Kapitel 1
Lady Charlotte Sloane ging durch den gewölbten Eingangsbereich des großen Salons und hielt dann inne. Sie wollte sich sammeln, bevor sie sich unter die Menge mischte, und begab sich zu einer der massiven Urnen hinüber, die die Doppeltüren flankierten, wo sie vorgab, die kunstvoll arrangierten Blumen zu bewundern. Es waren außerordentlich seltene Blüten, die zweifellos die internationale Versammlung von Botanikern daran erinnern sollte, dass keine andere Sammlung von Pflanzenexemplaren mit den Schätzen der Royal Botanic Gardens mithalten konnte.
Hipp, hipp, hurra für das britische Reich, dachte Charlotte mit einem kleinen Lächeln. Die Einrichtung war dafür bekannt, ihr Wissen sowie ihre Samen und Stecklinge mit Gelehrten aus aller Welt zu teilen, und wenngleich Botanik nicht zu ihren Leidenschaften gehörte, wusste Charlotte die Bedeutung ihrer Arbeit zu schätzen.
Ihr Blick verweilte auf dem Blumenarrangement, um sich die Fülle der Farben und Texturen einzuprägen.
„Dieser Blick in deinen Augen bereitet mir Sorgen.“
Ihre Großtante Alison, die Gräfinwitwe von Peake, bahnte sich ihren Weg durch die Empfangsschlange und kam zu ihr herüber. „Ich hoffe, du hast nicht vor, diese Galaveranstaltung ins Lächerliche zu ziehen, weil sie Blüten im Wert eines Vermögens aus ihren Gewächshäusern geschnitten haben.“
Unter dem Pseudonym A.J. Quill war Charlotte als die bekannteste – manch einer würde sagen: berüchtigtste – Karikaturistin aktiv. Sie hatte sich mit dem Aufdecken der Missetaten und Skandale der Schönen und Reichen, die sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegten, einen Namen gemacht.
Und doch bin ich jetzt einer von ihnen geworden.
Ihr Gewissen rang noch immer mit dieser Entscheidung, doch sie hatte geschworen, dass es ihre Federspitze nicht abstumpfen würde.
Charlotte unterdrückte ein Seufzen und murmelte: „Ich lasse gelegentlich Ehre zuteilwerden, wem Ehre gebührt. Ich bewundere die gute Arbeit, die hier für Wissenschaft und Medizin geleistet wird, und die Öffentlichkeit schätzt eine aufbauende Geschichte als Abwechslung zu den Enthüllungen der Sünden und der Korruption, die ihr täglich Brot sind.“
„Wrexford wird sich freuen, das zu hören“, antwortete Alison trocken. „Ich kann mir vorstellen, dass er sich vorwerfen würde, den Fuchs in den Hühnerstall eingeladen zu haben, solltest du deine Federspitze auf seine wissenschaftlichen Freunde und ihr großes Symposium richten.“
Die Erwähnung des Grafen von Wrexford jagte Charlotte einen Schauer der Einsicht über den Rücken. Dass sie in Wirklichkeit der berüchtigte A.J. Quill war, war ein gut gehütetes Geheimnis, von dem bislang allein ihre engsten Freunde wussten.
Zu denen auch Wrexford gehörte.
Eigentlich war er weit mehr als ein enger Freund, erinnerte sie sich selbst. Er war jetzt ihr Verlobter.
Sie beide mussten sich erst noch an diese Tatsache gewöhnen.
„Macht es dich vielleicht nervös, heute Abend hier zu sein?“, fragte die Gräfinwitwe, nachdem sie ihr Glas gehoben und Charlotte gründlich gemustert hatte. „Du siehst ein wenig grün um die Nase aus.“
Charlotte wies die Mutmaßung mit einem leisen Schnaufen zurück. Zugegeben, es war ihr erster Auftritt auf einer Gala seit der Ankündigung der bevorstehenden Hochzeit, und sie spürte bereits das Prickeln der verstohlenen Blicke …
„Ich mag es einfach nicht, angestarrt zu werden.“
„Du kannst es ihnen nicht verübeln, dass sie neugierig sind.“ Alisons saphirblauen Augen funkelten amüsiert. „Wrexford hat den Ruf, ein aufbrausendes Temperament und eine scharfe Zunge zu besitzen. Sie versuchen wahrscheinlich zu entscheiden, wie viel Rückgrat du besitzt und ob sie in dem berühmten Wettbuch bei White’s darauf setzen sollen, dass du noch vor der Hochzeit heulend davonrennst.“
Eine Pause. „Die Quote steht anscheinend sieben zu fünf dafür, dass er abserviert wird.“
„Um Himmels willen, die Leute sollten etwas Sinnvolleres mit ihren mathematischen Fähigkeiten anfangen“, murmelte Charlotte.
„Raven und Lady Cordelia werden zweifellos daran interessiert sein, irgendeine unverständliche Gleichung aufzustellen, um zu berechnen, wie man die Quoten übertrumpfen und mit einer Wette Geld verdienen kann“, sinnierte die Gräfinwitwe.
Raven, der ältere der beiden Brüder, die Charlotte als Straßenkinder unter ihre Fittiche genommen hatte, zeigte eine bemerkenswerte Begabung für Mathematik – und erblühte unter der Anleitung ihrer brillanten Freundin Lady Cordelia Mansfield.
„Bitte ermutigen Sie mich nicht zu einer solchen Idee, nicht einmal im Scherz“, erwiderte sie. „Ich würde lieber keine satirische Zeichnung über den Skandal eines Heranwachsenden anfertigen müssen, der ein Glücksspielkonsortium für die Gentlemen der Beau Monde führt.“
Alison kicherte. „Ich wage zu behaupten, dass die kleinen Dummköpfe bald reicher als König Midas sein würden. Er ist außerordentlich schlau …“
„Manchmal zu schlau.“ Charlotte unterdrückte ein Schaudern. Dank Wrexfords Geschick – sie hatte nicht näher hinterfragt, wie er es geschafft hatte, einen Stammbaum zu erstellen, den es nicht gab – war sie nun die gesetzliche Vormundin der zwei Jungen, die sie liebte, als wären sie ihr eigen Fleisch und Blut.
Doch die Mutterschaft, so unkonventionell sie auch war, bot ständige Herausforderungen.
„Er ist“, fügte sie hinzu, „in einem Alter, in dem ich befürchte, dass wir anfangen werden, uns über Regeln zu streiten …“
Das Herannahen eines korpulenten Herrn, dessen lockiges Silberhaar von seiner markanten Stirn zu verschwinden begann, brachte sie zum Schweigen.
„Meine lieben Damen, auch wenn ich weiß, dass wir tattrigen alten Gelehrten nicht annähernd so verführerisch sind wie diese exotischen Blüten, hoffe ich dennoch, dass ich Sie dazu bewegen kann, sich zu uns an den Erfrischungstisch zu setzen.“
„Ha!“, rief Alison aus und wedelte mit ihrem Stock. „Sie können kaum behaupten, tattrig zu sein, bis Sie sich wie ich auf einen Stock stützen müssen, Sir Robert …“ Sie zwinkerte ihm zu und senkte ihre Stimme, bevor sie hinzufügte: „Damit Sie nicht Gefahr laufen, auf Ihr Gesäß zu fallen.“
Der Baronet, ein alter Freund der Gräfinwitwe und ausgewiesener Orchideenexperte, gluckste, als er Alison seinen Arm anbot. „Erlauben Sie mir, dafür zu sorgen, dass Ihnen kein körperlicher Schaden zugefügt wird.“ Ein weiteres Lachen. „Obgleich ich zu behaupten wage, dass eine Versammlung von Botanikern der unwahrscheinlichste Ort ist, an dem es zu Gewalt kommt. Wir neigen dazu, sehr sanfte Seelen zu sein.“
Charlotte unterdrückte ein Lächeln. Kein Wunder, dass Wrexford die Chemie dem Studium der Pflanzenwelt vorzieht. Sein Temperament neigte dazu, ein wenig sprunghafter zu sein.
