PROLOG
Diese ganze unglückliche Lage hätte vermieden werden können … wäre es auch, wenn sie nicht so hartnäckig, so entschlossen gewesen wäre, um jeden Preis das zu bekommen, was sie wollte.
Es ist bedauerlich, aber das Problem kann nicht länger bestehen bleiben. Es muss gelöst werden, und zwar schnell. Die ermüdenden Gespräche, ihre unerbittlichen Fragen und absurden Vermutungen … all das muss aufhören.
Offen gesagt wird ihre Anwesenheit im Dorf unzumutbar. Da ist eine lästige Naivität an ihr, die an Leichtsinn grenzt. Sie scheint nicht zu verstehen, dass Handlungen Konsequenzen haben: dass alles seinen Preis hat.
Die derzeitige Pattsituation muss heute enden. Es ist an der Zeit zu handeln, bevor die Lage außer Kontrolle gerät und alles in sich zusammenfällt.
Dies wird ein Tag der Abrechnung sein: eine Chance, Fehler zu korrigieren und die Zukunft zu sichern.
KAPITEL 1
Violet Brewster saß in der Eingangshalle des Rathauses von Merrywell auf einem klapprigen und sehr unbequemen Holzstuhl. Wie aufgefordert war sie genau um elf Uhr angekommen, und jetzt war es zwanzig nach. Sie mochte es nicht, warten zu müssen – es machte sie gleichermaßen ängstlich und gereizt.
Zu ihrer Rechten, in der Haupthalle, war ein Spielgruppentreffen in vollem Gange. Normalerweise genoss sie den Klang fröhlich spielender Kinder, aber heute machten ihre lauten Schreie und das Quietschen sie nervös. Es lag nicht in ihrer Natur, so empfindlich zu sein, doch schließlich bekam sie nicht jeden Tag die Gelegenheit, sich vor dem Gemeinderat von Merrywell um einen wichtigen Auftrag zu bewerben. Ihr junges Unternehmen The Memory Box war kaum drei Wochen alt, und sie musste sich dringend ihren ersten Auftrag sichern. Dies war ihre große Chance, ein Angebot für ein lukratives Projekt abzugeben, und sie konnte es sich nicht leisten, es zu vermasseln.
Vielleicht würden einige Atemübungen ihre Nerven beruhigen. Sie atmete tief durch die Nase ein und füllte ihre Lunge vollständig, bevor sie langsam und bewusst ausatmete.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Noch einmal.
Um fünf vor halb zwölf wurde sie wieder unruhig. Sie richtete den Kragen ihrer Bluse, spielte mit der schlichten Goldkette, die um ihren Hals hing, und fragte sich, wie lange sie sie noch warten lassen würden.
Sie presste die feuchten Handflächen aneinander und rutschte unruhig hin und her. Was, wenn den Gemeinderäten ihre Ideen für das Projekt nicht gefielen? Was, wenn sie sie nicht mochten? Schließlich war nicht nur Violets Geschäft neu – sie selbst war ebenso ein Neuankömmling in Merrywell. Würden sie einer Außenstehenden zutrauen, sich unter die Anwohner zu mischen und die richtigen Fragen für den geplanten Film über das kollektive Gedächtnis des Dorfes zu stellen?
Als sie den Aufschlag ihres Ärmels zurückzog und stirnrunzelnd auf ihre Uhr blickte, kam eine junge Frau in die Lobby geeilt.
»Violet Brewster?«, fragte sie. »Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Das Komitee ist jetzt bereit für Sie.«
Endlich, dachte Violet. Dann kann die Show ja beginnen. Komm schon, Violet, du schaffst das.
»Ich bin übrigens Molly«, sagte die Frau und strich sich das lange blonde Haar hinter die Ohren.
Violet glättete ihren Rock, bevor sie aufstand. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie mit einem überschwänglichen Lächeln. »Ich nehme an, Sie sind eins der Ratsmitglieder?«
»Ich?« Molly warf den Kopf zurück und lachte. »Nein, ich führe nur das Protokoll bei den Besprechungen. Nichts und niemand würde mich dazu bringen, für den Gemeinderat zu kandidieren. Ich hätte nicht die Geduld, mich mit Merrywells Nörglern zu befassen.«
Violet lächelte höflich über Mollys Taktlosigkeit.
»Es gibt da eine kleine, aber sehr lautstarke Gruppe von Bewohnern, die sich ständig über irgendetwas beschweren«, vertraute Molly ihr an. »Müll, Hundekot, den Zustand des örtlichen Spielplatzes … Ich bin sicher, Sie können sich denken, von wem ich rede.«
»Nicht wirklich«, sagte Violet. »Ich bin erst vor drei Wochen in das Dorf gezogen.«
»Sie werden schon bald herausfinden, wen ich meine.« Molly nickte bedeutungsvoll. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch – trotz des Murrens und Knurrens der örtlichen Zyniker ist Merrywell ein schöner Ort zum Leben.«
Violet folgte ihr einen schmalen Korridor entlang in den hinteren Teil des Gebäudes.
