Leseprobe Mord in der Merton Library

Kapitel 1

Ein dumpfes Grollen erschütterte die Nacht, als öffnete sich unweit von ihnen der tiefste Abgrund der Hölle. Rotgolden vor dem schwarzen Himmel schossen Flammen empor und im nächsten Moment stürzte ein Teil des Daches des Gebäudes mit einer Kakophonie aus splitterndem Holz und herabfallenden Ziegeln ein. Ein Balken gab nach und warf einen Funkenregen auf, der in erschreckender Schönheit schimmerte, als er zur Erde sank.

So zart. Und so tödlich …

Charlotte, die Gräfin von Wrexford – wenngleich wohl niemand sie als solche erkennen würde, da sie sich vorzugsweise in Lumpen statt in edler Seide kleidete – zuckte zusammen, als eine Reihe von Fenstern in einem blendenden Lichtblitz explodierte. Der Knall drängte sie in die Schatten einer Gasse zurück, die an Cockpit Yard grenzte, eine Ansammlung von Backsteingebäuden südlich des Foundling Hospital in Bloomsbury.

Schreie ertönten aus allen Himmelsrichtungen, als die Schaulustigen von der Feuersbrunst zurückgedrängt wurden. Dann rumpelte ein mit überschwappenden Eimern befüllter Wagen an ihr vorbei.

Eine Gruppe von Männern rutschte und stolperte über die rauchenden Trümmer, schaffte noch ein paar Schritte und blieb dann stehen, um einen Schwall Wasser auf die Flammen zu schütten, bevor sie sich für eine weitere Ladung zurückzogen.

Charlotte schnappte nach Luft und strich sich mit der Hand über ihr Gesicht, was ihrer Stirn eine weitere Schicht düsteren Rußes hinzufügte. Sie hatte erst vor einer Stunde von dem Feuer erfahren und war sofort entschlossen gewesen, es sich selbst anzusehen, nachdem sie sich in ihre zweite – oder war es die dritte? – Verkleidung gehüllt hatte. Gassenkind … elegante Gräfin … Londons beliebtester Satiriker …

Sie wandte ihren Blick von den Schatten ab und zwang sich dazu, sich auf den Grund für ihr Hiersein zu konzentrieren. Unter dem Pseudonym A.J. Quill informierte sie die Öffentlichkeit mit ihren farbenfrohen satirischen Zeichnungen über die aktuellen Skandale, Politik und ernste soziale Themen der Zeit.

Brände wüteten in London jeden Tag. Doch dies war kein gewöhnlicher Brand. Das brennende Gebäude beherbergte das Laboratorium von …

Eine flüchtige Bewegung in ihrem Augenwinkel erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Gruppe von Männern, die sich nasse Tücher um Nase und Mund gewickelt hatten, näherte sich schnell den Flammen. Ein Rauchschwall schlug plötzlich einem der Anführer den Hut vom Kopf, was den Blick auf sein guineagoldenes Haar freigab.

Für einen Augenblick blieb ihr der Atem in der Kehle stecken.

Gütiger Gott – was macht Kit hier?

Christopher Sheffield war der engste Freund ihres Mannes seit ihrer gemeinsamen Zeit in Oxford und Charlotte hatte im Laufe eines halben Dutzends gefährlicher Ermittlungen eine ebenso starke Bindung zu ihm aufgebaut.

Eine Freundschaft, geschmiedet durch Feuer, dachte Charlotte mit einem schiefen Lächeln.

Plötzlich blickte Sheffield in ihre Richtung. Er zögerte nur einen Herzschlag lang, als sie in die Schatten trat. Rauch trübte die Luft, aber er hatte sie oft genug in ihrer Verkleidung als Gassenkind gesehen, um ihre Silhouette zu erkennen. Eine subtile Geste – eine winzige Handbewegung – bestätigte ihr, dass er sie gesehen hatte. Dann ging er weiter.

Glas knirschte unter ihren Füßen, als die Männer zum anderen Ende des Gebäudes eilten, das noch nicht in Flammen stand, und hastig die Seitentür eintraten.

Teufelszahn – sind dort etwa arme Seelen gefangen?

Angst stieg ihr in die Kehle, als sie beobachtete, wie sie von dem schwarzen Schlund verschluckt wurden. Charlotte wirbelte herum und stürzte aus ihrem Versteck, um dorthin zu gelangen, wo Sheffield und seine Begleiter verschwunden waren. Das Donnern von krachenden Balken und einstürzenden Wänden wurde lauter – in der Luft lag ein unheilvolles Knistern.

Verflucht, Kit – es ist zu gefährlich, sich in ein derartig wütendes Inferno zu stürzen.

Sie verlangsamte ihren Schritt, als der Rauch dichter wurde. Dann hielt sie inne, um nach einem Weg durch die aufgewirbelte Glut zu suchen, und machte einen Schritt …

Plötzlich ertönte das Klappern von eisenbeschlagenen Hufen auf Stein und das Poltern eines weiteren Kutschenwagens, der um die Ecke raste.

Charlotte machte einen kontrollierten Atemzug und wählte einen Umweg, der das Schlimmste der herabfallenden Trümmer und die verzweifelten Versuche, die Flammen zu löschen, umging. In der Vergangenheit hätte sie die eklatante Gefahr vielleicht ignoriert, aber ihre kürzliche Heirat hatte ihr nicht nur große Freude bereitet, sondern auch das Bewusstsein für ihre Verantwortung gegenüber ihren Lieben verstärkt. Nicht, dass sie ihre Leidenschaften jemals aufgeben würde.

Sie duckte sich und ging in der Öffnung einer Gasse in Deckung, als ein Wirrwarr von sich kreuzenden Laternenstrahlen über den Hof fegte.

