Prolog
Lancashire, 2021
Ein Schaben durchbrach die Stille der Nacht. Wie von Geisterhand öffnete sich ein Fenster an der Rückseite des kleinen Cottages, das einzig vom Vollmond beschienen wurde. Unheimliche Schemen glitten über den Teppichboden, bevor sich ein einzelner großer Schatten aus der Dunkelheit schälte.
Penny wartete, bis die Luft rein war, ehe sie durch das Fenster stieg. Der Sommer sorgte für milde Temperaturen und einen vollen Garten. Die Pflanzen hinter dem Haus boten ihr zusätzlichen Schutz vor fremden Blicken. Niemand durfte bemerken, dass sie hier war. Wenn sie erwischt wurde, war ihr Plan dahin, Antworten auf die bohrenden Fragen zu erhalten. Auch ihre Karriere würde darunter leiden. Vielleicht wäre sie sogar mit der heutigen Nacht für alle Zeiten beendet. Doch Penny stand knapp vor dem Durchbruch, das spürte sie mit jeder Faser ihres adrenalingepuschten Körpers. Ihr Einbruch kam einem Rausch gleich, den man sonst nur mit Drogen herbeiführen konnte. Sie wollte, nein, sie durfte jetzt nicht einfach aufgeben.
Fast hätte sie sich an einem rostigen Nagel verletzt, der aus der Wand ragte. Er verfing sich in der Gürtelschlaufe ihrer Hose und riss sie entzwei. Ein leiser Fluch glitt ihr über die Lippen, bevor sie weiterging und angespannt auf jedes Geräusch lauschte, das außerhalb dieses Arbeitszimmers zu hören war.
Die Bewohner lagen seelenruhig in ihren Betten eine Etage über ihr. Sie hatte sie lange genug ausgekundschaftet, um das zu wissen. Erst gegen drei Uhr würde sich die Frau ein Glas Wasser ans Bett holen, wie sie es immer tat, weil die sommerliche Luft in Lancashire ihre Kehle offenbar austrocknete.
Penny erwartete donnernde Schritte auf den Stufen oder einen Wutschrei, vielleicht sogar eine Gewehrkugel, die ihr hinterherjagte, aber nichts dergleichen passierte.
Erleichtert stieß sie den angehaltenen Atem aus und ließ ihren Blick schweifen. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe glitt über Bücherregale und einen imposanten Eichenschreibtisch, dem sie sein stattliches Alter ansah.
Mit fließenden Bewegungen lief Penny von einem Regal zum nächsten, zog Schubladen auf, um deren Inhalt zu inspizieren, und untersuchte die Möbel nach Geheimfächern, wie sie es aus etlichen Filmen kannte. Nicht einmal ein Safe befand sich hinter den Gemälden an der Wand. Sie hatte deutlich mehr erwartet als ein einfaches Büro. Weil sie nicht fündig wurde, galt ihre Aufmerksamkeit dem Laptop auf dem Schreibtisch. Natürlich war er passwortgeschützt.
Mist! Sie bewegte ihre Lippen, wagte es aber nicht, einen Ton von sich zu geben. Verärgert legte sie den Kopf an die Lehne hinter sich und dachte nach.
Sie schwitzte in ihrem Rollkragenpullover, der für den Hochsommer schlecht gewählt war. Oder war es in Wahrheit die zerreißende Angst, die ihr in den Knochen saß, seit sie diesen Einbruch geplant hatte?
Pennys Herz überschlug sich, als sie nun doch und viel zu früh die knarrende Treppe vernahm. Mit all ihren Sinnen konzentrierte sie sich wieder auf eine einzige Sache. Schnell schob sie den Ärmel zurück und sah auf die Uhr. Zehn nach eins.
Sie war unschlüssig. Die Lösung lag so dicht vor ihrer Nase. Sollte sie aufgeben und davonlaufen, ehe sie Antworten hatte? Nein, das kam nicht infrage! Sie hatte so lange danach gesucht. Lediglich ein Passwort trennte sie von ihrem Ziel. Sie probierte es mit den gängigsten Zahlen- und Buchstabenkombinationen, erinnerte sich an Geburtsdaten und den Hochzeitstag der Eigentümer, aber immer wieder wackelte das Eingabefeld, als wollte es den Kopf schütteln und sie verhöhnen.
Penny verzweifelte und hätte am liebsten auf die Tastatur geschlagen. Die Schritte kamen näher. Gleich würde sich die Tür öffnen. Sie klappte das Gerät zu und versteckte sich eilig unter dem Tisch.
Das Fenster!, dachte sie erschrocken, aber dafür war es zu spät. Sie kauerte sich zusammen und beobachtete den Lichtstrahl, der vom Flur aus ins Zimmer fiel.
Penny legte sich, für den Fall, dass sie auf frischer Tat ertappt wurde, eine aberwitzige Geschichte zurecht. Mit ihrem Schauspieltalent würde sie es vielleicht schaffen, den Einbruch unter den Teppich zu kehren und als Missverständnis abzutun. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie die überzeugende Schlafwandlerin gab. Wie sie allerdings Sturmhaube und Einweghandschuhe erklären sollte, wusste sie in diesem Moment noch nicht. Da wäre wohl Stand-up-Comedy gefragt, die sie schlecht beherrschte.
