Leseprobe Mord in der Breege Bucht

Prolog

März 1991

Es war ein Sonntagnachmittag im März. Die Luft schmeckte ein bisschen nach Frühling, obwohl der Wind gegen die Beine der jungen Frau peitschte. Ihr wadenlanger Mantel flatterte. Für das Wetter war er zu dünn, aber sie hatte gedacht, es sei wärmer. Heute hatte sie das Kind mitgenommen. Es hüpfte über die Steine, rannte im Zickzack, breitete die Arme aus und rief: „Schiffe, sieh mal, Mama, warum sind hier so viele Schiffe?“ Die hellen Haare wehten.

„Komm her und setz deine Mütze auf!“, rief die Frau. „Es ist kalt. Und Schiffe kannst du nun jeden Tag sehen. In einem Hafen liegen immer welche“, erklärte sie. Das Kind hörte nicht zu, rannte weiter über den riesigen Platz. An diesem Tag ging kaum jemand am Seehafen spazieren, wo ungestüme Böen das Wasser aufpeitschten und Pfützen in gesprungenen Betonplatten glitzerten.

Die Frau blieb stehen. Wie die Stadt sich veränderte! In den Höfen und Ecken der hafennahen Wohnhäuser rissen Kräne Mauern ein, und Dreck türmte sich. Es wurde, ein Jahr nach der Wende, gebaut und saniert. Das Grau sollte weg, die verfallenen Fassaden aufgehübscht werden und die Schlaglöcher in den Straßen verschwinden.

Stralsund sollte ihr neues Zuhause werden; die Stadt saß in ihr, seitdem sie als Kind darüber gelesen hatte, die Stadt war schon ihre, als sie diese noch gar nicht kannte.

Die Frau rannte dem Kind durch die Wasserlachen hinterher, ihre Bewegungen waren beschwingt, ihre Augen strahlten. Sie hatte endlich Glück: Wie es aussah, konnte sie das Haus in der Külpstraße kaufen und einen winzigen Laden mit Geschenkartikeln am Küpertor aufmachen. Die Touristen würden kommen, ganz sicher. Sie hatte wieder eine Zukunft und eine Chance.

Die Vergangenheit war vergessen und Berlin lag am Ende der Welt.

 

Neun Jahre später fand man in der Külpstraße eine Leiche. Sie sah furchtbar aus – und sehr traurig. Wütend drückte der Wind gegen die Fensterscheiben. Ein Unwetter zog auf.

 

***

 

Sehr viel später wunderte sich der Hafenmeister Henner Kirsow in dem kleinen Fischerort Breege auf Rügen über die Carola 1, die seit Tagen hier ankerte. Er kannte den Besitzer der Motoryacht, der des Öfteren hier festmachte und um diese Zeit auf dem Deck frühstückte. Nur sah er heute niemanden darauf.

Er beschloss, nach dem Rechten zu sehen, bekam auf seine Rufe keine Antwort. Er fand dies eigenartig, wusste er doch, dass der Eigner ein offener, gastfreundlicher Mann war. Weder auf der Flybridge noch dem Achterdeck war etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Als er unten in den Kajüten nachsehen wollte, roch er in der Kombüse, bevor er ihn sah, den Toten. Er erkannte ihn sofort.

Es war der Baulöwe von Stralsund.

1

Roland Stübbe lachte schallend und es klang hässlich. Was diese Leutchen immer wollten und forderten! War doch die Steegdorn, seine Mieterin, ohne Anmeldung in sein Büro gekommen. Das muss man sich einmal vorstellen! Meckerte und meckerte. Na, wie sollen wir denn sonst sanieren, bisschen Staub und etwas Lärm gibt es dann eben. So ist das. Soll sie doch ausziehen oder solange in ein Hotel gehen. Davon hat die Stadt genug. Mit: „Meine verehrte Frau Steegdorn, wir sollten uns ein anderes Mal darüber unterhalten. Leider muss ich jetzt zu einem Termin, der für mich wichtig ist“, hatte er die Frau ruhiggestellt. Er hatte sie dabei angelächelt; als seine Mieterin ihn skeptisch angesehen hatte, da lächelte er ein zweites Mal, obwohl er ihr am liebsten seine Meinung zu ihrer Kritik gesagt hätte. Sie verließ wortlos das Büro.

