Leseprobe Mord in Hollowfield

Teil eins

eins

Hollowfield, England, im Jahr 1999

Niemand hatte damit gerechnet, dass sich in Hollowfield, Kent, etwas Derartiges ereignen würde. Es gehörte zum guten Ton, nichts zu erwarten, was vom Alltag abwich.

Fast der gesamte September war mild und sonnig gewesen, die Wiesen strahlten noch saftig grün. Der Frauentee in der Nachbarschaft fand nach der Sommerpause wieder regelmäßig statt, oft sogar im Vorgarten oder auf der Terrasse hinter dem Haus der jeweiligen Gastgeberin.

Anfang Oktober schlug das Wetter um. Belinda Watts machte die Entdeckung an einem trüben Oktoberabend, an dem sich der zähe Nebel gehalten hatte und seine milchige Hand beständig auf die kleine Ortschaft presste. Die Hecken an der Rodney Road waren frisch geschnitten, der Weg zum Haus des jungen Pastors Gray Guss neben der örtlichen Kirche war vom Nieselregen aufgeweicht. Er war vor etwa drei Jahren dort eingezogen, nachdem sein Ziehvater, Pastor Adam Guss, der Kirche den Rücken zugewandt hatte und nach London umgesiedelt war.

Das zweistöckige Haus war in einem guten Zustand, die Fensterläden waren in einem freundlichen Gelb gestrichen, und im hinteren Garten, der den Blick auf die weiten Felder in Richtung Norden eröffnete, stand ein blaues Schaukelgerüst. Nicht selten hatte man Pastor Guss dort sitzen sehen, in einer beigefarbenen Freizeithose mit Karofutter an den hochgekrempelten Hosenbeinen und olivfarbenen Wellingtons, die aussahen, als wären sie mindestens zwei Nummern zu groß. Manchmal las er dort in der Bibel und fütterte die Eichhörnchen, die deswegen schon seine treuen Besucher waren, mit Nüssen. Oder aber er schwang gedankenverloren die langen, schlanken Beine, bevor er sich wieder ins Haus zurückzog, um die Messe vorzubereiten.

Pastor Gray Guss führte ein stilles Leben, und die Gemeinde von Hollowfield war der festen Überzeugung, dass er der beste Pastor war, den der Ort in seiner bisherigen Geschichte gehabt hatte. Nicht nur, dass er ein tiefgläubiger Mensch war, seine Predigten verständlich und mitreißend waren und noch dazu Tiefgang hatten, er war auch noch eine Augenweide! Das gaben die Frauen tuschelnd und hinter vorgehaltener Hand beim sonntäglichen Frauentee zu. Doch auch ihren Männern konnte unmöglich entgangen sein, welch eine Verschwendung es war, dass sich ein Mann mit diesem Äußeren allein Gott verschrieben hatte. Genaugenommen waren die Ehemänner erleichtert, aber das sprachen sie natürlich niemals offen aus.

Belinda Watts, deren Sohn Jeff seit Tagen mit hohem Fieber im Bett lag, machte sich auf den Weg zur Kirche. Die Pforte stand bis etwa zwanzig Uhr offen, das hatte sie sich am späten Nachmittag von Pastor Guss telefonisch versichern lassen.

„Sie klingen müde, Pastor Guss“, hatte Belinda am Telefon gesagt, während sie eine ihrer dunklen Locken um den Zeigefinger drehte.

„Nur eine Magenverstimmung, nichts weiter.“ Pastor Guss war bekannt dafür, dass er nie zum Arzt ging, sondern auf die Selbstheilungskräfte des Körpers vertraute.

„Dann werde ich das Gotteshaus aufsuchen, sobald Jeff schläft.“ Mit einer dunklen Vorahnung hatte Belinda aufgelegt, das Schlafzimmer ihres Sohnes betreten und den feuchten Lappen auf seiner Stirn gegen einen frischen ausgewechselt. Besorgt streichelte sie ihm über die Wange und ging anschließend in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Ihre Tochter Jolina zeichnete am Esstisch. Belinda tätschelte ihr im Vorbeigehen liebevoll den Kopf.

Noch hatte sie keine Ahnung, dass sie die letzte Person war, die mit Pastor Guss gesprochen hatte.

 

Vor der Kirchenpforte bemühte sich Belinda, auf dem groben Fußabtreter den Dreck von den Schuhsohlen zu putzen. Was war das auch für ein Wetter, und es war erst der Beginn der trüben Jahreszeit! Kaum hatte sie die Pforte aufgeschoben, wehte ihr der vertraute Geruch nach Weihrauch und kaltem Gemäuer entgegen.

Sie tunkte ihre Finger in das steinerne Becken mit dem Weihwasser und bekreuzigte sich. Dann schloss sie die Augen und senkte demütig ihr Haupt. Sie murmelte ein Gebet, in dem sie Gott bat, ihren Sohn bald gesund werden zu lassen, ihrer Ehe wieder Leben einzuhauchen und die Schulaufführung nächste Woche einen Erfolg sein zu lassen. Sie musste über die eigenen Gedanken lächeln, denn sie war tatsächlich aufgeregt für Jolina, die die Hauptrolle in dem Stück spielte. Es handelte von einem Kürbis, um den sich niemand kümmerte. Miss Pinky hatte mit den Kindern etwas gezaubert, das Hollowfield bisher noch nicht erlebt hatte. Sie war eine wahre Künstlerin! Belinda war bei der Generalprobe am Vortag dabei gewesen und schwer beeindruckt. Noch dazu war die Moral der Geschichte so herzzerreißend, dass Belinda beinahe geweint hatte.

Nun öffnete sie die Augen wieder und sah sich im vertrauten Vorraum der Kirche um. Zu ihrer Rechten stand das dunkle Holzregal, in dem die Gesangbücher einsortiert waren, und darüber war eine Pinnwand angebracht, an der unter anderem die Schule für die Aufführung warb. Daneben türmte sich ein schräger Stapel bunter Kissen für die Kirchenbänke. Die Hinterteile vieler Gemeindemitglieder, Belindas eingeschlossen, waren zu knochig, um lange schmerzfrei sitzen zu können, und Pastor Guss’ Predigten waren lang. Nur an die Farben der weichen Untersetzer konnte sich Belinda nicht gewöhnen, sie waren viel zu grell. Aber was hatte die Gemeinde anderes erwartet, schließlich hatte Miss Pinky den Stoff in London gekauft und die Hüllen eigenhändig genäht, obwohl sie zwei Tage zuvor behauptet hatte, noch nie eine Nähmaschine benutzt zu haben. Diese Frau war ein Wunder und eine Bereicherung für diesen Ort, auch wenn man sich das bei ihrer Ankunft vor fünfzehn Jahren niemals hätte vorstellen können. Belinda schüttelte mit einem zaghaften Lächeln den Kopf und öffnete die Tür, die ins Kirchenschiff führte.

Nach wenigen Schritten fiel ihr Blick auf einen Schemen am Boden.

Etwas lag vor dem Altar.

Ein Schauer lief durch ihren Körper, und sie schlug die Hände vor dem Mund zusammen, um dann ihre Schritte zu beschleunigen. Das Klappern ihrer Sohlen hallte im Inneren der Kirche wider. Sie erkannte Pastor Guss, der bäuchlings auf den Steinfliesen ausgestreckt war, als wäre er vom Himmel gefallen.

„Pastor Guss!“ Belinda rannte das letzte Stück und ging schließlich in die Hocke, um nach dem jungen Mann zu sehen. Sein Kopf war zur Seite gedreht. Neben seinem Mund hatte sich ein See aus Erbrochenem gebildet, dessen beißender Geruch in Belindas Nase stieg. Sie erschrak, als sie Pastor Guss’ starren Blick aus tiefblauen, unschuldigen Augen bemerkte. War er etwa tot?

„Um Himmels willen, Pastor Guss!“ Belinda tastete mit zitternden Händen seinen Hals ab, schob ihren Zeige- und Mittelfinger ein Stück nach oben, dann wieder nach unten. Es war nicht leicht, die Halsschlagader ausfindig zu machen. Vor allem hatte Belinda keine Übung darin. Ihre Kehle wurde eng. Sie drückte ein bisschen fester, aber es war nirgends ein Puls zu spüren. Sie schluchzte unwillkürlich und zog die Hand zurück. Sie war wie gelähmt, dabei musste sie Hilfe holen. Aber … wozu? Es war ohnehin zu spät.

Belinda hob den Blick nach oben, wo sie Gott vermutete. Schon als Kind hatte sie das getan, auch wenn sie wusste, dass Gott überall sein musste. Er war auch Zeuge dieses schrecklichen Unglücks gewesen. Nur konnte man ihn nicht um eine Aussage bitten.

Belinda erhob sich etwas ungeschickt und überlegte, was zu tun war. Sie musste einen Arzt benachrichtigen, auch wenn er hier nicht mehr würde helfen können. Erneut betrachtete sie Pastor Guss, und ihr Herz pochte immer wilder in ihrer Brust. Dieser Blick, den die Toten hatten! Eine eisige Kälte kitzelte Belindas Rücken entlang. Sie hatte schon einige gesehen, neben ihren Großeltern und ihrem Vater einen lieben Onkel, und jedes Mal verfolgte sie dieser leere, unbeseelte Blick wochenlang in ihren Träumen. Er war Beweis genug, dass der Körper lediglich eine Hülle war. Ohne die Seele war er unansehnlich.

Eine Träne nach der anderen kullerte ihre Wangen hinunter. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und stellte sich neben Pastor Guss, um für ihn zu beten. Gerade, als sie Allmächtiger Vater gedacht hatte, ging die Tür im Seitenschiff auf, die nur wenige Personen benutzten. Es war Craig O’Connell mit seinem irischen Schopf und der krummen Nase, der die Orgel beherrschte wie kein anderer. Unter seinen Fingern stöhnten die Pfeifen vor Trauer oder lobpreisten den allmächtigen Gott im Himmel, alles zu seiner Zeit.

„Belinda!“ Seine Schritte waren so schnell, wie es seine kranke Hüfte erlaubte, während sein entsetzter Blick auf dem leblosen Körper des Pastors ruhte. Nicht gut, dachte Belinda, denn es war in der Tat nicht von Vorteil, eine Leiche zu finden. Auch wenn Belinda selbstverständlich ihre Hände in Unschuld wusch und Pastor Guss hoffentlich ohne Einwirkung äußerer Gewalt verschieden war. Belinda jedenfalls konnte nichts Verdächtiges erkennen, aber sie war auch keine Detektivin, sondern eine einfache Bauersfrau.

„Was ist passiert?“ Craig tat das, was Belinda auch getan hatte, und er schien zu demselben Schluss zu kommen, dass hier jede Hilfe zu spät kam. „Gütiger Gott im Himmel, was ist hier bloß geschehen?“ Er musterte Belinda aus seinen blauen Augen, und sie fragte sich, ob er ihr etwas vorwerfen wollte.