Ein tiefes Seufzen erklang. »Francis, du hast schon wieder das Fenster offen gelassen! Kein Wunder, dass es zieht!«, rief er hinauf zu seiner Frau, die etwas Unverständliches antwortete. Seine schweren Schritte waren selbst auf dem weichen Teppich deutlich zu hören, als er durch das Zimmer ging und das Fenster schloss. »Diese alte Kuh wird immer vergesslicher«, murmelte er verärgert, bevor er den Raum wieder verließ.
Penny fasste sich ans Herz, das heftig hämmerte. Sie wartete auf das Geräusch der Klinke. Erst danach kam sie vorsichtig aus ihrem Versteck. Das Zimmer war stockdunkel. Sie wandte sich noch einmal dem Laptop zu, um sich an weiteren Passwörtern zu versuchen.
Plötzlich wurde Penny unsanft aus dem Stuhl gerissen und zu Boden geworfen. Ihr Steißbein schmerzte vom Aufprall, und ein Keuchen drang aus ihrer Kehle.
»Hab ich dich!«, brüllte ihr Angreifer mit dem Handy in der einen und einem Brieföffner in der anderen Hand. »Rühr dich nicht vom Fleck, Bürschchen. Gleich holt dich die Polizei ab. Dann war es das mit deinen Machenschaften.« Er wählte den Notruf.
Penny blieb ganz still. Sie war wie gelähmt vor Angst. Da er sie nicht erkannt hatte, wollte sie ihm auf keinen Fall einen Hinweis auf ihre Identität geben. Ihre Panik schnürte Penny ohnehin die Kehle zu und machte es unmöglich, etwas zu erwidern. Sie suchte nach einer Fluchtmöglichkeit, die es nicht gab. Im Mondschein sah sie seinen Körper, der steil und bedrohlich über ihr aufragte. Besänftigend hob sie beide Hände und schüttelte den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie harmlos war. Die Klinge des Brieföffners blitzte ein letztes Mal auf, ehe sich wieder eine Wolke vor den Mond schob und alles Licht verschluckte.
Penny schnellte nach vorne und umklammerte seine nackten Waden. Sie wusste, dass sie auch mit weniger Kraft siegen konnte, indem sie den Schwerpunkt ihres Gegners kannte. Penny schaffte es, ihn zu überrumpeln. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden.
Sie musste sich selbst zunächst an die Dunkelheit gewöhnen. Wie eine Blinde tastete sie sich zum Fenster zurück. Penny wurde wieder zurückgezogen und prallte mit dem Kinn auf den Teppich, der sich auf einmal gar nicht mehr so weich anfühlte. Ein metallischer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Der Druck auf ihrem Fußknöchel war unmenschlich.
»Hiergeblieben! Du entkommst mir nicht!« Er drückte noch etwas stärker zu.
Penny biss sich auf die Wange, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Eine Flucht erschien unmöglich. »Nein!«, kreischte sie nun doch, als sich seine Fingernägel durch ihren Strumpf ins Fleisch bohrten.
Penny nutzte seine Überraschung, eine Frauenstimme zu hören, aus und trat nach seinen Händen. Die Wolke führte ihren Weg über das schwarze Himmelszelt fort und ließ sie endlich wieder sehen.
Der Brieföffner war ihm während des Kampfes aus der Hand gefallen und lag nun gut erreichbar neben ihr. Sie wollte danach greifen, aber er war schneller und nahm Penny in den Schwitzkasten. Sie keuchte und würgte, als er ihr die Luft abdrückte. Der Geruch von Schweiß und einem widerlichen Aftershave drang ihr in die Nase. Sollte es das gewesen sein? Er wird mich töten! Hilfe! Ich … bekomme keine …
Sie nutzte ihren letzten klaren Moment, tastete nach dem Brieföffner und rammte ihn blind, aber mit voller Wucht in seine Seite. Ihr Angreifer ließ sofort von ihr ab und sackte mit einem Stöhnen zu Boden. Er presste sich die Hand auf seine blutende Taille und verfluchte Penny lautstark. »Du Miststück! Dafür wirst du büßen!« Seine Worte gingen in einem Gurgeln unter.
Penny funktionierte in diesem Augenblick bloß. Es fühlte sich an, als hätte ihr Geist längst den Körper verlassen. Wie ein Roboter richtete sie sich auf und öffnete das Fenster ein weiteres Mal. Pennys Fluchttrieb wurde von einer Erinnerung unterbrochen, die wie ein Blitz durch ihre Gedanken zuckte. Sie sah ein bleiches, verschwitztes Gesicht vor sich. Weit aufgerissene Augen und Lippen, die sich zu einem Hilferuf formten.
Sie wandte den Kopf um und beachtete den Verletzten nicht mehr, der alle Mühe hatte, sich aufzurappeln. Penny packte kurzerhand den Laptop, ehe sie es sich anders überlegte. Sie wusste, dass es nach dieser Attacke keine weitere Chance mehr geben würde, um die Wahrheit zu erfahren. Dafür war sie überhaupt so weit gegangen und sogar beinahe umgebracht worden. Nichts und niemand hielt sie mehr auf. Nicht einmal dieser Widerling, der sie hatte erwürgen wollen. Nichtsdestotrotz sorgte sie sich um ihn, aber da der Notruf gewählt worden war, würde bald Hilfe auftauchen.