Er sah, dass die Zeit drängte. Aber ehe er sich zu dem Empfang aufmachte, las er sich noch eine Kleinanzeige in der Ostsee-Zeitung durch.

 

Eine gute Stunde später setzte Roland Stübbe ein bescheidenes Lächeln auf, und zeigte neben Zurückhaltung mit straffer Haltung seine Fitness. Die war ihm wichtig. Gesunde sportliche Menschen leisteten mehr, fand er. Stübbe trug den Ausdruck des erfolgreichen, anständigen Geschäftsmannes im Gesicht. Auf keinen Fall wollte er auf die Anwesenden zu herausfordernd oder protzig wirken. Zurückhaltend kannte ihn auch der Oberbürgermeister von Stralsund, der ihn als verdienten Bürger der Stadt im Rathaus hervorhob. Die Anerkennung saugte er wie ein Fisch ein, der nach Plankton gierte. Stübbe hatte eine Menge erreicht und strahlte innerlich vor Stolz, weil er sich im Rathaus befand, das er so schön fand. Er hatte ein Faible für die norddeutsche Backsteingotik, was auch mit seiner Tätigkeit zusammenhing. Er wähnte sich in dieser Stunde wie ein ehrbarer Kaufmann aus längst vergangenen Tagen, dessen Wort und Handschlag galt. Er handelte nicht mit Tuchen, wie es einst im Rathaus üblich gewesen war, er handelte mit Immobilien. Häuser und Wohnungen, Kauf, Abriss und Sanierung quer durchs Land – das war sein Leben. Das war sein Erfolg.

Er hatte sich einen Bart samt Schnäuzer wachsen lassen, dadurch wirkte er kernig, so, wie er sich die Norddeutschen vorstellte. So sah auch niemand sein fliehendes Kinn, in das manche womöglich mit Küchenpsychologie etwas hineinphantasierten. Die eher karge Art der Menschen hier oben entsprach seinem ostwestfälischen Naturell. Er fühlte sich wohl in Stralsund.

 

Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass er vor zwei Jahren die Stadtväter nicht hatte überzeugen können, als er sie zu den Gleisen geführt hatte. Dort wo eine alte Fabrik sich vor und nach der Wende gegen den Verfall wehrte, Bäumchen wie Haare aus dem löchrigen Dach wuchsen, Scheiben eingeschlagen und Fensterhöhlen mit Pappe zugenagelt waren. Jetzt strahlte das Backsteingebäude im neuen Glanz und in die großen hellen Eigentumswohnungen mit Loftcharakter waren die ersten Bewohner eingezogen.

Inzwischen hatte er weitere Gebäude aufgekauft und ließ sanieren. Aktuell auch ein Haus vor der Anlage des Heilgeistklosters. In dessen Wohnungen wohnten die Mieter schon jahrelang und glaubten, für weitere Jahrzehnte ein Anrecht darauf zu haben. Zu einem Quadratmeterpreis, der unglaublich niedrig war.

Vier Wohnungen, vier Parteien. Frauen, die gut miteinander auskamen; vielleicht durch ihre unterschiedlichen Biografien. Die Schauspielerin Christel Zucker war mit einundachtzig die älteste und Autorin Jutta Tausendschön mit sechsundvierzig die jüngste.

 

Roland Stübbe hatte trotz der Feier im Rathaus seine Mieterinnen im Kopf, weil er empört war über das, was ihm sein Kompagnon berichtet hatte. Bis gestern war er in Bielefeld gewesen und hatte so die neuesten Entwicklungen verpasst. In der Stadt des Puddings hatte er nach dem Rechten geschaut; dort befand sich sein erstes großes Projekt. Und damit hatte er sich nicht verkalkuliert. Die Mieten waren hoch und er würde sie noch höher setzen. Wohlhabende Bürger gab es genug.

