Eins
New York City, Dezember 1906
Es war ein Jahr voller Verluste gewesen. Voller Verluste und Unsicherheit. Voller Dunkelheit, die ich nicht abschütteln konnte. Daniels Stelle bei der New Yorker Polizei hing immer noch in der Schwebe, obwohl im Januar ein neuer Commissioner sein Amt antreten würde – ein Commissioner, den Tammany Hall hoffentlich weniger in der Tasche hatte. Daniel hatte die Unannehmlichkeiten eines korrupten Departments, das einen Grund zum Rauswurf zu finden versuchte, gemieden, indem er Aufträge von Mr. John Wilkie annahm, dem Kopf des US Secret Service. Der erste Auftrag hatte ihn nach San Francisco geführt und uns beinahe alles gekostet, was uns teuer war. Er war anschließend zu mehreren Anlässen nach Washington zitiert worden, hatte sich aber immer noch nicht entschieden, ob er eine dauerhafte Stellung dort annehmen sollte. Das lag vermutlich an mir. Denn er wusste, dass ich mir schreckliche Sorgen machte, wenn er fort war, und dass ich auf die Unterstützung meiner lieben Freundinnen in New York angewiesen war. Und offen gesagt brauchte ich diese Unterstützung im Augenblick dringend.
Sie müssen wissen, dass ich nicht ganz ich selbst war, nachdem wir aus San Francisco zurückkehrten. Ich hatte mir gesagt, dass alles gut war und ich wieder mit meinem alten Leben weitermachen könnte, aber es war nicht alles gut. Ich war sowohl körperlich als auch psychisch verletzt worden. Hatte am Rand des Wahnsinnes gestanden, um genau zu sein. Und das Ergebnis war, dass ich das Kind verloren hatte, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es in mir trug. Eine Fehlgeburt nach drei Monaten, gerade, als ich mir gesagt hatte, dass alles gut werden würde. Der Arzt hatte es heruntergespielt: Ein großer Anteil Schwangerschaften enden in einer Fehlgeburt, hatte er zu mir gesagt. So stelle die Natur lediglich sicher, dass unvollkommene Kinder nicht das Licht der Welt erblickten. Aber ich sei im Grunde eine gesunde, junge Frau. Nichts halte mich davon ab, augenblicklich ein weiteres Kind zu bekommen. Er sprach davon, als ginge es nur darum, ein Kleid wegzuwerfen und sich ein neues auszusuchen. Aber ich betrauerte dieses Kind und ich war überwältigt von Schuldgefühlen. Ich war mir sicher, dass das Kind in Ordnung gewesen wäre, wenn ich nicht so impulsiv gewesen und meinem Ehemann nach San Francisco gefolgt wäre. Ich hätte es etwa zu dieser Zeit auf die Welt gebracht. Ein Weihnachtskind. Ich versuchte, mich daran zu gemahnen, dass ich vielleicht meinen Ehemann verloren hätte, wenn ich nicht nach San Francisco gegangen wäre, aber nichts, was ich sagen oder denken konnte, holte mich aus der Dunkelheit heraus, die mich zu verschlingen drohte.
Ich ging meiner Hausarbeit nach, kümmerte mich um meinen Sohn und meinen Ehemann und tat so, als genösse ich die Versuche meiner Freundinnen, mich aufzuheitern und zum Lachen zu bringen, aber in Wirklichkeit fühlte es sich an, als betrachtete ich die Welt durch einen schwarzen Schleier. Und gerade als ich spürte, keine weitere schlechte Nachricht vertragen zu können, kam sie dennoch. Im Oktober erhielten wir ein Telegramm, in dem stand, dass Daniels Mutter ins Krankenhaus gebracht worden war, mit einer Lungenentzündung. Sie war so krank, dass wir glaubten, wir würden sie verlieren. Ich muss gestehen, dass ich Mrs. Sullivan, wie ich sie immer noch nannte, nie sonderlich gemocht habe. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie mich als Enttäuschung sah, weil sie gewollt hatte, dass ihr Sohn eine bessere Partie macht und in der Gesellschaft aufsteigt. Aber es tat mir weh zu sehen, wie verzweifelt Daniel bei dem Gedanken daran war, seine Mutter zu verlieren. Ich schätze, das Band zwischen Mutter und Sohn ist ein starkes.