Mit zitternden Beinen kämpfte sie sich durch Sträucher und Hecken bis zur Straße. Ihr Atem stockte, als ein Polizeiwagen direkt vor dem Haus hielt. Sie hetzte weiter und richtete ihre Augen starr nach vorne. Es war an der Zeit, nicht mehr zurückzublicken.
***
Penny wusste nicht, wie lange sie gerannt war, bis sie bemerkte, dass es auf einmal bergauf ging. Sie war am Pendle Hill gelandet, dessen Landschaft grau und verlassen vor ihr lag. Erst in sicherem Abstand zur Zivilisation zog sie sich die Sturmhaube vom Gesicht und übergab sich hinter der nächsten Mauer, die zwei Grundstücke voneinander trennte. Erschöpft und erleichtert glitt sie in das feuchte Gras der Schafweide. Dort blieb sie, bis sich ihr Puls beruhigte und sie wieder normal atmete.
Für Penny zählte einzig und allein das Gerät, das sie noch immer wie einen Schatz an ihre Brust drückte. Sie registrierte erst jetzt, dass sie davongekommen war und niemand sie verfolgte. Hatte sie Spuren hinterlassen? Blut, Speichel, Haare? Hatte er sie womöglich erkannt? All das war plötzlich egal, denn sie hatte, was sie wollte. Nun musste sie bloß noch eine Möglichkeit finden, an die Daten darin zu kommen. An ihre Beweise … ihre Wahrheit.
Das Adrenalin ließ nach. Penny wurde von einem hysterischen Lachanfall geschüttelt, der in einem Heulkrampf endete. Mit tränennassen Augen beobachtete sie den Sternenhimmel. Sie bildete sich ein, dass er heute besonders schön strahlte.
1. Kapitel
Lancashire, 2023
Thea lenkte das Lastenrad von Clitheroe aus zurück nach Pendle. Reverend Peter Hughing hatte es ihr netterweise geliehen, um Besorgungen für St. Benet’s zu machen. Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob das Rad sie tatsächlich entlastete oder ihr eher im Weg war.
»Du dämliches Ding!«, rief sie, als nun auch noch ein Platten ihren Heimweg erschwerte. Mehr als Schieben war nicht mehr möglich. Die letzten paar Meilen würde Thea zu Fuß gehen müssen, da kein Bus weit und breit fuhr.
Sie hörte ein Brummen und sah auf. Oakley hielt mit seinem Motorrad neben ihr. Er trug keinen Helm, dafür aber ein smartes Lächeln auf den Lippen, das Theas Beine weich werden ließ.
»Kann ich dir helfen?«, fragte er und zeigte sich hilfsbereiter denn je.
Thea blieb hart. Sie erinnerte sich zu gut an seinen Betrug, um ihm jetzt schon entgegenzukommen. »Nein, danke, ich komme klar.«
»Das sieht mir nicht danach aus.« Er war drauf und dran, von seinem Gefährt zu steigen.
»Wirklich, Oakley, bemühe dich nicht. Ich schaffe das allein.«
Er lächelte verschmitzt. »So kenne ich dich, tough und abweisend.«
Sie berichtigte ihn, ehe er sich zu viel darauf einbildete. »Ich lebe erst seit ein paar Wochen in Pendle. Wir können uns also gar nicht wirklich kennen. Und dich kenne ich von allen am wenigsten.« Sie wusste, dass sie störrisch wie ein kleines Kind klang, aber Thea war noch immer verletzt von seinen Lügen.
»Bist du sauer wegen der Sache mit den Schlössern? Ich wollte bloß hilfsbereit sein.«
Sie stellte das Fahrrad beiseite und stemmte die Hände empört in die Seiten. Thea reckte das Kinn, um ihm in seine unverschämt blauen Augen zu sehen. Im Stillen verfluchte sie Oakley dafür, dass er so verboten gut aussah und sie jedes Mal schwach machte. Kein anderer Mann schaffte das. »Was würdest du an meiner Stelle davon halten?«
»Ich wollte nichts weiter als deinen Schutz. Das musst du mir glauben.«
»Ich entscheide selbst, wer einen Schlüssel zu meinem Haus bekommt und wer nicht. Ebenso, wer mich beschützen darf. Ich habe dich nicht darum gebeten. Du hast über meinen Kopf hinweg entschieden und vorher nicht einmal mit mir geredet.«
»Es tut mir leid. Wie oft muss ich das denn noch sagen? Ja, ich habe deine Schlösser gewechselt und mir einen Zweitschlüssel anfertigen lassen, damit ich im Notfall einschreiten kann. Und wie wir gesehen haben, hättest du diesen Schutz gut gebrauchen können«, erwiderte er und zog sich den Zopf nach. Seine Miene war ernst.
Thea sah absichtlich weg, um sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Sie mochte seine keltischen Symbole und Runen auf den muskulösen Armen. Neben ihm wirkte sie fast schmächtig. Außerdem hatte Thea immer schon ein Faible für verwegene Schwarzhaarige gehabt. Oakley hätte gut für ein Magazin posieren können.
