Leseprobe Mord im Schottenrock

1

Langsam ließ Mina den Brief in ihrer Hand sinken, nachdem sie ihn schon wieder durchgelesen und eine halbe Ewigkeit lang angestarrt hatte. Diese Prozedur hatte sie in den vergangenen Tagen so oft wiederholt, dass das Papier vom Falten ganz zerknittert war.

Dabei handelte es sich um das Schreiben eines Notars aus Schottland. Als sie ihn erhalten hatte, glaubte sie zunächst, dass ein Fehler vorlag. Doch nach einem kurzen Telefonat mit ihrer Großmutter erfuhr sie, dass der Brief offenbar seine Richtigkeit hatte. Auch wenn diese alles andere als begeistert davon war.

Jedenfalls war Mina nun auf dem Weg nach Schottland. Genauer gesagt in das kleine Dorf Green Hill, um an der Testamentsverlesung ihrer Großtante Poppy teilzunehmen, von der Mina eine Woche zuvor zum ersten Mal gehört hatte. Ihre Großmutter war bei der Erwähnung von Poppys Namen beinahe wie ein Knallfrosch in die Luft gegangen. Irgendetwas schien zwischen den beiden Frauen vorgefallen zu sein, doch Minas Großmutter hatte sich strikt geweigert, auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren.

Es war ein seltsames Gefühl, London und ihr kleines Studentenzimmer, wenn auch nur für wenige Tage, hinter sich zu lassen, um nach Schottland zu fahren. Durch Zufall fiel die Verlesung des Testaments in ihre Semesterferien, weswegen sie beschlossen hatte, die Reise anzutreten. Auch wenn sie sich unsicher war, warum ihre Großtante Poppy laut dem Notar schriftlich ausdrücklich darauf bestanden hatte, dass Mina persönlich kam. Vor allem, nachdem ihre sonst so lebenslustige, etwas verrückte Großmutter so heftig reagiert hatte - die gerade wohlgemerkt Cocktail schlürfend auf einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer herumschipperte. Doch den Grund für die Einladung des Notars würde sie früh genug erfahren.

Die Anreise nach Green Hill gestaltete sich deutlich schwieriger, als Mina angenommen hatte. Das lag vor allem daran, dass die Zugverbindung vom Flughafen in Edinburgh in das kleine Dörfchen quasi nicht vorhanden war. Lediglich zu einem Bahnhof in der Nähe, von dem aus sie nach mehreren Fehlschlägen und der Nutzung zwei verschiedener Buslinien es tatsächlich geschafft hatte und nun vor dem B&B zum Stehen kam, das ihr Zuhause für die nächsten zwei Tage war.

Sie schaffte es gerade einmal, die Fußmatte zu betreten und einen Blick auf den Willkommensspruch an der Tür zu werfen, der ihr in großen, grellen Lettern förmlich entgegensprang, als diese schon aufgerissen wurde. Mina setzte vor Schreck einen Schritt zurück und stolperte dabei fast über ihren Koffer.

»Hallo aber auch!«, rief ihr die Frau in der Tür entgegen. Sie trug eine dunkelgrüne Gartenhose mit Trägern, ähnlich einer Latzhose, verschmutzte, neonpinke Gummistiefel und gelbe Arbeitshandschuhe. Auf ihrer großen Nase saß eine noch größere rote Brille mit offenbar so starken Gläsern, dass ihre Augen dadurch aussahen, als würden sie gleich aus ihren Höhlen springen. Mina schätzte sie auf etwa Anfang sechzig. »Du musst Mina Abbott sein. Die Studentin aus London, die wegen Poppys Testamentsvorlesung hier ist, richtig? Das ist wirklich eine Sache. Poppy war ja eine so aufgeweckte, fitte Frau. Sie war ja kaum vier Jahre älter als ich. Ich jedenfalls hätte nicht gedacht, dass sie so früh sterben wird. Obwohl mir inzwischen erzählt wurde, dass da gesundheitlich doch nicht so alles im grünen Bereich war. Wie auch immer. Am Ende danken wir sowieso alle ab, nicht wahr?«

Mina blinzelte mehrere Male. Ihr Mund klappte auf und wieder zu, aber ihr wollte kein einziges Wort über die Lippen kommen. Zu baff war sie über diesen Redefluss und die unverblümte Art der Frau. »Ja, ich … ähm … bin Mina«, brachte sie schließlich hervor.

»Freut mich, ich bin Ellison. Mir gehört das B&B.« Sie machte eine ausladende Geste, bevor sie Mina ihre Hand entgegenstreckte. Diese zögerte, den Händedruck entgegenzunehmen, woraufhin Ellisons Blick von der jungen Studentin zu ihrer eigenen Hand wanderte. »Oh pardon.« Rasch zog sie den verdreckten Gartenhandschuh aus und streckte Mina abermals die Hand entgegen, die sie dieses Mal entgegennahm.

