, für den Fall, dass ich es für eine Zeugenaussage benötigte. Bisher war das nie vonnöten gewesen, aber es war gut zu wissen, dass mein Kopf klar und meine Instinkte intakt waren.

„Harry, sei ein Schatz und finde für die Dame einen Platz hinter den Kameras“, sagte sie. Harry sah mich von oben nach unten an, dann tat er dasselbe mit meiner Mutter, die auf der anderen Seite des Zeltes stand. Ich war mir nicht sicher, ob es mir gefiel, seiner genauen und beinahe verhöhnenden Prüfung zu unterstehen. Es war okay, wenn ich das machte, es war ja nicht so, dass ich die Leute beurteilte, ich fügte meiner Erinnerung nur hilfreiche Marker und Anmerkungen hinzu – aber da war etwas an diesem Harry, das mich sofort in Acht nehmen ließ. Und dann lächelte er und ich versuchte mich selbst zu überzeugen, dass ich mich dumm verhielt.

„Sicher“, erklärte er und zog los, um eine bessere Sitzgelegenheit für eine Einundsiebzigjährige zu suchen. Ich hoffte nur, dass diese nicht so bequem war, dass Mum darauf einschlafen würde. Ihr Schnarchen erinnerte mich an ein Nashorn mit Nasenscheidewandproblemen (oder vielleicht führte es auch eine Kettensäge mit sich) und würde ganz sicher den Dreh stören. Wenigstens hatte ich jemanden gefunden, der sich um Germaine kümmerte, denn ich konnte wohl kaum einen Hund mit zu einer Backshow nehmen. Meine Freundin Debbie hatte die letzten drei Monate damit verbracht, ihren Ehemann Callum zu überzeugen, sich einen Hund anzuschaffen, und sie hatte zugestimmt, auf Germaine aufzupassen, in der Hoffnung, dass sie sein Herz erweichen würde. Er wusste noch nichts davon, aber wenn er heute Abend von der Arbeit kommen würde, würde er mein Fellbaby auf seinem Sofa vorfinden, unzweifelhaft verwöhnt von seinen Kindern Mathilda und George, die ganz auf der Seite ihrer Mutter waren. Der arme Kerl würde keine Chance haben. Ich sagte selbstbewusst voraus, dass sie das örtliche Tierheim in Bideford am Wochenende besuchen würden.

Ich ließ meine Mutter für fünf Minuten in den fähigen Händen des Produktionsteams und ging zu den Toiletten für die Teilnehmer. Der Himmel weiß, ich war in der Vergangenheit in wesentlich aufregendere Situationen verwickelt gewesen, als im nationalen Fernsehen einen Kuchen mit Buttercreme bestreichen zu müssen, aber mein Magen spielte heute Morgen einfach nicht mit; ich würde mich beinahe lieber einem wütenden Mob entgegenstellen, als einem Kamerateam. Die Toiletten waren nicht gerade luxuriös – eine Reihe WC-Häuschen auf dem Parkplatz – und ich hoffte, mein nervöser Magen würde sich beruhigen, wenn wir weiter im Wettbewerb vorangeschritten waren, denn die Anlagen waren nicht sehr privat oder lärmisoliert. Diese Annahme wurde bestätigt, als ich (während ich so über den Tag, der vor mir lag, nachdachte) erhobene Stimmen vernahm; eine weibliche mit dem Hauch eines Südwest-Akzents, eine männliche mit gehobenem Surrey-Akzent. Russell stritt sich mit jemandem.

Ich spannte mich auf der Toilette an (meine Ohren, um genau zu sein) und versuchte zu verstehen, worüber gestritten wurde, aber ich konnte keine Worte ausmachen. Ich konnte nur hören, dass sie sehr, SEHR genervt von ihm war. Ich stand da, zog meine Jeans nach oben; sollte ich spülen? Ich meine, ich hatte tatsächlich nichts gemacht, trotz meiner Bauchschmerzen (es waren definitiv die Nerven). Normalerweise stellte sich mir diese Frage in anderen Toiletten nicht, aber wenn ich es hier tat, würden die Streithähne dann nicht bemerken, dass da jemand in der Nähe war, der lauschte?

Ich kämpfte innerlich mit mir und beschloss dann, dass ich den wassersparenden Weg wählen würde, – was gelb ist, lass stehen, was braun ist, muss gehen – schlich mich aus dem Häuschen und versprach allen zusehenden (und stirnrunzelnden) Göttern, dass ich in einer Minute zurückkommen und spülen würde, aber ich wollte verständlicherweise nicht, dass Russell und mit wem auch immer er stritt, wussten, dass ich hier war, falls ihnen das unangenehm sein sollte. Falls es sie verjagt, bevor du herausgefunden hast, was los ist, ist wohl eher der Fall, sagte eine kleine Stimme in meinem Kopf, die ich ignorierte. Ich schlich um die WC-Häuschen herum, an den Rand, an dem mir einige Müllcontainer ein Versteck boten, und spitzte um die Ecke herum.

Russell – oder die eine Hälfte Russell, die andere Hälfte Barbara, wie er zu diesem Zeitpunkt aussah, in Barbaras Kleidung gewandet, aber ohne die Perücke, stand hinter den Toiletten mit einer blondhaarigen Frau, die so wütend wirkte, dass ich einen Moment dachte, sie würde gleich Rumpelstilzchen spielen und ihren Fuß so heftig aufstampfen, dass sie entzwei gesprengt würde.