Nicht träumen, ermahnte er sich, weiter lächeln, auch wenn jetzt der Stadtkämmerer spricht. Was für einen Unsinn sondert der nun wieder ab! Er, Stübbe, hatte als Investor bei dem Stralsunder Loftprojekt jegliche Verantwortung getragen, da musste der Mann nicht salbadern, als hätte er seiner Privatschatulle Geld entnommen und gezahlt. Der lobte sogar das gelb gestrichene alte Fahrrad, das inzwischen als sogenannte Skulptur oder ,Kunst am Bau’ seitlich am Haus stand, wie unbeabsichtigt hingestellt aussah und doch fest gegen Diebstahl in einem Betonsockel verankert war. So hatte niemand für eine kleine Außergewöhnlichkeit zahlen müssen. Nur tat der Kämmerer so, als sei dies seine Idee gewesen, dabei stammte der Einfall von Rosa Pritzkoleit, seiner Empfangsdame und Sekretärin, einer Frau, die wusste, was sie wollte. Dass die Verwaltung auf ein Uraltfahrrad abfuhr …

Lächeln. Stübbe hatte das Gefühl, als würden selbst die Ohren lächeln. Dafür bekamen seine Augen einen harten Glanz.

Er fühlte das Vibrieren des Handys in seiner Hosentasche. Nicht jetzt! Schnell blickte er aufs Display. Pritzkoleit. Aha. Chef, Sie sollten so schnell wie möglich ins Büro kommen.

Roland Stübbe aber wartete, bis andere ihm die Hand geschüttelt, er mit Anwesenden getrunken und geredet hatte. Dann schickte er Karsten Heinrich, seinem wichtigsten Mann in der Firma, eine Nachricht.

 

***

 

Kurz vor zehn beobachtete Catrin Sommerblom mehrere Frauen, die in das Geschäftshaus am Alten Markt gingen. Die kommen bestimmt auch wegen der Stellenausschreibung. Ein paar Minuten lang wartete sie, blickte über den Platz, ob noch eine mögliche Bewerberin nachkam. Aber die Leute sahen durch ihre Freizeitkleidung eher nach Touristen aus. Ich will den Job haben!, beschwor sie sich. Ich muss wieder arbeiten. Im Treppenhaus holte sie tief Luft und versuchte so, ihre Nervosität zu unterdrücken. Im ersten Stock las sie an einer alten Tür mit geschwungenen Flügeln ,Stübbe & Heinrich’ auf dem Firmenschild, und öffnete sie. Hinter einem modernen halbrunden Tresen saß eine rothaarige, sommersprossige Frau und telefonierte anscheinend mit einem Handwerker.

An den Wänden hingen Bilder von alten Seglern. Bis auf einen Katalog auf einem Glastisch wies nichts darauf hin, welche Tätigkeiten die Firma ,Stübbe & Heinrich’ ausübte.

Von draußen waren Männerstimmen zu hören.

Das Gespräch dauerte. Catrin blickte sich um und entdeckte hinter einer Glastür die Frauen, ging zu ihnen und setzte sich dazu. Keine sprach. Deshalb schaute sie aus dem Fenster am Ende des Zimmers und beobachtete, wie feiner Regen den Marktplatz in ein verschwommenes Grau tauchte. Sie fand, dass er mit den historischen Giebelhäusern und dem imposanten Rathaus wie ein Gemälde aus vergangenen Zeiten aussah, wenn sie von der zeitgemäßen Bestuhlung der Cafés und Restaurants absah. Heute wirkten die filigranen Schildgiebel an der attraktiven Schaufassade in dem grauen Licht beinahe drohend.

Sie war nach Stralsund in eine Pension gezogen, obwohl die schon jetzt zu teuer für sie war. Alles hatte sie aufgegeben – aufgeben müssen, doch Catrin wollte jetzt nicht über die Gründe nachdenken. Das letzte Jahr war traurig und anstrengend gewesen. Diese Monate hatten sie innerlich von ihren Bekannten und Freunden entfernt. Sie wusste jetzt: Wenn die Seele krank war, wurde man aussortiert. Zum Beginn ihres neuen Lebens brauchte sie eine Aufgabe, und sie brauchte Geld. Dringend.