Erstaunlicherweise stand sie das Schlimmste durch und ich nahm meinen Sohn Liam mit nach Westchester County hinauf und half der betagten Haushälterin Martha dabei, nach Daniels Mutter zu sehen, während sie sich erholte. Mein junges Mündel Bridie ließ ich bei meinen Nachbarinnen Sid und Gus, sodass sie weiter zur Schule gehen konnte. Sie erblühte zu einer selbstbewussten und gebildeten jungen Frau und ich wollte ihre Ausbildung nicht unterbrechen. Mich einer solchen Herausforderung zu stellen, war vermutlich eine gute Sache. Es lenkte meine Gedanken von meinem gegenwärtigen Zustand ab. Tatsächlich ertappte ich mich, als Weihnachten näher rückte, dabei, dass ich mich auf das Fest freute. Daniel würde aus Washington nach Hause zurückkehren, dann würde er Bridie nach Westchester heraufbringen, und sich uns anschließen. Ich stellte mir vor, wie wir in den nahegelegenen Wäldern einen großen Baum schlagen würden. Mrs. Sullivan wäre nicht in der Lage zu backen, aber sie könnte mir ihre Lieblingsrezepte beibringen. Und Liam war jetzt zwei Jahre alt und groß genug, um beim Schmücken des Hauses zu helfen. Tatsächlich waren wir bereits im Wald gewesen und hatten Pinienzapfen und Stechpalme gesammelt.
Dann, zwei Wochen vor den Feiertagen, erhielt Mrs. Sullivan einen Brief. Ihr Gesicht erhellte sich, als sie sah, von wem er war.
„Ach nein, es ist Florence Lind“, sagte sie und blickte zu mir herauf. „Wir waren in der Kindheit Busenfreundinnen. Wir sind seitdem in Kontakt geblieben, obwohl unsere Leben so unterschiedliche Wege genommen haben. Sie war ein eigensinniges junges Mädchen und wurde zu einer starken Frau. Sie hat nie geheiratet, aber sie wurde eine führende Stimme in der Suffragetten-Bewegung. Nicht dass ich das gutheißen würde, wohlgemerkt. Ich habe immer geglaubt, dass der Platz einer Frau zu Hause ist, und dass es an den Männern ist, das Land zu führen. Aber Florence brannte dafür. Bis ihre Lieblingsschwester tragisch ums Leben kam und zwei junge Töchter hinterließ. Florence hat sich augenblicklich von ihrer Sache abgewandt, um die Kinder ihrer Schwester großzuziehen.“
Sie hielt inne und ich konnte sehen, wie sie den Brief las. „Oh, wie nett“, rief sie. „Das ist aufmerksam von ihr.“
Sie hob wieder den Blick. „Es scheint, als sei es ihr in jüngerer Vergangenheit ebenfalls nicht gut ergangen, und sie hat eine ihrer Nichten aufgesucht, um bei ihr zu leben. Nicht weit von hier, wie es sich ergibt. Scarborough. Kennen Sie das? Es liegt am Hudson. Es gibt einige hübsche Anwesen in der Gegend.“ Sie nickte zufrieden. „Das Haus heißt anscheinend Greenbriars. Florence sagt, es sei überaus gemütlich. Ich erinnere mich, dass sie mir erzählte, dass ihre Nichte eine gute Partie gemacht hat. Cedric van Aiken, aus einer der alten holländischen Familien, wissen Sie? Wie auch immer, Florence ist jetzt bei ihnen eingezogen und schreibt Folgendes:
Ich habe von gemeinsamen Freunden erfahren, dass du ziemlich krank gewesen bist, liebe Mary. Meine süße Nichte Winnie hat mir gesagt, ich solle mich in ihrem Haus wie zu Hause fühlen und alle Freundinnen einladen, die ich möchte, also dachte ich mir, dich zu Weihnachten nach Greenbriars einzuladen. Es würde dir richtig guttun. Große, prasselnde Feuer, gutes Essen und wir zwei alte Damen können nach Herzenslust plaudern. Es wird sein wie in alten Zeiten, oder nicht? Bitte sag, dass du kommst. Und wenn ich es so offen sagen muss: Es wäre auch für mich eine Wohltat. Ich fühle mich immer noch ein wenig wie ein Fisch auf dem Trockenen, weit weg von meinem alten Leben, und würde eine alte Freundin herzlich willkommen heißen. Ich lasse dir eine Kutsche schicken, wann immer du zu kommen wünschst.
Deine liebe Freundin Florence.