„Weg da, ihr kleinen Gossenratten“, brüllte eine Gruppe von Nachtwächtern, die versuchten, sich durch all den Lärm und die Verwirrung hindurch bemerkbar zu machen. Mit ihren Knüppeln fuchtelnd, begannen sie, die Straßenkinder zurückzudrängen, die sich auf der gepflasterten Fahrbahn angesammelt hatten, um das Feuer zu bestaunen.

Charlotte schlich sich in die Schatten am Rande der Straße und bahnte sich im Schutze der Dunkelheit heimlich ihren Weg zum anderen Ende des Gebäudes.

Ich bin gewiss keine konventionelle Ehefrau, dachte sie und hielt inne, um sich einen Überblick über ihre Umgebung zu verschaffen. Eine Tatsache, die ihren Mann gelegentlich zur Verzweiflung trieb.

Ihre Lippen zuckten. Sei’s drum. Wrexford war vielleicht nicht immer einverstanden mit ihren Leidenschaften, aber sie wusste, dass er sie mit Herz und Seele bewunderte. Deshalb waren sie trotz der äußerlichen Unterschiede – Vernunft gegen Intuition – ein perfektes Paar.

Einen Moment lang wünschte sich Charlotte, Wrexford wäre hier an ihrer Seite. Sollte Sheffield …

Ein erschütterndes Bersten holte ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.

Sie ging näher an die zertrümmerten Türen heran. Umrahmt von den ächzenden Zargen und knarrenden Scharnieren, schien die Öffnung sie durch die geisterhaften Rauchschwaden finster anzustarren. Sie war schwarz wie der Hades …

Charlotte glaubte, ein winziges Flackern von Licht zu sehen, doch es war im Nu verschwunden.

Teufel noch eins. Sheffield war Teil der Familie – vielleicht nicht im traditionellen Sinne, aber in jeder Hinsicht, auf die es ankam. Zur Hölle mit den Gefahren – sie konnte nicht einfach davonlaufen.

Sie wollte gerade voranschreiten, da blitzte das Licht erneut auf und wurde stärker. Als ihr Windböen entgegenschlugen und ein seufzender Chor der sich biegenden Dachschindeln über ihr ertönte, blinzelte sie durch die Wolken aus erstickendem Rauch und aufgewirbelter Asche. Ein wirres Durcheinander aus dunklen Gestalten materialisierte sich zu einer Gruppe von Männern, die mit einer Ladung Kisten rangen.

Als Charlotte ihren Hals reckte, entdeckte sie den goldenen Haarschimmer. „Gott sei Dank“, flüsterte sie.

Zu ihrer Rechten ertönten hektische Rufe. Rot-goldene Feuerzungen leckten plötzlich aus einer Lücke in der Außenmauer auf.

„Aus dem Weg! Aus dem Weg!“ Eine Eimerbrigade trudelte heran und ein Schwall Wasser löschte die Bedrohung.

Sie zog sich in die Gassen zurück, als Sheffield und seine Begleiter aus dem Gebäude stolperten und mit ihren Lasten die Straße überquerten.

„Mehr Wasser!“, rief der Mann neben Sheffield und winkte verzweifelt in Richtung der Löschkutsche. „Wenn wir schnell arbeiten, können wir verhindern, dass das Feuer auf diesen Teil des Gebäudes übergreift.“

Charlotte erkannte ihn trotz des wirbelnden Lichts und der Schatten – es war Henry Maudslay, der brillante Erfinder, dessen Ingenieurskunst ihn unter britischen Wissenschaftlern berühmt gemacht hatte.

Und in diesen Tagen wurde sein Name dank ihrer Serie von Zeichnungen über Fortschritt in der Öffentlichkeit noch bekannter.

Maudslay stellte die Kiste ab, die er in seinen Händen hielt, und eilte los, um die Eimerbrigade zu unterstützen. Die anderen taten es ihm gleich.

Alle bis auf Sheffield, der zögerte und sich auf dem Hof umsah.

Noch immer versteckt in den Schatten, machte Charlotte mit einem leisen Pfiff auf sich aufmerksam.

Er überquerte das Kopfsteinpflaster, um zu ihrer Seite des Hofes zu gelangen, und drehte sich um, als wolle er sich ein Bild von dem Ausmaß des Schadens machen. „Es gibt keinen Grund für Sie, hier zu bleiben. Wir müssen lediglich die restlichen Flammen unter Kontrolle bringen“, sagte er, gerade laut genug, dass sie es hören konnte. „Gehen Sie nach Hause. Ich komme so bald wie möglich nach und erkläre Ihnen, was ich über die Geschehnisse hier weiß.“

„Aye“, willigte Charlotte ein und fügte hinzu: „Seien Sie vorsichtig.“

Dann verschwand sie in der Dunkelheit. Sheffield hatte recht. Sie hatte gesehen, was sie für eine mögliche Zeichnung sehen musste. Es gab hier nichts mehr für sie zu tun …

Außer sich zu wundern, ob es nur ein Zufall war, dass das neue Forschungslaboratorium von Henry Maudslay in Flammen stand.

***

„Da gehe ich aus, um bei Port und Brandy eine entspannende Diskussion mit Gelehrten zu führen, und plötzlich …“ Mit einem gequälten Seufzen warf der Graf von Wrexford einen unheilvollen Blick auf Charlotte, die trotz ihrer jetzt konventionellen Kleidung noch immer eine Spur von Ruß im Gesicht und Asche im Haar hatte.

„Und plötzlich bricht die Hölle los“, beendete er, als Sheffield das Arbeitszimmer des Grafen betrat.

Taktvoll ignorierte Charlotte das Murren ihres Mannes und eilte hinüber, um ihrem Freund aus seinem durchnässten Mantel zu helfen. Sie schüttelte ihn und entsandte einen beißenden Geruch von verbrannter Wolle und abgestandenem Rauch. Dann legte sie ihn über einen der Arbeitshocker.