»Hier hält der Gemeinderat seine Sitzungen ab«, sagte Molly und deutete auf eine Tür mit der Aufschrift ›Kleiner Veranstaltungsraum‹. »Kommen Sie rein. Sie beißen nicht … na ja, zumindest nicht alle.«
In dem spärlich möblierten Raum saßen zwei Frauen und drei Männer mit ernsten, mürrischen Gesichtern an einer langen Reihe von Tischen. Die Anordnung wirkte übertrieben offiziell, fast inquisitorisch – und der einzelne Stuhl, der in der Mitte des Raumes platziert war, tat nichts, um diesen Eindruck zu zerstreuen. Violet wurde aufgefordert, sich dorthin zu setzen.
Sie überkreuzte die Beine und wartete darauf, verhört zu werden. Halb erwartete sie, dass jemand ein grelles Licht einschaltete und ihr ins Gesicht leuchtete.
Die Frau, die in der Mitte des Gremiums saß, war in den Sechzigern, hatte silbergraue Haare und trug eine extravagante, rot gerahmte Brille. Sie beugte sich vor und schenkte Violet ein schmales Lächeln ihrer bemalten Lippen.
»Ich bin Judith Talbot, Leiterin des Gemeinderats«, sagte sie. »Vielen Dank, dass Sie heute hierhergekommen sind, Mrs Brewster, und dass Sie ein schriftliches Angebot für die Produktion unseres Gemeindefilms eingereicht haben. Wir hatten alle die Gelegenheit, es durchzulesen, und wir müssen zugeben, dass uns Ihre Ideen durchaus gefallen. Unser Ziel ist es, eine interessante und dauerhafte Aufzeichnung lebendiger Erinnerungen zu erstellen, und Ihre Vision für das Projekt scheint all unsere Ziele zu erfüllen.«
Violet stieß einen diskreten Seufzer der Erleichterung aus und begann sich zu entspannen. Gott sei Dank, dachte sie. Der kurze Überblick, den sie über das Projekt erhalten hatte, war vage und ohne viele Details gewesen – daher beruhigte es sie, zu wissen, dass das Konzept, das sie sich ausgedacht hatte, gut angekommen war. Vielleicht würde sie bei den Gemeinderäten doch nicht so aggressiv vorgehen müssen. Es klang, als hätten sie sich bereits entschieden und dieses Treffen wäre nur eine Formalität – eine Möglichkeit, den Auftrag zu vergeben und sie anzuweisen, loszulegen.
Judith Talbot räusperte sich. »Auch wenn wir von Ihrem Angebot beeindruckt waren, Mrs Brewster«, sagte sie, »haben wir ein paar Fragen.«
Die Worte der Gemeinderätin piekten in Violets Blase des Optimismus und ließen sie augenblicklich zerplatzen. Sei nicht so voreilig, Brewster, sagte sie sich. Du kannst es dir nicht leisten, selbstgefällig zu sein. Noch hast du nichts in der Tasche.
»Ich beantworte gern Ihre Fragen«, sagte sie. »Und bitte, nennen Sie mich Violet. Mrs Brewster klingt wie meine Schwiegermutter … Ex-Schwiegermutter.«
Bildete sie es sich nur ein oder verkniff sich der Kerl am Ende des Tisches ein Lächeln? Violet wusste, dass sein Name Matthew Collis war, aber nur, weil er einer der anderen Mieter im Merrywell Shopping Village war. Er war Tischler und stellte in der Werkstatt im hinteren Teil seines Ladens maßgefertigte Möbel her. Sie hatte ihn ein paarmal gesehen, doch sie waren einander nicht offiziell vorgestellt worden.
Judith Talbot warf einen Blick auf ihre Notizen, bevor sie fortfuhr. »Wenn ich es richtig verstehe, ist Ihr Unternehmen … The Memory Box … noch jung. Sehr jung sogar.«
»Das ist richtig«, antwortete Violet. »Ich habe vor ein paar Wochen eröffnet. Wie Sie sicher wissen, habe ich eine kleine Einheit im Shopping Village gemietet. Das wird mein Standort sein, obwohl ich natürlich viel Zeit unterwegs verbringen werde, je nachdem, wohin mich meine Projekte führen.«
»Und an welchen Projekten arbeiten Sie gerade?«, fragte Judith und fixierte Violet mit einem stählernen Blick.