»Evans hat mich genug beschützt, da brauche ich keinen Mann, der sich als Held aufschwingt. Sie kennt die Gefahr und die Verbrecher besser als wir beide zusammen.«
»Myrna Evans ist auch ein Detective Inspector und trägt eine Waffe. Hatte sie nicht außerdem Kampfkunstunterricht? Hank hat mir von einem Vorfall im Pub erzählt, bei dem Brian und Nate dumm aus der Wäsche geguckt haben. Mit dieser Frau würde sich wohl niemand gern anlegen. Sie könnte wahrscheinlich jeden in Pendle beschützen, aber genauso gut niederstrecken.« Er machte eine kurze Pause und sah zu Boden. »Es tut mir leid, dass ich gelogen habe. Kann ich es wiedergutmachen? Bei einem Abendessen? Ich koche für uns.«
»Du verstehst immer noch nicht, was Freiraum für mich bedeutet«, sagte sie etwas milder. »Bitte akzeptiere, dass ich dich fürs Erste nicht sehen will. Mit deinem Schlüssel wurde bei mir eingebrochen.«
»Ich habe dir schon gesagt, dass er mir gestohlen wurde. Ich war das nicht.«
»Was soll ich davon halten? Selbst wenn du die Wahrheit sagst, ist es deine Schuld. Die Schlösser sind längst wieder getauscht. Wenn ich Hilfe brauche oder ein Treffen will, frage ich von selbst danach. Ich lasse mich nicht bevormunden, aber schon gar nicht einengen oder überreden, Oakley. Nicht hier, nicht jetzt. Gib mir Zeit.«
»Wieso sperrst du dich vor der Welt und den Menschen derart aus? Was ist in deinem Leben passiert, dass du niemandem mehr vertraust?«
»Nathan Shaw ist passiert«, antwortete sie knapp und schluckte beim Gedanken an ihren toten Vater einen Kloß herunter.
Oakleys Mund öffnete und schloss sich wieder. Er nickte starr, stieg auf seine Kawasaki und fuhr davon.
Thea sah ihm eine Weile nach und seufzte niedergeschlagen. Wieso kann ich ihm nicht einfach verzeihen?, dachte sie auf dem Rückweg wie in einer Endlosschleife.
Die Wahrheit war Thea immer schon wichtig gewesen. Menschen, die sie betrogen, hatten keinen Platz in ihrem Leben. Einzig bei Oakley machte ihr das Herz einen Strich durch die Rechnung. Sie spürte, dass er weiterhin log, und hätte gern gewusst, wieso. Thea hatte es ihm angesehen, ehe sie wie besessen die grünen Punkte in seinen blauen Iriden gezählt hatte.
Ihre Gedanken wurden jäh von einer Blondine mit großen Augen und einem Muttermal auf der Wange unterbrochen, die wutentbrannt auf sie zustürmte. Ihre Fäuste waren geballt, ihre Mundwinkel verhärtet. Sie wirkte sehr angespannt und machte keine Anstalten, Thea auszuweichen. Instinktiv bereitete sie sich auf einen Angriff vor, der jedoch ausblieb. Sie musste fast aus dem Weg springen, damit die andere nicht gegen sie prallte. Mit wehenden Haaren rannte die Fremde an ihr vorbei und verschwand um die nächste Kurve.
Was sollte das denn? Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus.
Sie schob das Rad ein paar Fuß weiter und hielt inne, um zurückzublicken, aber die Frau tauchte nicht noch einmal auf. In Pendle hatte sie sie jedenfalls noch nie gesehen, was nichts bedeutete, da sich Thea aufgrund ihrer Arbeit als Totengräberin die meiste Zeit hinter den Friedhofsmauern des St. Benet’s Churchyard aufhielt.
Als Jolene Downing ihren Weg kreuzte, fragte sie sie nach der Blondine. Wenn jemand Bescheid wusste, dann eine Tratschtante wie Jolene.
»Frag doch deine neue Freundin«, giftete die Alte und humpelte auf ihren Gehstock gestützt an ihr vorbei. »Die weiß doch immer alles.«
Sie meinte damit sicher Myrna, mit der Thea erst vor Kurzem einen fünfzehn Jahre alten Mordfall aufgeklärt hatte. Im Laufe der Ermittlung waren sie nicht nur einer Person gehörig auf die Zehen getreten.
»Dann eben nicht!«, rief sie ihr hinterher. Den Fluch verschluckte sie absichtlich, weil sie wusste, dass er an Mrs Downing verschwendet gewesen wäre. Alte Hexe, dachte sie stattdessen und setzte ihren Fußweg mit dem Lastenrad fort.
***
Jolene schäumte innerlich. Sie krallte ihre Finger so fest um den Elfenbeinknauf ihrer Gehhilfe, dass die blauen Äderchen an ihrer Hand hervortraten. Alethea Shaws bloße Anwesenheit ließ sie explodieren. Die Tatsache, dass sie ihr das Chamberling-Anwesen vor der Nase weggeschnappt hatte, machte die Sache nicht besser. Ja, die kleine Shaw hatte es von ihrem Vater geerbt, aber das war noch lange kein Grund, sich darin einzunisten und Hausbesitzer zu spielen. Sie hätte es lieber verkaufen und nach London zurückkehren sollen. Was wollte eine wie die überhaupt in Pendle?
Jolene gab ihr keine zwei Monate mehr, bis sie das Renovierungsprojekt, ein Fass ohne Boden, aufgab und wieder in die Hauptstadt zog. Am besten verkroch sich Miss Shaw bis dahin hinter den hohen Mauern des Friedhofes, wo sie hingehörte. Je weniger Jolene sie sah, desto besser.