Einige unfreundliche Menschen würden es möglicherweise sogar als explosiv bezeichnen.
„Und darf ich Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrer bevorstehenden Hochzeit aussprechen, Lady Charlotte. Lord Wrexford wird von uns allen sehr bewundert. Er ist ein brillanter Mann der Wissenschaft.“ Seine Lippen zuckten. „Auch wenn ich glaube, dass er die Botanik für ein eher langweiliges Fachgebiet hält. Aber er ist natürlich zu höflich, um das zu sagen.“
„Wrexford? Höflich?“ Alison stieß ein Schnauben aus. „Ha! Nur über meine Leiche.“
„Leichen?“ Ein weiterer Gelehrter, dessen Gesicht von mehreren Gläsern Champagner gerötet war, kam zu ihnen herüber. „Meine liebe Lady Peake, lassen Sie uns bei einem so festlichen Anlass nicht über derartig unangenehme Themen sprechen.“ Er winkte einen der Lakaien heran, der den Damen und Sir Robert sein Tablett mit Sekt anbot.
„Lassen Sie uns vielmehr auf das Wissen und die Entdeckung anstoßen“, sagte er und hob sein Glas.
„Und auf die bevorstehende Vermählung von Lady Charlotte und Wrexford“, fügte der Baronet hinzu.
„Ich wage zu behaupten, dass man eine Menge über die Natur des Menschen erfährt, wenn man ihm eine Fußfessel anlegt“, kam eine Stimme aus dem Nichts.
Für einen großen Mann bewegte sich der Graf von Wrexford mit überraschender Verstohlenheit.
„Oh, pfui, Sir.“ Alison schwang ihren Gehstock gegen das Schienbein des Grafen, als dieser neben Charlotte zum Stehen kam. „Nicht jeder ist an Ihren Sarkasmus gewöhnt und manch einer könnte Ihre Worte als wenig schmeichelhaft für Ihre zukünftige Braut verstehen.“
„Sollte ich Lady Charlotte gegenüber etwas Unfreundliches geäußert haben, wird sie es mir sicher selbst sagen.“
Das Glitzern seiner grünen Augen löste einen Schauer der Erkenntnis in ihr aus. Bei ihrer ersten Begegnung war ihre anfängliche Reaktion Abscheu gewesen. Und Angst. Er hätte ihr Leben als Londons bedeutendste Satirekünstlerin mit einem Schnippen seines aristokratischen Fingers ruinieren können. Stattdessen hatte er ihr eine unkonventionelle Partnerschaft vorgeschlagen, um einen heimtückischen Mord aufzuklären – einen, bei dem er der Hauptverdächtige gewesen war. Zu ihrer Überraschung hatte sich eine widerwillige Freundschaft entwickelt.
Seltsam, dass sie sich ihr Leben jetzt nicht mehr ohne all die subtilen Texturen und Farben vorstellen konnte, die seine Anwesenheit in die Fasern ihres Wesens wob.
„Ein offener Meinungsaustausch zwischen Mann und Frau scheint ein hervorragender Weg zu sein, um eheliche Harmonie zu gewährleisten, Wrexford“, erwiderte Charlotte. „Selbst wenn diese Meinungen nicht übereinstimmen.“
„Ganz recht, meine Liebe.“ Er drehte sich und die weiche Wolle seines Mantels berührte ihre nackte Schulter. Der zugige Raum fühlte sich plötzlich ein wenig wärmer an.
„Das Bündnis der Ehe!“ Der errötete Gelehrte zuckte mit seinen buschigen Brauen. „Als anerkannter Chemiker haben Sie viel Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Stoffen, daher bin ich sicher, dass Sie vermeiden können, dass Ihnen dieses Experiment um die Ohren fliegt, ha, ha, ha.“
„In der Tat, ich bin recht zuversichtlich, dass ich weiß, was ich tue“, sagte Wrexford in einem Ton, der die Miene des Gelehrten sofort ernüchtern ließ.
„Natürlich, natürlich! Ich habe nicht vorgehabt, Ihr … äh, Urteilsvermögen in Frage zu stellen, Sir …“
Zögernd wandte sich der Gelehrte ab und verschwand in der Menge, die sich um die Bowle versammelt hatte.
Charlotte verübelte es ihm nicht. Wrexford hatte nicht viel für Narren übrig.
„Mr. Throckmorton hat eindeutig zu viel vom feinen Champagner der Royal Society getrunken.“ Ein vornehm aussehender Mann in einem azurblauen Schwalbenschwanz zog eine entschuldigende Grimasse, als er sich zu ihnen gesellte. „Erlauben Sie mir, meine Glückwünsche auf eine traditionellere Weise auszusprechen, Mylord. Und dürfte ich Sie bitten, mir Ihre Verlobte vorzustellen?“
Das Ritual der Höflichkeiten begann und schnell kamen mehrere andere Gelehrte und ihre Frauen herbei, um ihnen ebenfalls zu gratulieren.
Wrexford, so bemerkte Charlotte, verhielt sich bewundernswert zurückhaltend. Solch triviales Beisammensein langweilte ihn zu Tode, und er beendete seine Anteilnahme für gewöhnlich mit einer ungeheuerlichen Bemerkung.
Die Konversation gewann jedoch schnell wieder Wrexfords Interesse, als einer der Gelehrten einen kürzlich gehaltenen Vortrag über Mineralien an der Royal Society zur Sprache brachte.
„Nun, es scheint, dass Sir Humphry Davy die Hypothese mithilfe einer chemischen Analyse getestet hat …“
Charlotte ließ ihre Aufmerksamkeit schweifen, als Wrexford sich abwandte, um sich den Herren anzuschließen, die die technischen Details diskutierten. Der Salon füllte sich immer mehr, als die Gäste aus dem Wintergarten in den Palast strömten. Der Klang fremder Sprachen – Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch – vermischte sich mit den verschiedenen Akzenten des Englischen und erzeugte ein lebhaftes Stimmengewirr. Der Wirbel der kontinentalen Mode mit den bunten Schärpen und ausgefallenen Medaillen, die die verschiedenen Stile von Krawatten und Westen hervorhoben, fielen ihr unweigerlich ins Auge.
Sie war bereits dabei, eine Zeichnung in ihrem Kopf anzufertigen, als …
„Charlotta?“
Sie drehte sich um und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Marco!“
„Du bist es tatsächlich!“ Ein großer, schlanker Herr mit lockigem schwarzem Haar und den markanten Zügen einer Renaissance-Skulptur lächelte sie charmant an. „Und du siehst schöner aus als je zuvor.“ Sein Blick wanderte über ihr elegantes Kleid und die glänzende Perlenkette – ein Verlobungsgeschenk von Wrexford – an ihrem Hals. „Wie geht es Anthony? Ich bin sicher, seine Karriere floriert hier in London. Er ist ein ungemein talentierter …“
„Anthony ist vor einigen Jahren verstorben“, unterbrach sie ihn. „Wie du dich vielleicht erinnerst, war er in äußerst schlechter Verfassung, und die Rückkehr in ein kaltes, feuchtes Klima war für seine Gesundheit katastrophal.“
„Das tut mir sehr leid.“ In seinen haselnussbraunen Augen lag ein Funkeln des Mitgefühls. „Bitte nimm mein Beileid an.“
„Ich danke dir – aber lass uns von erfreulicheren Dingen sprechen“, sagte Charlotte. „Wie ich sehe, ist dein Stern am Firmament der italienischen Wissenschaft weiter aufgegangen.“
Sie und ihr verstorbener Mann hatten Marco Moretti kennengelernt, als sie in Rom gelebt hatten. Der florentinische Gelehrte, der wie all ihre Bekannten auf dem schmalen Grat der Armut wandelte, hatte sein fortgeschrittenes wissenschaftliches Studium an der Universität abgeschlossen. Doch sein Interesse an Kunst und Literatur sowie an Politik hatte ihn dazu gebracht, sich dem Bohème-Zirkel der Maler und Dichter anzuschließen …
Wir alle, die wir gerade so über die Runden kamen, lebten von hochmütigen Träumen, Makkaroni und billigem Wein, erinnerte sich Charlotte.