Bisher hatte Violet nicht einmal den Anflug eines zahlenden Kunden – aber das würde sie nicht zugeben. Wenn sie das täte, würde sie ihre Chancen beim Rat mit ziemlicher Sicherheit zunichtemachen. Sie wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, die Gelegenheit bekommen zu haben, sich zu bewerben, und sie war entschlossen, sich das zunutze zu machen. Der Merrywell-Gemeindefilm war der Einstieg, den sie brauchte, um ihr Geschäft auf den Weg zu bringen.
»Ich habe mich auf das Marketing für meine Dienstleistungen und die Einrichtung einer Website konzentriert«, sagte sie ausweichend. »Und natürlich auf die Bearbeitung von Anfragen.«
Das war nicht ganz die Wahrheit. Es hatte keine Anfragen gegeben. Bisher hatte die teure Online-Werbekampagne, die Violet gestartet hatte, absolut nichts eingebracht.
Null. Nada. Zilch. Niente.
Während sie auf die nicht existierenden Anfragen gewartet hatte, hatte sie ihre Zeit damit verbracht, ihren Pitch für den Gemeindefilm zu perfektionieren. Sie musste das schriftliche Angebot ein Dutzend Mal durchgelesen haben, bevor sie es schließlich per E-Mail an den Rat geschickt hatte.
»Also haben Sie die Arbeit noch gar nicht aufgenommen?« Judith runzelte die Stirn. »Sie haben keine Erfolgsbilanz irgendeiner Art? Keine zufriedenen Kunden, die für Sie bürgen können?«
Offensichtlich konnte man Judith Talbot nicht an der Nase herumführen.
»Ich hoffe, das wird kein Hindernis sein«, sagte Violet. »Mein Geschäft mag neu sein, aber ich habe jahrzehntelange einschlägige Berufserfahrung. Wenn es Referenzen sind, die Sie wollen, kann ich das arrangieren.«
Bevor Judith die Chance hatte, zu antworten, schaltete sich Matthew Collis ein. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Das Zusammentragen von Referenzen braucht Zeit. Dieser Film wird durch einen Zuschuss der Lotteriegesellschaft finanziert, und wir sind sehr daran interessiert, die Dinge so schnell wie möglich in Gang zu bringen. Vielleicht können Sie uns etwas mehr über sich selbst und The Memory Box erzählen, um uns bei der Entscheidung zu helfen, ob Sie für das Projekt geeignet sind oder nicht.«
Violet war dankbar für sein Eingreifen. Sie fragte sich, wo sie anfangen und wie viel sie dem Ausschuss über sich und ihr neues Unternehmen erzählen sollte. Vielleicht sollte sie mit den Grundlagen beginnen.
»Nach meinem Abschluss begann ich als Journalistin und wechselte später in die Unternehmenskommunikation«, sagte sie und fasste ihre fünfundzwanzigjährige Karriere so kurz und bündig wie möglich zusammen. Es war wichtig, ihre Qualifikation klarzustellen, aber sie wollte den Ausschuss nicht mit den eintönigen Details ihres Arbeitslebens langweilen. Es waren Informationen über The Memory Box, die sie wollten, nicht ihre Lebensgeschichte.
»Mein Umzug nach Merrywell schien der perfekte Zeitpunkt zu sein, um ein eigenes Unternehmen zu gründen«, fuhr sie fort. »Mit The Memory Box werde ich eine Vielzahl von Dienstleistungen anbieten und dazu die Fähigkeiten nutzen, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet habe. Neben der Arbeit mit Gemeinden, um lebendige Erinnerungen und Ortsgeschichte zu erschaffen, werde ich Einzelpersonen helfen, ihre persönliche sowie ihre Familiengeschichte zu erzählen, damit sie für zukünftige Generationen erhalten bleiben kann. Ich filme Haus-, Schul- und Geschäftsgeschichten, Jubiläums-, Gedenk- und Geburtstagshommagen und sogar Testamente und letzte Wünsche. Kurz gesagt, ich plane, alles auf Video festzuhalten, worüber die Leute sprechen oder was sie mit anderen teilen möchten.«
Judith sah skeptisch aus. »Das ist ein interessantes Geschäftskonzept«, sagte sie. »Aber auch ein eher ungewöhnliches … Ich glaube nicht, dass Sie hier in Merrywell viele Kunden finden werden. Es ist ein kleines, traditionelles Dorf. Wir haben es geschafft, eine Finanzierung für unseren Gemeindefilm zu erhalten, aber es könnte Jahre dauern … Jahrzehnte, bevor wir ein weiteres Projekt dieser Art durchführen.«
Violet lächelte. »Ich habe nicht vor, mich auf Merrywell zu beschränken. Mein Unternehmen ist hier ansässig, weil ich hier lebe, aber ich werde meine Dienstleistungen einer viel breiteren Zielgruppe anbieten. Der Peak District ist ideal gelegen, um Sheffield, Derby, Nottingham und Manchester leicht zu erreichen. Ich kann meine Kamera und meine Aufnahmegeräte packen und fast überall hinfahren.«
»Ich habe gehört, dass Sie Greengage Cottage gekauft haben«, sagte Judith.