„Soll ich Ihnen einen Whiskey oder einen Brandy einschenken?“, fragte sie und bot Sheffield ein nasses, mit heißem Lavendelwasser getränktes Tuch an.

Er nahm es und warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor er sich den Dreck aus seinem Gesicht wischte. „Ich bin mit allem zufrieden, solange es flüssig ist“, murmelte er. Das helle Lampenlicht offenbarte, dass die Hitze des Feuers sein Gesicht gerötet hatte.

Als ihr Freund sich eine Strähne seines Haares aus der Stirn strich, sah Wrexford, dass es an mehreren Stellen angesengt war.

„Setzen Sie sich, Kit“, sagte der Graf und reichte Sheffield, der schwach auf den Beinen wirkte, die Hand. Nachdem er ihn in einem der Sessel neben dem Kamin platziert hatte, fügte er hinzu: „Sie sehen fürchterlich aus.“

Charlotte brachte Sheffield eilig ein Glas.

Eine gute Wahl, dachte Wrexford. Schottischer Malt war stärker als französischer Brandy.

„Woher wussten Sie von dem Feuer?“, fragte sie.

Sheffield schloss für einen Moment die Augen und nahm einen langen Schluck von dem bernsteinfarbenen Schnaps, bevor er antwortete. „Einer unserer Angestellten hat mit Freunden in einer nahe gelegenen Taverne getrunken, als das Feuer ausgebrochen ist.“

Sheffield und seine Verlobte, Lady Cordelia Mansfield, waren Teilhaber eines sehr profitablen Schifffahrtsunternehmens – selbstverständlich im Geheimen, denn die Konventionen der Beau Monde untersagten es Aristokraten, ihre Hände mit Handel zu beschmutzen. „Er hat mir sofort eine Nachricht geschickt, da er um mein Interesse an Maudslays Arbeit weiß.“

Wrexford runzelte die Stirn. Maudslays Fachwissen im Ingenieurswesen schien nicht mit den praktischen Erfordernissen eines möglichst effizienten Warentransports in Verbindung zu stehen.

„Was genau interessiert Sie daran?“, fragte er.

Henry Maudslay war in der wissenschaftlichen Welt für die Entwicklung innovativer Drehbänke berühmt, die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Massenproduktion von austauschbaren Teilen für Dampfmaschinen, Webstühlen und eine Vielzahl anderer wichtiger mechanischer Geräte verbesserten. Das mag für die meisten Menschen banal klingen, sinnierte der Graf, doch in Wahrheit revolutioniert es viele Industriezweige.

„Er hat an einem speziellen Projekt gearbeitet, bei dem es um eine neuartige Konstruktion für eine Dampfmaschine geht“, antwortete Sheffield.

Wrexford war noch immer verblüfft. „Was hat das mit Ihrem Geschäft zu tun?“

Sheffield legte seine Fingerspitzen an die Schläfen. „Eine ganze Menge. Er arbeitet an einer radikalen Idee, die den Transport von Waren und Menschen rund um den Globus revolutionieren würde – ein Schiffsantriebssystem, das eine Dampfmaschine nutzt.“

Die Antwort machte Wrexford stutzig. „Aber das ist kaum neu oder revolutionär. Lord Stanhope, trotz seiner Exzentrik ein begabter Mann der Wissenschaft, experimentierte bereits Ende des letzten Jahrhunderts mit dampfbetriebenen Booten. Und ich glaube, mich zu erinnern, dass ein schottischer Ingenieur im Jahr 1803 ein kommerzielles Dampfschiff einführte. Ich meine, es hieß Charlotte Dundas. Soweit ich weiß, hat es sich als sehr erfolgreich beim Ziehen von Lastkähnen auf den Kanälen von Schottland erwiesen.“

„Und der Amerikaner Robert Fulton hat vor sieben Jahren in New York City das erste erfolgreiche Flussdampfschiff entwickelt“, warf Charlotte ein. „Zugegeben, die Amerikaner scheinen fortschrittlicher zu sein als wir, aber ich erinnere mich auch an eine andere Innovation mit einem Dampfschiff in Schottland. Dank Henry Bell hat vor zwei Jahren die PS Comet den Betrieb im Passagierverkehr auf dem Fluss Clyde aufgenommen.“

„Maudslays Schiffsantriebssystem ist nicht für Kanäle und Flüsse gedacht“, sagte ihr Freund.

Charlotte blinzelte überrascht. „Sie meinen, es soll dazu dienen …“

„Ozeane zu überqueren“, bestätigte Sheffield.

„Das wäre in der Tat revolutionär.“ Wrexford machte einige schnelle Kopfrechnungen. „Die Größe, das Gewicht, der Treibstoffbedarf für eine so lange Reise …“ Er schürzte die Lippen. „Sicherlich machen die praktischen Einschränkungen einen solchen Traum unmöglich.“

Sheffield hustete, was ihn zusammenzucken ließ. „Neue technologische Ideen scheinen immer unmöglich – bis jemand einen Weg findet, sie umzusetzen.“

„Da gebe ich Ihnen recht“, räumte der Graf ein.

„Wie Sie selbst gesagt haben, gibt es bereits dampfgetriebene Schiffe, aber die derzeitige Technologie ist nicht in der Lage, die Unbilden der Seefahrt zu bewältigen“, fuhr Sheffield fort. „Wir befinden uns also in einem großen Rennen, um zu sehen, wer einen Weg finden wird, der Herausforderungen Herr zu werden – und der Gewinner wird über unergründliche Macht verfügen.“

Er tippte mit den Fingerspitzen aneinander und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Denken Sie einmal darüber nach. Die Verzweigungen sind tiefgreifend – wirtschaftlich, politisch, militärisch – es ist also keine Überraschung, dass eine Reihe von Gruppen an der Entwicklung eines erfolgreichen Modells arbeitet. Es ist nicht nur die Dampfmaschine, die überarbeitet werden muss. Die derzeitige Antriebsart sind Schaufelräder, die den Stürmen und Wellen der Ozeane nicht gewachsen sind.“

„Was ist die Alternative?“, fragte Wrexford.