Moretti zuckte selbstironisch mit den Schultern. „Ich habe das Glück gehabt, mehrere Arbeiten schreiben zu können, die ein wenig Aufmerksamkeit erregt haben, und ich freue mich sehr, dass man mich eingeladen hat, hier einen Vortrag zu halten. Vielleicht ergibt sich daraus sogar die Möglichkeit, in einem Fachgebiet aufzusteigen und Anerkennung zu finden sowie eine sichere finanzielle Zukunft.“ Wieder ein Schulterzucken. „Wie du weißt, wird das Unterrichten mickrig bezahlt.“
„Das klingt überaus vielversprechend“, sagte sie.
„Ich hoffe, dass es so kommen wird“, antwortete Moretti mit einem Hauch von Sehnsucht in seiner Stimme. „Es soll bald eine neue wissenschaftliche Gesellschaft gegründet werden. Eine, die sich der Entdeckung widmet. Ihr Schirmherr ist ein weltlicher, reicher Mann der Wissenschaft, der die Forschung sehr großzügig finanziert, und er hat Interesse an meiner Arbeit bekundet.“
Seine Augen funkelten neugierig. „Und was bringt dich hierher, Charlotta? Du warst sehr geschickt im botanischen Zeichnen. Ich habe noch einige deiner Skizzen verschiedener Wildblumen, die rund um die Ruinen des Kolosseums wachsen. Hilfst du bei der Erstellung eines visuellen Katalogs der Sammlungen hier in den Royal Botanic Gardens?“
„Nein, ich habe meine Zeichnungen der Pflanzenwelt aufgegeben“, antwortete sie. „Ich bin hier, weil mein Verlobter ein bekannter Mann der Wissenschaft in Großbritannien und Mitglied der Royal Society ist.“
„Ah.“ Moretti lächelte höflich. „Herzlichen Glückwunsch zu deiner bevorstehenden Wiederverheiratung. Dein Verlobter klingt nach einem sehr bewundernswerten und interessanten Mann.“
„Das ist er auch.“ Charlotte sah sich um und entdeckte Wrexford einige Schritte entfernt. „Komm, ich möchte dich vorstellen.“
Sie begann, sich durch das Gedränge der Gäste zu kämpfen, doch gerade als sie es schaffte, ein Trio plappernder Deutscher zu umkreisen und sich ihm zu nähern, löste sich ein Herr aus der Menge und berührte den Arm des Grafen.
„Lord Wrexford.“ Inmitten der angeregten Diskussionen um sie herum war die Stimme kaum wahrnehmbar und doch hörte Charlotte den Ton der Anspannung, der ihr innewohnte.
Der Graf schien es auch bemerkt zu haben, denn sie sah, wie er sich versteifte, als er sich umblickte. Sie erkannte den Mann als Lord Bethany, den Sekretär der Royal Society und einer der Organisatoren des Symposiums.
„Verzeihen Sie die Unterbrechung, Sir.“ Sein Lächeln konnte den alarmierten Blick in seinen Augen nicht verbergen, als er Wrexford zur Seite zog. „Dürfte ich Sie bitten, mir ins Pflanzenschauhaus zu folgen? Es hat ein … unglückliches Malheur gegeben.“
***
Nebel wirbelte durch die Abenddämmerung, als sie den Weg hinuntereilten, und verlieh dem verwinkelten Glas und Messing einen gespenstischen Schimmer.
„Warum haben Sie mich geholt?“, fragte Wrexford, nachdem Bethany seinen Bericht über die Entdeckung von Mr. Bectons Leiche durch den Gärtner zwischen den exotischen Exemplaren beendet hatte.
„Ich gestehe, ich bin mir nicht ganz sicher, Sir. Dr. Hosack hat jedoch darauf bestanden, dass ich Sie zu ihm bringe, und da er der Leiter der amerikanischen Delegation ist, hielt ich es angesichts der Umstände für meine Pflicht, seinem Wunsch nachzukommen.“ Der Sekretär schnitt eine Grimasse. „Die politischen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern sind bereits angespannt genug, ohne dass es wegen einer vermeintlichen Brüskierung durch uns bei der Behandlung dieses Vorfalls zu bösem Blut kommt.“
Die friedliche Stille der umliegenden Gärten schien das Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies zu verstärken.
„Ich kenne Hosack nur vom Hörensagen“, sinnierte der Graf.
„Offenbar weiß er auch um Ihren Ruf, Mylord.“
Wrexford hielt sein Temperament im Zaum und unterdrückte eine sarkastische Erwiderung, auch wenn die Anspielung auf seine früheren Mordermittlungen keinen Sinn ergab. Nach dem, was Bethany ihm erzählt hatte, war der Mann, der tot umgefallen war, bereits gesundheitlich vorbelastet gewesen. Es gab also keinen Grund, von einem Fremdeinwirken auszugehen.
Bethany beschleunigte seinen Schritt, während sie den Rest des Weges schweigend zurücklegten, und war sichtlich bestrebt, seine gute Tat für Hosack zu vollenden.
Der amerikanische Doktor wartete in der Haupthalle des Wintergartens, die Laterne in seiner Hand beleuchtete sein grimmiges Gesicht. Mehrere weitere Männer standen in der hinteren Ecke und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Als der Graf eintrat, sahen sie auf und verstummten.
„Danke, dass Sie gekommen sind, Lord Wrexford.“ Hosack nickte barsch zur Begrüßung.
„Dürfte ich Sie bitten, Ihr Treffen mit dem Grafen so schnell wie möglich abzuwickeln, damit die Bestatter Mr. Bectons Leiche an einen angemesseneren Ort bringen können?“ Trotz der kühlen Luft standen Bethany Schweißperlen auf der Stirn. Er holte sein Taschentuch hervor und wischte sie damit weg.
„Wie Sie hoffentlich verstehen können, Sir, würde es die Royal Society vorziehen, wenn das vorzeitige Ableben Ihres Kollegen nicht die Mission des Symposiums überschattet“, fuhr er fort. „Wir haben all diese internationalen Wissenschaftler zusammengebracht – keine leichte Aufgabe in diesen unsicheren Zeiten des Krieges und der Unruhen –, damit sie ihr Wissen und ihre Entdeckungen zum Wohle der gesamten Menschheit miteinander teilen können.“
„Ich kann Ihren Zielen nur zustimmen, Mylord, und ich begrüße die beeindruckende Arbeit der Royal Society, um die Welt zu einem besseren Ort für uns alle zu machen“, antwortete Hosack. „Ich möchte lediglich Lord Wrexford um seine Meinung zu etwas bitten, bevor die Überreste meines Freundes gestört werden.“
„Ich frage mich noch immer, warum …“, begann der Graf, doch ein kurzer stummer Appell Hosacks ließ ihn schulterzuckend in Stillschweigen verfallen. „Wie auch immer, ich bin gerne bereit, der Bitte des Doktors nachzukommen.“
„Dann habe ich natürlich keine Einwände“, gab Bethany nach, doch sein Gesichtsausdruck blieb beunruhigt.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Lord Wrexford.“ Hosack gestikulierte in Richtung des Korridors, der in den hinteren Teil des Gebäudes führte. „Bitte folgen Sie mir, Sir.“
Das üppige Grün und die blühenden Exemplare hüllten sie bald in einen berauschenden Duft aus süßen und würzigen Aromen. Das Mondlicht jagte über die Oberlichter und verlieh dem hellen Flackern der hängenden Laternen, die den Weg säumten, einen perlmuttartigen Schein. Blätter flüsterten leise, als sie die zarten Wedel einer Ravenea rivularis streiften.