»Freut mich auch.«

»Dann komm mal rein in die gute Stube. Ich führe dich rum und zeige dir dein Zimmer.« Ellison drehte sich schwungvoll um, wodurch sich Dreckklumpen von ihren Gummistiefeln lösten, und trat in das Häuschen. »Hier ist das Empfangszimmer, wenn du so willst.« Sie schmunzelte über ihren eigenen Scherz, denn das »Empfangszimmer« war bestenfalls ein etwas zu groß geratener Flur, der gerade einmal Platz für einen kleinen Tresen mit Stuhl und ein bis zwei Gästen mit Gepäck bot.

Mina folgte Ellison rechts den Flur entlang, von dem mehrere Türen abgingen. Hinter der ersten Tür lag die kleine Küche, in der die B&B-Besitzerin morgens das Frühstück für ihre Gäste zubereitete und direkt daneben ein Raum, in dem dieses eingenommen werden konnte.

»Ich bin nicht so der Mensch für fixe Uhrzeiten, wie es in Hotels üblich ist«, gab Ellison mit einem breiten Grinsen zu. »Aber normalerweise ist ab halb acht das Frühstück fertig. Falls du morgens gerne Rühr- oder Spiegelei essen möchtest, sag mir gerne Bescheid. Das wird dann natürlich frisch gemacht.«

Mina nickte. »Das klingt gut, danke.« Ihre Stimme klang ein wenig hohl. Sie glaubte nicht, dass sie vor der Testamentsverlesung auch nur einen Bissen herunterbekommen würde.

Als hätte Ellison ihre Gedanken gelesen, blieb sie stehen und sah Mina mit etwas schräg gelegtem Kopf an. »Wegen eines Todesfalls kommen zu müssen, ist für den Appetit bestimmt nicht unbedingt zuträglich. Aber du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass es deutlich besser ist, nicht mit leerem Magen hinzugehen.« Ellison drehte sich um, wodurch es Mina erspart blieb, darauf zu antworten. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen.

»Das ist das Kaminzimmer.« Ellison öffnete die Tür zum letzten Raum neben der Holztreppe etwas zu schwungvoll, wodurch diese gegen die Wand krachte. Doch das schien sie nicht zu kümmern. »Jeder Gast ist herzlich dazu eingeladen, sich abends hier zurückzuziehen und ein Gläschen Scotch mit mir zu trinken. Oder auch zwei, wenn nötig.« Sie lachte leise und wandte sich wieder ab. »Aber jetzt zeige ich dir dein Zimmer. Du möchtest dich bestimmt ein wenig ausruhen nach der Anreise.«

»Sie haben ja keine Vorstellung«, rutschte es Mina heraus, als sie an die stundenlange Anreise im Flugzeug, dem Zug und letztendlich in den Bussen zurückdachte.

»Bitte nenn mich Ellison. Wenn ich gesiezt werde, fühle ich mich so alt, wie es auf meiner Geburtsurkunde steht. Und ich bin mir bis heute sicher, dass da ein Fehler vorliegt.«

Mina schmunzelte. Die B&B-Besitzerin hatte etwas Schrulliges an sich. Auch wenn Ellison sehr unverblümt daherredete und Mina damit zuerst abgeschreckt hatte, schien sie doch eine herzliche und humorvolle Frau zu sein.

Sie gingen zu der Holztreppe, die nach oben zu den Gästezimmern führte. Unter jedem von Minas Schritten ächzte das Holz – und sie auch, da sie für die zwei Tage in Schottland eindeutig zu viel Kram eingepackt hatte. Inzwischen hatte sie das mehrfach bereut, konnte nun aber nichts mehr daran ändern.

»Das hier ist dein Zimmer.« Ellison zog einen Schlüssel aus der Seitentasche ihrer Gartenhose, schloss die Tür auf und überreichte diesen dann Mina. »Fühl dich wie zu Hause. Falls dir irgendetwas fehlt, sag mir Bescheid. Du findest mich in den allermeisten Fällen im Garten.« Ellison deutete vielsagend an ihrer Kleidung herunter. »Und wenn du magst, kannst du mir heute Abend gerne Gesellschaft im Kaminzimmer leisten.«

»Danke für das Angebot, vielleicht komme ich darauf zurück.«

Ellison nickte lächelnd und verließ dann mit einem letzten Abschiedsgruß das Zimmer, worauf Mina sofort die Tür zustieß und sich auf das Bett fallen ließ. Ihr Kopf hatte kaum das Kissen berührt, als sie auch schon einschlief.