Sheffield verzog das Gesicht. „Wenn ich die Antwort darauf wüsste, wäre ich ein sehr reicher Mann.“ Er seufzte. „Der Wettbewerb ist hart. Vor allem mit den Amerikanern, die die meiste Erfahrung mit Schiffsmotoren und Antriebssystemen haben. Cordelia und ich haben von unserem Geschäftsagenten in New York gehört, dass es mehrere Dampfschifffahrtsunternehmen gibt, die miteinander konkurrieren, um ein brauchbares Hochseeschiff zu entwickeln.“

„In Anbetracht ihrer Überzeugung, unsere starke Marine und unser Handel mit dem Osten sei das Lebenselixier unserer Nation, könnte ich mir vorstellen, dass unsere Regierung ebenfalls an dem Rennen beteiligt ist“, sagte Wrexford.

„Das würde Sinn ergeben“, entgegnete Charlotte. „Wenngleich ich mich vage an einen Vortrag von einigen der besten Ingenieure der Royal Navy erinnere …“ Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Und an die Tatsache, dass sie zwar große Innovationen in der nautischen Technologie erwarten, aber glauben, dass diese Entdeckungen noch immer hinter dem Horizont liegen.“

„Die Royal Navy ist nicht die einzige Einrichtung in Großbritannien, die sich dieser Herausforderung angenommen hat“, erwiderte Sheffield. „Vor acht Monaten hat ein Konsortium unter der Leitung des Grafen von Taviot sein Engagement im Bereich des Schiffsantriebs verkündet. Es heißt, sie haben eine Koryphäe auf diesem Gebiet als ihren technischen Direktor, der seit einigen Jahren in Amerika mit den führenden Konstrukteuren von Dampfschiffen zusammenarbeitet.“ Er hielt für einen langen Schluck von seinem Whiskey inne. „Darüber hinaus beginnen Taviot und seine Partner damit, einige sehr prominente Namen anzuwerben, die in ihr Unternehmen investieren sollen. Geld ist der Schlüssel, denn Innovation ist nicht billig.“

„Sein Innovationsgenie und seine Erfahrung im Ingenieurswesen verschaffen Maudslay in diesem Land sicherlich einen Vorteil“, sagte Wrexford.

„Der heutige Brand ist ein großer Rückschlag. Eine Reihe seiner Präzisionsdreh- und Fräsmaschinen sind durch die extreme Hitze beschädigt worden. Wenn man bedenkt, wie lange es dauern wird, sie wieder aufzurüsten, könnte er zu weit zurückfallen, um den Rückstand gegenüber den anderen wieder aufzuholen.“ Sheffield runzelte die Stirn. „Maudslay hat tatsächlich mit mir über eine Investition in sein Projekt gesprochen. In letzter Zeit hat er jedoch einige Vorbehalte gegen seinen Erfolg geäußert. Er ist sich sicher, dass jemand einen theoretischen Entwurf vorlegen wird, der funktioniert. Aber er befürchtet, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht die Möglichkeit haben, die ausgefeilten Maschinen zu bauen, die für die Herstellung eines funktionierenden Modells erforderlich sind.“ Sheffield fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. „Davon abgesehen, schien Maudslay darüber verärgert zu sein, dass er seine letzten technischen Zeichnungen nicht in den geborgenen Kisten gefunden hat. Er ist sich ziemlich sicher gewesen, dass er sie in dem Teil des Laboratoriums untergebracht hat, in dem die Flammen sich nicht ausgebreitet haben.“

„Papier ist furchtbar empfindlich“, merkte Charlotte an. „Ein verirrter Funke könnte hineingeflogen sein und sie in Brand gesetzt haben.“

„Möglicherweise“, sagte ihr Freund. Doch sein Blick blieb beunruhigt.

Wrexford sagte nichts.

„Jedenfalls ist es wahrscheinlich, dass noch andere an der Herausforderung arbeiten“, dachte Sheffield nach längerem Schweigen laut. „Ich habe Gerüchte gehört, dass Zar Alexander von Russland verzweifelt versucht, eine Seemacht zu werden, und seine Fähigkeit, Handelsrouten rund um die Welt zu etablieren, ausbauen will.“

„Die Russen haben lediglich einen großen Hafen auf der Insel Kotlin, gleich westlich von St. Petersburg“, sagte Charlotte. „Es scheint Wunschdenken zu sein, dass sie eine Seemacht werden wollen. Zumal das Wetter auf der Ostsee so unberechenbar ist.“

„Ein Grund mehr, sich Hochseedampfer zu wünschen. Es heißt, der Zar habe Robert Fulton ein Monopol auf alle kommerziellen Flussrouten in Russland angeboten, wenn er nach St. Petersburg kommt und dort die Dampfschifftechnik entwickelt“, knurrte Sheffield.

Charlotte runzelte nachdenklich die Stirn.

„Aber trotzdem haben Sie recht“, fügte er hinzu. „Ich glaube nicht, dass die Russen in diesem Rennen eine Rolle spielen werden. Ich setze auf die Amerikaner.“

Wrexford bemerkte, dass in der Stimme seines Freundes ein Hauch der Verunsicherung mitschwang.

„In ihrem Land ist ein Mann frei – ja, er wird sogar ermutigt –, seine Fähigkeiten und Talente auszuleben. Frei von den Zwängen der gesellschaftlichen Stellung. Während uns die Traditionen unserer Vergangenheit Ketten anlegen und die Aristokratie es uns verbietet, die Vorteile einer sich verändernden Welt zu nutzen und vom Aufbau der Zukunft zu profitieren. Das macht absolut keinen Sinn!“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung, Kit“, begann Wrexford.