»Das stimmt«, antwortete Violet und fragte sich, was das mit irgendetwas zu tun hatte.
»Und Sie leben allein?«
»Das tue ich, ja.«
»Und darf ich fragen, warum Sie sich für Merrywell entschieden haben?«, bohrte Judith weiter. »Sie sind offensichtlich nicht von hier. Was hat Sie in dieses Dorf gezogen?«
Bildete sie sich das nur ein oder wurden die Fragen immer irrelevanter für den eigentlichen Auftrag? Es schien, als wäre Judith Talbot entweder von Natur aus eine neugierige Person oder – wahrscheinlicher – eine schamlose Schnüfflerin. Violet mochte es nicht, wenn die Leute so dreist in ihr Privatleben eindrangen – besonders jetzt, da sie noch unter den emotionalen Auswirkungen ihrer kürzlichen Trennung litt. Sie hatte nicht die Absicht, dem Ausschuss mitzuteilen, dass ihre Scheidung den Verkauf ihres gemeinsamen Hauses erforderlich gemacht hatte. Genauso wenig war sie bereit zu verraten, dass das Ende ihrer Ehe sie dazu gezwungen hatte, ihr Leben gründlich zu überdenken und einige dringend benötigte Veränderungen vorzunehmen.
Violets unmittelbare Reaktion auf Judiths Flut von Fragen wäre gewesen, ihr zu sagen, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern – aber dann erinnerte sie sich daran, wie sehr sie und The Memory Box diesen Auftrag brauchten. Der Merrywell-Film wäre ein großer Coup – etwas, das ihr Portfolio erweitern und ihren Ruf in der Gemeinde festigen würde. Obwohl sich also Violets Fußnägel aufrollten angesichts Judiths eklatanter Neugierde, fühlte sie sich verpflichtet, darauf zu antworten. Als Ratsvorsitzende hatte Judith die ausschlaggebende Stimme, wenn es um die Vergabe von Aufträgen ging. Violet konnte es nicht riskieren, bei ihr anzuecken.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter auf das Fenster hinter ihr. »Man muss sich nur die Aussicht da draußen ansehen, um zu verstehen, was mich nach Merrywell gezogen hat«, sagte sie. »Ich habe diese Gegend kennengelernt, als ich Studentin in Sheffield war. Ich bin einem Wanderklub beigetreten, und eine Gruppe von uns ging an den meisten Wochenenden in den Peak District. Ich erinnere mich gern daran zurück und habe Derbyshire seitdem immer wieder besucht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Als ich beschloss, von London wegzuziehen, war der Peak District die offensichtliche Wahl für meinen Umzug.«
Judith öffnete den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber der weißhaarige Mann zu ihrer Linken kam ihr zuvor.
»Ich bin Lionel Pilkington, Kirchenvorstand und ehemaliger Schulleiter der Merrywell Primary School. Sie haben gesagt, dass Sie planen, die Fähigkeiten, die Sie während Ihrer Karriere erworben haben, zu nutzen. Was genau sind das für Fähigkeiten? Sagen Sie uns, warum wir unser Vertrauen in Sie setzen sollten, um unseren Gemeindefilm zu produzieren.«
»Im Laufe meiner Karriere habe ich in verschiedenen Kommunikationsfunktionen gearbeitet … für Wohltätigkeitsorganisationen und Bildungseinrichtungen sowie für große Unternehmen«, sagte Violet. »Während dieser Zeit habe ich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten interviewt. Ich bin eine gute Zuhörerin und habe gelernt, die richtigen Fragen zu stellen … meine Interviewpartner zu ermutigen, sich mir anzuvertrauen und ihre Erfahrungen zu teilen.« Sie lächelte. »Ich glaube, jeder hat eine Geschichte zu erzählen, und durch The Memory Box werde ich den Menschen die Möglichkeit geben, ihr Wissen und ihre Weisheit weiterzugeben.«
»Das klingt sehr lobenswert«, sagte Lionel. »Und meiner Erfahrung nach werden die interessantesten Geschichten oft von den bescheidensten Menschen erzählt.«
»Was ist mit den technischen Aspekten?«, fragte Matthew Collis. »Ich nehme an, Sie beherrschen Videoproduktion und Tonbearbeitung?«
»Natürlich«, antwortete Violet, »und ich habe auch etwas Erfahrung im Grafikdesign.«
Sie beschloss, nicht zu erwähnen, dass dies Fähigkeiten waren, die sie erst kürzlich erworben hatte. Immer wenn sie als Angestellte gefilmt hatte, war jemand an ihrer Seite gewesen, der Kameras, Beleuchtung und Aufnahmegeräte bedient hatte. Bevor sie sich ihrer Geschäftsidee verschrieben hatte, hatte sich Violet zu einer Reihe von Crashkursen angemeldet, um die technischen Fähigkeiten zu erlernen, die sie für The Memory Box benötigen würde. Jeder Kurs hatte einige herausfordernde praktische Übungen mit sich gebracht, und Violet hatte unermüdlich zu Hause geübt, aber sie musste ihre filmischen Fähigkeiten noch in einer echten, authentischen, bezahlten Situation testen.