»Warte!«, hörte sie Lucretias unverkennbar schrille Stimme hinter sich und blieb stehen. Ihre Feindfreundin und heimliche Komplizin trippelte auf sie zu. »Hast du schon gehört?«
Jolene musste sich noch immer an die leuchtend rote Igelfrisur gewöhnen, die Lucretia sich im letzten Winter zugelegt hatte. Hatten denn auf einmal alle ihren Geschmack verloren? Erst Lu mit diesem gewagten Schnitt, dann Alethea Shaw mit ihren Ringen in Nase und Ohren. Dazu kamen die unförmigen Pullover, die aus der zierlichen Frau eine Kuriosität machten. Und zu guter Letzt Inspector Myrna Evans mit ihrem blonden Pixie. So lief man vielleicht in der Hauptstadt herum, aber nicht durch das verschlafene Pendle, wo jeder jeden kannte und viel geredet wurde. Jolene kam sich mittlerweile wie die einzig normale Person in der Gemeinde vor.
»Du wirst es mir sicher gleich sagen«, antwortete sie, weil Lucretia noch immer auf eine Reaktion wartete. Sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein. Ihre Augen waren vor Aufregung geweitet. »Geht es etwa um deinen Sergeant?«
»Er ist nicht mein Sergeant. Wir verstehen uns gut und treffen uns manchmal. Mehr ist da nicht.« Jolene glaubte ihr nicht. Lucretia regte sich dafür viel zu sehr auf. »Nein, es geht um das neueste Mitglied unserer Gemeinde.«
»Was hat diese Shaw nun schon wieder angestellt?« Jolene kniff sich angestrengt in die Nasenwurzel.
Ihre Freundin machte eine wegwerfende Geste. Lucretias Stirn wurde noch ein Stück runzliger. »Von der spreche ich doch gar nicht.«
»Von wem dann? Inspector Evans?«
»Viel besser: Penny Halligan ist nach Pendle gekommen und hat das alte Haus ihrer Eltern draußen bei Bracewell übernommen. Du kennst doch Manor Hall. Es stellt sogar das Chamberling-Anwesen in den Schatten. Vielleicht wird sie irgendwann wieder Bälle geben und das Vermächtnis ihrer Eltern …«
Jolene blendete ihren Redeschwall gekonnt aus. Das hatte sie über Jahre geübt und mittlerweile perfektioniert.
Sie begriff nicht, wieso sich Lucretia über den Zuzug irgendeiner Frau freute. Als ihre Nachbarin gar nicht mehr aufhörte, zu schwärmen, ging sie dazwischen. »Und nun? Soll sie eben ihr Erbe antreten. Solche Leute wohnen hier zuhauf.« Ihre Gedanken wanderten zurück zu Alethea Shaw und dem Haus, auf das sie es abgesehen hatte.
»Und nun?!«, rief Lucretia entsetzt und machte noch größere Augen. Sie gestikulierte wild. »Das bedeutet endlich Aufschwung in Pendle! Miss Halligan ist ein Broadwaystar und steht auf den Theaterbühnen der ganzen Welt! Die Regisseure streiten sich um sie. Hast du denn nie einen ihrer Filme gesehen? Nicht einmal im Fernsehen?«
Jolene war auch dann nicht begeisterungsfähig. »Ich besitze gar keinen Fernseher, wie du weißt. Damit verblödet man bloß. Was soll an einer dahergelaufenen Schauspielerin bitte gut sein? Als Nächstes stehen wieder diese Verrückten vor der Tür, die nach Hexen auf dem Pendle Hill Ausschau halten. Geisterjäger und Verschwörungstheoretiker. Darauf habe ich keine Lust. Ich bin froh, dass uns endlich niemand mehr belästigt, seit sich der Trubel um Hope Fernsby gelegt hat. Meine Ruhe ist mir heilig, Lu.«
»Du Langweilerin. Auch deine Zimmer wären wieder ausgelastet. Oder glaubst du, dass du den Inspector bei deinen Horrorpreisen noch lange in deiner Pension halten kannst? Nicht jeder mag deine Kochkünste oder deine fünf Katzen. Penny Halligan ist ein Promi und wird dafür sorgen, dass Pendle zu neuem Glanz erstrahlt. Dann klingeln die Kassen. Freu dich doch einfach darüber.«
»Du klingst schon fast wie John Birming. Und nun sieh dir an, wo ihn sein Enthusiasmus hingebracht hat.«
Die Erinnerung an ihren ehemaligen Bürgermeister ließ Lucretias Euphorie offenbar abebben. Ihre Mundwinkel fielen herab, und sie verschränkte die Arme fest vor der flachen Brust, wie sie es immer tat, wenn sie beleidigt war. Jolene war zufrieden mit sich. Sie verdarb anderen gern den Spaß. Manchmal hasste sie sich dafür, aber das war nur von kurzer Dauer. Eher freute sie sich über ihre Boshaftigkeit. Sollten die anderen ruhig genauso leiden wie sie, wenn sie früh morgens unter Schmerzen aus dem Bett stieg. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer mit ihrem kaputten Rücken.