Sheffield war zu aufgewühlt, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Stimme wurde lauter, als er fortfuhr. „Die industrielle Revolution hat so viele Innovationen hervorgebracht, die wiederum so viele neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet haben. Neue Unternehmen entstehen im ganzen Land. Investitionsmöglichkeiten gibt es im Überfluss. Und ein neuer Typus von Männern taucht auf, um von all dem zu profitieren. Die Franzosen haben ein Wort für sie – Entrepreneurs, abgeleitet von entreprendre, was soviel wie unternehmen bedeutet. Wir brauchen diesen Geist hier in Britannien.“

„Sie haben sich selbst zu dieser Art von Mann gemacht, Kit. Und das ist etwas, worauf Sie sehr stolz sein sollten“, betonte Wrexford. „Ein Mann, dessen Investitionsgeschick und Bestreben, ein Unternehmen zu gründen, ein perfektes Beispiel für das sind, was Sie soeben beschrieben haben.“

„Ja, doch ich bin immer noch so verflucht eingeschränkt in dem, was ich tun kann. Ich muss die Tatsache verbergen, dass ich ein Unternehmen führe, und so tun, als wäre ich nichts weiter als ein träger Nichtsnutz. Es ist …“ Er murmelte einen Fluch. „Es ist verdammt frustrierend.“

„Ich verstehe Ihre Gefühle“, antwortete Charlotte.

„Teufel noch eins, ich bin mir bewusst, dass intelligente und fähige Frauen wie Sie und Cordelia noch wütender sein müssen.“ Sheffield sah sie mit entschuldigender Grimasse an. „Die Regeln, die bestimmen, was Sie tun oder nicht tun können, sind unvorstellbar streng.“ Ein Seufzen. „Es ergibt keinen Sinn, dass die Hälfte der Bevölkerung behandelt wird wie irrationale Gänse.“

„Vielleicht werden Intellektuelle wie Mary Wollstonecraft, die Manifeste über die Rechte der Frauen schreiben, schließlich Veränderung bewirken“, antwortete sie. „Aber ich werde nicht den Atem anhalten und darauf warten.“

Wrexford lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Es ist wahr. Wenn wir unsere Einstellung nicht ändern, werden wir von fortschrittlich denkenden Ländern wie Amerika überholt.“

„Meine Worte, die Welt verändert sich.“ Sheffield trank den Rest seines Whiskys in einem Zug aus. „Und bei Gott, wir sollten uns besser mit ihr verändern.“

Der Graf erhob sich und ging zur Anrichte. „Lassen Sie mich Ihnen noch ein Glas einschenken.“

Sheffield winkte ab. „Dampfmaschinen mögen aus Eisen geschmiedet sein, aber ich bin aus Fleisch und Knochen.“ Ein Grunzen. „Und im Moment schmerzt jeder Teil davon wie der Teufel. Ich denke also, es ist das beste, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen und mich in mein Bett zu verkriechen.“

„Wir werden Ihnen die Kutsche rufen, Kit“, sagte Charlotte.

„Nein, nein.“ Er winkte ab. „Es ist nur ein kurzer Weg zu mir und ich brauche frische Luft, um meine Lungen zu befreien.“

Wrexford begleitete ihn bis zur Haustür und ging dann gedankenverloren zu Charlotte zurück.

„Warum das lange Gesicht?“, fragte er, als sie das Sortieren der Bücher auf seinem Schreibtisch einstellte und aufblickte. „Abgesehen von den Rußflecken an deinem Kinn.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln, doch ihr Blick blieb beunruhigt. „Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Ein Zögern. „Es ist nur so, dass … von dem Moment an, als ich Cockpit Yard betreten habe, hat sich ein schlechtes Gefühl in mir ausgebreitet.“

„Berufst du dich auf Fakten?“, fragte er. „Oder Intuition?“

Sie beide waren sich oft uneinig darüber gewesen, ob die Vernunft den Gefühlen übergeordnet sein sollte. Sie waren noch immer unterschiedlicher Meinung – oft um Welten –, doch Wrexford hatte gelernt, ihre Überzeugung, dass die Logik nicht immer eine Antwort auf die Komplexität der menschlichen Natur hatte, zu respektieren.

„Sagen wir einfach, dass ich ein unsichtbares Gespenst des Ärgers gespürt habe, das in den Schatten gelauert hat. Und ich fürchte, dass es sich schon bald zeigen wird.“

***

Raven nahm zwei Stufen der Hintertreppe mit jedem Schritt. Der ältere Bruder der beiden Gassenkinder, die nun offiziell Charlottes und Wrexfords Mündel waren, erreichte den obersten Treppenabsatz und steuerte auf das Schulzimmer zu, wo sein jüngerer Bruder Hawk und ihr Freund Peregrine warteten.

„Ich glaube, Mylady und Wrex verbergen etwas vor uns“, verkündete er, nachdem er die Tür leise geschlossen hatte.

Der große eisengraue Hund, der neben den beiden Jungen auf dem Teppich lag, spitzte die Ohren und gab ein leises Wuff von sich.

„Was?“, fragte Hawk.

„Keine Ahnung“, murmelte Raven, bevor er ein Buch auf einem der Schreibtische ablegte und sich zu ihnen auf den Boden setzte. „Mylady hat mir gesagt, das Feuer sei kein Grund zur Beunruhigung, als sie nach Hause gekommen ist.“

Es war Raven gewesen, der während des Besuchs eines Freundes an der Straßenecke nahe Cockpit Yard, die dieser regelmäßig fegte, von dem Feuer erfahren hatte. Er war schnell zum Berkeley Square geeilt, um die anderen zu informieren, aber Charlotte hatte ihm verboten, mitzukommen, als sie es sich selbst hatte ansehen wollen.