***

Ein lautes Rumpeln weckte sie auf. Durch die gelben Vorhänge drang nur schwaches Licht ins Zimmer, was Mina verriet, das einige Stunden seit ihrer Ankunft vergangen sein mussten. Sie setzte sich auf und lauschte.

Sie erkannte eine männliche Stimme im Flur. Vermutlich war trotz der späten Stunde ein weiterer Gast angekommen und bezog das Zimmer neben ihrem. Wieder war ein lautes Geräusch zu hören. Doch dieses Mal handelte es sich um kein Poltern, sondern um Minas Magen, der lautstark nach etwas Essbarem verlangte.

Mit einem Seufzen auf den Lippen schob sie die Decke zurück und stand auf, um hinunterzugehen. Vielleicht konnte sie Ellison Toast und etwas Käse abschwatzen, um zumindest eine Kleinigkeit in den Bauch zu kriegen.

Mina fand sie, ein Buch lesend, im Kaminzimmer. Das Feuer prasselte und verbreitete eine angenehme Wärme im Raum. Links neben dem Kamin war ein großes Regal aus dunklem Holz, in dem sich die verschiedensten Bücher befanden. Von Fachbüchern zur Gartenpflege bis hin zu Romanen war alles vertreten. Als sie nähertrat, drehte Ellison sich mit einem Lächeln zu ihr um.

»Ah, sie ist doch noch unter den Lebenden«, witzelte sie. »Du hast bestimmt Hunger. Lass uns in der Küche mal nachsehen, was der Kühlschrank so hergibt.« Bevor Mina irgendetwas erwidern konnte, hatte Ellison ihr Buch mit »100 Tipps für den perfekten Garten« zur Seite gelegt und war aufgesprungen.

»Danke, das ist sehr lieb von dir«, sagte Mina, während sie versuchte, mit der älteren Frau mitzuhalten – und das war zugegeben gar nicht so einfach.

»Nichts zu danken. Es ist tatsächlich ein schwierigeres Unterfangen an diesem Ort an etwas Essbares zu kommen. Die Supermärkte sind im Nachbarort. Der Dorfladen hat bereits geschlossen und es gibt in Green Hill nur ein einziges Restaurant und unter uns gesagt, ist das Wenigste von der Karte genießbar. Da ist London etwas völlig anderes.« Ellison trat an den Kühlschrank und warf einen prüfenden Blick hinein. »Was hältst du von Spaghetti mit Tomatensoße? Damit kann man wohl nicht allzu viel falsch machen.«

»Mach dir bitte keine Umstände. Mir würde ein Käsetoast reichen.«

Schwungvoll drehte Ellison sich zu Mina um und sah sie mit großen Augen an – und das musste etwas heißen, da diese durch ihre Brillengläser ohnehin denen eines Koboldmakis Konkurrenz machten. »Papperlapapp, das kommt nicht infrage. Du warst den ganzen Tag unterwegs und brauchst jetzt etwas Richtiges.«

Minas Wangen wurden heiß, doch sie brachte ein Lächeln zustande. »Spaghetti mit Tomatensoße klingt wunderbar, vielen lieben Dank.«

Ellison war wirklich freundlich und schien dieses B&B mit vollem Herzblut zu führen. Zumindest war Mina noch in keinem anderen Hotel oder Gasthaus gewesen, in dem sie so umsorgt worden war. Aber das gehörte scheinbar zu Ellisons Art. Sie war ihren Gästen nahe und ihr schien es ein Anliegen, dass alle rundum glücklich und zufrieden waren.

Vor sich hin lächelnd, ließ sie die Spaghetti aus der Verpackung in das kochende Wasser rutschen. Nebenbei bereitete sie die Soße vor. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich ein wunderbarer Duft in der Küche ausbreitete und Minas Magen einen Hüpfer vor Freude machte.

Ellison befüllte zwei große Teller und nickte in Richtung der Tür. »Komm, wir essen im Kaminzimmer. Da ist es gemütlicher.«

Sie stellten die Teller auf dem Tischchen ab und ließen sich auf die roten Samtsessel vor dem Feuer sinken. Mina bedankte sich abermals bei Ellison für das Abendessen, die jedoch nur abwinkte. »Das mache ich gerne. Und wie gesagt, nach dieser langen Anreise brauchst du etwas Ordentliches im Bauch.« Sie seufzte. »Auch in Hinblick auf morgen. Ein solches Ereignis ist nicht einfach«, sagte sie und lenkte so das Gespräch abermals auf die Testamentsverlesung.

Mina hatte damit nicht gerechnet und schluckte hastig herunter. Zu hastig. Sie verschluckte sich prompt an einer Nudel und verfiel in einen Hustenanfall, der sie ordentlich durchschüttelte. Mit knallrotem Gesicht griff sie nach dem Wasserglas, das Ellison ihr geistesgegenwärtig entgegenhielt und trank mehrere tiefe Schlucke.