„Ich weiß es nicht, Craig.“ Sie räusperte sich und umklammerte ihre Handtasche. „Ich bin gekommen, um zu beten, und da finde ich Pastor Guss auf dem Boden liegend.“

„Wir müssen die Polizei verständigen.“ Craig blickte um sich, als stünde die nächste Telefonzelle in der Kirche. Dabei war die letzte in Hollowfield vor wenigen Wochen abgerissen worden, nachdem neue Masten, deren Anblick dem Auge wehtat, am Ortsrand errichtet worden waren. Craig hielt nichts von mobilen Telefonen, und Belindas lud zu Hause auf dem Nachttisch.

„Ich gehe zu Fuß, James ist bestimmt zu Hause.“ Craig rieb sich das Kinn. „Bleibst du bei ihm?“

Belinda bejahte, obwohl sie sich sicher war, dass es für Pastor Guss keinen Unterschied mehr machte. „Oder soll ich gehen?“, kam es ihr in den Sinn, wegen Craigs Arthrose und weil sie jünger war, aber da fiel die Tür bereits ins Schloss.

Belinda betrachtete erneut den Toten. Er sah ungepflegter aus als sonst. An seinem Kinn sprossen helle Stoppeln, und sein Haupthaar war so unordentlich, als wäre Pastor Guss eben erst aufgestanden. Dabei war er ein Frühaufsteher. Gewesen. Er trug Stiefel mit matschigen Sohlen, und das in der Kirche, und oben ragten beige Wollsocken hervor. Seine graue Jacke hatte zwei große Außentaschen. Belinda, die von Natur aus neugierig war, war für einen Augenblick versucht, hineinzusehen, entschied sich dann aber, zu warten. Sie setzte sich auf die vorderste Kirchenbank und schlug die Beine übereinander. Die Kühle des Herbstabends kroch allmählich unter ihren Rock, und sie fröstelte.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Craig endlich auftauchte, gefolgt von Inspektor James Subtle, der in etwas gehüllt war, das wie ein Bademantel aussah. Seine Füße steckten in wolligen Hausschuhen. Er ging gebückt, wie jemand, der Rückenschmerzen hatte, und grüßte Belinda nur mürrisch, bevor er sich um Pastor Guss kümmerte. Mit einer unbarmherzigen Bewegung, die Belinda einen Stich versetzte, drehte er den Leichnam um. James war bekannt für seinen Mangel an Empathie und seine Verachtung für alles, was das Herz berührte. Jetzt lag Pastor Guss noch hilfloser da. Über seiner Brust spannte ein helles Hemd, es war nirgends Blut zu sehen.

„Hm. Sieht mausetot aus“, murmelte James und griff in eine der Jackentaschen. Vielleicht hatte Belinda doch das Zeug zur Detektivin! „Hm.“ Er zog einen Rosenkranz hervor, den Belinda schon oft bewundert hatte. Er war aus Paternostererbsen gefertigt und mit einem schwarzen Holzkreuz versehen. Die rotleuchtenden Erbsen mit dem schwarzen Punkt an einem Ende erinnerten an kleine, flinke Käfer.

Wieder ein Hm, während Inspektor Subtle die andere Tasche inspizierte und nichts fand, das sein Interesse geweckt hätte. Er fischte einen Plastikbeutel aus seiner Innentasche und ließ alles hineingleiten. „Hm, hm, hm.“

Innentasche! Belinda stand auf.

„Was glaubst du, ist hier geschehen?“ Ihr war auf einmal bitterkalt.

„Woher soll ich das wissen, Belinda?“ James zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Bin ich ein Hellseher?“

Nein, das war er nicht. Er war einer der faulsten Polizisten, die Belinda kannte, und ihr Großvater war Polizist bei Scotland Yard gewesen – sie wusste, wovon sie sprach.

Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr und sprang auf. „Darf ich jetzt gehen?“

James musterte sie müde. „Ich sollte noch einige Fragen stellen, schließlich hast du Pastor Guss gefunden. Aber in Anbetracht der späten Stunde …“ Er sah zuerst den Organisten, dann Belinda fragend an. Als keiner der beiden etwas erwiderte, wandte er sich mit einem Seufzer wieder dem Leichnam zu. „Hm.“ Er befühlte noch einmal Pastor Guss’ Hals, als hätte ihn Gott in der Zwischenzeit wieder zum Leben erweckt haben können.

Belinda wurde nervös. „Die Innentaschen. Was ist mit den Innentaschen?“ Sie trat von einem kalten Fuß auf den anderen. Sie las gern Kriminalromane, aber sie hätte sich niemals ausgemalt, eines Tages selbst in einen derartigen Fall verwickelt zu werden!

„Hm, wenn du meinst.“ James beugte sich schwerfällig über den Körper des Pastors und entschied dann, sich neben ihn zu knien. Es sah beinahe so aus, als machte er sich für ein Gebet bereit, dabei wusste ganz Hollowfield, dass Inspektor Subtle nicht an die Existenz Gottes glaubte. Er besuchte die Messe nur, um seiner Frau einen Gefallen zu tun, hatte sogar schon mit einem lauten Schnarchanfall die Predigt gestört.

James steckte seine Hand resolut in die erste Innentasche des Jackenfutters. „Nichts.“ Er zog sie wieder heraus, mit einem weiteren Seufzer, als hätte ihn diese Untersuchung den allerletzten Tropfen Kraft gekostet. „Ich sehe noch in der anderen nach, und dann entschuldige ich euch für heute Abend. Ich werde den Krankenwagen rufen. Obwohl er ja nicht krank ist.“

„Er war vielleicht krank.“ Belinda erinnerte sich an das kurze Telefonat vor dem Abendessen.

„Mir ist da nichts aufgefallen.“ James sah sie irritiert an. „Ich meine, bei der letzten Messe.“

„Nein, nein.“ Belinda bereute schon, etwas gesagt zu haben. „Ich habe Pastor Guss angerufen, weil ich wissen wollte, wie lange die Kirchenpforte am Abend offensteht.“ Craig und James sahen sie so fest an, dass sich Belindas Hals zuschnürte. „Normalerweise gehe ich am Abend nicht in die Kirche, aber heute hatte ich das dringende Bedürfnis. Ich wollte für meinen kranken Sohn beten. Pastor Guss klang am Telefon erschöpft, das ist alles. Und da habe ich ihn gefragt, ob es ihm nicht gut ginge. Er sagte, es sei nur eine Magenverstimmung.“

„Eine Magenverstimmung mit Todesfolge. Hm.“ James griff in die zweite Innentasche. „Wenn das mal nicht nach einer Vergiftung klingt.“

Vorsichtig zog er etwas hervor, in Zeitlupe und mit den Fingerspitzen, als könnte es sich jeden Augenblick in Luft auflösen und jegliche Spur verwischen. Es war ein exakt zusammengelegtes, cremefarbenes Stück Papier. James erhob sich langsam. Seine Knie knackten wie verdorrte Äste. Während er den Zettel auseinanderfaltete, wurden Craigs und Belindas Hälse immer länger.

„Was ist es?“ Die Spannung kribbelte in Belindas Nacken, und sie musste zugeben, dass die Sache für ihren Geschmack allmählich zu aufwühlend wurde. Sie brauchte dringend eine Tasse Tee. Wo war die entspannende Ruhe, die in Hollowfield zu herrschen pflegte? Das hier würde den ganzen Ort für viele Wochen oder gar Monate aufwühlen!

„Hm.“ James’ Blick wanderte aufmerksam über die Zeilen, die, so konnte Belinda erkennen, getippt worden waren. Schließlich ließ er das Blatt sinken. „Interessant.“

„Sag schon, was hast du gefunden?“ Belinda würde diese Anspannung nicht länger aushalten! „Was steht darin geschrieben, Inspektor Subtle?“

„Es ist ein höchst rätselhaftes Dokument.“ Er sah Belinda aus seinen wässrigen Augen an. Träge zog er ein Taschentuch aus dem Ärmel und putzte sich geräuschvoll die Nase.

„Dürfen wir es nicht wissen?“ Belinda warf Craig einen ermutigenden Blick zu, denn sie war davon überzeugt, dass er ebenfalls wissen wollte, was in der Innentasche gesteckt hatte.

„Wenn es dich so sehr interessiert, Belinda, hättest du vielleicht bei der Polizei anfangen sollen.“ James lachte rau, und sein Bauch wackelte.

Belinda sah beschämt zu Boden. Es gehörte sich nicht, seine Neugierde offen zu zeigen, da hatte Inspektor Subtle wohl recht. Vielleicht hatte Miss Pinky sie bereits bei einem der Sonntagstees mit ihrem offenherzigen Wesen infiziert. Es war schwer, sich ihrer Art zu entziehen. „Aber James …“ Belinda räusperte sich. „Wer hat dir denn den Ratschlag mit den Innentaschen gegeben?“

„Das stimmt!“ Craig nickte anerkennend. „Das war Belinda. Sie sollte erfahren, was du gefunden hast, James.“

„Na gut, aber ihr versprecht mir, dass es unter uns dreien bleibt. Wir wollen ja nicht, dass die Ermittlungen auf irgendeine Weise gestört werden.“ James’ Augen verengten sich.

„Ehrenwort!“ Belinda und Craig sagten es fast gleichzeitig.

„Dass ihr so neugierig seid!“ James legte das gefaltete Papier in den Plastikbeutel zu den anderen Gegenständen.

„Jeder ist neugierig, James“, sagte Belinda. „Nur nicht jeder gibt es zu.“

„Wie dem auch sei.“ James steckte den Plastikbeutel in die Tasche seines Bademantels. „Es ist ein Brief.“ Er legte eine lange, theatralische Pause ein. „Ein Brief, der unserem Pastor Guss anscheinend sehr am Herzen gelegen haben muss.“ Belinda drohte zu platzen, und Craig knetete seine Hände so vehement, dass es allein vom Zusehen wehtat. „Es ist ein Liebesbrief.“

Belinda hielt unwillkürlich den Atem an. Ihre Mundhöhle wurde trocken. „Du meine Güte, ein Liebesbrief! An wen ist er denn gerichtet?“

Von wem ist er, das ist die passende Frage.“

„Steht es nicht auf dem Papier?“ Craigs Stirn war ein Labyrinth aus tiefen Furchen.

„Natürlich steht es auf dem Papier. Ich möchte euch nur noch ein bisschen auf die Folter spannen.“

„Also James!“ Belindas Wangen glühten auf einmal. Es schien, als wäre James der Einzige hier, der es genoss, sich endlich mit Größerem zu beschäftigen als mit falsch geparkten Wagen oder Müll im örtlichen Park. Er starrte erhaben vor sich hin und tätschelte seine Tasche.