Sie hatte ein aufgeregtes Lächeln im Gesicht, als sie den Brief zusammenfaltete. „Ist das nicht eine Überraschung? In meinem Alter zu einer eleganten Hausparty eingeladen zu werden. Ich frage mich, ob ich etwas Passendes anzuziehen habe. Und Sie werden in der Lage sein, in Ihr kleines Haus in der Stadt zurückzukehren. Ich weiß, dass Sie nur planten, Weihnachten hier zu verbringen, um eine alte Dame bei Laune zu halten, und jetzt können Sie mit Ihren Freundinnen zusammen sein und ein weiteres Mal fröhliche Feiertage verleben.“
„Wird es Ihnen gut genug gehen, um zu fahren?“, fragte ich. „Sie sind immer noch recht schwach, müssen Sie wissen.“
„Ich werde Ivy mitnehmen, um mir zu helfen“, sagte sie. „Du wirst dich gut um mich kümmern, nicht wahr, meine Liebe?“ Sie streckte eine Hand aus und tätschelte die Hand des jungen Mädchens, das gerade mit einer Tasse Kamillentee für ihre Herrin ins Zimmer gekommen war. Sie war ein dünnes, kleines Ding mit großen, dunklen Augen. Sie sah jünger aus, als sie war; sie musste um die dreizehn Jahre alt sein. Irgendwie verkörperte sie das Wort Straßenkind.
„Ja, Ma’am. Natürlich.“ Die Stimme des Mädchens war kaum mehr als ein Flüstern, und sie lächelte schüchtern.
„Sie macht sich gut, finden Sie nicht?“, fragte Daniels Mutter, als Ivy wieder das Zimmer verließ. Sie hatte Ivy kürzlich aus einem Waisenhaus in New York City zu sich geholt und das Mädchen wurde von Martha in allen Haushaltsdingen unterrichtet. Nach dem zu urteilen, was ich gesehen hatte, erwies sie sich als schnelle und begierige Lernerin. Aber da meine Schwiegermutter zuvor schon Bridie aufgenommen hatte, um sie für eine ähnliche häusliche Position auszubilden, nur um sie dann so liebzugewinnen, dass Bridie nie zu einem Dienstmädchen wurde, fragte ich mich, ob Ivy eine ähnliche Zukunft bevorstand.
„Und was werde ich in Greenbriars schon tun müssen, außer herumzusitzen und mich bedienen zu lassen?“, fuhr Daniels Mutter fort und lächelte immer noch. „Und es wird sehr erfrischend sein, die liebe Florence zu sehen.“
Ich konnte schwerlich sagen, dass ich mich ziemlich darauf gefreut hatte, Weihnachten bei ihr auf dem Land zu verbringen. Jetzt wäre ich wieder in meinem Haus im Patchin Place in Greenwich Village, meine Nachbarinnen würden lebhafte Partys feiern und uns mit Geschenken überhäufen, und ich würde mir Mühe geben, um so auszusehen, als amüsierte ich mich.
Ich half meiner Schwiegermutter bei der Auswahl der Kleider, die für eine große Hausparty angemessen waren. Wir diskutierten, welche Art Geschenke sie für ihre Freundin und deren Nichte kaufen sollte.
„Ich glaube nicht, dass man von mir erwarten kann, Geschenke für den Ehemann und seine Familie mitzubringen, oder?“, fragte sie. „Immerhin bin ich ihm nie begegnet und ich kenne seinen Geschmack nicht.“
„Eine Schachtel Pralinen für die Familie oder kandierte Früchte sind immer akzeptabel“, schlug ich vor.
Sie nickte. „Gute Idee. Das zeigt guten Willen, oder nicht? Aber ich muss sorgfältig darüber nachdenken, was ich der lieben Florence schenke. Sie ist nicht die Sorte Frau, die sich über einen Froufrou freut. Ein Buch oder ein Tagebuch, vielleicht.“
Am Ende schickte sie mich nach White Plains, wo ich mich für ein in Leder gebundenes Tagebuch für ihre Freundin Florence Lind entschied, sowie für französische Seife für die Nichte. „Wer mag französische Seife nicht?“, wie Mrs. Sullivan es ausgedrückt hatte.
Am verabredeten Tag erschien die Kutsche – ein gewaltig aussehendes Ding mit perfekt zueinander passenden Grauschimmeln und einem Kutscher in schwarzgoldener Livree. Der Kutscher half der alten Dame auf ihren Platz, dann half Ivy mit dem Gepäck, ehe sie hineinkletterte und sich neben Mrs. Sullivan setzte.