»Danke«, brachte sie mit rauer Stimme hervor.

»Poppy war wirklich eine eigentümliche Person«, setzte Ellison das Thema nahtlos fort. Dabei betrachtete sie Mina mit wachem Blick. Als würde sie auf eine weitere Reaktion warten.

»Du kanntest Poppy also?«

Ellison lachte auf, wodurch sich die Falten um ihre Augen und Mundwinkel herum verstärkten. »Oh Kindchen, Green Hill ist ein Dorf. Wenn es noch eine Unterkategorie des Begriffes Dorf gäbe, wäre dieses Örtchen vermutlich ganz unten auf der Liste. Hier kennt jeder jeden und nichts bleibt für länger ein Geheimnis. Die Leute sind verflucht neugierig, da hier nicht allzu viel passiert.«

»Ich habe vergangene Woche, als ich den Brief des Notars bekommen habe, zum ersten Mal von ihr gehört«, gab Mina zu und rutschte dabei auf dem Sessel herum. Es war ihr unangenehm, von ihrer Großtante zu ihren Lebzeiten noch nicht einmal gewusst zu haben. Auch wenn es laut ihrer Großmutter dafür scheinbar einen triftigen Grund gab, den sie ihr aber nicht erzählen wollte.

Ellison nickte verständnisvoll. »Das muss eine …« Sie suchte nach dem richtigen Wort und zuckte schließlich mit den Schultern, als würde sie sich damit geschlagen geben, dass ihr kein Besseres einfiel. »… Überraschung gewesen sein.«

»Das kann man so sagen. Aber wenn du sie kanntest«, setzte Mina an, »kannst du mir dann etwas über sie erzählen?« Ellisons Augenbrauen schossen in die Höhe, worauf Mina schnell wieder zurückruderte. »Ich meine, nur als Vorbereitung für morgen. Damit ich weiß, wer sie war und … womit ich es zu tun bekomme.«

Ellisons Blick wurde weicher. Sie nickte verständnisvoll und stellte ihren inzwischen leeren Teller auf dem Tischchen ab. »Dafür brauch ich erst mal einen Scotch. Auch einen?«

»Gerne«, erwiderte Mina. Vielleicht beruhigte das ihre Nerven ein wenig. Denn je näher die Testamentsverlesung rückte, desto angespannter wurde sie.

Die ältere Dame stand auf und füllte zwei Gläser mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Eines davon reichte sie Mina und aus dem Zweiten trank sie sofort einen großen Schluck. »Wie gesagt, Poppy war wirklich eine eigentümliche Frau. Sie war immer sehr … breitgefächert interessiert. Sie hat sich wie ich für die Gartenarbeit begeistert und an demselben Wettbewerb teilgenommen. Und, wie ich zu meinem Leidwesen gestehen muss, Jahr für Jahr gewonnen.« Ellison rollte mit den Augen, doch ihre Lippen umspielte ein kleines Lächeln, als müsste sie ihrer Konkurrentin dafür immer noch Respekt zollen. »Aber was wir alle nie verstanden haben, ist, dass sie sich für diese seltsamen Supermänner interessiert hat.«

Mina blinzelte mehrmals. »Supermänner?«, wiederholte sie und richtete sich dabei in ihrem Sessel auf.

»Ach, du weißt schon. Diese seltsamen Männer in ihren noch seltsameren, engen Anzügen, die mich persönlich ja an die Strumpfhosen im Ballett erinnern.« Ellison wedelte mit der freien Hand herum und nahm dann einen weiteren Schluck Scotch. »Deshalb hat sie ihren dicken roten Kater auch Mr. Marvel genannt.«

Mina konnte nicht anders, als bei dem Katzennamen laut aufzulachen. »Poppy muss wirklich eine Persönlichkeit gewesen sein. Aber ihre Liebe zu Comicfiguren teile ich leider nicht. Damit konnte ich nie etwas anfangen.«

»Darauf stoßen wir an«, erwiderte Ellison und erhob ihr Glas.

Mina stieß mit ihrem dagegen, wodurch ein leises Klirren den Raum erfüllte. Damit fiel der Startschuss für einen wirklich gemütlichen Abend, mit teils lustigen, teils skurrilen Geschichten über Poppy, die übrigen Bewohner Green Hills – und etwas zu viel Scotch. Die Aufregung vor der Testamentsverlesung jedenfalls floss wie ein Rinnsal stetig aus Minas Körper, bis sie gar nicht mehr daran dachte.

Zumindest nicht, bis ihr Wecker sie am nächsten Morgen unsanft aus dem Schlaf riss und Mina mit dem Aufschlagen der Augen wieder bewusst wurde, wofür sie eigentlich hier war. Die Nervosität kehrte mit einem Schlag zurück.