In diesen Aspekt ihres Geschäfts hatte sie das geringste Vertrauen, doch das würde sie Matthew Collis nicht sagen.
Stattdessen begann sie mit ihrem Pitch. Sie ging ihre Ideen für den Umgang mit den Anwohnern durch, skizzierte die Bereiche, die sie im Film abdecken wollte, und fasste zusammen, was das Komitee von ihr erwarten konnte und wie die Zeitpläne aussehen würden.
Als sie ihre Rede beendet hatte und alle Fragen des Ausschusses beantwortet waren, lehnte sich Violet zurück, während Judith Talbot leise mit ihren Kollegen sprach.
»Vielen Dank, dass Sie Ihre Ideen vorgestellt und unsere Fragen beantwortet haben, Mrs Brewster … Violet«, sagte Judith schließlich. »Wir werden noch etwas Zeit brauchen, um das zu besprechen, was Sie uns erzählt haben, und ich werde mich morgen mit Ihnen in Verbindung setzen, um Ihnen unsere Entscheidung mitzuteilen.«
Violet lächelte die Mitglieder des Gemeinderats an und stand auf. Sie hatte ihr Bestes gegeben. Alles, was sie jetzt tun konnte, war, die Daumen zu drücken und auf ein positives Ergebnis zu hoffen.
Als sie zur Tür ging, versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, was passieren würde, falls sie »Nein« sagten.
KAPITEL 2
Am nächsten Morgen wurde Violet von einer marodierenden Elster durch Geräusche wie das Rattern eines Maschinengewehrs geweckt. Obwohl es drei Wochen her war, seit sie ins Greengage Cottage gezogen war, hatte sie sich immer noch nicht an das allgegenwärtige Geräusch von Vogelgeschrei vor ihren Fenstern gewöhnt. Vor ihrer Scheidung waren sie und Paul vierundzwanzig Jahre verheiratet gewesen, und die letzten zwanzig davon hatten sie in einem Reihenhaus in Fulham verbracht, das an einer lauten, verstopften Straße lag. Violet war viel mehr an das Heulen von Sirenen und hochtourigen Motoren gewöhnt als an das süße Lied eines Rotkehlchens oder das Geschwätz von Amseln.
Sie zog ihre Schlafzimmervorhänge zurück und blickte auf ihren blühenden Garten und die üppigen grünen Felder dahinter. Wenn sie sich auf Zehenspitzen stellte und nach rechts spähte, vorbei an der Straßenkurve nahe der St.-Lukas-Kirche, konnte sie gerade so den Eingang ihres Arbeitsplatzes – des Merrywell Shopping Village – erkennen. Es war ein Hof mit umgebauten Scheunen, Nebengebäuden und Werkstätten, die einst zum örtlichen Herrenhaus gehört hatten. Das Shopping Village war entstanden, um handwerkliche und kreative Einkaufsmöglichkeiten sowie Studios, Galerien und Tagungsräume zu bieten. Es lag an der wichtigsten Touristenroute nach Buxton und war ein beliebter Zwischenstopp für Urlauber.
Violet stand am Fenster und genoss für ein paar Augenblicke die Aussicht, bevor sie die Treppe hinunter in ihre sonnige Küche ging. Mit ihrem Fliesenboden und den weiß getünchten Holzbalken war es ihr Lieblingsraum im Haus. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, blickte sie aus dem Fenster über dem Spülbecken und war dankbar, dass das Scheitern ihrer Ehe zu mindestens einer positiven Sache geführt hatte – ihrem Umzug ins Greengage Cottage. Hier zu sein, war definitiv etwas, wofür sie dankbar sein konnte.
Um halb neun, nachdem sie eine Tasse starken Tee getrunken hatte, zog sie eine leichte Jacke an und machte sich auf den Weg zur Arbeit. In London war ihr tägliches Pendeln mit einem frühen Start und einer fünfunddreißigminütigen Fahrt mit der überfüllten U-Bahn verbunden gewesen. Hier in Merrywell war es lediglich ein dreiminütiger angenehmer Spaziergang zur Memory Box.