„Habt ein wundervolles Weihnachtsfest, meine Lieben“, rief uns Daniels Mutter zu. Sie warf Liam eine Kusshand zu, der daran gehindert werden musste, sich ihnen anzuschließen. Er liebte alles, was auf Rädern fuhr, genau wie sein Daddy. Wir winkten ihnen zu, als sie abfuhren, dann packten wir unsere Sachen und fuhren in einem viel weniger glanzvollen Wagen, der von Josh gelenkt wurde, dem Mann für alles, zum Bahnhof. In der Nacht zuvor hatte es ein wenig geschneit, das erste Mal in diesem Winter. Der Schnee ließ die Bäume und Zäune recht festlich wirken, wie sie so in der Sonne glitzerten. Als der Zug sich der Stadt näherte, schwor ich mir, dafür zu sorgen, dass meine Familie schöne Feiertage haben würde, und dass ich mich zwingen würde, mich aus meiner düsteren Stimmung zu befreien. Ich freute mich darauf, meine Freundinnen wiederzusehen und meine liebe Bridie, ganz zu schweigen von meinem Ehemann, den ich zuletzt bei einem kurzen Besuch vor über einem Monat gesehen hatte. Wir wären wieder vereint, für schöne Weihnachten. Alles würde gut werden.
Zwei
Ich gestehe, dass mein Herz recht schnell schlug, als mir am Eingang zum Patchin Place aus dem Hansom-Taxi geholfen wurde. Meine kleine Seitenstraße war im Vergleich zur Hektik und dem Tumult der Greenwich Avenue und des Jefferson Market auf der anderen Seite ein verschlafenes Nest der Ruhe. Sie war kaum breiter als eine Gasse, aber recht charmant mit einer Reihe warmer Backsteinhäuser auf jeder Seite, Lorbeerbäumen, die in Töpfen vor den Eingangstüren wuchsen, und Kopfsteinen unter den Füßen. Droschken versuchten nie, den ganzen Weg zu meiner Haustür zu fahren, da die Straße zu schmal war, um ein Fahrzeug zu wenden, und Pferde ungern rückwärtsliefen.
„Sie kommen den Rest des Wegs zurecht?“, fragte der Kutscher, als er meine Tasche herunterhob.
„Oh ja, machen Sie sich keine Sorgen. Meine Freundinnen werden mir helfen, das Gepäck hineinzubringen“, sagte ich. In Wahrheit hatte ich nur einen großen Handkoffer und meine Reisetasche, da ich erstens nicht viele Kleider besaß und zweitens nur das Allernotwendigste zu meiner Schwiegermutter mitgenommen hatte.
Liam stand da, blickte sich um und versuchte zu bestimmen, wo er war. Ein Monat ist eine lange Zeit im Leben eines Zweijährigen. Dann machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. „Bwidie!“, rief er und blickte zu mir herauf. „Zu Bwidie.“
„Ja, Liebling. Wir gehen Bridie besuchen“, sagte ich. „Aber sie wird erst in einer Weile aus der Schule kommen. Sollen wir stattdessen Tante Gus und Tante Sid besuchen gehen?“
„A-Gus. A-Sid“, stimmte er zu und begann, über das Kopfsteinpflaster zum hinteren Ende des Patchin Place zu wanken. Mein Haus stand gegenüber dem meiner lieben Freundinnen Augusta Walcott und Elena Goldfarb, besser bekannt als Gus und Sid – Namen, die den Gepflogenheiten ihrer Erziehung vollumfänglich die Stirn boten, um sich einer Lebensweise zu widmen, die ebenfalls den Gepflogenheiten die Stirn bot. Sie spielten nach ihren eigenen Regeln, und wie sie das taten; sie machten sich nach Paris auf, um Kunst zu studieren, oder verwandelten ihr Wohnzimmer in eine mongolische Jurte. Man wusste nie, was man vorfinden würde, wenn sich ihre Eingangstür öffnete. Daraus bestand die Hälfte der Freude. Die andere Hälfte war, dass sie die gütigsten und großzügigsten Frauen waren, die ich kannte. Ich liebte sie wie die Schwestern, die ich nie gehabt hatte.
Ich ließ den großen Koffer stehen und eilte Liam hinterher, für den Fall, dass er auf den unebenen und rutschigen Kopfsteinen stolperte. Ich nahm seine Hand und wir gingen zu Sids und Gus’ Tür hinauf. Liam blickte mich aufgeregt und vorfreudig an. Ich nickte und betätigte ihren Türklopfer. Wir hörten innen Schritte auf der Treppe, dann wurde die Tür von Gus geöffnet. Sie hatte die Arme voller Kleider.