3

»Bleib doch bis morgen.« Das hatte Ellison am vorigen Nachmittag gesagt, als sie und Mina bei Tee und Scones zusammengesessen und über Poppys Testamentsverlesung philosophiert hatten.

Auf dem Weg in die Küche war Mina sogar einmal Freddie über den Weg gelaufen, der, wie sie nun wusste, ebenfalls im B&B übernachtete. Sie hatte versucht, mit ihm zu sprechen, doch er war nur mit einem knappen »Keine Zeit, wichtiger Anruf« an ihr vorbeigestürmt und auch an diesem Morgen hatte er ihren erneuten Gesprächsversuch mit einem einfachen Abwinken auf Eis gelegt. Es lag klar auf der Hand, dass ihr Großcousin nicht mit ihr sprechen wollte. Mina hatte Ellison davon berichtet, die darauf zumindest ein entschuldigendes Lächeln und ein paar tröstende Worte parat gehabt hatte.

Jedenfalls wusste Mina nicht, ob es an Ellisons Hartnäckigkeit oder dem Whisky lag, dass sie schließlich zugestimmt hatte, noch zu bleiben. Vielleicht hatte sie auch gespürt, wie wichtig das heutige Ereignis für Ellison war und dass sie sich ehrlich freute, wenn Mina blieb – und so kam es dazu, dass sie und Mr. Marvel nicht in den Zug gestiegen und stattdessen eine Nacht länger geblieben waren.

Nun wurden Mr. Marvel, der sich in dem kleinen Gasthaus bereits nach wenigen Stunden wie zu Hause fühlte, und Mina an diesem Tag Zeuge, wie Ellison den Preis für den schönsten Garten gewann. Zumindest betonte sie das immer wieder, als würde sie dadurch versuchen, es zu manifestieren.

»Heute wird es sich entscheiden. Ich habe ein Jahr lang darauf hingearbeitet und … Oh diese verflixten Handschuhe!«, unterbrach Ellison sich selbst. Sie zog die Gartenhandschuhe kurzerhand aus und warf sie einfach auf den Boden. Einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr werfend, schnaubte sie laut und machte sich an die Arbeit. »Die Richter werden in weniger als zwei Stunden hier sein.« Sie nahm mehrere kleine Steine in die Hand und verteilte sie wieder auf dem Beet.

Zwar verstand Mina den Zweck dahinter nicht, doch ihr war bewusst, dass das definitiv der falsche Zeitpunkt war, um Ellison darauf hinzuweisen. »Mach dir keine Sorgen. Dein Garten sieht wundervoll aus und das wird die Jury genauso sehen. Ich bin sicher, dass du gewinnen wirst.«

»Nachdem die letzten fünf Jahre immer Poppy den Preis abgeräumt hat und ich mich mit Platz zwei begnügen musste, wäre das jetzt zumindest im Bereich des Möglichen«, murmelte Ellison vor sich hin und schien erst einen Augenblick später zu bemerken, was sie gerade gesagt hatte. Erschrocken sah sie zu Mina auf. »Oh, tut mir leid, Mädchen. So habe ich das nicht gemeint. Poppy und ich waren zwar Konkurrentinnen, was unsere Gärten anging, und haben oft über den besten Dünger gestritten, aber ich mochte die verrückte Alte.«

Mina winkte ab. »Alles gut. Aber vielleicht sollten wir lieber reingehen und gemütlich einen Tee trinken, bevor es losgeht. Um deine Nerven zu beruhigen.«

»Eher ein Glas Whisky.« Ellison fuhr sich mit den dreckverkrusteten Fingern durch das graue Haar, wodurch etwas Erde darin hängen blieb.

»Und vielleicht eine Dusche. Die Jury ist zwar primär für deinen Garten da, aber Erde in den Haaren ist dann doch ein wenig zu gewagt.«

Ellison lachte auf und hakte sich bei Mina unter. »Damit könntest du richtig liegen.«

Die beiden gingen zurück in das B&B und während Ellison eine Dusche nahm, bereitete Mina in der Küche trotz Ellisons ausdrücklichem Wunsch nach einem Gläschen Whisky, einen Tee zu. Immerhin war es früher Mittag und die Jury sicherlich nicht begeistert, wenn sie nicht voll zurechnungsfähig war.

Anstatt in das Kaminzimmer setzten sie sich auf die nach vorn ausgerichtete kleine Veranda, um die Ankunft der Jury nicht zu verpassen. Ellisons Haar war noch ein wenig feucht, doch würde in der Sonne schnell trocknen. Mina fiel auf, dass ihre Hände stark gerötet waren, als Ellison nach der Teetasse griff, als hätte sie sie minutenlang geschrubbt, um den Dreck loszuwerden.