Die Zeitungsberichte über die Investoren und Bauherren in der Stadt machten sie neugierig und Fotos, auf denen die Macher abgebildet waren, hatte sie ausgeschnitten. Das augenblickliche Ziel hieß, diesen mickrigen Job zu bekommen, der sie vielleicht so forderte, dass sie abends einschlafen konnte. Einschlafen und erst morgens aufwachen. Nicht in den Nachtstunden herumlaufen und sich von der Vergangenheit packen und überwältigen lassen.

Hatte sie Angst? Ja.

In diesen ersten Herbsttagen hatte sie sich in der Stadt umgesehen und mit jedem Tag wurde sie ihr vertrauter. Komisch, dass sie nie hierhergefahren war, obwohl sie nur wenige Kilometer entfernt gearbeitet hatte. Tief in ihr saß das Wissen, dass sie die Stadt bewusst gemieden hatte.

 

***

 

„Was gibt’s so Dringendes?“, fragte Stübbe seine rechte Hand, die Sekretärin Rosa Pritzkoleit, als er das Vorzimmer zu seinen Büros betrat.

„Sie hatten doch die Anzeige wegen der Hausmeisterin geschaltet! Nebenan möchten sich einige Damen vorstellen. Drei habe ich wieder weggeschickt, das war nix.“ Sie blickte ihren Chef mit großer Entschiedenheit an. „Außerdem haben sich Mieterinnen beschwert. Und wenn Sie Herrn Heinrich suchen, der ist auf der Baustelle.“

„Beschwert? Das war sicher Frau Steegdorn. Die hat wohl reichlich Zeit zum Meckern. Darüber sprechen wir später. Zunächst die Vorstellungen. Schicken Sie mir in zehn Minuten die erste Bewerberin.“

 

Er prüfte. Endlich saß die letzte Bewerberin vor ihm und reichte ihm ihre Unterlagen. „Sie scheinen sich nicht im Sekretariat angemeldet zu haben?“

„Nein. Dort war man beschäftigt.“

„Sie sind Catrin Sommerblom?“

Die Angesprochene nickte.

Ihre Unterlagen schob er beiseite. Die interessierten ihn nicht. Ihn interessierten die Entschlossenheit, die diese Frau ausstrahlte und gleichzeitig ihre Unsicherheit, die sie zu verdecken suchte. Was verbarg sich hinter deren hoher Stirn in dem schmalen, feingeschnittenen Gesicht? Was ist an diesem Hilfsjob so großartig, dass sich selbst solch aparte Frauen darum bewerben?, fragte er sich. „Was haben Sie zuletzt gemacht?“

„Ich bin Biologin und augenblicklich ohne Job.“

„Und mit der Ausbildung können Sie Hausmeisterin?“

„Ich kann.“

„Aha. Ich verstehe dennoch nicht ganz, warum Sie sich gerade bei uns für einen Vier-Monats-Job bewerben.“

„Wegen der Wohnung und wegen des Geldes. Warum sonst? Glauben Sie mir, ich bin die Richtige dafür. Als Reinigungskraft habe ich in den Semesterferien gearbeitet – denn ich gehe davon aus, dass ich als Hausmeisterin auch saubermachen soll? Es handelt sich doch um jenes Objekt, das derzeit saniert wird? Da fällt ja reichlich Dreck an.“

Stübbe stutzte. „Woher wollen Sie das wissen, Frau Sommerblom?“

„Stand doch in der Anzeige. Außerdem habe ich mir die Häuser in der angegebenen Straße angeschaut.“ Sie lächelte ihr Gegenüber gewinnend und selbstbewusst an.

Stübbe überlegte. Es wurde Zeit, dass täglich eine Person anwesend war, im Haus schien alles drunter und drüber zu gehen. Hier musste behutsam vorgegangen werden. Aber er fand, dass er durchaus Glück hatte, denn dieses Gebäude unterlag nicht dem Denkmalschutz, so hatte er freie Hand. Die anderen Häuser mussten unter ganz anderen Aspekten saniert werden. Protestierende Mieter wollte er nicht und die konnte die Firma auch nicht gebrauchen.