Hosack führte sie durch einen der Ausstellungsräume, bevor er langsamer wurde und hinter einem Arrangement aus getopften Theobroma-Kakao-Bäumen zum Stehen kam. „Ich weiß, wie ungewöhnlich meine Bitte auf Sie gewirkt haben muss.“
„Das hat sie, in der Tat“, stimmte Wrexford zu. „Schließlich kenne ich Sie überhaupt nicht.“
„Ich habe jedoch bereits viel von Ihnen gehört, Sir …“ Für einen kurzen Augenblick besänftigte ein Anflug von Belustigung den verzweifelten Ausdruck in den Augen des Amerikaners. „Von Gideon Tyler, einem Freund aus meiner Studienzeit in Schottland.“
Tyler war ein Mann vieler Talente, zu denen der Dienst als Kammerdiener sowie als Laborassistent des Grafen gehörte.
Leider lag ein weiteres darin, die Geschichten über die schaurigen Ereignisse ihrer Mordermittlungen maßlos zu übertreiben.
„Tylers Erzählungen sind mit Vorsicht zu genießen“, antwortete er und ahnte jetzt, warum seine Anwesenheit erbeten worden war. „Ich vermute, der plötzliche Tod Ihres Kollegen muss ein Schock gewesen sein, Sir. Doch die meisten derartigen Vorfälle, so unglücklich sie auch sein mögen, haben nichts mit Fremdeinwirkungen zu tun.“
„Unter den meisten Umständen würde ich Ihnen zustimmen, Mylord. Ich bin Doktor und daher dem Tod nicht fremd“, antwortete Hosack. „Ich hoffe lediglich, dass Sie mich anhören und einwilligen, einen Blick auf den Ort des Geschehens zu werfen. Tyler lobt Sie als einen Mann, der die Dinge klar sieht, ungetrübt von Emotionen. Ich würde also Ihre objektiven Beobachtungen sehr zu schätzen wissen.“
Ein unwilliges Seufzen. „Wenn ich schon hier bin, könnte ich ebenso gut einen Blick werfen.“
Sie setzten ihren Weg fort. Wrexford gefiel es, dass der Doktor sich nicht genötigt fühlte, die Stille mit sinnlosem Geschwätz zu füllen. Hosack bewegte sich zielstrebig, seine Schritte klopften ein schroffes Trommelspiel auf den Steinplatten, während er sie um weitere Abbiegungen führte.
Durch einen niedrigen Torbogen vor ihnen sah Wrexford, dass zusätzliche Laternen nahe einem der Ausstellungssockel positioniert worden waren.
„Hier entlang, Mylord“, murmelte der Amerikaner und bog um ein Topfarrangement aus leuchtend blühenden Bougainvillea glabra. Der fröhliche Fuchsia-Ton der Pflanzen, so bemerkte Wrexford, schien seltsam deplatziert vor dem düsteren Tableau dahinter.
Eine Leiche – Mr. Becton, vermutete er – lag ausgestreckt auf den Steinfliesen, das Schwarz der Abendbekleidung des Gelehrten verschmolz mit den sich überschneidenden Schatten, die von den umliegenden Auslagen geworfen wurden.
Hosack blieb stehen und berührte den Ärmel des Grafen. „Bevor Sie näherkommen, Sir, nehmen Sie sich bitte einen Moment Zeit, um sich den Ort aufmerksam anzusehen.“
Wrexford antwortete mit einem brüsken Nicken und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den kleinen Bereich im Raum.
Einer der Sockel sah schief aus und einige kleine Terrakottatöpfe waren umgestürzt und hatten Erdkrümel sowie orangefarbene Scherben auf dem Boden verstreut … alles bestätigte die Theorie eines Mannes, der von einem plötzlichen Krampf ergriffen worden und zu Boden gefallen war.
Was übersehe ich?
Verblüfft ging Wrexford um die Leiche herum, um eine andere Perspektive einzunehmen. Hosack wirkte auf ihn wie ein ruhiger, vernünftiger Mensch, der nicht dazu neigte, Gespenster zu sehen, wo es keine gab. Dennoch fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Er kniff die Augen zusammen und untersuchte die Ecken und Ritzen nahe der Leiche, bevor er mit den Schultern zuckte.
Der Doktor stellte keine Fragen und gab dem Grafen stattdessen ein Zeichen, dass er sich zu ihm neben die Leiche hocken sollte. Becton lag auf dem Bauch, das Gesicht auf eine Seite gedreht, ein blindes Auge starrte zur flackernden Laternenflamme über ihm hinauf. Die Flamme, so stellte Wrexford fest, war von einem Blauton erfüllt, der ihn an einen wolkenbedeckten Himmel erinnerte.
Charlotte würde den genauen Namen dafür kennen.
Hosack stützte sich mit den Handflächen auf die Fliesen, neigte seinen Kopf und führte seine Wange so weit hinunter, dass sie nur wenige Zentimeter vom Gesicht des Toten entfernt war. Ein Moment verstrich, dann ein weiterer. Wolle rauschte, als er sich zurücklehnte, um Platz für den Grafen zu machen.
„Nun habe ich eine letzte Bitte, Mylord“, sagte der Doktor, erhob sich und richtete den Strahl der Laterne aus. „Bitte werfen Sie einen genauen Blick auf den Mund von Mr. Becton.“
Wrexford beugte sich über die Leiche. Im ersten Moment sah er nichts als die üblichen Anzeichen des Todes – eine leicht herausgestreckte Zunge, Lippen, deren Farbe einer wächsernen Blässe gewichen war …
Dann entdeckte er die weißen, kristallinen Körner, die die Winkel des halb geöffneten Mundes der Leiche zierten.
„Haben Sie eine Ahnung, was das für eine Substanz sein könnte?“, fragte er.
„Ich habe gehofft, Sie könnten es mir sagen“, kam die trockene Antwort.
„Es könnte alles Mögliche sein, je nachdem, welche Medikamente Ihr Freund genommen hat …“
„Das ist es ja gerade. Er hat keine Medikamente eingenommen. Seine Symptome haben sich stark gebessert, und wir beide haben vor einigen Monaten beschlossen, dass er die Einnahme des Destillats einstellen könne, das ich für ihn hergestellt habe.“ Eine Pause. „Und es hat nichts enthalten, was derartige Kristalle gebildet hätte.“
„Seltsam, das gebe ich zu“, sagte der Graf. „Im Laufe seiner Erzählungen hat Tyler sicher erwähnt, dass ich einen Freund habe, der überaus geschickt darin ist, den Toten ihre Geheimnisse zu entlocken.“
„Das hat er, Mylord.“
„Und ich nehme an, Sie möchten, dass der Leichenwagen Mr. Becton in die Klinik meines Freundes bringt, und nicht in das örtliche Leichenschauhaus.“
„Dafür wäre ich sehr dankbar“, antwortete Hosack.
„Nun gut.“ Wrexford erhob sich und trocknete seine Handflächen an der Vorderseite seines Mantels ab. „Allerdings rate ich Ihnen, Ihre Fantasie nicht mit Ihnen durchgehen zu lassen. Es gibt eine ganze Reihe von unschuldigen Erklärungen für die Körner. Vielleicht hat er vorher ein Gebäck gegessen und es ist bloß Zucker.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, erwiderte der Doktor. „Ich vermute jedoch, dass er eher etwas getrunken als gegessen hat. Auf den Steinen hat sich eine Pfütze mit einer Flüssigkeit befunden, die ausgesehen hat wie Champagner.“
„Das ist kaum verwunderlich“, antwortete der Graf. „Tatsächlich …“
„Ja, aber wenn er Champagner getrunken hat, bevor er gestorben ist, was ist dann mit dem Glas passiert?“
Die Frage brachte den Grafen ins Grübeln.
„Darauf würden mir mehrere sehr logische Antworten einfallen.“ Er sah sich noch einmal in dem Alkoven um und sah nichts, was den Verdacht des Amerikaners auf Fremdeinwirkung bestärken könnte. „Ich muss zugeben, es ist mir ein Rätsel, warum Sie so überzeugt davon sind, dass der Tod Ihres Freundes nicht natürlichen Ursprungs gewesen ist.“
Hosack atmete schwerfällig ein.