„Aber angesichts dessen, was ich gerade gehört habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass da etwas faul ist.“ Raven runzelte die Stirn. „Sie versucht, uns vor den schmutzigen Dingen des Lebens zu schützen“, fuhr er fort. „Als hätten wir nicht schon das Schlimmste der menschlichen Natur gesehen.“

Er und sein jüngerer Bruder waren einst obdachlose Waisenkinder gewesen und hatten sich durch die verwahrlosten Elendsviertel Londons schlagen müssen. Doch nach einer zufälligen Begegnung mit Charlotte hatte sie sie unter ihre Fittiche genommen.

„Aye“, stimmte Hawk zu. „Sie und Wrex sollten wissen, dass wir nicht die Absicht haben, uns in kleine anständige Aristokraten zu verwandeln.“ Ihr erstes Aufeinandertreffen mit Wrexford war nicht gut verlaufen. Er hatte sie „Wiesel“ genannt, weil Raven ihm ins Bein gestochen und Hawk ihm eine zerbrochene Flasche an den Kopf geworfen hatte.

Er hatte ihnen jedoch schon vor langer Zeit verziehen, da sie ihn für eine Bedrohung für Charlotte gehalten hatten. Doch zur Belustigung aller war der Spitzname geblieben. Er war nun eine Quelle der Heiterkeit und für die Wiesel selbst ein Ehrenabzeichen.

„Übrigens, woher weißt du, dass es Ärger gibt?“, fragte Hawk. „Hast du gelauscht?“

„Nein … genau genommen nicht“, antwortete Raven. „Ich habe gerade nach einem bestimmten Buch in Wrex‘ Bibliothek gesucht, als ich gehört habe, wie Mr. Sheffield etwas Verdächtiges an dem Feuer erwähnt hat.“

„Warum betrifft das Feuer Mylady und Lord Wrexford?“, fragte ihr Freund Peregrine – oder besser gesagt, Lord Lampson. Raven und Hawk hatten den verwaisten Erben in ihre Obhut genommen, als Wrexford und Charlotte in eine finstere Mordermittlung hineingezogen worden waren, die Peregrines Onkel und einen erschütternden Familienverrat involviert hatte.

Ihr Band war – im wahrsten Sinne des Wortes – durch Feuer geschmiedet worden und hatte die drei Jungen zu besten Freunden gemacht. Und da das Verhältnis zu seinen eigenen Verwandten angespannt war, hatte der exzentrische Haushalt um Charlotte ihn zum Ehrenmitglied der Familie erklärt. Eine Situation, die alle glücklich machte. Er verbrachte den ganzen August mit ihnen, bevor er zum College in Eton zurückzukehren würde.

„Weil“, antwortete Raven, „das Gebäude, das abgebrannt ist, Henry Maudslays Laboratorium gewesen ist.“

„Maudslay?“ Peregrines Augen weiteten sich. „Der geniale Erfinder und Ingenieur?“

„Aye. Mr. Sheffield findet es merkwürdig, dass einige technische Zeichnungen aus einem Teil des Gebäudes verschwunden zu sein scheinen, der von dem Feuer verschont geblieben ist. Und wir alle wissen …“ Raven gab ein mitfühlendes Seufzen von sich, bevor er fortfuhr. „Wir alle wissen, dass Eifersucht oder Gier Erfinder zu einem verlockenden Ziel machen.“

Peregrines verstorbener Onkel, der sich auf die Entwicklung fortschrittlicher mechanischer Geräte spezialisiert hatte, war von jemandem mit der Absicht, seine revolutionäre Innovation zu stehlen und sie für ein Vermögen zu verkaufen, ermordet worden.

Hawk nickte feierlich und warf einen Blick auf Peregrine, bevor er antwortete.

„Also, was werden wir tun?“

„Ich denke“, antwortete Raven, „dass wir morgen Abend ein wenig auf eigene Faust im Cockpit Yard herumschnüffeln sollten, um zu sehen, ob wir irgendwelche hilfreichen Informationen finden können.“

Kapitel 2

Trotz der langen Nacht wachte Charlotte früh auf und stellte fest, dass Wrexford bereits aufgestanden war. Möglicherweise war auch er von beunruhigenden Träumen geplagt worden.

Unsicher, warum sie noch immer ein Gefühl böser Vorahnung erfüllte, zog sie sich eilig an. Es gab keinen Grund für A.J. Quill, die Öffentlichkeit über das Feuer, so bedauerlich es auch gewesen sein mochte, zu informieren. Was den sogenannten Wettlauf um die Entdeckung eines seegängigen Antriebssystems betraf, so war sie auf diesem Gebiet bei Weitem nicht bewandert genug, um einen fundierten Kommentar zu verfassen.

Noch nicht. Sie hatte bereits eine Reihe von Drucken über Dampfmaschinen und deren bedeutende Auswirkungen auf die Gesellschaft angefertigt. Aber wenn diese neue Entwicklung so revolutionär war, wie Sheffield angedeutet hatte, verdiente sie vielleicht eine genauere Betrachtung.

Der betörende Duft von frisch gebrühtem Kaffee lockte sie in den Frühstücksraum. Wrexford war nicht hier, also schenkte Charlotte sich eine Tasse ein und machte sich auf den Weg zur Rückseite des Stadthauses.

In der Tür zu seinem Hauptarbeitszimmer blieb sie stehen. Er saß an seinem Schreibtisch, den Kopf nach vorn geneigt, das Gesicht halb in Schatten gehüllt. Sie vermutete, dass er das Flüstern der Hausschuhe auf dem Flur nicht gehört hatte, denn er blickte nicht auf.