„Was wäre noch zu tun?“, fragte Catrin und blitzte ihn charmant an.

„Reinigung, das Haus in Ordnung halten, Bedienung der Heizung, Treppen- und Straßenreinigung, sich in diesem besonderen Fall um die Mieterinnen kümmern, Ärger dämpfen – ja, dort es ist jetzt ein bisschen laut, das ist nicht zu vermeiden. Können Sie kleinere Reparaturen? Auch ein- und ausschrauben? Sagen wir mal, in unserem Sinne handeln, wenn Sie verstehen, was ich meine?“

„Kann ich. Und ich verstehe.“

„Das möblierte Apartment für Sie befindet sich im Erdgeschoss. Zweiundzwanzig Quadratmeter und vorübergehend als Hausmeisterwohnung gedacht. Nach Beendigung Ihrer Tätigkeit geht die Wohnung an uns zurück. Sie werden sie nicht darüber hinaus mieten können, falls Sie daran denken. Sie leben alleine?“

Sie nickte.

„Gut so. Das ist keine Wohnung für eine Familie!“ Stübbe blickte auf. „Greifen Sie auch mal durch, wenn es nötig ist.“

„Das heißt, ich ziehe kostenfrei ein und bekomme vierhundertachtzig Euro monatlich?“

Noch zögerte er. Er konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet eine Biologin diesen dreckigen Job für so wenig Geld machen wollte. Wegen der Wohnung? Wieder blickte er die Bewerberin an. Eigentlich zu lange. Das sieht nach Interesse aus, mein Gott, ermahnte er sich. Roland, wo kommen wir denn hin, eine kleine Arbeiterin attraktiv zu finden! Und dennoch bohrte ein Gedanke: Als wenn ich sie schon mal gesehen hätte … Ist ja möglich. Auf Rügen war ich ja nun oft genug.

Er schob ihr einen vorbereiteten Werkvertrag zu.

 

***

 

Allmächtiger! Der sagt wirklich zu! Das gab ihr Mut.

Bevor sie sich verabschiedete, blickte sie Stübbe prüfend an und packte ihr Erstaunen darüber, tatsächlich dem Firmeninhaber gegenüberzustehen, tief in sich hinein.

Auf dem Platz fühlte sie sich endlich einmal wieder beschwingt und leicht. Sie holte die kleine Kamera, eine Pentax, hervor, um die Stimmung auf dem Alten Markt einzufangen. Dieses Grau, das sie vorhin durch die Scheiben gesehen hatte, begann sich schon aufzulösen. Sie zoomte das Rathaus heran, ging weiter zur Nikolaikirche und fotografierte Fenster um Fenster. Die Aufnahmen wollte sie später bearbeiten, wenn sie wieder einen Internetanschluss besaß. Wohl hoffentlich in der neuen Hausmeisterwohnung, obwohl sie vergessen hatte, danach zu fragen.

 

Auch er war zufrieden. Das war vom Tisch. Er wollte durch die Hausmeisterin in regelmäßigen Abständen wissen, wie die Mieterinnen reagierten, was sie sagten, ob sie sich beleidigend über ihn und die Firma äußerten. Denn die Frauen mussten raus. So hatten er und Karsten Heinrich es geplant. Das Saubermachen war nicht so wichtig, aber das Hören, damit er sofort reagieren konnte. Das alles musste Zug um Zug gehen, ein aufwändig sanierter Altbau rechnete sich. So etwas mochten die Leute aus den großen Städten. Seine Firma machte ihr Geld weniger mit der Vermietung von Wohnungen, das Zauberwort hieß: Sanierung. Aus abgewohnten Räumen und Häusern Großartiges zu machen – bisherige Mieter rauszukriegen. Hauptsache, die Gebäude befanden sich in einer sehr guten oder interessanten Lage, die das gewisse Etwas aufwies – um dann wieder zu verkaufen. Momentan hatten sie die Gegend um die Heilgeiststraße herum im Visier. Stübbe hatte sich die alten Gebäude aus beinahe nostalgischen Gründen ausgesucht. Interessenten gab es reichlich. Auch in der kleinen Stadt Barth war er tätig. Eine Stadt, in der man Geschichten erzählen und die Kraniche sehen konnte. Aber eben dort wie hier: Eigentümer zogen weg, starben, oder lebten ihre letzten Jahre im Altenheim. „Gewinnmaximierung“ gehörte zum Credo der Firma. Die Vorverhandlungen zu weiteren Objekten liefen gut.