„Das liegt daran, dass ich Ihnen noch nicht von der Enthüllung erzählt habe, die Becton auf diesem Symposium vorgesehen hatte.“
Kapitel 2
Charlotte ertappte sich dabei, wie sie noch einmal zum Eingang des Salons blickte und sich fragte, warum Lord Bethany Wrexfords Hilfe ersucht hatte.
Der Grund konnte kein angenehmer sein. Bethany hatte ausgesehen, als wäre er soeben einem Geist begegnet.
„… und was halten Sie von dem neuesten Werk des Künstlers?“, fragte eine der Ehefrauen der Gelehrten.
In den Moment zurückversetzt, improvisierte Charlotte schnell eine Antwort – wenngleich sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte, über welchen Künstler gesprochen wurde. Bestimmte Plattitüden wurden nicht hinterfragt.
„Überaus interessant“, murmelte sie. „Seine Technik zeigt einige neue Entwicklungen, aber ich bin mir nicht sicher, ob mir sein Einsatz von Farbe zusagt.“
Die anderen nickten. Alison, die Sir Robert in die Runde geholt hatte, warf ihr einen fragenden Blick zu und mahnte sie Augenbrauen zuckend aufzupassen. Schließlich ging es an diesem Abend darum, die Rolle einer Gräfin zu spielen, eine Rolle, die Haltung und Höflichkeit erforderte, egal wie unerträglich oberflächlich die Situation auch sein mochte …
Der Gedanke verursachte einen Krampf in ihrem Magen.
„Es scheint, dass wir alle gebeten werden, uns in den Speisesaal zu begeben.“ Sir Robert reichte der Gräfinwitwe seinen Arm.
„Ich werde gleich nachkommen“, sagte Charlotte und traf eine abrupte Entscheidung. Sie berührte mit einem Finger ihren Haarknoten und zog eine entschuldigende Miene. „Ich fürchte, eine Haarnadel hat sich gelöst. Ich werde die Damentoilette aufsuchen, um sie zu richten.“
Höfliches Gemurmel ertönte von ihren Begleitern, als sie sich mit rauschender Seide umdrehte und den Raum über den mittleren Korridor verließ. Doch anstatt rechts abzubiegen und in Richtung der Gästetoilette zu gehen, eilte Charlotte in die entgegengesetzte Richtung. Sie kannte den Kew Palace und das Gelände der Royal Botanic Gardens von früheren Besuchen. Geradeaus lag ein Säulengang, der zur Westseite des Pflanzenschauhauses führte.
Sie ignorierte einen aufgeschreckten Lakaien und trat hinaus in die Nacht.
Die Luft war kühl, doch es war das Gefühl einer Vorahnung, das eine Gänsehaut auf ihren nackten Armen verursachte.
Hat Hawk sich irgendwie in Schwierigkeiten gebracht?
Ravens jüngerer Bruder war von der Natur fasziniert. Felsen, Pflanzen, Insekten … Ein unwillkürliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Auch Mäuse und Schlangen waren Teil der kleinen Menagerie, die er in ihrem Garten angelegt hatte, sehr zum Leidwesen seines Bruders. Wrexford hatte das wissenschaftliche Interesse des Jungen gefördert. Ebenso wie der Kammerdiener des Grafen.
Tatsächlich war es Tylers Idee gewesen, Hawk einzuladen, ihn heute Morgen in die Gärten zu begleiten. Der Kammerdiener hatte angeboten, dem Komitee des Symposiums zu helfen, einige der Sonderausstellungen in einem der kleineren Gebäude um das Hauptschauhaus herum zu arrangieren, und vorgeschlagen, dass Hawk, ein angehender botanischer Künstler, die Gelegenheit nutzen könnte, um einige der Pflanzenexemplare in den äußeren Gewächshäusern zu zeichnen.
Angesichts der Bedeutung des Ereignisses hatte sie Vorbehalte gegen diese Idee geäußert. Doch Tyler hatte sie davon überzeugt, dass Hawks Anwesenheit keine Kontroverse auslösen würde.
Aber Jungs sind nun einmal Jungs …
Charlotte beschleunigte ihren Schritt und ignorierte den Schaden, den Feuchtigkeit und Schlamm an ihren eleganten Schuhen und ihrem Kleid anrichteten, als sie eine Abkürzung über das Gras nahm. Zum Teufel mit Seide und Satin. In Wahrheit fühlte sie sich in den Reithosen und Stiefeln eines Gassenkindes, das in der Stadt nach verborgenen Geheimnissen stöberte, um die Missetaten der Reichen und Mächtigen aufzudecken, deutlich wohler.
Ein Wolf im Schafspelz, dachte sie. Ein bald sehr wohlhabendes falsches Schaf.
Der Westeingang des Pflanzenschauhauses war nicht verschlossen und gewährte Zugang zu der Abteilung, die Nadelbaumexemplare aus den nordöstlichen Staaten Amerikas beherbergte. Doch die angenehmen Düfte von Kiefer und Balsam konnten ihrem Unbehagen kaum entgegensteuern. Sie entdeckte einen Pfad aus Laternenlichtern zwischen den nadeligen Ästen zu ihrer Rechten und eilte ihn hinunter.
Nachdem sie mehrere verlassene Galerien durchquert hatte, hörte sie Stimmen von weiter vorne.
Wrexfords war eine von ihnen.
Charlotte zögerte einen Moment, dann beschloss sie, zu ihnen zu gehen.
Sie könnte ebenso gut zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und erfahren, was für ein Unheil jetzt schon wieder in ihrer exzentrischen Familie vor sich ging.
Wrexford blickte sich um, als er das Schürfen ihrer Schuhe auf dem dunklen Stein vernahm. Sie erkannte seine Begleitung nicht.
„Hat Hawk etwas angestellt?“, begann sie, bevor sie die Leiche entdeckte, die ausgebreitet auf den Fliesen lag, und hielt dann inne.
Ihre Kehle schnürte sich zu. „Gütiger Gott.“
Leichen waren ihr nicht fremd. Es war nicht nötig, sich zu fragen, ob der arme Kerl noch am Leben war. „Was ist passiert?“
„Über die genaue Todesursache rätseln wir noch, meine Liebe“, antwortete Wrexford. „Einer der amerikanischen Kollegen von Dr. Hosack ist vor kurzem so aufgefunden worden, wie Sie ihn jetzt vor sich liegen sehen. Hosack ist überzeugt, dass es sich um Mord handelt. Ich bin mir da nicht so sicher, deshalb haben wir vereinbart, dass Henning sich den Verstorbenen ansieht, um herauszufinden, ob er uns eine endgültige Antwort geben kann.“
Er drehte sich wieder zu dem Doktor und fügte hinzu: „Darf ich Ihnen meine Verlobte, Lady Charlotte Sloane, vorstellen?“
„Ich bitte um Verzeihung, Mylady. Es tut mir überaus leid, dass Sie einen solch abscheulichen Anblick erleben mussten.“ Hosack errötete und sah furchtbar unbehaglich aus. „Zusammen mit der entsetzlichen Erwähnung eines Mordes.“
Charlotte begegnete seinem Blick mit Gelassenheit. „Es sind keine Entschuldigungen nötig, Sir. Meine Gefühle sind nicht leicht zu erschüttern.“ Eine Pause. „Wrexford wird Ihnen das versichern.“
Sie sah sich um und stellte fest, dass es weder Anzeichen eines Kampfes noch von offensichtlichen Verletzungen gab. So sehr sie sich jedoch wünschte, einen näheren Blick auf die Leiche zu werfen, Hosack war ein völlig Fremder … und sie war heute Abend als prüde und angehende Gräfin hier. Der arme Mann würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn sie in ihrer ganzen Pracht auf Händen und Knien um den Toten herumkroch.
Charlotte biss ihre Zähne zusammen und fühlte einen Anflug von Bedauern über den Verlust ihrer Anonymität. Als ein Niemand unter den zahllosen Niemanden, die in London lebten, hatte sie ein hohes Maß an ungehinderter Freiheit besessen.