Eine frische Brise wehte aus Richtung Westen, als sie durch das Dorf wanderte. Frühlingsblumen blühten in jedem Vorgarten: Primeln, Stiefmütterchen und Blaukissen, ein paar späte Narzissen, Traubenhyazinthen und Tulpen. Auch an mehreren Bäumen brachen die Knospen auf, ihre blassen Blüten zart vor dem klaren blauen Himmel.
Als Violet am Dorfladen vorbeikam, tauchte ein großer älterer Mann mit einer Zeitung und einer Plastikflasche Milch auf. Er nickte kurz und sprach ein einziges schroffes Wort.
»Morgen.«
Als Violet zum ersten Mal auf diese Weise angesprochen worden war, hatte sie sich zurückgewiesen gefühlt, sicher, dass ihr als Neuankömmling die kalte Schulter gezeigt wurde. Sobald sie dies einem Nachbarn gegenüber erwähnt hatte, war sie erleichtert gewesen zu erfahren, dass es die übliche Begrüßung in Merrywell war. Anscheinend wurde ein einfaches Morgen, Tag oder Abend als ausreichend erachtet, wenn man einen anderen Anwohner begrüßte.
Violet lächelte den Mann an, nickte und antwortete auf ähnliche Weise.
Als sie am White Hart vorbeikam, vermischte sich der Geruch von abgestandenem Bier mit der frischen Frühlingsluft. Sie hatte den Pub bisher noch nicht besucht, aber das wollte sie bald ändern. Die Donnerstagabende waren Quizabende, also wäre das vielleicht die beste Zeit für einen Besuch.
Während sie der Straßenkurve folgte, warf sie einen Blick über die Mauer auf die St.-Lukas-Kirche. Sie war klein und gedrungen, im normannischen Stil erbaut, mit einem einfachen Ziegeldach und einem seitlichen Vorbau. Verglichen mit anderen Kirchen war sie architektonisch unauffällig, aber Violet wusste, dass sie von einer loyalen Gemeinde unterstützt wurde.
Ein paar hundert Meter hinter der Kirche war der Eingang zum Merrywell Shopping Village. The Memory Box befand sich in der hintersten Ecke des Innenhofs, in der kleinsten Einheit der Siedlung. Nebenan war ein Geschäft, in dem Kunsthandwerkerbedarf und Puzzles verkauft wurden. Auf der anderen Seite davon befand sich das Antiques Emporium, das voller dunkler Möbel und Schränke war, die mit Kuriositäten und Sammlerstücken gefüllt waren. Auf der zweiten Seite des Vierecks wurde Collis Fine Furniture von einem Garn-, Woll- und Stoffgeschäft mit dem Namen Sew-in’ to Knitting sowie einem Outdoor-Bekleidungsgeschäft flankiert. Auf der dritten Seite befand sich ein Geschäft namens The Epicurious, in dem lokal hergestellte Marmeladen, Chutneys, eingelegtes Gemüse, Kekse und handgefertigte Pralinen verkauft wurden. Daneben gab es einen Studiobereich, den man mieten konnte. Er wurde für Kunsthandwerksworkshops, Kochvorführungen und Yogastunden genutzt und diente regelmäßig als Treffpunkt für lokale Hobbygruppen.
Die gesamte vierte Seite des Hofes war von Books, Bakes and Cakes belegt, die im Ort als The BBC bekannt waren. In Violets Augen war es das beste Geschäft in Derbyshire. Die umgebaute Scheune war das größte Gebäude im Shopping Village. Wie der Name schon sagte, bot es eine Buchhandlung, eine Bäckerei und ein Café unter einem Dach und wurde von drei Mitgliedern der Familie Nash geführt.
Auf die Bäckerei steuerte Violet nun zu, nachdem sie zugunsten eines Cappuccinos zum Mitnehmen und eines von Fiona Nashs köstlichen Muffins auf das Frühstück daheim verzichtet hatte.
Die Glocke über der Tür klingelte, als sie eintrat. Trotz der frühen Stunde war Fiona bereits mit einer Schar von Einheimischen beschäftigt, die ihre liebsten Brote, Brötchen, Törtchen und Kuchen kaufen wollten. Als sie den Geruch von frischem Brot einatmete, knurrte Violets Magen. Dieser Laden war ihr Wohlfühlort – er kombinierte drei ihrer Lieblingsdinge: Bücher, Kuchen und Kaffee. Soweit es Violet betraf, bot Books, Bakes and Cakes eine perfekte Mischung.