Charlotte betrachtete einen Augenblick lang sein Profil. Selbst im Halbdunkel des frühen Morgens konnte sie all die feinen Schattierungen seines Ausdrucks erkennen, all die winzigen Furchen und Winkel seines Gesichts, das ihr so unsagbar ans Herz gewachsen war.

„Was ist los?“, fragte sie leise. „Hast du noch etwas über das Feuer erfahren?“

„Nein, nein.“ Er machte ein schiefes Gesicht. „Ich bezweifle, dass Kit vor dem Abendessen aufwachen wird.“

Doch in seiner Stimme schwang ein Unterton der Verunsicherung mit. „Was beunruhigt dich dann?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand Wrexford, der noch immer auf seinen Schreibtisch starrte.

Als sie etwas auf seiner Schreibunterlage entdeckte, das wie ein Brief aussah, begab Charlotte sich zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seine Schulter. „Würdest du mir das erklären?“

Er reichte ihr das einzelne Blatt Papier. „Das ist mit der Morgenpost gekommen.“

Es war eine kurze Nachricht, von sauberer Handschrift geschrieben und mit einer geschwungenen Unterschrift versehen.

Lord Wrexford, ich bitte Sie, mich so bald wie möglich in Oxford zu besuchen“, las sie vor. „Ich habe etwas äußerst Wichtiges mit Ihnen zu besprechen, das ich angesichts seiner Bedeutung nicht zu Papier zu bringen wage.

Charlotte blickte auf. „Wer ist Neville Greeley?“

„Ein Kerl, den ich in Oxford nur flüchtig kannte, als wir beide am Merton College studierten, und dem ich später in Portugal während des Krieges noch einmal kurz begegnete.“

Er hielt inne, doch Charlotte unterließ es, die offensichtliche Frage zu stellen. Sie spürte, dass hinter der simplen Erklärung des Grafen etwas Komplizierteres lauerte. Und so wartete sie und überließ es ihm, ob er ihr sagen wollte, was es war, oder nicht.

„Wie dem auch sei, er war …“ Wrexford wandte den Blick ab. „… der beste Freund meines Bruders.“

Sie verspürte ein Stechen des Mitgefühls in ihrer Brust. Der jüngere Bruder des Grafen, Thomas, war während einer Aufklärungsmission in Portugal getötet worden, als sein Kavallerietrupp in einen Hinterhalt der Franzosen gelockt worden war. Die beiden hatten sich sehr nahe gestanden, und sie wusste, dass Wrexford, so irrational es auch sein mochte, sich die Schuld dafür gab, dass er Thomas nicht hatte beschützen können.

„Tatsächlich“, fügte der Graf hinzu, „gehörte Greeley zu der Truppe, die in den französischen Hinterhalt ritt. Er wurde schwer verwundet, aber er überlebte – der einzige Mann, dem dies gelang, wie ich hinzufügen möchte.“ Wrexford hielt inne, um durchzuatmen. „Wie ich jedoch gehört habe, hat er sich nie ganz von dem Schrecken erholen können, zu sehen, wie seine Kameraden abgeschlachtet wurden.“

„Wie furchtbar.“ Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

„Ich habe ihm geholfen – privat, natürlich –, zum Oberbibliothekar des Merton College ernannt zu werden. Er war ein ausgezeichneter Gelehrter in Oxford, und ich habe gehofft, dass die Ruhe der akademischen Welt ihm helfen würde, seine inneren Dämonen zu besänftigen.“

Charlotte beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Der arme Kerl. Er hatte einen unvorstellbar schwierigen Weg zu beschreiten.“ Wrexford nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. „Und hier bin ich, ein Glückspilz, der mit allem Glück gesegnet ist, das ein Mann sich im Leben wünschen kann.“ Ein Seufzen. „Wenngleich ich nichts getan habe, um es zu verdienen.“

Sie sagte nichts. Wir wissen beide, dass das Leben ungerecht ist, wäre nichts weiter als eine Plattitüde und sie beide hassten Plattitüden.

Sie saßen in vertrautem Schweigen und Charlotte kannte ihren Mann gut genug, um zu spüren, dass ihre Nähe mehr Trost spendete, als Worte es vermochten.

„Ich fühle mich natürlich verpflichtet, ihn zu besuchen“, sagte er schließlich. „So bald wie möglich.“

„Natürlich“, stimmte sie zu. „Lass uns Tyler rufen.“

„Sicher schläft er noch. Man könnte meinen, er sei der träge Aristokrat, nicht ich.“

„Ha! Das habe ich gehört.“ Der Kammerdiener des Grafen, der zugleich als sein Laborassistent fungierte, trat mit einer Ladung frisch polierter Glasbecher in den Armen aus dem angrenzenden Lagerraum. „Die meisten Männer würden bei so einer Aussage glauben, dass ihre Dienste nicht gewürdigt werden.“

„Aber nicht Sie, Tyler“, sagte Charlotte. „Sie wissen ganz genau, dass Wrexford ohne Sie nicht überleben könnte.“

Der Graf gab einen unhöflichen Laut von sich.

„Stimmt“, sagte der Kammerdiener. „Wer sonst wäre gewillt, giftige chemische Flecken jeglicher Art von seiner Kleidung zu entfernen?“

„Apropos Kleidung“, fügte sie hinzu, „für seinen Besuch in Oxford muss Seiner Lordschaft ein Reisekoffer gepackt werden.“

Tyler wurde hellhörig. „Möchten Sie, dass ich Sie begleite?“ Der Kammerdiener war außerdem ein ausgezeichneter Detektiv und hatte bei ihren früheren Ermittlungen eine wichtige Rolle gespielt.