Ihr neues Leben versprach, weit komplizierter zu werden.
„Dr. Hosack, bitte verzeihen Sie mir“, murmelte sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine pragmatischere Angelegenheit. „Ich muss ein privates Gespräch mit Seiner Lordschaft in der angrenzenden Galerie führen.“
„J-ja, ja, natürlich, Mylady“, stotterte der Amerikaner. „I-ich entschuldige mich nochmals für …“
„Tatsächlich glaube ich, dass wir mit unserer Untersuchung fertig sind, Hosack, also warum gehen Sie nicht zurück zu Lord Bethany und sagen ihm, er möge den Leichenbestattern erlauben, weiterzumachen“, schlug Wrexford vor. „Ich bleibe hier und sorge dafür, dass die Leiche in Hennings Klinik gebracht wird.“ Das dumpfe Klirren von Münzen ertönte, als er in seinen Taschen nach einem Geldbeutel suchte.
„Das ergibt Sinn, Mylord.“ Der Doktor wirkte erleichtert. „Ich – ich bin Ihnen sehr dankbar.“
„Das ist das Mindeste, was ich für Sie und Ihren Freund tun kann“, antwortete Wrexford. Sein Lächeln stand im Kontrast zu dem Blick in seinen Augen, als dieser wieder zu ihr herüberwanderte.
Verflucht. Mit ihren eigenen Sorgen über die Festlichkeiten des Abends beschäftigt, hatte sie es versäumt, ihm davon zu erzählen, dass Tyler Hawk eingeladen hatte. Es war ihr nicht wichtig erschienen …
Wrexford wartete, bis sie allein waren, bevor er einen leisen Fluch ausstieß. „Was hast du mit Hawk gemeint? Zugegeben, die Wiesel und Unfug gehen Hand in Hand …“
„Wiesel“ war der Spitzname, den er den Jungen bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte, als Raven dem Grafen ins Bein gestochen hatte. Dieses kleine Missverständnis war längst verziehen. Der Spitzname war jedoch geblieben, sehr zur Belustigung der Jungen.
„Nein, nein, sie haben sich keines Unfugs zu verantworten.“ Zumindest hoffte sie inständig, dass das die Wahrheit war. „Tyler hat Hawk eingeladen, in den äußeren Gärten zu skizzieren, während er das Organisationskomitee unterstützt. Ich bin sicher, die beiden sind inzwischen nach Mayfair zurückgekehrt, doch die Tatsache, dass du von einem sehr ernst dreinblickenden Lord Bethany vorgeladen worden bist, hat mich beunruhigt.“
„Ich denke, wir können den Jungen als Mordverdächtigen ausschließen.“ Der Ausdruck des Grafen entspannte sich etwas. „Davon gehe ich aus“, erwiderte Charlotte, erleichtert, dass Hawk nicht in den Vorfall verwickelt war. Was jedoch den Tod von Mr. Becton anging …
„Hat Dr. Hosack irgendeinen Grund genannt, warum er von einem Fremdeinwirken ausgeht?“ Sie blickte wieder auf das vermeintliche Opfer und die zerbrochenen Präparate, die auf dem Boden verstreut lagen.
„Er vermutet Gift.“
„Hmmm.“ Sie hockte sich neben die Leiche und sah sich das Gesicht des Mannes genau an. „Die weißen Kristalle an den Mundwinkeln?“
„Ja.“ Der Graf wartete, während sie sich zurücklehnte und die leblosen Finger untersuchte, und bot ihr dann seine Hand an, um ihr aufzuhelfen.
„Es könnte etwas anderes sein“, überlegte Charlotte.
„Das war auch mein Gedanke.“
Ein nachdenkliches Schmollen umspielte ihre Lippen. „Auf den ersten Blick scheinen die Umstände auf einen natürlichen Tod hinzudeuten.“
Er ging um die Leiche herum und betrachtete noch einmal die Details, bevor er antwortete. „Das tun sie in der Tat.“
Das Poltern und Klappern der sich nähernden Leichenbestatter kam jedem weiteren Austausch zuvor. „Ich halte es für ratsam, dass du außer Sichtweite bleibst.“ Da er wusste, dass Charlotte mit dem Pflanzenschauhaus vertraut war, fügte er hinzu: „Ich schlage vor, du wartest im Studierzimmer, wo die Sammlung botanischer Kunstwerke aufbewahrt wird. Es befindet sich ganz in der Nähe und die Tür bietet ein gewisses Maß an Privatsphäre. Ich werde dich abholen, sobald ich hier fertig bin.“
Charlotte nickte und verschwand leise in den Schatten.
Teufel noch eins. Es hatte, räumte sie ein, eine gewisse Ironie, dass ein Mord ihren ersten Auftritt in der gehobenen Gesellschaft seit ihrer Verlobung trübte. Ihr guter Freund Basil Henning hatte ihr und dem Grafen oft vorgeworfen, absichtlich über Leichen zu stolpern.
Eine ungerechte Bemerkung, wenngleich es mit erschreckender Häufigkeit vorkam.
„Psst! M’lady!“
Ein aufgeregtes Flüstern aus einer dichten Laubschicht riss sie aus ihren Gedanken.
Sie drehte sich um, ging eilig in die Hocke und scheitelte die dunklen Blätter, was das schmutzverschmierte Gesicht ihres Mündels zum Vorschein brachte. „Gütiger Gott, Hawk! Was machst du denn da?“
„Ich … ich …“
„Nein, deine Erklärung kann warten“, unterbrach sie ihn. „Komm einfach mit – schnell und leise.“
Der Junge gehorchte sofort und umklammerte sein Skizzenbuch und eine Handvoll bunter Kreidestifte.
„Hier entlang“, murmelte sie, legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu den Studierzimmern des Pflanzenschauhauses. Zu ihrer Erleichterung waren die Laternen entlang des Ganges in diesem Teil des Gebäudes unbeleuchtet.
Die Tür zum Kunstzimmer war verschlossen, doch Charlotte zupfte eine Haarnadel aus ihrem Dutt und nach einigen geschickten Drehungen des Metalls, öffnete sie sich mit einem leisen Knacken. Charlotte zog die Tür hinter ihnen zu und führte Hawk zu einem Arbeitstisch vor einem Fenster mit Blick auf die Kräutergärten. Der Nachthimmel war wolkenlos, das Funkeln der Sterne verstärkte den Schimmer des silbrigen Mondlichts, das durch die Glasscheiben einfiel.
Der fahle Schein fing den beunruhigten Gesichtsausdruck des Jungen ein. „Es tut mir leid. Ich weiß, Mr. Tyler hat mir gesagt, ich solle in der Abteilung der Bromelien bleiben, damit ich keinen der Gelehrten störe. Aber er ist schon seit einer Ewigkeit weg und unter den Ficusbäumen ist niemand gewesen …“ Seine Unterlippe begann zu zittern. „Ich hab’ gedacht, es würd’ nix ausmachen. Ich bin leise und ganz vorsichtig gewesen.“
Hawks Aussprache wurde immer etwas ungehobelt, wenn er nervös war. Charlotte spürte ein Stechen in ihrer Brust und strich sanft eine Haarsträhne von seiner Stirn. „Du hast nichts falsch gemacht, mein Liebling. Aber es hat einen bedauerlichen Zwischenfall in einem anderen Teil des Pflanzenschauhauses gegeben, und es wäre das Beste, wenn wir ungesehen bleiben, während sich die zuständigen Behörden um die Angelegenheit kümmern.“
Hawk wand sich auf seinem Stuhl. „Was für ein Vorfall?“
Beide Jungen waren mit Mordermittlungen weitaus vertrauter, als es ihr lieb gewesen wäre. Dennoch sah sie keinen Grund, die Leiche zu erwähnen.