Fiona Nash war eine große, rothaarige Fünfzigjährige, die Energie und Gutmütigkeit ausstrahlte. Sie und Violet teilten den gleichen skurrilen Sinn für Humor, was wahrscheinlich der Grund war, weshalb sie schnell Freundschaft geschlossen hatten. Fiona stammte ursprünglich aus Nottingham, aber sie lebte seit zehn Jahren in Merrywell und war die erste Anlaufstelle für Informationen über die Gegend. Ihr Mann Eric leitete den Buchhandelsteil des Geschäfts und ihre Tochter Sophie das Café.
»Cappuccino?«, fragte Fiona, als Violet an der Reihe war.
»Ja, bitte, und ich hätte auch gern einen deiner fabelhaften Muffins.«
»Heidelbeere, Banoffee oder Schokolade?«
»Heidelbeere, bitte«, sagte Violet. »Einfach, weil es nach der gesündesten Option klingt.«
Fiona lachte. »Ich sollte das wahrscheinlich nicht sagen, aber an den Muffins, die wir verkaufen, ist nichts auch nur halbwegs Gesundes dran. Sie sind jedoch köstlich … und machen ziemlich süchtig.«
»Wem sagst du das?« Schuldbewusst tätschelte Violet ihre Hüfte. »Seit ich nach Merrywell gezogen bin, habe ich drei Pfund zugenommen – und ich gebe deiner Bäckerei die Schuld für jedes einzelne davon.«
»Wie war dein Treffen mit dem Gemeinderat?«, fragte Fiona, während sie Violets Kaffee zubereitete.
»Es ist okay gelaufen … denke ich.« Violet wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie werden mir heute irgendwann ihre Entscheidung mitteilen.«
»Du klingst nicht sehr zuversichtlich.«
Violet verzog das Gesicht. »Sie mochten meine Ideen, aber die Tatsache, dass mein Geschäft so neu ist, könnte ein Problem sein.«
»Das können sie dir doch nicht vorhalten«, sagte Fiona. »Jeder muss irgendwo anfangen.«
»Stimmt. Ich bin nur nicht überzeugt, dass sie wollen, dass ich mit ihrem Projekt beginne. Sie haben viele Fragen gestellt, die meisten davon habe ich auch gern beantwortet – auch wenn Judith Talbot aus irgendeinem Grund sehr neugierig war, warum ich nach Merrywell gezogen bin.«
Fiona verdrehte die Augen. »So ist Judith. Auf den ersten Blick ist sie eine Säule der Gemeinschaft, aber sie ist auch eine schamlose Wichtigtuerin.«
»Das war definitiv der Eindruck, den ich bekommen habe«, sagte Violet.
»Zugegeben«, fügte Fiona hinzu, »Judith liegt das Wohl des Dorfes am Herzen. Sie kann manchmal schwierig sein, aber sie ist die ideale Ratsvorsitzende. Ich bin sicher, sie wird die richtige Entscheidung treffen und dich für das Filmprojekt an Bord holen.«
Violet hielt beide Hände hoch, die Finger gekreuzt.
»Wirst du mich wissen lassen, was passiert?«, fragte Fiona.
»Natürlich.« Violet reichte ihr einen Fünf-Pfund-Schein und nahm die Tüte, in die Fiona einen noch warmen Muffin gelegt hatte.
»Wenn du grünes Licht bekommst«, sagte Fiona, »und beachte, dass ich wenn und nicht falls gesagt habe – weil ich volles Vertrauen in dich habe –, dann musst du rüberkommen und mit mir reden.« Sie gab Violet ihr Wechselgeld und ihren Kaffee zum Mitnehmen. »Dann erzähle ich dir, mit wem du sprechen kannst. Es gibt viele interessante Charaktere in Merrywell. Du wirst die Qual der Wahl haben.«
»Das hoffe ich«, sagte Violet. »Obwohl das nicht unbedingt bedeutet, dass jeder von ihnen mit mir sprechen oder an dem Gemeindefilm beteiligt sein will.«
Fiona lächelte. »Ich bin sicher, du wirst sie überzeugen können.«
»Ich gebe zu, dass ich ein Händchen dafür habe, die Leute dazu zu bringen, ihre Geheimnisse zu verraten«, sagte Violet. »Aber noch habe ich den Vertrag nicht, und wie sagt man so schön? Man soll die Pfanne erst anheizen, wenn der Fisch gefangen ist. Fürs Erste werde ich mich an den Schreibtisch setzen, ein paar Anrufe tätigen und mich darauf konzentrieren, einige andere Geschäftskontakte zu knüpfen. Ich kann nicht alles auf eine Karte setzen.«
»Du meinst die Speisekarte, auf der der Fisch steht, den du noch nicht gefangen hast?«
Violet lachte. »So was in der Art.«
***
Das Erste, was Violet tat, nachdem sie The Memory Box betreten hatte, war, ihren Kaffee zu trinken und den Muffin zu verschlingen. Erst dann erstellte sie eine To-do-Liste und machte einen Plan für den Tag. Ihre Website war bereits fertiggestellt und live, ebenso wie der Newsletter – obwohl sie bisher nur fünf Abonnenten hatte, von denen einer ihre Mutter war.