»Bist du aufgeregt wegen der Beurteilung?« Mina nahm einen großen Schluck Tee, der sich rasch in ihrem Körper ausbreitete und eine angenehme Wärme hinterließ.

Ellison lehnte sich nach vorn, worauf der alte Gartenstuhl einen protestierenden Laut von sich gab. »Aufgeregt ist das falsche Wort. Aber eine gewisse Grundanspannung und Nervosität sind auf jeden Fall vorhanden. Obwohl ich dieses Jahr gute Chancen habe, nachdem …« Sie warf Mina einen Blick über den Rand ihrer Tasse hinweg zu und unterbrach sich dann selbst. »Jedenfalls habe ich gute Chancen«, endete sie schließlich lahm.

Auch wenn Mina wusste, wie die B&B-Besitzerin ihren Satz hatte beenden wollen, ging sie nicht näher darauf ein. Zwar hatte Ellison Poppy als ihre Konkurrentin gesehen, doch wenn sie über die Verstorbene sprach, hörte man den Respekt und die Achtung in ihren Worten deutlich heraus.

»Ich bin mir sicher, dass du gewinnen wirst. Dein Garten ist einfach wundervoll.« Sie dachte sofort an die bunten Beete mit ihren perfekt angeordneten Steinen zur Abgrenzung hinter dem Haus. Den Rosensträuchern, die sich wie in einem Märchengarten um einen Bogen rankten, durch den man hindurchtreten konnte. Doch das Highlight war definitiv der Teich, den Ellison selbst angelegt hatte. Darin züchtete sie Koi und inzwischen blühende Seerosen bedeckten einen Teil der Wasseroberfläche. Es fehlte nur noch ein singender Frosch und Mina würde jedem Glauben schenken, der ihr erzählte, dass sie in einem Märchen gelandet war.

Etwas Weiches strich an Minas Bein entlang und sie bückte sich, um unter den Tisch zu sehen. Mr. Marvel schmiegte sich schnurrend an sie, worauf sie ihn hinter den Ohren kraulte. Sein Schnurren nahm an Lautstärke zu und er drückte sein Köpfchen fest gegen ihre Finger, um ihr klarzumachen, dass sie jetzt bloß nicht aufhören sollte. Der Kater hatte sich in den letzten Stunden schon gut an sie gewöhnt und in der vergangenen Nacht sogar am Fußende ihres Bettes geschlafen, während sie ihren True Crime Podcast gehört hatte, bis sie selbst eingenickt war. Seit sie eine Vorlesung in Kriminalpsychologie besucht hatte, ließ Mina das Thema nicht mehr los. Die Frage nach dem »Warum« Menschen Straftaten begingen und wie viel oftmals dahintersteckte, fand sie unheimlich spannend. Auch wenn solche Podcasts zum Einschlafen zugegeben vielleicht etwas kurios waren.

»Dieser Kater.« Ellison schüttelte den Kopf und ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. »Er war Poppys Ein und Alles. Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, dass er ihr überallhin gefolgt ist. Selbst in den Hofladen ist er ihr hinterhergelaufen. Wobei das auch daran liegen könnte, dass Christie, die Besitzerin des Ladens, ihm immer wieder kleine Stückchen Wurst oder Käse zuwirft, wenn sie ihn sieht.«

Mina lächelte ebenfalls. Auch wenn die gebückte Haltung ihr so langsam Rückenschmerzen verursachte, fuhr sie mit den Streicheleinheiten fort. »Ich kann mir vorstellen, dass das Kerlchen ein kleiner Katzanova ist. Diesen Kulleraugen zu widerstehen, ist praktisch unmöglich.«

»Ich bin immun«, erwiderte Ellison trocken. Dabei zog sie die Augenbrauen nach oben und verschränkte die Arme vor der Brust, um ihre Worte zu unterstreichen. Doch da Mina am vergangenen Abend einmal in einem unbemerkten Moment beobachtet hatte, wie Ellison Mr. Marvel gestreichelt und sogar Leckerchen zugesteckt hatte, glaubt sie der älteren Frau kein Wort.

Selbst Mr. Marvel schien davon nicht überzeugt. Er hielt mit einem Mal inne, blieb stocksteif und mit schief gelegtem Kopf stehen und sah mit großen Augen zu Ellison auf, als würde er ihr sagen wollen: Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Sie erwiderte den Blick des Katers und die beiden fochten ein Blickduell aus, von dem nicht einmal Mina sagen konnte, wer als Sieger hervorgehen würde.