Lucretia wechselte das Thema. »Weiß jemand, wer Birmings Nachfolger wird? Wie wäre es denn mal mit einer Frau?«
»Uns braucht das nicht zu kümmern, oder glaubst du, dass zwei alte Damen um Rat gefragt werden? Träum weiter, Lu. Wir sollten uns stattdessen lieber wieder auf unser eigentliches Ziel konzentrieren. Das hat Vorrang. Oder bist du auf einmal nicht mehr interessiert?«
»Natürlich!«
»Siehst du.« Sie tätschelte Lucretias Igelkopf wie bei einem kleinen Kind. »Dann haben wir ja kein Problem miteinander, nicht wahr?«
»Haben wir nicht.« Lucretia schürzte die schmalen Lippen und schlug ihre Hand weg. »Wie gehen wir vor?«
»Wir warten auf den geeigneten Moment, wenn Alethea Shaw eine Weile nicht zu Hause ist.«
»Sie ist fast immer nebenan auf dem Friedhof, wenn sie nicht gerade zusammen mit dieser Evans das alte Anwesen renoviert«, sagte Lucretia mürrisch. »Die beiden kleben aneinander wie Kaugummi. Es wird schwierig, sie auseinanderzuziehen.«
»Sicher wird sich eine Möglichkeit auftun. Das habe ich im Gefühl«, erwiderte Jolene lächelnd. Nun war sie wieder die Königin von Pendle.
Solange Lucretia ihr aus der Hand fraß und keine eigenmächtigen Schritte unternahm, fühlte sie sich wohl.
»Und was, wenn sie den Schatz längst geborgen haben? Ich habe bei meinem Besuch …«
»Du meinst, bei deinem Einbruch.«
Lucretias Lächeln erstarb. »… bei meinem Besuch die Tür zum Geheimgang offen gelassen«, sprach sie unbeirrt weiter. »Nicht dass sie in den letzten Wochen, statt zu renovieren, ihr Herrenhaus erkundet hat.«
Jolenes Gesicht wurde wahrscheinlich genauso finster wie das ihrer Freundin. Es arbeitete hinter ihrer Stirn. »Dann werden wir uns mit den Nachforschungen eben beeilen müssen. Bei der nächsten Gelegenheit gehen wir rein.«
Lucretia nickte eifrig. Ihre Augen leuchteten. Sie freute sich offenbar auf das bevorstehende Abenteuer. Schließlich passierte kaum etwas im idyllischen Pendle, wenn nicht gerade ein fünfzehn Jahre altes Skelett aus der Erde gespült wurde.
Als Jolene endlich wieder allein war, stieß sie den angehaltenen Atem aus. Sie musste sich einen Moment lang setzen. Die gierige Lucretia ahnte ja nicht, was für die Downings auf dem Spiel stand! Wenn es einzig um das Gold gehen würde, würde sie deutlich entspannter sein. Lucretias Schuldenberge gingen sie nichts an. Reichtum machte nicht glücklich, sondern einsam, wie Jolene immer predigte. Nein, sie verfolgte lieber ihre eigenen, ganz persönlichen Pläne, von denen nicht einmal ihre Nachbarin etwas ahnte.
***
Thea setzte sich in einen kleinen Bagger, den sie gekonnt zwischen den Gräbern entlang manövrierte. Sie bediente die Schaufel nach ein paar Wochen Übung mit Leichtigkeit, auch wenn ihr heute, genau wie damals, Schweißperlen auf der Stirn standen. Sie schob es auf das sommerliche Maiwetter. Wenigstens auf dem St. Benet’s Churchyard fand sie etwas Schatten.
Die Stimme des alten Pfarrers ließ sie innehalten. »Alethea, haben Sie kurz Zeit? Ich müsste Sie sprechen.«
Sie stellte das Gerät ab und kletterte geschickt hinaus. Ein wenig mulmig war ihr nach wie vor, wenn sie ein frisches Grab für die Zeremonie am folgenden Tag ausheben sollte. Thea sortierte die Träger ihrer Latzhose und zog den kurzen Zopf in ihren Haaren nach.
Der Pfarrer trug ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen, das sie nur zu gut kannte.
»Eigentlich habe ich keine«, antwortete sie ehrlich, wie sie war. »Aber für Sie mache ich eine Ausnahme. Immerhin arbeite ich für die Kirche.«
»Für die Gemeinde, meinen Sie.« Er lächelte nach wie vor. Seine ruhige Stimme sorgte für ein Heimatgefühl bei Thea. Sie wusste nicht genau, ob sie nach London oder nach Pendle gehörte. »Nathan wäre stolz, Sie so zu sehen … in seinen Fußstapfen.« Als sie widersprechen wollte, hob er beschwichtigend eine Hand. »Ich weiß, das hören Sie nicht gern, aber er war nicht der Mann, für den Sie ihn halten.« Sein trauriger Blick wanderte hinüber zum Grab ihres Vaters, auf dem – wie jede Woche – frische Lilien eines Unbekannten lagen.
»Wissen Sie inzwischen, von wem die Blumen kommen?«, fragte sie leise und bemerkte, dass ihre Stimme brach. Schnell räusperte sie sich.