„Molly?“, rief sie. Sie klang erfreut, aber überrascht. „Was tust du hier? Stimmt etwas nicht?“
„Ganz und gar nicht. Die Pläne für Weihnachten haben sich geändert. Daniels Mutter wurde zu einer protzigen Hausparty eingeladen, also sind wir nach Hause gekommen. Hier, lass mich dir das abnehmen“, fügte ich hinzu, als die Spitze des Kleiderhaufens zu wanken begann. „Habt ihr Wäsche gewaschen oder sortiert ihr eure Sachen aus, um sie den Armen zu spenden?“
„Weder noch“, sagte sie. „Wir sind gerade dabei zu packen. Komm rein. Komm rein. Pass aber auf, wo du hintrittst. Der Flur ist ziemlich vollgestellt, fürchte ich.“
Dann fiel mir auf, dass im Eingangsbereich etliche Truhen und Koffer aufgestapelt waren. „Ihr verreist?“, fragte ich Gus, während sie den Haufen auf einem halb gepackten Schiffskoffer ablegte, Liam in die Arme hob und ihn ins vordere Wohnzimmer trug.
Sie nickte und wandte sich zu mir um. „Wir haben von einer alten Vassar-Freundin eine Einladung erhalten. Eine Gruppe ehemaliger Kommilitoninnen trifft sich in einem Haus am Hudson, nicht allzu weit von unserer lieben Alma Mater entfernt. Und wir dachten, du seist über Weihnachten fort, also gab es nichts, was uns hier hielt.“
„Oh, ich verstehe“, sagte ich ausdruckslos. Ich blickte die Gasse hinunter, wo mein Gepäck unbeaufsichtigt herumstand. „Ich gehe lieber und hole meinen Koffer, ehe irgendein Straßenkind glaubt, Weihnachten sei dieses Jahr früher gekommen.“
„Ich werde dir helfen.“ Sie setzte Liam ab. „Bleib hier wie ein braver Junge, während Tante Gus deiner Mami hilft, das Gepäck zu holen, und dann suchen wir dir etwas zu essen, in Ordnung?“
Liam nickte. Wir liefen den Patchin Place entlang, dann trugen wir den schweren Koffer gemeinsam, ohne ein Wort zu sagen. In Wahrheit fiel mir nichts ein, was ich hätte sagen können, ohne meine Enttäuschung darüber zu verraten, dass sie nicht hier sein würden, während ich ihre Unterstützung brauchte. Und ich vermutete, dass sich auch Gus deswegen unwohl fühlte.
Liam wartete an ihrer Eingangstür und beobachtete uns mit ängstlichem Blick. Gus hob ihn hoch und trug ihn ins vordere Wohnzimmer, wo im Kamin ein großes Feuer brannte. Sie bedeutete mir, mich zu setzen, und ließ sich mir gegenüber auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne nieder, während Liam sich auf ihrem Schoß wand. „Ich schätze, du willst runter, junger Mann“, sagte sie. „Meine Güte, wie groß du geworden bist. Dann ab mit dir. Geh und erkunde.“ Liam brauchte keine weitere Ermutigung. Er ging bereits auf den ausgestopften Vogel unter Glas zu, seinen Liebling.
„Also, wann brecht ihr auf?“, fragte ich und gab mir Mühe, meine Stimme unbeschwert klingen zu lassen.
Gus spielte mit dem Stoff ihres Rocks. „Wir hatten geplant, aufzubrechen, sobald Bridies Schulhalbjahr vorüber und Captain Sullivan wieder zu Hause ist, um sie ins Haus seiner Mutter zu bringen.“ Ich konnte in ihrem Gesicht sehen, wie verlegen sie war, während sie die Worte sagte. „Es tut mir so leid, Molly. Wenn wir nur Bescheid gewusst hätten, hätten wir die Einladung nie angenommen.“
„Sei nicht albern.“ Ich bekam ein breites Lächeln zustande. „Es ist ausgeschlossen, dass ihr eine solche Einladung ausgeschlagen hättet, selbst wenn ihr gewusst hättet, dass wir zu Hause sein würden. Geht und habt eine wundervolle Zeit. Es wird gut sein, Daniel eine Weile um mich zu haben, und ich brenne darauf, zu erfahren, was Bridie gelernt hat.“
Ich sah, wie Gus’ Gesicht besorgt zuckte.