„Es ist ein Liebesbrief. Gerichtet an Pastor Gray Guss.“ Inspektor Subtle machte eine bedeutungsvolle Pause. „Geschrieben von unserer lieben Miss Pinky.“

zwei

Müde saß Miss Pinky über den Esstisch gebeugt und steckte die Einladungskarten für die Geburtstagsfeier ihres Sohnes Kit in knallrote Umschläge. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete sie einen der Marienkäfer, dessen Deckflügel mit dicken, schwarzen Punkten man hochklappen musste, um den Einladungstext zu lesen. Sie hatte stundenlang mit Kit gebastelt; nur die Liste mit den Namen der Eingeladenen, die hatte ihr Sohn erst am Vorabend im Bett geschrieben.

„Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich nur zehn Kinder einladen darf?“, hatte er gefragt und seine Mutter aus seinen dunklen Augen angesehen. Er hatte Benedicts Augen. Miss Pinky streichelte ihm über das widerspenstige, dunkelbraune Haar.

„Du wählst diejenigen aus, mit denen du am liebsten feiern möchtest.“

„Das sind aber mehr als zehn. Viel mehr!“ Kit schob die Unterlippe vor. Seine gespielte Trauer war zuckersüß gewesen.

„Du kennst unsere Regel: so viele Gäste wie Jahre.“

Heute wollte Kit die Einladungen in der Schule verteilen. Zehn Jahre alt war er bald, wie die Zeit verging!

Ein wütender Wind rüttelte an den Fensterläden und ließ Miss Pinky zusammenzucken. Sie würde die Gartenstühle anbinden müssen. Aber zuerst würde sie sich auf den Weg zu Belinda machen, um ihr einen Topf selbstgemachter Hühnersuppe für ihren Sohn Jeff vorbeizubringen.

Noch verschlafen griff Miss Pinky nach ihrer Kaffeetasse und nippte an dem dampfenden Getränk. Sie schloss die Augen, sog den nussigen Duft ein und atmete ein paarmal tief durch. Die letzte Nacht war wenig erholsam gewesen. Die vierjährige Edith hatte schlecht geträumt und war fünfmal aufgewacht, bis Miss Pinky sie schließlich bei sich hatte schlafen lassen. Benedict hatte sich murrend auf die Seite gedreht, und Edith hatte ihre kleinen, kalten Fußsohlen gegen Miss Pinkys Waden gepresst. Ihre goldige Prinzessin!

Zufrieden stapelte Miss Pinky die Karten und steckte sie in eine Plastiktüte, die sie neben Kits Müslischüssel legte. Den Frühstückstisch hatte sie, wie immer, schon am Vorabend gedeckt, während Benedict die Zeitung gelesen hatte.

„In diesem Nest passiert auch rein gar nichts.“ Er sagte es jeden Abend in nüchternem Tonfall und rückte anschließend seine Lesebrille auf der markanten Nase zurecht, was seinen Worten Nachdruck verlieh. Miss Pinky hätte ihn am liebsten daran erinnert, dass sie nach ihrer Hochzeit vor fünfzehn Jahren geplant hatten, noch vor der Geburt ihres ersten Kindes nach London zu ziehen. Aber sie hielt den Mund, denn sie wusste, woran es lag, dass sie immer noch in Hollowfield wohnten. Es war die Schuld der Lederwarenfabrik der Familie Pretty. Benedicts Treue und ehrenwertes Pflichtgefühl hinderten ihn daran, seinem Heimatort den Rücken zu kehren. Und wenn Miss Pinky ehrlich war, dann hatte sie ihr Umfeld und ihre Tätigkeiten in der Mädchenschule und der Kirche auf eine unerwartete Weise liebgewonnen. Vielleicht war es nicht nötig, jemals nach London zu ziehen.

Sie holte die Dose mit dem Kakaopulver aus der Speisekammer, stellte den Honig auf den Tisch und warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war erst kurz nach sechs. Sie betrachtete mit einem warmen Gefühl im Bauch den kleinen Küchentisch, an dem sie gern als Familie frühstückten. Dabei hatten sie ein geräumiges, modern eingerichtetes Esszimmer, aber das benutzten sie nur, wenn Gäste kamen. Hier war es kuscheliger, mit der Tischdecke voller bunter Hennen, den sonnengelben Tellern für Marlon und Pim, den Müslischalen für Edith und Kit und den beiden Eltern-Sitzplätzen an den Tischenden. Es war kaum genügend Platz für den Toasthalter, die Zuckerdose, all die Marmeladen (denn jeder mochte eine andere), Milchkännchen, Müslischachteln und Tee- und Kaffeekannen, doch es war so gemütlich, wie Miss Pinky es in ihrer Kindheit niemals gehabt hatte.

Immer noch verschlafen holte sie den Earl Grey aus dem Hängeschrank über der Spüle, ließ vier Beutel in die Teekanne gleiten und befüllte den Wasserkocher. Anschließend ging sie nach oben, um sich zu duschen und fertigzumachen, denn sie brauchte länger als der Rest der Familie und genoss die Ruhe dieser halben Stunde, bevor nach und nach alle aus den Federn krochen. Sie war von Natur aus keine Frühaufsteherin, aber das Familienleben mit vier Kindern verlangte es so. Damals, in Michigan, hatte sie bis zum Mittag schlafen können.

„Mummy, ich habe Halsweh und Kopfweh!“ Der achtjährige Marlon stand mit seiner blutroten Kuscheltier-Krabbe im Arm im Badezimmer, als Miss Pinky aus der Duschkabine stieg. Sein hellblondes Haar stand in alle Richtungen ab, und sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich.

„Leg dich doch wieder ins Bett.“ Miss Pinky rubbelte mit einem Handtuch über ihr kurzes, kastanienbraunes Haar, ging dann in die Hocke und drückte Marlon einen Kuss auf die Stirn. Er hatte auf jeden Fall Fieber. Sie brauchte kein Thermometer, um das festzustellen.

„Mir ist schlecht!“ Die Krabbe landete auf dem Boden.

Instinktiv schob Miss Pinky ihren Sohn sanft an den Schultern in Richtung der Toilette, wo er das erbrach, was sein Magen hergab. Sein Körper zitterte, während Miss Pinky ihm die Stirn hielt und ihm gut zuredete, alles rauszulassen. Sie wusste, wie es war, wenn man es nicht tat, denn sie hatte es als kleines Mädchen oft falsch gemacht. Ihre Mutter war nicht an ihrer Seite und ihr Vater ständig woanders gewesen. Dann kam das Zeug eben durch die Nase raus.

„Leg dich bitte wieder ins Bett, mein Schatz.“ Sie holte einen Waschlappen, befeuchtete ihn und putzte Marlon das Gesicht ab. „Das wird schon wieder.“

Gehorsam trottete Marlon aus dem Badezimmer. Miss Pinky hob das Kuscheltier auf, das sie aus großen, schwarzen Augen anstarrte. „Und du, was hast du für Sorgen?“ Miss Pinky schüttelte ungläubig den Kopf. Sie sprach mit einem Plüschtier!

Rasch trocknete sie sich ab und schlüpfte in ihre Alltagskleidung, denn heute hatte sie keine Termine als Aushilfslehrerin in der örtlichen Mädchenschule. Sie vergewisserte sich, dass Marlon eingeschlafen war, benutzte anschließend routiniert einen schwarzen Kajalstift, schwarzblaue Wimperntusche und ein paar Tupfen getönter Tagescreme, gekrönt von ein wenig Rouge. Zuletzt föhnte sie ihr dünnes Haar und holte die knallpinke Perücke mit dem Pagenschnitt aus dem Schlafzimmer, setzte sie auf und zupfte ein paar Strähnen zurecht.

Benedict war inzwischen aufgestanden und saß am Fußende des Bettes. „Ist Marlon krank?“ Er deutete auf ihren Sohn, der mit einem Arm um Edith im Ehebett lag und ruhig atmete. Neben ihm stand eine der gelben Kotzschüsseln, die es unter jedem Bett im Haus gab. Miss Pinky hatte schon zu viele Teppiche reinigen lassen müssen.

„Bestimmt ein Herbstinfekt. Das wird schon wieder.“ Miss Pinky trat auf Benedict zu und küsste ihn auf den Mund. „Guten Morgen.“ Manchmal war es nicht leicht, die Trägerin der guten Laune zu sein, aber es machte trotzdem Spaß und alle glücklich.

Als sie wenig später gemeinsam am Frühstückstisch saßen, war Kit auffallend schweigsam, während er seine Vollkornkringel gierig in sich hineinstopfte. Pim bestrich sein Toastbrot mit der gewohnten Sorgfalt, während Miss Pinky geübt Pausenbrote belegte.

„Alles in Ordnung bei euch?“ Sie hob den Blick, den nur Benedict erwiderte. Er lächelte sanft, denn er wusste, dass ausschließlich die Kinder gemeint waren. Die Zeit, um sich mit seiner Frau Erin über seine Befindlichkeiten auszutauschen, war am Abend vor dem Einschlafen.

„Muss meine Geburtstagfeier jetzt ausfallen?“ Die Kit-Lippe kam zwischen zwei Löffeln zum Einsatz.

„Nein, Marlon ist bestimmt bald wieder gesund.“

„Und wenn nicht, dann verschieben wir das Fest eben.“ Benedict hob die Brauen und zuckte mit den Schultern.

„Ich will es aber nicht verschieben!“ Wenn Kit aufgebracht war, dann sprach er beinahe mit einem perfekt britischen Akzent. Es verwirrte Miss Pinky, denn sie empfand einen gewissen Stolz darauf, dass ihr US-Akzent wenigstens ansatzweise in ihren Kindern weiterlebte.

„Wir müssen es nicht verschieben.“ Sie packte die Brote in Plastikboxen, die mit selbstdesignten Namensaufklebern versehen waren. „In vier Tagen ist dein Bruder bestimmt wieder fit.“

Benedict verschwand für wenige Minuten, kehrte in einem beigen Trenchcoat und mit seiner Aktentasche in der Hand zurück, verabschiedete sich mit dem üblichen, trockenen Kuss auf Miss Pinkys Lippen und fuhr ins Büro.

Miss Pinky stattete Kit und Pim mit Regenschirmen aus.

„Das ist ein Baby-Schirm!“ Kit warf ihn in die Garderobe. War das schon ein Vorgeschmack auf die Pubertät? Und das würde sie viermal mitmachen müssen?

„Ich habe keinen anderen.“

„Ich will einen schwarzen, so wie Daddy!“ In letzter Zeit schrie Kit jeden Satz. Punkte am Satzende gab es nicht, und Fragezeichen waren überflüssig, denn Kit wusste alles besser.