„Das ist nicht wirklich nötig“, antwortete Wrexford. „Es ist ein Privatbesuch, nichts weiter.“

„Ah?“, sagte Tyler mit hochgezogenen Augenbrauen. „Seit wann sind Sie so gesellig?“

Charlotte unterdrückte ein Grinsen, stand rasch auf und raffte ihren Rock. Ja, dies war ein äußerst exzentrischer Haushalt. „Kommen Sie, je eher wir packen, desto eher wird Wrex …“ Sie hielt abrupt inne. „Teufel noch eins … mir fällt gerade ein, dass ich als Gefallen der Gastgeberin gegenüber eine Einladung zu Lord und Lady Marquands Soiree angenommen habe, die morgen Abend zu Ehren der diplomatischen Delegation aus Sachsen-Coburg und Gotha stattfindet.“ Doch ihr Gesichtsausdruck hellte sich plötzlich auf. „Aber das ist nicht weiter schlimm. Kit und Cordelia sind ebenfalls eingeladen. Ich werde sie begleiten, um sie nicht zu enttäuschen.“

Wrexford, so bemerkte sie, sah ein wenig erleichtert aus. Er konnte das oberflächliche Treiben der höflichen Gesellschaft nicht ausstehen.

„Bist du sicher?“, fragte er.

„Absolut sicher“, antwortete Charlotte. An Tyler gerichtet, fügte sie hinzu: „Beeilen wir uns. Wenn Wrex die nächste Postkutsche der Royal Mail erwischt, wird er bis zum frühen Abend in Oxford sein.“

***

„Sie sind bereits zurück, Mylord?“ Der Oberportier kam aus seiner Loge im Torhaus, um Wrexford zu begrüßen, als dieser von der Straße in den Eingangsbogen des Merton College trat.

Der Graf lächelte. Er und Charlotte hatten während des Galabanketts und der Preisverleihungen, die kürzlich für die Monarchen aus Europa abgehalten worden waren, im College übernachtet.

„So scheint es.“

„Womöglich haben Sie erkannt, dass das Leben eines Akademikers ein idyllisches ist.“ Der Portier fügte einen wehmütigen Seufzer hinzu. „Sie waren ein brillanter Student während Ihrer Zeit hier in Merton, Sir. Schade, dass das für Sie nicht mehr infrage kommt.“

Dozenten des Colleges war es nicht gestattet zu heiraten. Die männliche Kameradschaft des High Table, ein gesonderter Bereich für Dozenten und Vorstehende im Speisesaal von Merton, mit seinen nächtlichen Ritualen des vornehmen Dinierens und teuren Weins, galt als die einzige Beziehung, die im Leben wirklich zählte.

„Trotz der unbestreitbaren Reize von Merton bereue ich meine Entscheidung nicht“, erwiderte der Graf.

Der Portier sah nicht überzeugt aus. „Der Rektor hat gesagt, dass Sie als eine der führenden Koryphäen der wissenschaftlichen Welt Britanniens unserem geliebten College großen Glanz verliehen hätten, wenn Sie nicht …“

„Wenn ich nicht in die Mausefalle des Pfarrers getappt wäre?“, beendete der Graf den Satz.

Ein Schniefen. „Ihre Worte, nicht meine, Mylord.“

„Sind Sie verheiratet, Jenkins?“

Die Augen des Portiers weiteten sich vor Entsetzen. „Gott bewahre.“

„Nun ja, abgesehen davon, dass wir unterschiedliche Ansichten über die Freuden der Ehe haben, fände ich das klösterliche akademische Leben bei Weitem zu ruhig für mein Temperament.“

Wrexford betrachtete die uralten, steinernen Gebäude und bemerkte das Flackern des farbenfrohen Lichts, das durch die prächtigen Bleiglasfenster der Kapelle einfiel.

Das College hatte seit 1264, als Walter de Merton, Kanzler von England und späterer Bischof von Rochester, an diesem geheiligten Ort ein selbstverwaltetes „Haus der Gelehrten“ gegründet hatte, in akademischem Glanz erstrahlt.

Wenngleich Merton zur Universität Oxford gehörte, verwaltete es, wie alle anderen Colleges auch, seine eigenen Angelegenheiten unter der Leitung seines Rektors, dem nominellen Oberhaupt des Colleges. Die hohen Außenmauern von Merton bewachten heute eine Reihe von Höfen und Gärten, die über die Jahrhunderte gewachsen waren und eine Oase der Ruhe schufen.

Eine Welt für sich.

Eine wichtige, dachte der Graf. Doch ich bevorzuge das Chaos der realen Welt, wo Theorien aufeinanderprallen und Kontroversen entfachen, die neue, erschreckende Ideen hervorbringen und alte Traditionen auf den Kopf stellen …

„Aye, Mylord.“ Die zittrige Stimme des Portiers riss ihn aus seinen Gedanken. „Wir alle kennen Ihre Vorliebe für die Aufklärung von Morden.“ Ein brüskes Husten. „Ich nehme an, deshalb sind Sie hier.“

Noch nicht ganz aus seinen Träumereien zurück, dauerte es einen Augenblick, bis der Graf reagierte. „Was zum Teufel meinen Sie?“ Soweit er sich erinnern konnte, war das Einzige, das in diesen heiligen Mauern einen gewaltsamen Tod erlitt, die Hoffnung darauf, dass die Studenten ihre Stunden dem Studieren statt dem Trinken und Kopulieren widmeten.

„Schrecklich war es, Sir. So viel Blut.“ Jenkins machte ein gequältes Gesicht. „Einiges davon ist auf einige wertvolle Bücher gespritzt.“

Die Erwähnung von Büchern weckte eine Vorahnung. „Wer ist das Opfer?“, fragte er.

„Unser Oberbibliothekar, Mr. Greeley“, antwortete der Portier. „Der arme Kerl ist …“

Doch Wrexford eilte bereits über die abschüssigen Steine des Haupthofs und ging auf den Torbogen zu, der zum Mob Quadrangle, ein von vier Gebäuden aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert eingeschlossener begrünter Platz, führte.