Hughing drückte ihre Schulter aufmunternd. Sie konnte ihm nichts vormachen. »Irgendwann, Alethea, werden alle Fragen geklärt. Das verspreche ich Ihnen. Lassen Sie sich selbst etwas Zeit und kommen Sie erst einmal richtig in Pendle an. Ihr Haus ist die reinste Baustelle, Ihre Arbeit noch neu für Sie. Das alles braucht Zeit.«
»Die meisten Antworten hat mein Vater mit ins Grab genommen. Zum Beispiel, wieso er mir das Anwesen vermacht hat, wo er doch deutlich beliebter bei anderen Menschen war. Das will mir einfach nicht in den Kopf gehen. Ich habe ihn verachtet und kaum gekannt.«
»Verachtet und kaum gekannt sind zwei sehr unterschiedliche Dinge«, sagte er schmunzelnd. »Um jemanden zu verachten, muss man ihn kennen.« Hughing nahm sie gern auf den Arm und drehte Thea die Worte im Mund herum. Das konnte er besonders gut.
Sie hatte einen Narren an dem alten Pfarrer gefressen, der die anglikanische Kirche am Stadtrand leitete und jeden Sonntag volles Haus hatte.
»Ich habe begriffen, worauf Sie hinauswollen«, sagte sie schnell und etwas genervt, schluckte den Ärger aber herunter. Wirklich böse konnte sie diesem Mann ohnehin nicht sein.
Er lächelte sie noch immer an.
Thea erinnerte sich auf einmal wieder an den Grund ihrer Arbeitspause. »Sie wollten mich sprechen, haben Sie gesagt?«
»Richtig. Vorhin ist ein Brief für Sie abgegeben worden.«
»Ein Brief?« Thea riss erstaunt die Augen auf und klopfte sich die schmutzigen Hände an der Arbeitshose ab. »Was für ein Brief?«
»Ich habe nicht reingesehen. Eine langhaarige Blondine hat ihn mir in die Hand gedrückt und mich gebeten, eine Stunde zu warten, ehe ich Ihnen das Kuvert überreiche.« Er holte einen weinroten Umschlag mit goldenem Emblem und kunstvollen Verzierungen aus seiner Soutane und hielt ihn ihr hin.
Wie Thea wusste, nahm der Pfarrer seine Versprechen sehr ernst. Natürlich hatte er eine Stunde gewartet, bis er ihr den Brief zeigte.
»Wieso hierher?« Misstrauisch beäugte sie den Umschlag, ohne ihn anzurühren.
»Ich habe gesehen, dass Sie Ihren Briefkasten schon eine Weile nicht mehr am Zaun hängen haben. Das wird wohl der Grund sein.«
Thea nickte. Daran hatte sie nicht gedacht. »Er war schief und verbeult. Nicht gerade einladend für einen Postboten. Ich wollte längst einen neuen kaufen, aber die Arbeiten im Haus haben überhandgenommen.« Sie hatte in Wahrheit nicht mit Briefen gerechnet. Zu ihren Kommilitonen und Mitbewohnern aus London hatten sie den Kontakt längst eingestellt, und ihre nahen Verwandten lebten allesamt nicht mehr. Sie war allein und auf sich gestellt mit einem geerbten Herrenhaus und jeder Menge Arbeit. Ihre einzigen Vertrauten Myrna und Callan wohnten in ihrer Nachbarschaft und brauchten bloß zu klingeln, um Kontakt mit ihr aufzunehmen. Umso neugieriger wurde sie auf den Brief, den sie nun endlich entgegennahm, aber nicht öffnete. »Woher weiß sie, wo ich arbeite? Wer war sie überhaupt?«
Hughing fuhr sich nachdenklich über sein schütteres graues Haar. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, als er grübelte. »Wenn ich das nur wüsste. Ihr Gesicht kam mir vage bekannt vor, aber in meinen fünfzig Berufsjahren gingen so viele Menschen ein und aus, da kann ich nicht jeden im Gedächtnis behalten. Ich werde leider nicht jünger.«
»Sie werden uns sicher alle überleben, Reverend«, erwiderte sie lächelnd. Weit hergeholt war es nicht. Der betagte Pfarrer litt zwar an Rückenschmerzen, wirkte aber oftmals zehn bis fünfzehn Jahre jünger, als er in Wahrheit war.
»Sie war etwa so alt wie Sie, also Mitte oder Ende zwanzig. Blonde lange Haare und dunkle Augen. Ein hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen. Aber sie hat eine tiefe Traurigkeit ausgestrahlt. Etwas ist in ihrem Leben passiert, das sie aus der Bahn geworfen hat. Ihr Lächeln hat die Augen nicht erreicht. Für mehr Details reichte die Zeit leider nicht. Jedenfalls war sie in großer Eile. Eine Nachricht auf ihrem Handy hat sie verärgert. Ohne einen Abschiedsgruß ist sie verschwunden.«
»Alle Achtung, Reverend. An Ihnen ist ein Detektiv verloren gegangen. Sicher, dass Sie nicht in unsere illustre Truppe eintreten wollen? Sie wären eine Bereicherung für Churchyard Crimes oder meinen True-Crime-Blog. Meine Follower lechzen seit der Toten vom Pendle Hill nach neuem Lesestoff.«
Er winkte lächelnd ab. »Nicht doch. Das überlasse ich besser Miss Evans und Ihnen. Sie beide sind ein eingeschworenes Team, wie es heißt. Hope Fernsby hat durch Sie die ersehnte Erlösung bekommen – Gott habe sie selig – und ihre Familie Gewissheit.« Er bekreuzigte sich in Ehrfurcht.