„So war das gar nicht!“, schrie Russell, der sehr aufgewühlt wirkte. „Es war deine Entscheidung –“

„Ich hätte wissen sollen, dass ich dich beim Rumschnüffeln finde“, hörte ich eine bekannte Stimme hinter mir. Russell und seine Begleitung sahen rüber in meine Richtung, aber ich war gut durch die Müllcontainer verdeckt. Ich machte schnell einen Schritt zurück und wirbelte herum.

„Tony! Was zur Hölle machst du hier?“ Ich schnappte nach Luft, mein Herz pochte wild. Ich war so vertieft in meine Neugier – ich meine, meine Beobachtung – gewesen, dass ich nicht gehört hatte, wie sich mein alter Freund angeschlichen hatte.

„Ich könnte dich dasselbe fragen“, erwiderte er grinsend. „Du sollst doch backen und nicht spionieren.“

„Sschhhh!!“ Ich schubste ihn vom Rand der WC-Häuschen weg und zurück in Richtung Zelt. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Russell herausfand, dass ich ihn bei seiner Unterhaltung belauscht hatte. „Ich hatte nur gerade eine kleine Panikattacke. Komm schon, ich war heute Morgen schon zu spät, ich will die anderen nicht aufhalten.“

Wir gingen zurück zum Zelt.

„Wie auch immer, was machst du hier?“, fragte ich Tony.

„Du backst doch nicht etwa, oder? Die Krankenhäuser in der Gegend sind doch schon überbelegt.“

Er lachte. „Ja, ich bin nicht gerade der beste Koch. Obwohl ich keine schlechten Spaghetti Bolognese mache.“

Ich verdrehte meine Augen. „Tony, jeder kann Spaghetti Bolognese machen, das sind Nudeln mit Tomatensoße und Hackfleisch, das ist keine Wissenschaft.“

„Scherzkeks! Aber nee, ich backe nicht, ich hab heute frei und dachte, ich schau mal rein und sehe mich um. Ich werde schließlich am Ende einer der Gastjuroren sein.“

„Wirklich?“ Ich war überrascht, aber zufrieden. Tony war schon immer ein Fan meiner Safranbrötchen gewesen (kein Euphemismus) und er liebte meinen Zitronenkuchen, also sahen meine Chancen plötzlich besser aus, das Ganze zu gewinnen. Nicht, dass ich Nepotismus befürworte oder die Jury Lieblinge hat oder so was, aber … es war vermutlich der einzige Weg, Martin zu schlagen.

Indira, die junge Produktionsassistentin, mit der ich am Tag zuvor gesprochen hatte, kam auf uns zu geeilt.

„Da bist du!“, sagte sie. „Wir brauchen dich im Zelt. Bist du soweit?“ Ich entschuldigte mich, dass ich so lange gebraucht hatte, wobei ich natürlich nicht erwähnte, warum – und wir ließen Tony beim Sich-Umschauen zurück.

Ich flitzte schnell hinter meine Arbeitsplatte, während Russell (nun ganz Barbara in blonder Perücke), Pete und Esme das Zelt betraten und miteinander plauderten. Eigentlich sprachen nur die beiden Backexperten miteinander, wirkten fröhlich und entspannt, aber Barbara schien angespannt; nervös und verkrampft. Dann sah sie auf und bemerkte die Blicke, die auf sie gerichtet waren, und sofort zauberte sie ein großes Lächeln hervor. Natürlich war der ganze Punkt an ihr, dass sie nicht echt war, sie war ein übertriebener Charakter, mit überzogenen Emotionen und Reaktionen, aber das Lächeln wirkte auf mich wirklich sehr, sehr gekünstelt. Es schien, als habe der Mann unter der Make-up-Schicht heute Schwierigkeiten, sich darunter zu verstecken, und Barbara Probleme, sich zu behaupten. Die Perücke war für Barbara nicht genug gewesen, um den Streit von sich abzuschütteln, den Russell eben gehabt hatte, bei dem er sich der wütenden Frau gegenüber verteidigt hatte. Meine Erinnerung kehrte an die Szene am Abend zuvor im Pub zurück, zu seinem Streit unter Liebenden; er schien im Moment im Allgemeinen keine gute Zeit zu haben.

Die drei Moderatoren stellten sich vorne im Zelt auf, während die Crew ihre Mikrofone anbrachte. Harry war dabei und hatte Schwierigkeiten, das Akkupaket von Barbaras Mikro an der Rückseite ihres Kleides anzubringen. Ich sah, wie sie schnaubte und es ihm aus der Hand riss, nachdem er es in sie gedrückt hatte, dann griff sie um sich und brachte es selbst an. Das war eine sehr andere Barbara als die gestrige, die für jeden im Team ein Lächeln und einen Scherz übrighatte, egal wie klein sein Job war. Nicht, dass es Harry zu stören schien, er wandte sich einfach um, ein Grinsen auf seinem Gesicht, das er schnell korrigierte.

Der Dreh begann. Barbara machte ein paar Scherze, die (wie immer) köstlich waren, aber ihre Ausführung war etwas flach, als würde sie es lediglich hinter sich bringen wollen. Es schien mir, als wolle Barbara den Tag schnell erledigen, damit sie dazu zurückkehren konnte, Russell zu sein, der gehen und sich verstecken konnte. Ich fühlte eine Welle des Mitleids für sie über mich kommen. Und für ihn.

Die beiden anderen Präsentatoren gaben die Aufgabe bekannt und Tag zwei des Wettbewerbs begann nun wirklich …