Sie prustete bei dem Anblick los und beruhigte sich erst wieder, als drei Männer in Anzügen auf das Grundstück traten – und in dem Aufzug etwas fehl am Platz wirkten. Mr. Marvel erschrak sich aufgrund der lauten Stimmen und rannte, wie von der Tarantel gestochen, ins Innere des B&Bs. Doch einen Augenblick später schien ihm klar zu werden, dass er der Mann im Haus war und kam mit hocherhobenem Kopf zurück, um nachzusehen, ob es den beiden Frauen gutging.

Ellison stand bereits, während Mina es in diesen wenigen Sekunden noch nicht einmal geschafft hatte, ihre Tasse auf dem Tischchen abzustellen.

»Das müssen sie sein«, sagte Ellison und strich sich über die dunkelblaue Bluse, als würde sie versuchen, die letzten Falten darin loszuwerden.

Mina nickte und erhob sich ebenfalls. Sie folgte Ellison, um die Jury zu begrüßen. Selbst Mr. Marvel lief ihnen hinterher, wenn auch mit etwas Sicherheitsabstand. Für den Fall, dass sich dieses offenbar traumatisierende Erlebnis wiederholen sollte.

»Guten Tag Mrs. Paterson«, grüßte einer der drei Männer, als Ellison vor ihnen zum Stehen kam. Sie nahm nacheinander die ausgestreckten Hände entgegen und Mina fiel auf, wie sehr ihre dabei zitterte. Ellison war deutlich nervöser wegen des Wettbewerbs, als sie gegenüber Mina hatte zugeben wollen.

»Wenn die Herren mir bitte in den Garten folgen möchten. Den Ort des Geschehens quasi.« Ein viel zu lautes, schrilles Lachen verließ Ellisons Mund und brachte Minas Ohren zum Klingeln. Doch sie biss die Zähne zusammen, lächelte über den Witz und folgte der kleinen Gruppe um das Haus nach hinten in Richtung Garten.

Ellison schloss das Tor auf und als dieses einen Spalt offen stand, nutzte Mr. Marvel sofort die Chance, um an ihnen vorbei zu flitzen. Dabei rannte er einem der Männer vor die Füße, der ruckartig anhalten musste, um den Kater nicht zu erwischen, und dabei gefährlich ins Wanken geriet. Der zweite Herr hinter ihm wurde dadurch gezwungen, ebenfalls eine Vollbremsung hinzulegen, und krachte fast in den Vorderen. Doch Mr. Marvel schien es nicht zu kümmern, dass er beinahe eine Massenkarambolage veranstaltet hatte. Mit hocherhobenem Kopf trabte er um die Ecke und verschwand außer Sichtweite im Garten.

Mina schmunzelte bei dem Anblick. Der Kater war gerade einmal vierundzwanzig Stunden bei ihr und sie musste zugeben, dass sie ihn bereits jetzt ins Herz geschlossen hatte. Minas Mutter hatte recht: Tiere waren etwas Besonderes. Sie eroberten einen Menschen innerhalb kürzester Zeit im Sturm und bereicherten das Leben auf eine Art, wie es sonst nichts anderes konnte.

»Hier kommen wir in den Eingangsbereich, würde ich sagen«, riss Ellisons Stimme Mina aus ihren Gedanken.

»Nun, Mrs. Paterson. Wir sind nicht zum ersten Mal hier.« Einer der Richter machte Anstalten, sich an ihr vorbeizuschieben, um den Garten auf eigene Faust zu erkunden. Doch dabei hatte er die Rechnung ohne Ellison gemacht, die sich ihm in ungeahnter Geschwindigkeit in den Weg stellte.

»Mr. Moray, Sie verstehen sicherlich, dass ich Ihnen gerne die Highlights zeigen würde. Vor allem diejenigen, die sich seit Ihrem letzten Besuch hier verändert haben. Daher möchte ich die Führung so gestalten, dass Sie den Garten aus seiner besten Perspektive betrachten können.« Der Mann öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Ellison kam ihm zuvor. »Natürlich werden Sie alles zu sehen bekommen. Ich habe keine hässlichen Beete zu verstecken.«

Die Augenbrauen des Richters wanderten in die Höhe, doch schließlich nickte er nur. »Dann gehen Sie voraus, Mrs. Paterson.«

In einer stummen Prozession folgten die drei Jurymitglieder und Mina ihr durch den Garten. Unterbrochen wurde das Schweigen nur durch das leise Murmeln der Männer und Ellison, die ab und zu eine kurze Erklärung einwarf. Beispielsweise welchen Dünger sie verwendet hatte oder aus welchem Grund sie sich für eine bestimmte Bepflanzung und gegen eine andere entschieden hatte.