„Komm schon, Kit!“ Pim zerrte am Ärmel seines Bruders.

Pim war in der ersten Klasse und hatte große Angst davor, am Morgen nicht rechtzeitig in der Schule zu sein. „Ich will nicht zu spät sein!“

„Hört auf damit!“ Miss Pinky suchte in den Schubladen des Garderobenschranks nach einem einfarbigen Schirm, fand aber nur tausend Mützen, Handschuhe, Tücher und Kastanien. Aus denen hatten sie Tiere basteln wollen, aber dann waren sie vergessen worden.

„Wir müssen los, Kit!“ Pim zog immer kräftiger, bis Kit sich losriss.

„Dann kommen wir eben zu spät, na und?“ Er blitzte seine Mutter wütend an.

„Dann wirst du eben nass.“ Miss Pinky stemmte die Hände in die Hüften und presste die Lippen zusammen. Nicht mit mir, mein Lieber!

„Ich geh jetzt!“ Pim trat auf seine Mutter zu, drückte ihr einen Kuss auf die Wange, spannte den Schirm mit den grünen und gelben Schnecken auf und verschwand im prasselnden Oktoberregen. An dieses Wetter konnte sich kein Mensch gewöhnen! Es gab immer noch Zeiten, in denen Miss Pinky zumindest den meist blauen Himmel in Michigan vermisste.

„Und jetzt?“ Sie sah Kit herausfordernd an, in Erwartung der Lippe, aber sie kam nicht.

„Ich gehe nicht mit einem Schirm, auf dem Eisbären sind!“ Kit stürmte ins Garderobenzimmer und kam mit einer gelben Regenjacke zurück, die er über seinen Anorak zog. „Tschüss, Mummy. Bis später.“ Kein Kuss, nicht einmal mehr ein Abschiedsblick. Mit Wucht fiel die Haustür ins Schloss.

Miss Pinky öffnete die Fensterläden, räumte die Küche auf, fegte die Krümel auf dem Boden zusammen, startete eine Ladung Wäsche, machte die Kinderbetten und vergewisserte sich, dass Edith und Marlon noch tief und fest schliefen.

Bin gleich wieder da

schrieb sie auf einen Zettel, den sie auf ihr Kopfkissen legte. Nur für den Fall, dass einer der beiden wachwurde. Lesen konnte es nur Marlon, aber auch Edith kannte die Notizen ihrer Mutter, die beruhigend auf sie wirkten.

Wieder im Erdgeschoss angekommen, horchte sie ein letztes Mal, ob sich im oberen Stockwerk etwas regte. Es war totenstill. Nur der unablässige Herbstregen trommelte gegen die Fensterscheiben. Miss Pinky holte eine Portion ihrer berühmten Hühnersuppe aus dem Kühlschrank. Mit einem sonderbaren Drücken in der Magengegend setzte sie sich hinters Steuer, um die gute Suppe schnell abzuliefern, bevor sie Edith in den Kindergarten bringen und nach Marlon sehen würde.

Belinda wohnte am anderen Ende des Ortes, nicht weit von der Kirche entfernt. Als Miss Pinky die Abbiegung an der Rodney Road nahm, bremste sie den Wagen ein wenig ab und wandte den Kopf nach rechts, zu Pastor Guss’ Haus, das trostlos dastand. Die geschlossenen, gelben Fensterläden waren die einzigen Farbtupfer hinter einem Schleier aus Dauerregen. Miss Pinky beschleunigte wieder und fuhr am Spielplatz vorbei. Wie viel Zeit hatte sie hier verbracht! Mit einem Korb voller Stricksachen oder einer Frauenzeitschrift auf dem Schoß, während ihre Sprösslinge im Sand buddelten oder auf Bäume kletterten. Später lernte sie hier ihre beste Freundin Jamie Higgins kennen, die nur zwei Jahre jünger war und zwei Kinder hatte: Sarah war neun und James sechs. Wie sich herausstellte, wohnte Jamie in Miss Pinkys Nachbarschaft und arbeitete stundenweise als Sekretärin in der Grundschule im Ort. Miss Pinky fiel gleich auf, dass Jamie alle Vorurteile gegenüber Briten in sich vereinte. Sie war Fremden gegenüber sehr zurückhaltend, traute sich kaum, die Dinge beim Namen zu nennen, und ließ nur ab und zu ihren Humor hervorblitzen. Aber wie war das mit den Gegensätzen, die sich anzogen? Mit einem Lächeln auf den Lippen parkte Miss Pinky und stieg aus. Sie hastete über den matschigen Boden, stets bemüht, nichts von der Suppe zu verschütten. Wie oft hatte Benedict sie gemahnt, einen Regenschirm im Auto zu deponieren!

Am Gartentor angekommen, drückte sie ihren Zeigefinger auf den Klingelknopf. Kaltes Wasser rann an ihrem Hals hinunter und unter ihr Oberteil.

„Erin, was machst du denn hier?“ Belinda trat mit einem überdimensionalen Schirm aus dem Haus und nahm den gewundenen Weg zwischen Rhododendron-Büschen und Rosenhecken, der zum Eingang führte. Sie sah blass aus. „Du erkältest dich noch!“ Sie hielt den Schirm über Miss Pinky und den Topf mit Suppe.

„Du weißt doch, dass ich nie krank werde.“ Miss Pinky ging neben Belinda her. Als sie schließlich in den Flur trat, sog sie den vertrauten Duft von Belindas Haus ein. Es war ein Gemisch aus nassem Hund, Kuchen und dem Rasierwasser von Belindas Mann Logan. „Eine Mutter kann es sich kaum erlauben, krank zu sein.“

„Das stimmt allerdings!“ Belinda sah ungläubig auf den tropfenden Topf in Miss Pinkys Händen. „Du hast deine berühmte Suppe mitgebracht? Du bist ein Schatz!“ Weil es der Topf nicht zuließ, gab es keine innige Umarmung. Belinda nahm Miss Pinky die Suppe ab und trug sie in die Küche. „Ich würde dir gern Frühstück anbieten, aber ich bin nicht vorbereitet.“

„Kein Problem, Belinda, ich muss sowieso gleich wieder los. Marlon ist krank und Edith noch nicht im Kindergarten.“

„Das tut mir leid. Es sind so viele krank zurzeit.“ Belinda senkte den Blick. Eine Weile starrte sie auf den Teppich. Dann atmete sie geräuschvoll ein, und für einen Augenblick kam es Miss Pinky so vor, als wollte ihre Freundin etwas sagen, doch sie blieb stumm. Stattdessen kratzte sie an ihrem Nagelbett, was sie für gewöhnlich beim Frauentee tat, wenn sie nervös wurde, weil sie auf ihren Mann angesprochen worden war.

„Ist alles in Ordnung, Belinda?“ Miss Pinky trat einen Schritt auf Belinda zu, deren Eheprobleme im Frauenkreis schon lange kein Geheimnis mehr waren. Sie berührte ihre Freundin sanft am Oberarm. Die Sache mit Logan war ein Thema, bei dem alle großes Verständnis und Mitgefühl an den Tag legten, denn er war Belindas Berichten zufolge alles andere als einfach. In Miss Pinkys Augen war er ein Choleriker.

„Alles bestens.“ Belinda sah ihre Freundin mit feuchten Augen an.

„Geht es Jeff sehr schlecht?“ Miss Pinky wäre gern länger geblieben.

„Er hat immer noch hohes Fieber.“

„Die Suppe wird ihm guttun.“ Miss Pinky lächelte, aber Belinda blieb weiterhin ernst.

„Danke, Erin. Das ist wirklich sehr lieb von dir.“

Die Wanduhr schlug energisch viertel vor acht, als wollte sie daran erinnern, dass es heute noch viel zu erledigen gab.

„Melde dich, wenn du etwas brauchst.“ Miss Pinky öffnete die Tür und trat aus der Wasserpfütze, die sich um sie herum gebildet hatte. „Lass mich das noch aufputzen!“

„Es ist in Ordnung, Erin. Ich mache das schon.“ Belinda öffnete einen Einbauschrank im Flur und holte einen Wischmopp hervor, auf den sie sich lehnte, als könnte sie nicht ohne Hilfe stehen. Miss Pinky runzelte die Stirn. Belinda hatte Schatten unter den Augen und sah elend aus.

„Kann ich dir irgendwie helfen, Belinda?“

„Nein, das kannst du wirklich nicht.“ Belindas Stimme klang erstaunlich kalt, und Miss Pinky überlegte fieberhaft, was vorgefallen sein könnte.

„Du kannst mir immer alles sagen, das weißt du hoffentlich.“

„Ja, ich weiß.“ Belindas Stimme war plötzlich trocken und rau und auf eine sonderbare Art traurig. „Hast du denn heute noch nicht die Zeitung gelesen?“

Miss Pinky griff mit der rechten Hand an ihre nasse Perücke. Sie würde sie zu Hause in Form bringen müssen. Also gab es doch etwas, das Belinda zusätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

„Nein, ich hatte keine Ruhe. Was ist denn geschehen?“

Tränen liefen Belindas Wangen hinunter. Miss Pinky nahm sie instinktiv in den Arm, doch der Körper ihrer Freundin wurde mit einem Mal ungewöhnlich steif.

„Atme, atme ganz ruhig.“ Belinda roch vertraut, aber ihr Verhalten war sonderbar.

Einige Schluchzer später löste sie sich aus der Umarmung und war noch bleicher als zuvor. Sie stand auffallend aufrecht, als müsste sie beweisen, dass sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. Belinda ließ sich ihre Verletzlichkeit nicht gern anmerken. Wenn sie zusammenbrach, dann musste es einen triftigen Grund dafür geben! In Miss Pinkys Bauch braute sich etwas aus Neugierde und Angst zusammen, gepaart mit der leisen Hoffnung, helfen zu können.

„Möchtest du reden?“ Miss Pinky streichelte Belinda über die Schulter. „Du kannst später zu mir kommen.“

Doch Belinda schüttelte vehement den Kopf, was Miss Pinky stutzig machte. Sie zögerte eine Weile. „Dann werde ich zu Hause gleich einen Blick in die Zeitung werfen“, sagte sie schließlich und versuchte, so zuversichtlich wie nur möglich zu klingen. Da Belinda keine Anstalten machte, auch nur ein weiteres Wort zu sagen, zog Miss Pinky die Tür auf und trat unter das Vordach. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen.

Da platzte es aus Belinda heraus, hinter vorgehaltenen, zitternden Händen, sodass Miss Pinkys zunächst glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Pastor Guss ist tot“, sagte sie und sackte erneut in sich zusammen. Sie stützte sich gegen die Wand, und ihr Gesicht war zerknittert wie ein zusammengeknülltes Papier.

„Das ist ja schrecklich!“ Miss Pinky trat auf Belinda zu, aber diese hielt ihr einen ausgestreckten Arm entgegen.