„Es geht ihr gut, oder nicht?“
„Bridie? Oh, ja. So gut wie nie.“ Jetzt war sie an der Reihe, ein falsches, breites Lächeln aufzusetzen. „Sie macht sich in der Schule sehr gut. Der Lehrer sagt, sie sei Klassenbeste und wir haben bereits versprochen, mit unseren ehemaligen Professorinnen am Vassar zu sprechen, wenn die Zeit kommt …“ Sie verstummte mitten im Satz.
„Wer war das, Gus?“, erklang Sids klare Stimme von der Treppe, Sid persönlich erschien und sah ausnahmsweise einmal erstaunlich konventionell und dezent gekleidet aus. Sids gewöhnlicher Aufzug reichte von Hausjacken für Männer bis zu chinesischen Brokathosen. Heute trug sie einen dunklen Rock und eine weiße Hemdbluse – der normale Aufzug der meisten New Yorkerinnen. Sie erblickte uns und sprang die letzten paar Stufen hinunter. „Nein, sowas. Es sind Molly und Liam, die zu uns nach Hause gekommen sind. Wir haben nicht erwartet, euch vor Weihnachten noch zu sehen! Wir haben unsere Geschenke alle in einem dieser Koffer, bereits schön verpackt. Wir wollten dich im Haus von Mrs. Sullivan überraschen. Wir werden nicht weit davon entfernt wohnen.“ Sie hielt mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht inne. „Du meine Güte. Es sind doch keine schlechten Neuigkeiten, oder? Geht es Daniels Mutter gut?“
„Sie erholt sich gut, danke. So gut, dass sie über die Feiertage eine Einladung zu einer Hausparty angenommen hat. Offenbar eine Freundin aus ihrer Kindheit. Sie ist mit einer sehr schicken Kutsche weggefahren, während Liam und ich zusammen mit dem Kohl auf dem Ackerwagen fuhren.“ Ich versuchte mich an einem sorglosen Lachen, aber meine Freundinnen durchschauten mich.
„Und jetzt wirst du zu Weihnachten allein zu Hause sein?“, fragte Sid.
„Nicht alleine. Umgeben von meiner Familie.“
„Wir könnten unsere Verabredung immer noch absagen.“ Sid warf Gus einen Blick zu.
„Sei nicht albern“, sagte ich. „Natürlich müsst ihr fahren. Es ist doch klar, dass ihr eure alten Kommilitoninnen wiedersehen wollt. Wir werden zurechtkommen. Vielleicht laden wir Gäste ein. Zum Beispiel Miss van Woekem. Sie liebt es, Liam zu sehen. Und die arme Miss Endicott. Und zu Silvester sind wir alle wieder zusammen in New York.“
„Ja. Zu Silvester wieder zusammen in New York“, sagte Sid und wieder tauschen sie und Gus einen Blick.
„Bridie sollte bald aus der Schule kommen“, sagte Sid. „Sie hat sich sehr gut gemacht. Du wirst stolz auf sie sein. Und sie ist gewachsen. Wir haben sie so gern, tatsächlich wird es traurig sein, sie zu verlieren …“
„Warum solltet ihr sie verlieren?“, fragte ich. „Sie ist gleich auf der anderen Straßenseite. Sie kann euch besuchen, wann immer sie will.“
„Ich habe eine unpassende Bemerkung gemacht“, sagte Sid eilig.
Ich blickte von einem Gesicht ins andere. „Was ist los?“, fragte ich. „Stimmt mit Bridie etwas nicht? Sie ist doch nicht krank, oder?“
„Nein, es geht ihr hervorragend“, sagte Gus, ohne ihren Blick von Sids Gesicht abzuwenden. „Es ist nur so, dass … Sie hat Neuigkeiten. Wir sollten es ihr nicht verderben. Sie will es dir persönlich erzählen.“
„Gute Neuigkeiten?“
Es erstand eine Pause. „Ja, ich schätze, man könnte sagen, dass es gute Neuigkeiten sind“, sagte Gus. „Nur für uns nicht.“
„Dann sagt es mir, um Gottes willen“, platze ich heraus. „Spannt mich nicht auf die Folter. Wenn es schlechte Nachrichten sind, würde ich sie lieber gleich erfahren. Tatsächlich würde ich sie gerne im Vorhinein hören, anstatt sie aus Bridies Mund zu erfahren.“
„Es ist ihr Vater“, sagte Gus langsam.
„Ist er tot?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Offenbar hat er unten in New Orleans gutes Geld verdient und ist jetzt auf dem Weg zurück nach New York. Er ist gekommen, um Bridie zurückzufordern und sie nach Hause zu bringen, zurück nach Irland.“