Inzwischen war eine gute halbe Stunde vergangen und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte des Gartens gesehen. Ellison blieb so oft stehen, um auf irgendwelche Besonderheiten hinzuweisen, dass sie kaum vorankamen. Mina musste ein Gähnen unterdrücken und sah sich nach Mr. Marvel um, als sie wieder einmal vor einem scheinbar speziellen Busch mit Blüten stehen blieben. Doch der Kater war nicht zu sehen.

Sie bogen rechts um das kleine, rot und weiß gestrichene Gartenhäuschen, das Mina an die Häuser in Schweden erinnerte, und gelangten so in das Herzstück des Gartens.

»Und hier präsentiere ich Ihnen nun das absolute Highlight. Den selbstangelegten Teich mit einigen Nymphaeas, oder geläufiger Seerosen genannt, wie Sie sehen.« Ellison blieb in der Mitte mit dem Rücken zum Wasser stehen und breitete die Arme in großer Geste aus, als würde sie den gesamten Garten umfassen wollen. »Lassen Sie uns näher herantreten.«

Sie ging abermals voraus und die kleine Prozession folgte ihr. Bis plötzlich ihr lauter Schrei die Luft zerriss. Mina gefror das Blut in den Adern und eine Gänsehaut der unguten Art breitete sich überall aus. Ihr wurde eiskalt.

Der bewegungslose Körper eines Mannes, sein Gesicht war von ihnen abgewandt, lag nur wenige Meter entfernt am Rand des Teiches. Zuvor hatte ein Busch den Blick verwehrt, aber nun hatten sie freie Sicht darauf. Mina ging ein paar Schritte auf den Mann zu. Hoffte, nein, betete, dass ihre dunkle Vermutung sich nicht bestätigen würde. Doch je näher sie kam, desto klarer wurde ihr, dass sie dem Mann nicht mehr helfen konnten. Dennoch lief sie weiter – wie ferngesteuert - auf ihn zu, ließ sich neben ihm auf den Boden sinken und versuchte, sich der aufkeimenden Panik und Übelkeit nicht hinzugeben. Sie griff nach seinem Handgelenk, hoffte, zumindest einen schwachen Puls zu erfühlen. Doch da war nichts. Sie schluckte fest in dem Versuch, ihre Gefühle im Zaum zu halten.

»Ist er tot?«, kreischte Ellison und erst in diesem Moment wurde Mina wieder bewusst, wo sie war – und aus welchem Grund.

Sie richtete sich auf. Mina spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich, als ihr Blick Ellisons begegnete und sie auf ihre Frage hin nur ein Nicken zustande brachte. »Wir müssen die Polizei verständigen.« Mina erschrak über den Ton ihrer eigenen Stimme. Sie war ohne Gefühl. Kalt. Regungslos. Wie die Leiche in Ellisons Garten.

»Das ist … das … So etwas gab es ja noch nie!«, echauffierte sich einer der Männer. Sein Gesicht war so kalkweiß, dass Mina befürchtete, er würde gleich umkippen. »Wir werden umgehend die Polizei alarmieren.« Er nickte seinen beiden Kollegen zu, die ebenso fassungslos dreinblickten und sie entfernten sich aus dem Garten, ohne ein weiteres Wort.

Sie waren kaum außer Sichtweite, als Mr. Marvel aus einem Busch und direkt auf die Leiche zu sprang. Er schnupperte an dem leblosen Körper herum und machte damit jedem polizeilichen Spürhund Konkurrenz.

»Mr. Marvel nicht!«, versuchte Mina ihn davon abzuhalten. Doch keine Chance. Er ignorierte sie vollkommen. Hilfesuchend sah sie sich nach Ellison um. Die ältere Dame war jedoch in eine völlige Schockstarre verfallen.

Mina trat auf Mr. Marvel zu, um ihn notfalls einfach zu packen. Doch der Kater schnüffelte weiter ausgiebig an der Hand des Mannes herum, bis die Finger sich ein wenig bewegten und ein kleiner Zettel auf das Gras fiel.

Sofort bückte Mina sich und griff nach dem Stück Papier, um einen Blick darauf zu werfen. Der Zettel war scheinbar in großer Eile abgerissen worden. Auch die schwer zu lesende Schrift sprach dafür. Doch Mina konnte zumindest einzelne Wörter entziffern. Es handelte sich um ein Datum und eine Uhrzeit. Ohne Adresse, ohne einen Namen oder sonstige Angaben. Ein Termin, der in wenigen Stunden stattgefunden hätte.

Sie zog die Stirn kraus und richtete sich wieder auf. Dabei sah sie zum ersten Mal das Gesicht des Mannes. Sie schluckte fest, um sich nicht zu übergeben. Sie kannte ihn. Hatte ihn gesehen und sogar mehrmals versucht, mit ihm zu sprechen. Zuletzt vor wenigen Stunden. Er war Poppys Sohn. Freddie.

Was hatte das zu bedeuten?