„Ich muss allein damit zurechtkommen.“

„Keiner muss mit irgendetwas allein zurechtkommen.“ Miss Pinky war leicht erbost, denn so kannte sie ihre Freundin nicht. Es war ein unausgesprochenes Gesetz im Frauenkreis, dass jede zuhörte und half, wo es nur möglich war.

„Mummy!“ Jeffs Stimme erklang im ersten Stock.

„Ich muss nach oben, entschuldige mich bitte.“ Belinda schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg zur Treppe. „Vielleicht können wir später telefonieren, Erin. Momentan möchte ich allein sein.“

Miss Pinky verstand. Oder versuchte es zumindest.

Verwirrt verließ sie das Haus, überquerte den aufgeweichten Hof und setzte sich wie in Trance hinters Steuer. Gray war tot? Der beste Pastor, den sie in ihrem Leben gekannt hatte, ein Vorzeigebild eines guten Menschen, jemand, der seinen Glauben so sehr verkörperte, dass er damit eine ganze Gemeinde seit Jahren verzauberte. Es war ihr nicht möglich, gegen die Tränen anzukämpfen.

Sie beschleunigte so rasant, dass sie beinahe ein verirrtes Schaf anfuhr, das wild blökend die Fahrbahn überquerte.

Miss Pinky musste sich eingestehen, dass sie nervös war. Das passierte höchst selten.

Zu Hause angekommen, ging sie zunächst in den ersten Stock, um zu kontrollieren, ob Edith und Marlon noch schliefen. Mit einer beißenden Unruhe im Magen holte sie anschließend die zusammengerollte Zeitung aus dem Briefkasten. Sie nahm am Küchentisch Platz. Tatsächlich war es nicht zu übersehen – die Titelstory lautete:

Pastor Gray Guss tot aufgefunden.

 

Miss Pinky leckte an ihrem Zeigefinger und blätterte hastig zu dem langen Artikel, in dem berichtet wurde, Belinda Watts habe den leblosen Körper vor dem Altar liegend gefunden. Die arme Belinda, deswegen war sie so durcheinander! Der Werdegang des jungen Pastors nach dem Umzug seines Ziehvaters nach London wurde gepriesen, ebenso seine umsichtige, ruhige Art. Seine Predigten seien die besten in der Geschichte von Hollowfield gewesen, und überhaupt sei es der größte Verlust für die Gemeinde, den man sich hätte ausmalen können. Zuletzt wurde erwähnt, was die Ermittlungen bisher ergeben hatten: Pastor Guss hatte eine schwere Magenverstimmung gehabt und war plötzlich verstorben.

Miss Pinky fasste sich an die die feuchten Wangen; auf ihren Lippen schmeckte sie Salz. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie nicht mehr geweint. Man hätte vermuten können, dass ihre Tränendrüsen gar nicht mehr funktionierten.

Mit langsamen Bewegungen erhob sie sich und schaltete den Wasserkocher erneut an. Dies war einer der Augenblicke, in denen selbst sie dringend einen Tee brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie trat ans Fenster und betrachtete die Bäume, von denen bunte Blätter zu Boden fielen. Es war die perfekte Jahreszeit für den Tod. Alles verwelkte, aber die Natur würde wiederkommen. Nur Gray Guss nicht. Miss Pinky fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen. Was für ein Schlag ins Gesicht! Sie wünschte sich, sie könnte von ganzem Herzen daran glauben, dass nach dem Lebensende noch etwas kam, aber bisher war es ihr nicht gelungen, das zu verinnerlichen. Das Leben war zu bunt und zu bewegt und einfach zu schön, um über solche trüben Dinge nachzudenken!

Der Regen wurde stärker, als weinte der Himmel um einen geliebten Menschen. Für eine Weile verfluchte Miss Pinky diese Kleinstadt, in der sie seit fünfzehn Jahren wie in einer Blase gelebt hatte. Nichts Außergewöhnliches war geschehen, alles war auf eine sonderbare Weise vorhersehbar gewesen und wirkte plötzlich unecht. Heuchlerisch beinahe. Was war in all den Jahren unter den Teppich gekehrt worden? Denn dass ein junger, gesunder Mann nicht urplötzlich tot umfiel, das war Miss Pinky klar. Sie legte die rechte Hand auf ihre Brust und spürte ihr Herz unruhig hämmern. Sie musste an Inspektor Subtle denken und an seine Unfähigkeit. Jemand, der noch nie einen Mord hatte aufklären müssen, war sicher heillos überfordert. Der Inspektor war in der Vergangenheit schon mit Falschparkern an seine Grenzen gestoßen. Miss Pinky schüttelte den Kopf, holte einen Teebeutel hervor und übergoss ihn mit dem Wasser. Da rief Edith nach ihr.

„Ich komme, mein Schatz!“ Miss Pinky stellte den Timer für den Tee und rannte nach oben. Edith stand mit rotgeäderten Augen mitten im Schlafzimmer, barfuß auf dem flauschigen, hellen Teppichboden.

„Ich habe so arg Bauchweh!“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, kam der erste Schwall aus ihrem Mund. Miss Pinky schnappte sich ihre Tochter, um sie ins Badezimmer zu tragen. Es wäre besser gewesen, es nicht zu tun, denn so markierte Edith die gesamte Strecke. Der beißende, säuerliche Geruch stach in der Nase.

„Ab in die Wanne, ich bringe dir etwas zum Trinken.“ Sie setzte Edith vorsichtig ab und füllte einen Zahnputzbecher mit Leitungswasser.

„Mummy?“ Marlon war wach geworden.

„Bin gleich da!“ Miss Pinky reichte Edith den Becher und zerrte sich die Perücke vom Kopf.

Edith beschwerte sich über den warmen Wasserstrahl, während Miss Pinky sie behutsam mit einem Waschlappen in Frosch-Optik wusch. Er konnte auch Wasser spucken, aber zu solchen Spielen war Edith jetzt nicht aufgelegt. Wenn sie krank war, dann wollte sie ihre Ruhe haben.

„Mir ist kalt, Mummy!“ Das Mädchen zog die Schultern hoch und bibberte ein wenig zu theatralisch. Miss Pinky konnte sich vorstellen, dass sie eines Tages eine berühmte Schauspielerin sein würde.

„Steh auf, ich wickele dich ganz warm ein.“ Sie holte das rote, flauschige Handtuch vom Haken an der Tür, auf das Edith gestickt war. Es war ein Taufgeschenk von ihren Eltern gewesen. Miss Pinky seufzte unwillkürlich, während sie die Vierjährige sachte aus der Wanne hob, auf den Rand setzte und sie in den Arm nahm, um sie zu wärmen. Als Edith nicht mehr zitterte, brachte sie ihr den Sesamstraßen-Schlafanzug – auch ein Geschenk aus den USA – und half ihr beim Anziehen. Ihre Arme waren noch so dünn, ihr Körper so zerbrechlich!

„Am besten legst du dich noch eine Weile zu Marlon und ruhst dich aus.“ Miss Pinky betrat mit Edith auf dem Arm das Schlafzimmer, wo Marlon in der Zwischenzeit wieder eingeschlafen war. Er umklammerte Miss Pinkys Kopfkissen, sein Atem war vom Fieber getrieben. Wenn er wieder wach war, würde sie ihm einen Ibuprofen-Saft geben.

Miss Pinky zuckte zusammen, als das Telefon im Erdgeschoss klingelte. Sie eilte nach unten und rutschte beinahe aus. Es gab Tage, an denen sehnte sogar sie sich nach Ruhe.

„Ich bin es, meine Liebe!“ Es war ihre beste Freundin, Jamie Higgins. „Hast du schon die Zeitung gelesen?“

„Ja, es ist schrecklich.“ Miss Pinky fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. Während sie sich um Edith gekümmert hatte, war Gray Guss’ Schicksal in den Hintergrund gerückt. So etwas sollte niemals geschehen! Es sollte eine Lebenszeitgarantie von mindestens siebzig Jahren geben, alles andere war ungerecht.

„Es wird Ermittlungen nach sich ziehen.“ Jamie flüsterte, wie immer, wenn es Neuigkeiten gab, als müsste sie sicherstellen, dass niemand mithörte. Selbst wenn keiner in der Nähe war.

„Woher weißt du das?“ Miss Pinkys Neugierde war geweckt.

„Belinda hat es mir gesagt. Ich habe sie vorhin angerufen.“

„Richtig, sie hat Gray gefunden.“ Miss Pinky stellte sich vor, wie schrecklich die Szene gewesen sein musste. „Das tut mir so leid.“

„Die Arme ist völlig durch den Wind, das ist klar. Sie ist zum Beten in die Kirche gegangen, und da findet sie den Leichnam des Pastors vor dem Altar.“

„Hat sie noch etwas erzählt?“ Miss Pinky wusste, was das Thema Nummer eins beim nächsten Frauentee sein würde.

„Nein, ich hatte den Eindruck, dass sie nicht reden wollte.“

„So ging es mir heute Morgen auch, als ich Suppe für Jeff gebracht habe.“

„Du warst bei Belinda? Das hat sie mir gar nicht gesagt.“

„Es ist auch nicht wichtig.“

„Aber normalerweise spricht Belinda doch alles aus, egal, ob es wichtig ist oder nicht.“

„Das stimmt.“

Jamie machte eine lange Pause, die schwer wie Blei wog. Die Sache hatte Belinda definitiv gehörig durcheinandergebracht. Es hatte ganz Hollowfield fassungslos gemacht, dessen war sich Miss Pinky sicher.

„Hast du Zeit für einen Spaziergang heute Nachmittag?“ Jamie ging gern spazieren, aber Miss Pinky hatte sich selbst nach all den Jahren in England nicht mit dem Gedanken anfreunden können, zielloses Gehen als Freizeitbeschäftigung zu wählen. „Wir könnten reden.“

„Edith und Marlon sind krank. Ich glaube nicht, dass es heute klappen wird.“

„Oh, das tut mir leid! Gib ihnen einen dicken Kuss von mir und wünsche ihnen gute Besserung.“

„Das werde ich tun, danke, Jamie.“

Kaum hatten sich die Freundinnen verabschiedet, schellte es an der Tür. Ungläubig, denn zu dieser Uhrzeit kam sonst niemand vorbei, rannte Miss Pinky ins Obergeschoss, setzte ihre pinkfarbene Perücke wieder auf und rückte sie vor dem Spiegel zurecht, eilte wieder nach unten und zog die Haustür auf.

Dort stand Inspektor James Subtle, in einen dunkelblauen Trenchcoat gehüllt und auf einen Gehstock gestützt. Seine freie Hand ruhte auf seinem runden Bauch.