Das aktuelle Gebäude hatte Stübbe ersteigert. Die Vorbesitzerin war gestorben, besaß keine Erben und die Bank hatte es zum Verkauf ausgeschrieben. Stübbe hatte zugelangt. Die sanierten Wohnungen sollten Mietobjekte und Zweitwohnsitz für gutsituierte Käufer werden. Stübbes Renditeerwartungen waren hoch. Und falls es Ärger gab, er hatte in Berlin mehrere Top-Anwälte. Berlin war für einige Jahre nach seinem Wegzug aus Ostwestfalen sein Revier gewesen. So lange, bis er sich in die Ostsee und deren Städte regelrecht verliebt hatte. In Berlin wollte er nicht unbedingt tätig sein, die Stadt wuchs und wuchs, fraß, spuckte aus und veränderte sich ständig. Er war, je älter er wurde, mehr der Typ für Beschauliches.

 

Ihm ging ein Telefongespräch nicht aus dem Kopf. Wieder einmal hatte er mit seinem Sohn gestritten. Dabei lag ihm nichts an Auseinandersetzungen. Er liebte den Jungen. Das war das eine. Sie kamen nicht miteinander zurecht. Das war das andere. Stübbe fand Bennos Wertvorstellungen etwas abseitig und fragte sich, wie man heutzutage ein Idealist sein konnte. Benno kann sich das nur leisten, solange er meine monatliche Überweisung bekommt, damit er sorglos studieren kann. Ohne Zuwendung wäre er kein Idealist. Er müsste arbeiten. Dazu kommt, der Bengel glaubt auch noch an Gott. Ich glaube an die Macht des Geldes. Geld ist meine Gleichung zu Gott.

Er goss Ingwertee in eine weiße Teetasse aus feinem Porzellan und einem eingebrannten blauen Segel auf der Vorderseite. Ein Gedeck davon stand immer auf dem Schreibtisch. Diese Zeremonie war eine der wenigen Dinge, die er aus seiner Ehe mitgenommen hatte. Da ließ er auch Frau Pritzkoleit nicht dran. Seit Wochen trank er Tee, um den Druck auf den Magen zu lindern.

Stübbe betrachtete die Architektenentwürfe: Sanierungsvorhaben Heilgeiststraße. „Gut. Sehr gut. Das geht. Die Wohnung von Frau Wanner wird geteilt. Dann haben wir ein Apartment mehr. Alle Wände raus, das schafft Platz, auf jeden Fall optisch. Pro forma werde ich der Wanner den Kauf anbieten. Denn ihre Wohnung wird Eigentum. Alles andere wird vermietet. Natürlich zu einem neuen Quadratmeterpreis. Biete ich den alten Damen auch an, dann kann keine meckern.“

Während er sich die Unterlagen äußerst zufrieden ansah, dachte er an die schon verwirklichten Projekte in Stralsund. Und auch an eins der ersten in dieser Stadt. Ist das lange her! Das Haus in der Külpstraße. Schon damals hatte er gewusst, dass sich Gebäude in einer historischen Altstadt rechnen würden. Die damals anberaumte Zwangsversteigerung war ein Glücksfall für ihn gewesen, er hatte günstig ersteigert, Kündigungen durchgesetzt, saniert und freute sich immer noch über die besonders schön gestaltete Kassettentür am Eingang. Den Einstieg als Immobilienmakler hatte er dringend gebraucht, damit man ihn ernst nahm. Gerade, weil er nicht aus der Stadt stammte. Einiger Ärger war zwar mit diesem Haus verbunden gewesen. Schwamm drüber, lange her. Und doch …