„Wrexford wird uns abholen, wenn sich die Lage beruhigt hat“, antwortete sie. Er hatte sein Skizzenbuch auf den Tisch geworfen, doch seine Hände schienen noch immer fest zu Fäusten verschlossen, wenngleich sie jetzt in seinem Schoß ruhten. In dem Versuch, ihm zu versichern, dass er nichts getan hatte, das eine Schelte verdient hatte, fragte sie: „Hast du neue und interessante Pflanzen zum Zeichnen entdeckt?“
***
„Auf Sie und Ihre Männer warten ein paar Guineen mehr, wenn die Leiche vor dem Morgengrauen in Hennings Klinik eintrifft“, murmelte Wrexford, als er eine Handvoll Münzen überreichte.
„Jawohl, Mylord“, erwiderte der Kutscher, während seine zwei Helfer Bectons Leichnam von hinten in den Leichenwagen luden. „Keine Angst, wir werden keine Zeit verschwenden.“
„Dann lassen Sie die Peitsche knallen und bringen Sie die Räder ins Rollen“, entgegnete der Graf. Die Royal Botanic Gardens lagen in Kew, eine lange Fahrt vom Herzen Londons entfernt. In Anbetracht des eher inoffiziellen Befehls, den er soeben erteilt hatte, war es das Beste, die Reise im Schutze der Dunkelheit anzutreten.
Er beobachtete, wie der Wagen in der Dunkelheit verschwand, bevor er sich Hosack zuwandte. „Ich denke, Sie sollten an dem Galadinner teilnehmen, Sir. Einer der Lakaien hat mich informiert, dass Tyler noch irgendwo auf dem Gelände ist. Ich lasse ihn hier warten und bringe Sie zu meinem Freund Henning in die Klinik, sobald die abendlichen Feierlichkeiten zu Ende sind.“
„Ich bin Ihnen zutiefst dankbar, Lord Wrexford.“
„Nun, es gibt ein altes englisches Sprichwort: Seien Sie vorsichtig mit Ihren Wünschen“, antwortete der Graf.
„Ja, ich weiß … ich weiß. Doch meinen Verdacht zu ignorieren, wäre zwar einfach, aber falsch gewesen.“ Hosack starrte in die Schatten und stieß ein Seufzen aus, das in geisterhaften Schwaden emporstieg und dann verschwand. „Von Feigheit ganz zu schweigen. Becton konnte ein sonderbarer und zurückgezogener Mensch sein. Und geheimnisvoll. Doch er war ein guter Freund. Ich hätte nicht guten Gewissens über die Beweise hinwegsehen können.“
„Ich bete, dass Sie sich irren“, murmelte der Graf.
„Ich auch, Sir.“ Ein weiteres Seufzen. „Ich auch.“
Ein Windhauch rauschte durch die nahen Bäume. Die Blätter, die durch die ersten Anzeichen des Herbstes bereits brüchig geworden waren, gaben ein schwermütiges Knistern ab.
Hosack blies seine Wangen auf und machte eine kleine Verbeugung, bevor er sich dem Weg zuwandte, der zum Palast hinaufführte.
Wrexford blieb, wo er war, und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, der nicht durch den nächtlichen Temperaturabfall hervorgerufen wurde.
Auch wenn dieser Tod weder ihn noch die, die ihm lieb und teuer waren, involvierte, wusste er nur allzu gut, wie ein Mord – wenn es sich tatsächlich um einen handelte – unschuldige Opfer in seinen Tentakeln zu fangen vermochte.
Verdammt seien der Teufel und seine Legion von Dämonen.
Er musste wachsam bleiben und bereit sein, jede Bedrohung auszuschalten, die sich ihm zu nähern versuchte.
Irgendwo in der Baumgruppe knackte ein Ast. Er schob seine nagenden Gedanken beiseite, drehte sich um und setzte sich wieder in Richtung des Pflanzenschauhauses in Bewegung.
Das Foyer war menschenleer und das aufgeregte Surren des Schreckens hatte sich zurück in die übliche Aura der Ruhe verwandelt. Nicht in der Stimmung, die üppige Süße der Luft zu genießen, schlug Wrexford eine blättrige Ranke beiseite und bog in der Absicht, eine Abkürzung dorthin zu nehmen, wo Charlotte wartete, einen der Seitenwege hinein. Der Weg wand sich durch eine hohe Ansammlung von Stechpalmen und als er aus den verwobenen Schatten hervortrat, sah er, dass er nicht allein war.
Jemand hockte auf dem Boden und spähte in ein Gewirr aus schwertförmigen Blättern.
Ein frustriertes Gemurmel.
„Wo zum Teufel bist du?“
„Gütiger Gott“, murrte Wrexford. „Ich hoffe, Sie suchen nicht nach einem verloren gegangenen Wiesel.“
Tyler sah erschrocken auf. „Er ist nicht verloren gegangen, er ist bloß … nicht da, wo ich ihm aufgetragen habe zu sein.“
„Was wo gewesen wäre?“
„Die angrenzende Galerie“, antwortete sein Kammerdiener. „Ich habe dort nachgesehen und dann beschlossen, meine Suche auszuweiten.“
Der Graf beschwichtigte sich selbst, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Es war spät und Hawk wahrscheinlich bereits seit Stunden hier. Möglicherweise war er irgendwo zwischen all diesem verfluchten Grün eingeschlafen.
„Wie lange haben Sie ihn allein gelassen?“
Tyler zog eine schuldbewusste Grimasse. „Der Leiter des Komitees hat mich um dringende Hilfe beim Aufbau einer wissenschaftlichen Ausstellung in der Pagode für den morgigen Empfang gebeten. Einige der Instrumente waren beim Transport beschädigt worden, und es hat länger gedauert, als ich erwartet hatte, sie zu reparieren.“
Wrexford fluchte leise.
„Hawk hat sein Skizzenbuch und einen Sack mit Erfrischungen dabei gehabt, die McClellan zubereitet hatte, darunter waren auch seine Lieblings-Ingwer-Kekse.“ Ein defensiver Ton schlich sich in die Stimme des Kammerdieners. „Er hat mir versichert, dass er bis zu meiner Rückkehr gerne sitzen und zeichnen würde.“
„Wiesel!“, rief Wrexford.
Die einzige Antwort war das dumpfe Echo, das von der Glasscheibe widerhallte.
„Wir können uns aufteilen und diesen Flügel systematisch durchsuchen“, begann Tyler.
„Nein, zuerst müssen wir Charlotte holen. Sie wartet in einem der Arbeitszimmer.“
Tyler beschleunigte seinen Schritt, um mit dem Grafen mithalten zu können. „Ich habe gedacht, Sie beide würden dem Galabankett beiwohnen.“
„Das habe ich auch gedacht. Aber Ihr Freund Dr. Hosack hat andere Pläne für mich vorgesehen.“
Der Kammerdiener sah jetzt völlig verwirrt aus. „Ihre Worte ergeben keinen Sinn. Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Abgesehen von der Tatsache, dass Sie den Jungen mit einem kaltblütigen Mörder, der hier auf der Pirsch ist, allein gelassen haben?“
„Was?!“ Die Farbe wich aus Tylers Gesicht. „Ich bin mit Ihrem ungewöhnlichen Sinn für Humor durchaus vertraut, Mylord. Aber das ist ein unangemessener Scherz. Ich würde niemals wissentlich eines der Wiesel in Gefahr bringen …“
„Das ist kein Scherz“, unterbrach Wrexford. „Einer von Hosacks Kollegen ist tot aufgefunden worden und der Doktor ist davon überzeugt, dass es sich um einen Mord handelt.“ Er duckte sich unter einem Dach aus Palmenwedeln hindurch. „Nichtsdestominder haben Sie Recht – es ist ungerecht von mir gewesen. Ich entschuldige mich.“
„Zum Teufel mit all dem Geschwätz. Gehen Sie nur, ich werde weitersuchen.“
Der Graf packte Tyler am Ärmel. „Es wäre besser, wenn wir nicht überstürzt losrennen. Wir sind fast da, und zu dritt können wir eine methodische Suche ausarbeiten.“
Tyler schnaubte zustimmend. Doch ein Blick zu seinem Kammerdiener hinüber zeigte, dass sein Kiefer starr vor Angst und Reue war.