„Guten Morgen, Erin.“ Er trat ungefragt ein und brachte matschige Erde mit in den Vorraum. „Ich muss dringend mit dir reden.“ Er lehnte den Stock gegen die Wand, schälte sich so umständlich aus seinem Mantel, dass Miss Pinky ihm automatisch zur Hand ging, und blieb unschlüssig im Flur stehen. „Darf ich um eine Tasse Tee bitten?“

„Das hast du bereits getan.“ Miss Pinky lächelte ihn bewusst breit an. „Und wenn du bitte deine matschigen Schuhe ausziehen könntest.“

„Natürlich, entschuldige bitte.“ Er streifte seine Treter ab und stellte sie parallel neben die Fußmatte, als könnte das die Sache mit dem hereingetragenen Dreck wiedergutmachen.

„Was führt dich zu mir?“, rief Miss Pinky über die Schulter, während sie auf dem Weg in die Küche war. James’ Nichte Cassy war eine Lehrerin an der Hillberry-Mädchenschule, in der Miss Pinky oft aushalf, und in letzter Zeit hatte sie viel mit James gesprochen, weil es Probleme gab, die er nicht nachvollziehen konnte: Cassy war in einen Kollegen verliebt, hatte aber nicht den Mut, es ihm zu sagen. Miss Pinky sollte vorsichtig in Erfahrung bringen, ob der Angehimmelte eventuell Interesse haben könnte. Bisher war sie zu keinem Ergebnis gekommen, und zugegebenermaßen stand diese Frage auch relativ weit unten auf ihrer Prioritätenliste. Wieso konnte nicht Cassy selbst das herausfinden?

„Es geht um den tragischen Tod von Pastor Guss“, sagte James und riss Miss Pinky aus ihren Gedanken.

„Ich habe es in der Zeitung gelesen.“ Sie schaltete den Wasserkocher an und drehte sich zu James um, der nun direkt vor ihr stand. Sie roch seinen süßlichen Pfeifen-Atem.

„Hm“, machte er und bog den Kragen seines Hemdes zurecht. „Ich möchte dir ein paar Fragen stellen, bevor ich der Sache weiter auf den Grund gehe.“

Miss Pinky war überrascht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, welche Fragen das sein könnten. „Woran ist der denn gestorben?“

„Das wissen wir noch nicht.“ James machte einige bedächtige Schritte in Richtung Wohnzimmer. „Er schien eine heftige Magenverstimmung gehabt zu haben. Woran man eher nicht stirbt.“

Miss Pinky musste an Edith und Marlon denken und verscheuchte den Gedanken sofort wieder. „Vielleicht macht ein Magen-Darm-Virus seine Runden“, sagte sie so sachlich wie möglich. Auf einmal war ihr in James’ Gegenwart unwohl, und Hitze stieg ihr ins Gesicht. „Das kommt im Herbst vor.“

„Wir werden sehen, was die Obduktion ergibt.“ James ließ sich auf das Sofa fallen und schlug die Beine übereinander. Miss Pinky machte eine Kanne Tee, denn sie hatte das bange Gefühl, dass sie heute auch ein paar Tassen brauchen würde. James’ Blicke waren intensiver als sonst, und sie hoffte, dass dieser Vorfall den Inspektor wachgerüttelt und seinen detektivischen Spürsinn geweckt hatte.

„Darf ich mit meiner Befragung beginnen?“ James bedankte sich für die Tasse Tee, die Miss Pinky ihm reichte, bevor sie sich zu ihm setzte. Sie fasste sich an die Perücke, die immer noch feucht war.

„Natürlich.“ Sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

James zückte einen Notizblock und einen jener Kugelschreiber, die so gut wie jeder in Hollowfield besaß. Es war ein Werbegeschenk der örtlichen Bank mit dem Slogan Bei uns ist ihr Geld in guten Händen.

„Wir alle wissen, dass du Gray näher gekannt hast.“ James räusperte sich.

„Nun ja, wir haben ihn alle nur so gut gekannt, wie es möglich war.“ Vor Miss Pinkys innerem Auge erschien Grays Gesicht, und ihr wurde auf einmal schwindelig. „Wir alle wissen, dass er nicht viel geredet hat. Außer bei seinen Predigten. Aber ich meine das alltägliche Gespräch, die kleinen Anekdoten.“ Miss Pinky seufzte. „Wenn wir ehrlich sind, haben wir nicht viel über ihn gewusst.“

„Das macht die Sache nicht leichter.“ James nippte an seinem Tee und wippte mit dem Fuß.

„Und warum genau suchst du mich auf, James? Es gibt noch keinerlei Hinweise, und du kommst zu mir?“

Ein süffisantes Lächeln huschte über seine Lippen. „Ich bin mir sicher, du kannst dir denken, warum.“ Er hob die Augenbrauen. Unruhe breitete sich in Miss Pinky aus.

„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.“ Sie lächelte, denn etwas anderes fiel ihr nicht ein.

James widmete sich seinem Tee, während er seinen Notizblock auf dem Knie balancierte. Es wirkte unbeholfen. Sie wollte glauben, dass Pastor Guss eines natürlichen Todes gestorben war. Gleichzeitig hatte sie den Verdacht, dass die Obduktion bereits abgeschlossen war und James ihr Wesentliches verschwieg.

„Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?“ Sie sah ihn eindringlich an. Sie hatten sich immer gut verstanden, aber heute erschien er ihr auf eine unerklärliche Weise distanziert. Beinahe feindselig mit seinem untersuchenden Blick, dabei gab es nichts, was er ihr entlocken konnte! Weil er nicht sofort antwortete, sondern erneut die Teetasse an den Mund führte, dachte Miss Pinky fieberhaft nach. Wusste sie vielleicht wirklich etwas? Sie versuchte, sich an die letzten Gespräche mit Pastor Guss zu erinnern. Natürlich hatten sie jeden Sonntag einige Worte gewechselt, und Gray hatte die vier Kinder gelobt, die brave Engel seien. Seine langen Predigten hörten sie sich ohne Gequengel an. Gelegentlich tippte Marlon mit dem Zeigefinger auf sein Handgelenk, damit Miss Pinky ihm die Uhrzeit auf ihrem Handy zeigte, aber das war auch alles. Gray strich manchmal liebevoll über Ediths Kopf und bedankte sich wochenlang für die wunderschönen Kissenhüllen, die Miss Pinky für die Kirche genäht hatte.

„Gibt es etwas, das du mir sagen solltest, Erin?“ James’ Stimme riss sie aus ihren Überlegungen, die ohnehin nirgends hinführten.

„Ich denke nicht.“ Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, fühlte sich unfähig, hier zu helfen, dabei hätte sie es so gern getan!

„Wir wissen, dass deine Wirkung auf deine Mitmenschen eine besondere ist. Anders als wir hier in Hollowfield gewohnt sind.“

Miss Pinky verdrehte die Augen. Ging das wieder los? Sie hatte tatsächlich geglaubt, dieses Thema wäre abgehakt. Dass alle sich schon längst damit abgefunden hatten, dass sie anders war und es so mochte.

„Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass ich etwas über Pastor Guss weiß, das dir weiterhelfen würde.“ Miss Pinky leerte ihre Tasse und holte die Kanne aus der Küche, um James und sich nachzugießen.

„Hattest du je den Eindruck, dass Pastor Guss Feinde hatte?“ Die Frage bestätigte Miss Pinkys Vermutung, dass es sich um Mord handelte.

„Möchtest du mir nicht vielleicht zuerst sagen, was du schon weißt, James?“

„Nein, das möchte ich nicht.“ Sein Lächeln war dünn. „Denn es würde meine Ermittlungen verfälschen.“

„Das ist doch lächerlich! Spätestens übermorgen wird in der Zeitung stehen, dass Pastor Gray Guss ermordet wurde.“

James’ Blick wurde neugierig. „Ist das so?“

„Ich nehme es an, denn sonst würdest du nicht in meinem Wohnzimmer sitzen und mich befragen wollen.“

„Ich will es nicht nur, ich tue es.“

„Von mir aus!“ James’ Gegenwart machte Miss Pinky nervös. Wieso legte er die Tatsachen nicht einfach auf den Tisch? Sie würde liebend gern behilflich sein, das Rätsel um Grays Tod zu lösen!

„Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich nicht, wo ich anfangen soll mit meinen Ermittlungen.“

Miss Pinky wunderte sich über James’ Ehrlichkeit, nicht aber über die Tatsache.

„Die Zeitungen werden schweigen, keine Sorge. Bis die Angelegenheit klar ist. Nichts von alledem, was ich mit dir oder irgendjemandem berede, wird an die Öffentlichkeit dringen. Die Vermutung liegt nahe, dass es in Grays Leben Dinge gab, von denen wir nichts wussten.“

„Die gibt es doch immer.“ Miss Pinky musste lächeln. „Wir bilden uns immer nur ein, jemanden zu kennen.“ Ihr Lächeln verstärkte sich, denn James hatte keine Ahnung, was alles beim Frauentee getuschelt wurde! Von wegen Öffentlichkeit.

„Das klingt philosophisch. Das bin ich von dir gar nicht gewohnt, Erin.“

„Ich zerbreche mir auch nicht gern den Kopf, weil es meistens nichts bringt. Es ist einfacher, immer aufmerksam und offen zu sein und Probleme direkt anzugehen, das erleichtert vieles im Leben.“

„Das lebst du uns seit fünfzehn Jahren vor, meine Liebe!“ James prostete ihr mit der Teetasse zu, und Miss Pinky tat es ihm gleich. „Aber vielleicht nimmt es dir nicht jeder ab, dass das Leben ein Kinderspiel ist, das man immerzu im Griff hat.“

Sie runzelte die Stirn. Das waren völlig neue Töne! Bisher hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihr ganz Hollowfield ihr Glück mit Benedict Pretty und ihren vier wunderbaren Kindern gönnte. War es etwa nicht so?

„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, James.“ Sie sah aus dem Fenster, um seinem prüfenden Blick nicht länger standhalten zu müssen. Draußen regnete es immer noch unbarmherzig, und für den Bruchteil einer Sekunde bekam Miss Pinky Heimweh nach Michigan, dem meist wolkenlosen Himmel und den herzlichen Menschen, die Neid so gut wie gar nicht kannten. Jeder war seines Glückes Schmied, war das nicht so?

„Mummy!“ Ediths Ruf klang dringend.

„Entschuldige mich bitte.“ Miss Pinky stand auf. „Marlon und Edith sind krank.“ Sie rannte nach oben, wo Marlon den Arm um seine kleine Schwester gelegt hatte, die kerzengerade im Bett saß. Kaum hatte sie auf der Bettkante Platz genommen, warf sich Edith in ihre Arme. „Ich habe schlecht geträumt!“

„Und was macht dein Bauch?“ Miss Pinky drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Höchstens einhundert Grad Fahrenheit. Marlon deckte sich bis zur Nasenspitze zu.