»Auch Callan hat seinen Teil dazu beigetragen. Ohne ihn wären wir nie auf die Lösung gekommen. Es war sein Plan, dem Mörder eine Falle zu stellen.«
Thea betrachtete den Umschlag weiterhin skeptisch. Sie wüsste niemanden, der ihr schreiben sollte. Die einzige Blondine, mit der sie zu tun hatte, war Myrna, doch die trug ihr Haar kurz. Vielleicht jemand aus London? Dann erinnerte sie sich an die seltsame Begegnung ein paar Stunden zuvor. Hatte die Fremde, die sie beinahe umgerannt hatte, etwas damit zu tun?
Hughing durchleuchtete Thea eine Weile. Er nestelte an seinen Fingern und verlagerte sein Gewicht mehrmals von einem auf das andere Bein. »Wollen Sie den Umschlag nicht öffnen?«
Ganz schön neugierig, der Alte, dachte sie amüsiert und ließ ihn absichtlich zappeln. »Ach, das hat keine Eile. Sicher nur ein Rundschreiben.«
»Nicht in einem anonymen Umschlag, der persönlich abgegeben wurde.« Seine Miene flehte sie nahezu an, den Brief endlich zu lesen und das Siegel auf der Rückseite zu brechen.
Thea hatte ein Einsehen. Sie wollte ihn nicht länger quälen. Außerdem fragte sie sich selbst, was hinter dem goldenen Emblem steckte. Das Zeichen war wie ein Wappen geformt, in dem eine Lupe steckte. Vielleicht ein neuer Auftrag für Churchyard Crimes? Ihren letzten hatte Thea allein gelöst und den verschollenen Bruder von Pendle-Touristin Paula McDuff sturzbetrunken im Bett einer Prostituierten vorgefunden. Kein wirklicher Kriminalfall, aber wenigstens ein Ausweg aus der Langeweile. Seitdem hatte sie keine neuen Beiträge mehr auf ›Churchyard Crimes‹ gepostet und überlegte bereits, den Blog wieder in ›Theas Krimiblog‹ umzubenennen. Die Verbrechen vor der eigenen Tür ließen auf sich warten.
Mit klopfendem Herzen zog sie eine weiße, ebenfalls verzierte Karte aus dem Kuvert. Sie bewegte ihre Lippen, während sie las. Thea musste den Text mehrmals überfliegen, bis sie begriff. »Jemand … lädt mich zu einem Krimidinner hier in Pendle ein. Nächstes Wochenende schon.«
»Jemand?«
Sie drehte und wendete die Karte. »Hier steht kein Name. Der Absender verspricht nur, dass es ein spannender Abend voller dunkler Geheimnisse wird. Es winkt sogar ein Preisgeld für denjenigen, der das Rätsel löst.«
»Wie überaus mysteriös.« Hughing hob und senkte seine Augenbrauen vielsagend.
Thea hätte gelacht, wenn diese Krimidinner-Einladung sie nicht vollkommen für sich eingenommen hätte. Sie fragte sich, wer ausgerechnet Wert auf ihr Erscheinen legte. Dass Thea nicht besonders beliebt in Pendle war, war kein Geheimnis. Sie hielt sich lieber fern von den verschrobenen und abergläubischen Einwohnern, die sie bei jeder Gelegenheit als Hexe verschrien, weil sie ein Nasenpiercing trug.
»Eine Blondine, sagten Sie?«
Hughing nickte bedächtig. »Mir war sie fremd. Vielleicht die Verwandte eines Gemeindemitglieds. Das würde ihr Gesicht erklären, das mir trotz allem vage bekannt vorkam.«
»Die Adresse sagt mir nichts. Kennen Sie diese Straße?«
Er musste seine Augen zusammenkneifen, um die kursive Schrift zu lesen. »Ja, die Summon Road ist eine der ältesten Straßen von Pendle, liegt heutzutage aber fast gar nicht mehr im Borough. Sie müssen acht oder neun Meilen nach Bracewell and Brogden fahren, um sie zu erreichen. Mit dem Fahrrad können Sie über den Wanderweg Richtung Norden hingelangen. Ich weiß nicht, ob die Gegend viel bewohnt ist. Die Menschen haben sich mit der Zeit Richtung Kirche und Kern bewegt und ihre Häuser hier am Pendle Hill erbaut. Der Rest wanderte weiter nach Norden.«
»Danke, ich schaue es mir lieber erst einmal an, bevor ich zusage«, sagte Thea.
»Wieso auf einmal so vorsichtig? Hat unsere regeltreue Inspector Evans etwa auf Sie abgefärbt?«
Thea schmunzelte. Sicher würde Myrna es begrüßen, etwas Einfluss auf sie zu haben, aber dem war nicht so. »Ich möchte meine Situation gern vorher erfassen. Mir kommt es seltsam vor, dass mich jemand einlädt, der mich nicht einmal kennt.«
»Das klingt schlüssig. Wenn Sie Fragen haben, ich bin im Pfarrhaus und bereite den Gottesdienst vor.«
Thea steckte den Brief fürs Erste weg und machte sich wieder an die Arbeit. Das Grab hob sich nicht von allein aus.