Verflucht. Der Abend hätte ein feierlicher Anlass sein sollen – der erste öffentliche Auftritt von ihm und Charlotte als verlobtes Paar. Dass er eine solch verhängnisvolle Wendung genommen hatte, schien …
„Wrexford!“ Charlotte schoss von ihrem Stuhl hoch, als er und Tyler das Studierzimmer betraten.
„Gott sei Dank, du bist in Sicherheit!“, rief der Kammerdiener, als er Hawk entdeckte. Er holte tief Luft. „Wenngleich ich dir für die Missachtung meines Befehls, bei der Ausstellung der Bromelien zu bleiben, den Hintern versohlen sollte.“
„Es gibt keinen Grund, ihn zu tadeln. Er hat keinen Schaden angerichtet“, sagte Charlotte. „Er hat lediglich versucht, ein anderes Exemplar zu zeichnen.“
„Genau.“ Der Junge ließ den Kopf hängen. „Ich habe mich nur in den angrenzenden Ausstellungsräumen umgesehen und ich bin sehr, sehr vorsichtig gewesen, um nicht von einem der Gäste gesehen zu werden.“
„Keiner der Gelehrten sollte sich von den Hauptgalerien wegbewegen. Und da es bereits dunkel geworden ist und das Komitee meine Hilfe gebraucht hat, schien es keinen Grund zu geben, warum er nicht in dem Pflanzenschauhaus warten könnte“, erklärte der Kammerdiener Wrexford.
„Aber einer von ihnen hat sich in die Seitengalerien verirrt“, zwitscherte Hawk. „Doch ich habe mich tiefer zwischen die Topfpflanzen geschlichen, als ich ihn kommen gehört habe, und ganz stillgehalten – sogar als mich das Glas, das er in die Exemplare geschleudert hat, am Kopf getroffen hat.“
Der Junge verzog das Gesicht. „Er ist es, dem man den Hintern versohlen sollte. Er hat eine wertvolle Asplenium ruprechtii aus der Wildnis des Orients beschädigt.“
Wrexford spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass auch Charlotte die Hände in ihrem Rock zu Fäusten geballt hatte.
„Ein Mann hat ein Glas in die Bepflanzung geworfen, mein Liebling?“, fragte sie.
„Ja.“
„Kannst du mir zeigen, wo genau das gewesen ist?“, hakte der Graf nach.
„Ich … ich erzähle keine Märchen, Sir“, erwiderte Hawk mit einem verletzten Unterton in seiner Stimme.
„Das behaupte ich auch nicht, mein Junge.“
„Gift“, sagte Tyler, nachdem er schnell die Verbindung hergestellt hatte. „Sie vermuten, dass der Mörder Gift verwendet hat?“
Mit plötzlich weit aufgerissenen Augen richtete sich der Junge auf. „Suchen wir wieder nach einem Mörder?“
„Wir“, antwortete der Graf, „tun nichts dergleichen.“
Charlotte rührte sich und tauchte ihr Gesicht in Schatten.
„Ich sammle lediglich alle sachdienlichen Gegenstände ein, die uns helfen könnten herauszufinden, warum einer der Gäste zusammengebrochen ist“, beendete er.
„Was bedeutet sachdienlich?“, fragte Hawk.
Einen Moment lang hing die Frage in der Luft wie ein winziger, eisiger Hauch in der samtigen Wärme.
Wrexford unterdrückte einen Fluch. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der kleine Satansbraten genau wusste, was er gemeint hatte, ungeachtet seines Versuchs, es in einem ausgefallenen Satz zu verschleiern.
„Es bedeutet relevant“, erklärte Charlotte. „Etwas, das sich auf das betreffende Thema beziehen kann.“
„In anderen Worten …“, begann Hawk.
„In anderen Worten, bring mich zu dem Glas, Wiesel“, schnauzte Wrexford. „Jetzt.“
Der Junge rutschte von seinem Stuhl herunter – ein wenig zu enthusiastisch, wie er feststellte. Wie Motten, die unaufhaltsam von einer Flamme angezogen wurden, stürzten sich Hawk und Raven stets furchtlos in den Schlund der Gefahr. Er würde mit ihnen über ihre Leichtsinnigkeit reden müssen.
Zumal sie bald nicht länger nur Menschen sein würden, die durch Liebe miteinander verbunden waren, sondern eine offizielle Familie.
Liebe. Ein Wort, das ihm nie leicht über die Lippen gekommen war.
Seltsam, dass es ihm jetzt nicht mehr im Halse stecken blieb …
Die Berührung von Charlottes Schulter riss ihn aus seinen Grübeleien. Er trat hinter sie und es dauerte nur wenige Minuten, bis ihre kleine Gruppe die fragliche Stelle erreicht hatte. Hawk verschwand im dunklen Laub und tauchte schnell triumphierend mit dem geschliffenen Kristallglas wieder auf.
Ein so täuschend zartes Objekt, dafür dass es als Diener des Todes fungiert haben könnte, sinnierte Wrexford, als er es nahm und in das Mondlicht hielt.
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien Charlotte dasselbe zu denken. Sie starrte auf das Glas, ohne etwas zu sagen.
Nachdem er es sorgfältig in sein Taschentuch gewickelt hatte, verstaute er das Beweisstück in seiner Manteltasche. „Hast du zufällig einen Blick auf den Gentleman erhaschen können, der das Glas geworfen hat?“
Hawk zögerte.
„Denk dran, mein Liebling, es schadet mehr, als es nützt, deine Antwort von Wunschdenken beeinflussen zu lassen“, riet Charlotte. „Ich weiß, du bist sehr aufmerksam. Doch es ist dunkel gewesen und du bist darauf bedacht gewesen, nicht entdeckt zu werden. Wenn du nichts gesehen hast, musst du es sagen.“
Der Junge kniff die Augen zusammen.
Wrexford verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und zwang sich zur Geduld.
„Ich habe aufgesehen, als ich die Schritte näherkommen gehört habe, aber nur für einen Augenblick“, antwortete Hawk. „Er hat sich schnell bewegt, deshalb habe ich sein Gesicht nicht sehen können, aber er ist groß gewesen … fast so groß wie Sie, Sir.“
„Ausgezeichnet“, murmelte Charlotte. „Viel wichtiger ist jedoch, dass du dich sehr gut versteckt hast.“
Der Graf nickte, doch nach einem kurzen Moment des Schweigens konnte er nicht umhin hinzuzufügen: „Sonst nichts?“
„Wrexford …“ Charlotte warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
Hawks Gesicht verzog sich in Gedanken. „Tut mir leid, Sir“, sagte er, nachdem einige Augenblicke verstrichen waren. „Ich … Moment! Ich erinnere mich an eine andere Sache! Als ich mich geduckt habe, habe ich gehört, wie sein Schuh gegen die Kante einer Fliese gestoßen ist. Er hat irgendein Wort vor sich hin gemurmelt … Es könnte ein Fluch gewesen sein, denn er hat sich sehr wütend angehört.“
„Hast du verstanden, was er gesagt hat?“, fragte Tyler.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab Hawk zu. „Es hat mit einem T angefangen … Ich glaube, er hat so etwas wie T-toll … Tollpatsch gesagt.“
Wrexford sah Tyler an, der mit den Schultern zuckte.
„Hilft das?“, fragte Hawk.
„Schwer zu sagen, Junge“, antwortete Wrexford. „Solange wir nicht mit Sicherheit wissen, ob ein Verbrechen begangen worden ist, sollten wir keine Gespenster sehen, wo nur Nebel ist.“
„Wo Rauch ist, ist meist auch Feuer“, murmelte Tyler.
„Wie dem auch sei, ich werde dafür sorgen, dass wir alle außer Reichweite der Flammen bleiben.“ Er drehte sich abrupt um, wodurch das eingewickelte Glas gegen seine Hüfte stieß. „Kommt, es gibt viel zu tun, bevor diese verfluchte Nacht zu Ende ist.“