„Tut nicht mehr weh.“ Edith schmiegte ihren Kopf an Miss Pinkys Brust, und da war wieder diese Wärme, die alles rechtfertigte.

„Ich mache mich auf den Weg!“, rief James von unten.

„Ich habe Hunger!“ Edith zupfte an der pinken Perücke. „Nimm sie ab! Du bist nicht Miss Pinky, sondern Mummy!“

Mit einem Lächeln nahm Miss Pinky ihre Haarpracht ab, betrachtete die feuchten Strähnen, erhob sich und setzte die Perücke auf eine Halterung, damit sie in Ruhe trocknete. „Das ist ein gutes Zeichen, wenn du Hunger hast.“ Sie lächelte ihre Tochter an. „Ich hole dir etwas.“

Gerade, als sie die Stufen nach unten nahm, fiel die Haustür ins Schloss. Der Signalton der Waschmaschine im Untergeschoss erklang. Miss Pinkys Blick fiel auf die Matschspuren im Flur, die James hinterlassen hatte. Spuren. Wieso waren nicht alle Spuren so deutlich? Welche gab es im Fall Pastor Guss?

Nachdenklich leerte sie einige Salzbrezeln in eine Schüssel, schälte eine Bio-Banane und schnitt sie in Scheiben, die sie liebevoll auf einem Teller anrichtete. Sie stellte das Essen für die Kinder auf einem Beistelltisch ab.

Als sie wieder im Eingangsbereich war, fiel ihr auf, dass eine Schublade im Sekretär aufgezogen war. James hatte geschnüffelt. Hatte er etwa den Verdacht, dass sie in die Sache verwickelt war?

Miss Pinky beschloss, den Teppich zu reinigen, um sich von dem unliebsamen Gedanken abzulenken.

drei

Am Sonntagmorgen, nur drei Tage nach dem schrecklichen Fund in der Kirche, machte sich Belinda für den Frauentee schick. Sie trug einen anthrazitfarbenen Bleistiftrock, der ihr bis über die Knie reichte, und eine hellblaue Bluse, dazu eine goldene Kette mit einem Kreuzanhänger.

Ihr Mann war beim Golfspielen. Jeff ging es seit dem Vortag besser, es musste an der Hühnersuppe liegen, denn das Gebet war ja ausgefallen. Heute blieb er noch zu Hause, um sich zu erholen. In seinen Bademantel gehüllt und mit einem Buch von Jules Verne lag er auf dem Sofa und hob kaum den Blick, als Belinda ins Wohnzimmer trat. Er war zu ernst für seine zwölf Jahre, weshalb sich Belinda und ihr Mann immer wieder stritten. Sie solle dem Jungen Lebensfreude beibringen. Aber wie tat man das, wenn man das Gefühl selbst kaum kannte?

Belinda zückte ihren Schminkspiegel und betupfte ihre Nase vorsichtig mit Puder. Mit einem kritischen Blick betrachtete sie die feinen Falten, die von ihren Nasenflügeln zu ihren Mundwinkeln verliefen und sie an ihren Großvater erinnerten. Ihre gesamte Mundpartie war die seine. Belinda versuchte, die Linien mit Puder zu füllen, aber es gelang ihr nicht. Anschließend trug sie eine zweite Schicht Wimperntusche auf. Je älter sie wurde, desto mehr hatte sie das Bedürfnis, sich zu schminken. Sie drehte den Kopf hin und her, um zu erkennen, ob ihr Hals hell leuchtete. Miss Pinky war es gewesen, die sie beim ersten Frauentee – diese Frau kannte wirklich keine Scham! – darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Belinda stets vergaß, ihren Hals zu schminken, beziehungsweise, dass die Farbe ihres Gesichts-Make-ups mindestens zwei Schattierungen zu dunkel war. Sie war Frau Weißhals. Bei der Erinnerung schüttelte Belinda den Kopf. Im nächsten Augenblick kamen die Gedanken in ihr hoch, die sie seit jenem Abend in der Kirche wie gierige Wölfe verfolgten. Noch rannte sie vor ihnen weg, aber womöglich würde sie sich ihnen bald ergeben müssen. Lag der Gedanke nicht etwa nahe, dass eine vermeintlich perfekte Frau wie Erin Lovejoy, genannt Miss Pinky, nicht so heilig war, wie ihre Fassade vermuten ließ? Die Vorstellung war äußerst unangenehm, und doch machte sich eine gewisse Genugtuung in ihr breit.

„Mum, wann kommst du wieder nach Hause?“ Jeff ließ das Buch in seinen Schoß sinken. Belinda zuckte zusammen.

„Du weißt doch, dass der Frauentee immer von neun bis elf Uhr dreißig stattfindet.“ Sie steckte ihren Spiegel und die Schmink-Utensilien wieder in ihre Handtasche und sah aus dem Fenster. Nach Pastor Guss’ Tod hatte es zwei Tage in Strömen geregnet, aber heute schien das erste Mal seit langem wieder eine zögerliche Herbstsonne und ließ das Laub gelb und rot leuchten. Belinda warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und beschleunigte ihre Schritte, denn es war bereits kurz vor neun. Heute fand das Treffen in Katherine Terrys Haus am anderen Ende des Ortes statt.

Katherine Terry war, nach Miss Pinky, die wohlhabendste Ehefrau in Hollowfield. Ihr Mann Richard war Bankdirektor in London, wo er sogar eine kleine Wohnung besaß, in der er sich unter der Woche aufhielt. Es wurde – wenn Katherine nicht anwesend war – gemunkelt, dass Richard seit Jahren untreu war. Mit vierundvierzig Jahren war Katherine die Älteste im Frauenkreis, der sich seit über zehn Jahren regelmäßig traf und aus sieben Frauen bestand, die sich über ihre Kinder kennengelernt hatten. Es gab zwei Gründe, um im Freien ungehemmt mit Fremden ins Gespräch zu kommen: Kinder oder Hunde, mit denen man Gassi ging.

Die Idee des Frauentees stammte, wie konnte es anders sein, von Miss Pinky. Die Treffen mit den sechs Freundinnen waren ein Lichtblick in Belindas Leben, aber heute drückte es in ihrer Magengegend, denn sie hatte das dringende Bedürfnis, alle Details ihres Erlebnisses in der Kirche zu teilen, hatte aber Inspektor Subtle ihr Wort gegeben, zu schweigen. Es wäre eine Sünde, dieses Versprechen nicht einzuhalten.

Belinda ging die Carlyle Road entlang, um zur Crescent Road zu gelangen. Die beiden Straßen trafen sich an einem neu errichteten Kreisverkehr, dessen Mitte ein von der in Hollowfield lebenden Künstlerin Shelly Kilvin gestaltetes Mosaik zierte. Die Steine strahlten in der Herbstsonne.

Die Crescent Road war lang und führte aus dem Ort hinaus in Richtung Norden, beinahe bis nach London. Keine begehrenswerte Richtung für Belinda, denn sie hielt nichts von der Hauptstadt. Sie war zu laut, zu hektisch und zu modern. Wer brauchte mehr als sein Heimatdorf?

Nach einem raschen Blick auf die Uhr beschleunigte sie ihre Schritte. Sie würde zu spät sein.

Die Donne Street, in der das Haus der Terrys lag, hatte die Form eines Halbkreises und grenzte an endlos erscheinendes, saftig grünes Weideland. Belinda erkannte sofort Lillys Moped, das sie hinter dem Gartentor abgestellt hatte. Es passte nicht vor die Backstein-Fassade des imposanten Landhauses und die akkurat gestutzten, kugelrunden Hecken, die den Weg zum Hauseingang säumten.

„Belinda!“ Keuchend tauchte Selma aus einer der Seitenstraßen auf. „Gott sei Dank bin ich nicht die Einzige, die heute zu spät kommt!“

Selma war die Schwägerin des Organisten Craig, der einen sechzehn Jahre jüngeren Halbbruder hatte. Der Seitensprung des Vaters war bisher der einzige nennenswerte Skandal in Hollowfield gewesen, von dem Belinda wusste. Jetzt hatte sie die Vermutung, dass sich ein weitaus größerer anbahnte.

Kurz vor der Haustür hielt Selma Belinda am Arm zurück. „Hast du schon mit jemandem darüber gesprochen?“

„Was meinst du?“ Belinda wusste genau, was Selma meinte, wollte es aber aus ihrem Mund hören.

„Na die Sache mit dem Liebesbrief!“ Selma klang außerordentlich aufgeregt, dabei war sie sonst die Ruhe in Person. Also hatte Craig sein Wort nicht gehalten. Dabei hieß es immer, Frauen seien Plaudertaschen!

„Nein, ich hatte bisher keine Gelegenheit.“ Belindas Wangen kribbelten vor Aufregung. Sie kratzte sich am Hals. Selma starrte sie aus weit aufgerissenen, tiefblauen Augen an. „Kannst du dir vorstellen, dass Miss Pinky eine Affäre mit Gray hatte?“ Sie redete so laut, dass es Belinda peinlich war. Sie wünschte, Selma könnte flüstern wie Jamie.

„Ich weiß nicht, was ich denken soll.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„So geht es mir auch, seit ich mit Craig telefoniert habe. Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein!“

Die beiden Frauen betätigten den Türklopfer, einen schweren Messingring, der aus dem Maul eines Löwenkopfes hing. Belinda spürte, dass Selma es kaum aushalten konnte, die Neuigkeit im vertrauten Freundeskreis auszuplaudern.

Katherine Terry öffnete und bat die Freundinnen herein. Im Vorraum duftete es bereits nach Kaffee und Scones.

„Entschuldige bitte, dass wir zu spät sind.“ Belinda schlüpfte umständlich aus ihrem Mantel. Unruhig knabberte sie an ihrer Unterlippe. Würde Selma tatsächlich alles offen auf den Tisch legen? Belinda hatte ihre Zweifel, ob das rechtens war, schließlich hatten die Ermittlungen gerade erst begonnen, und man konnte viel Schaden mit Mutmaßungen anrichten. Aber wie sollte man es denn interpretieren, wenn ein Liebesbrief von Erin Lovejoy in Pastor Guss’ Jackentasche steckte? Doch wer würde solch ein persönliches Schreiben tippen? Das würde nicht einmal Miss Pinky tun. Oder? Liebesbriefe sollten von Hand geschrieben werden.

„Alles in Ordnung?“ Katherine nahm Belinda den Mantel ab und hängte ihn in das Garderobenzimmer. Natürlich wusste sie, was los war, schließlich lasen alle regelmäßig die Tageszeitung. Belinda verbuchte die Frage als rein rhetorisch und lächelte die Gastgeberin an, bevor sie das schicke Esszimmer mit den goldgerahmten Gemälden betrat, in dem alle um den reich gedeckten Tisch Platz genommen hatten. Auf einer Etagere waren Kekse angerichtet sowie Katherines selbstgebackene Scones. Die Marmeladen waren in kleinen, geblümten Schüsseln auf dem Tisch verteilt, in den Tassen dampfte Kaffee oder Tee. Belinda setzte sich neben Selma und strich ihren Rock glatt. Vor ihrer Nase stand eine Schale mit rotbackigen Äpfeln. Lilly korrigierte den Sitz ihres Loop-Schals und sah Belinda an, als erwartete sie etwas von ihr. Eine Aussage vielleicht. Doch Belinda betrachtete lediglich die vertraute Runde. Wenn sie alle Obst gewesen wären, dann war die 27-jährige Lilly ein praller, saftiger Pfirsich, die 30-jährige Ruth eine reife, süße Melone (das Bild passte, denn sie trug eine gigantische Oberweite mit sich herum!), die 36-jährige Jamie ein durchschnittlicher Apfel, die 33-jährige Selma ein ebensolcher, Katherine mit ihren 44 Jahren eine Mandarine, die ein Schuljunge tagelang in seiner Schultasche vergessen hatte, und Belinda vermutlich auch ein Durchschnittsobst, wobei sie das selbst schlecht beurteilen konnte. Erin war eine exotische, interessante Frucht, die jeder gern einmal gekostet hätte – wo war Erin überhaupt?

„Darf ich dir einen Kaffee anbieten?“ Katherine stand plötzlich schräg hinter ihr, mit einer Kanne in der Hand, die sie vorsichtig über Belindas Kopf hinwegmanövrierte.

„Ja, sehr gern. Dankeschön.“

Nachdem Katherine eingegossen hatte, nippten die Frauen simultan an ihren Tassen, als hätten sie es tagelang geprobt. Es war, als lauerte jede darauf, dass eine der anderen endlich den Mund aufmachte.

„Ist es nicht wunderbar, dass nach so vielen Regentagen wieder die Sonne scheint!“ Katherine reichte die Etagere herum.

„Absolut!“ Ruth nahm sich einen Scone.

„Ich glaube, der Himmel hat um Gray geweint.“ Kaum hatte sie den Satz beendet, senkte Selma den Blick auf ihren leeren Teller, als hätte sie etwas Unerhörtes gesagt. Dabei waren sie endlich, endlich beim Thema!

„Es tut mir so entsetzlich leid, liebe Belinda, dass du just an dem Abend in die Kirche gehen musstest.“ Selma legte Belinda eine Hand auf den Unterarm. Sie war schwer wie Blei. „Solch eine Entdeckung zu machen, das wünscht man wirklich keinem.“

Belinda schwieg. Es gab nichts dazu zu sagen.

„Mein Schwager hat mich am selben Abend angerufen.“ Es platzte aus Selma heraus, ohne Vorwarnung. „In Pastor Guss’ Jackentasche wurde ein Liebesbrief von Miss Pinky gefunden!“

Ein empörtes Raunen erfüllte den Raum, Augen weiteten sich, Hände fuhren instinktiv vor halboffene Münder.

„Wo ist Miss Pinky überhaupt?“ Jamie warf Katherine einen fragenden Blick zu und strich sich eine aschblonde Strähne hinters Segelohr. Sie war Miss Pinkys beste Freundin und wusste normalerweise immer alles als Erste. Ob das hier eine Neuigkeit für sie gewesen war? Oder war sie gar seit Jahren eingeweiht?

„Sie hat gestern Abend angerufen und sich entschuldigt. Ihre Kinder sind krank, und sie selbst hat eine Magenverstimmung.“

Eine Weile sagte niemand etwas. Katherines weiße Perserkatze schlich in den Raum, als wollte sie mithören.

„Ich bin entsetzt.“ Selma tupfte sich mit der Stoffserviette den Mund ab. „Es ist das Letzte, was ich erwartet habe.“

„Pastor Gray Guss war ein ehrenwerter Mann.“ Ruth schüttelte langsam den Kopf. Ihr Lippenstift klebte am Rand der Tasse. „Er hätte niemals so etwas Verwerfliches getan.“

„Wer sagt denn, dass er etwas getan hat?“ Lilly bestrich ihren Scone mit Clotted Cream und Erdbeermarmelade. Dabei wirkte sie so gelassen wie immer. Es war der Vorteil der Jugend, sich nicht so leicht erschüttern zu lassen. Bei Belinda hatte es das Alter mit sich gebracht, dass sie näher am Wasser gebaut war. „Vielleicht war nur Miss Pinky in ihn verliebt?“

„Miss Pinky und unglücklich verliebt?“ Selma runzelte die Stirn und nahm ihre Hand von Belindas Arm, um weiter zu essen. „Das passt nicht zu ihr. Schließlich ist sie glücklich verheiratet.“

„Es passt auch nicht zu ihr, einem Pastor einen Liebesbrief zu schreiben“, bemerkte Jamie trocken.

„Ist euch schon einmal aufgefallen, dass wir nur Miss Pinky zu Erin sagen, wenn sie nicht da ist?“ Belinda musste die Frage stellen, denn sie empfand es als zunehmend grausam, so über Erin zu reden. Es war überhaupt unmoralisch, über nicht Anwesende zu sprechen, und trotzdem taten sie es immer wieder! War es ein unerhörtes Frauending? Ihr Mann warf es ihr ab und zu ebenfalls vor. Im Grunde genommen war es Lästerei.

„Hör doch damit auf, Belinda!“ Katherine war entrüstet. „Sie hat sich doch damals selbst so genannt. Wir haben den Namen nicht erfunden.“

Belinda starrte auf die Perserkatze, die es sich auf dem Fenstersims bequem gemacht hatte. Es stimmte, dass Erin sich vor fünfzehn Jahren so vorgestellt hatte. Gefolgt von ihrem hellen, ansteckenden Lachen. Miss Pinky solle man sie ruhig nennen, wegen ihrer Perücke, ihrer Lieblingsfarbe und der Tatsache, dass an ihrer rechten Hand der kleine Finger fehlte. Den hatte eine Schnappschildkröte abgebissen, die sie von der Landstraße in ihrem Heimatort in Michigan entfernt hatte. Ein schöner Dank dafür, dass Erin ihr das Leben gerettet hatte! Es war nicht möglich, dass etwas an Erin verlogen war.

Belinda konnte sich noch gut an jenen ungewöhnlich warmen Tag im Juli 1984 erinnern, als Benedict Pretty seine Angetraute Erin Lovejoy aus den USA nach Hollowfield gebracht und der Kirchengemeinde vorgestellt hatte. Er wirkte so fröhlich, dass Belinda beinahe neidisch wurde. Miss Pinky trug ein Kleid und Stöckelschuhe in Pink, und die Blicke der Bewohner von Hollowfield waren ungläubig, als spielte ihnen jemand einen dummen Streich. Aber Miss Pinky war echt! Vielleicht echter als alle anderen Frauen im Ort!

„Was, wenn Miss Pinky versucht hat, Pastor Guss zu verführen?“ Selma klang aufgeregt, und sie verschüttete beinahe ihren Tee. „Die Amerikanerinnen sind doch so draufgängerisch, nicht wahr?“

„So etwas würde sie niemals tun!“ Jamie war sichtlich empört.

„Was, wenn er sich das Leben genommen hat, weil er es nicht ertragen konnte, der körperlichen Liebe entsagen zu müssen?“ Belinda fand, dass sich Ruth mit dieser Mutmaßung zu weit aus dem Fenster lehnte.

„Wir wissen noch rein gar nichts“, sagte sie also. „Warten wir ab, was die Untersuchungen ergeben. Es bringt doch nichts, sich mögliche Szenarien auszumalen.“

„Es mag nichts bringen, aber es macht Spaß!“ Lilly lächelte ein wenig zu verschmitzt. „Endlich geschieht etwas in diesem Kaff.“

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!

„Es ist auch gut möglich, dass Pastor Guss eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Katherine war sichtlich bemüht, die Gemüter zu beruhigen. „Belinda hat recht, wir wissen rein gar nichts.“

„Da möchte ich widersprechen!“ Selma hob die Hand, als wäre sie in der Mädchenschule. „Es wurde ein ominöser Liebesbrief gefunden neben einem Rosenkranz aus Paternostererbsen.“

„Den Rosenkranz hat Shelly Kilvins Mutter vor langer Zeit angefertigt, daran kann ich mich erinnern!“ Ruths Augen leuchteten. „Gray hat mir einmal nach einer Messe die Gebetskette mit den außergewöhnlichen Erbsen gezeigt.“

„Sie sind wirklich wunderhübsch.“ Belinda sah den Kranz vor ihrem geistigen Auge. „Leuchtend rot im Kontrast zu dem schwarzen Fleck auf jeder Erbse.“

„Also ich finde den Brief weitaus interessanter als die Erbsen.“ Lilly kaute an einem Fingernagel. „Stellt euch nur vor, welch ein Licht das auf Miss Pinky wirft!“

„Was, wenn der Brief gar nicht von ihr stammt?“ Belinda konnte die Frage nicht länger zurückhalten. Sie hatte nie glauben wollen, dass Miss Pinky das Schreiben verfasst hatte. Warum auch? Sie war glücklich verheiratet, hatte vier wunderbare Kinder und alles, was man sich wünschen konnte.

„Etwas in mir glaubt, dass Miss Pinky es getan hat.“ Katherines Blick schweifte ungeduldig durch das Zimmer. „Nicht, weil ich es möchte, sondern weil es auf Dauer unglaubwürdig ist, dass in ihrem Leben immer alles rosarot ist.“

Lilly lachte laut auf.

„Aber wir wollen doch nicht, dass Miss Pinky in Schwierigkeiten gerät.“ In Jamies Blick lag Entrüstung.

„Natürlich nicht.“ Katherine lächelte beschwichtigend. Nach einer kurzen Pause, die sich wie giftiger Nebel im Raum ausbreitete, fügte sie hinzu: „Aber etwas an Miss Pinky war von Anfang an sonderbar, findet ihr nicht auch?“

Katherine verengte die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte Belinda den Eindruck, dass sich etwas Ungutes zusammenbraute. Sie ließ das Gefühl nicht zu, sondern nahm sich einen Scone und schnitt ihn auf. Es gefiel ihr nicht, dass manche der Anwesenden misstrauisch wurden. Es gefiel ihr nicht, dass solch ein unerhörtes Ereignis ihr Heimatdorf erschütterte. Es gefiel ihr auch nicht, dass Erin nicht hier war, um sich zu verteidigen. Denn das würde sie mit Sicherheit tun.

Oder war sie heute nicht gekommen, weil sie den Vorwürfen nichts hätte entgegensetzen können?