Sie loggte sich ein, um die Klickrate für ihre Online-Werbekampagne zu überprüfen, und verzog das Gesicht. Die Ergebnisse sahen nicht vielversprechend aus. Vielleicht war sie naiv gewesen, anzunehmen, dass ein paar Social-Media-Anzeigen eine Flut von Kunden mit sich bringen würden. Bisher hatte sie sich vor altmodischer Printwerbung gescheut, aber vielleicht war es an der Zeit, ein paar Flyer und Plakate zu erstellen, die sie an jeden verteilen konnte, der bereit war, sie auszulegen oder aufzuhängen. Sie war sich sicher, dass Fiona etwas auf die Theke legen würde, und Eric war ein netter Kerl. Wenn sie ihn freundlich fragte, würde er ein Poster in der Buchhandlung aufhängen.
Während sie ihrer To-do-Liste FLYER UND POSTER DESIGNEN hinzufügte, öffnete sich die Tür. Das Geräusch ließ ihr Herz für einen Moment höherschlagen, aber das Aufblitzen von Vorfreude, das es mit sich brachte, wurde erstickt, sobald sie sah, wer in den Laden kam. Anstelle eines potenziellen Kunden war es Matthew Collis, der eintrat. Abgesehen von seiner Rolle als Gemeinderat schien es unwahrscheinlich, dass er die Dienste von The Memory Box in Anspruch nehmen wollte.
Andererseits war er vielleicht dienstlich hier und würde das Urteil des Rates über den Filmvertrag verkünden.
»Guten Morgen«, sagte Matthew. »Ich dachte, ich statte Ihnen einen kurzen Besuch ab und stelle mich richtig vor. Ich hätte wirklich früher vorbeischauen sollen, aber besser spät als nie.«
»Ich bin sicher, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann.« Violet lächelte. »Mit Ihrem Geschäft und Ihrer Arbeit als Gemeinderat.«
Matthew grinste. »Ja, Gemeinderatspflichten haben die Tendenz, meine Freizeit zu verschlingen. Unter uns gesagt, das Ganze kann manchmal ziemlich nervig sein. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich da hineingezogen wurde. Ich hasse Komitees.«
Violet lachte. »Meine Szene wäre es nicht – obwohl ich natürlich hoffe, dass ich mit dem Rat an dem Filmprojekt arbeiten kann.« Sie hob die Augenbrauen. »Irgendwelche Neuigkeiten an dieser Front?«
Matthew verzog das Gesicht. »Die gibt es«, sagte er ausweichend, »aber mein Leben wäre vorbei, wenn ich sie Ihnen verraten würde … Judith möchte selbst mit Ihnen sprechen.«
»Wenn man bedenkt, dass die meisten Leute davor zurückschrecken, schlechte Nachrichten zu überbringen«, sagte Violet, »finde ich es beruhigend, dass Judith es selbst erledigen will. Ich sehe das als positives Zeichen.«
Matthew lächelte und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Dazu kann ich unmöglich etwas sagen.«
Violet spürte, wie sich ihre Stimmung hob. Die Zeichen waren vielversprechend. Sehr vielversprechend sogar.
Sie beobachtete, wie Matthew sich umsah und die Raumaufteilung von The Memory Box betrachtete. »Hier ist nicht viel Platz«, sagte er und fügte in Anspielung auf ihren Firmennamen hinzu: »Es gleicht eher einer Streichholzschachtel als einer für Erinnerungen.«
»Ich brauche nicht viel Platz. Solange ich Platz für meinen Schreibtisch und meinen Mac habe, bin ich glücklich. Es gibt im hinteren Bereich einen Abstellraum und einen kleinen Raum, den ich für Interviews nutzen kann, wenn ich muss – aber ich rechne damit, dass die meisten meiner Dreharbeiten am Set durchgeführt werden.«
»Am Set, ja? Das klingt sehr mondän.«
»Glauben Sie mir«, sagte Violet. »Das ist es nicht.«
Er grinste. »Haben Sie sich von der gestrigen Begegnung mit dem Gemeinderat erholt?«
»Gerade so. Da waren ein paar schwierige Fragen, aber das ist verständlich. Sie mussten herausfinden, ob ich die beste Person für dieses Projekt bin, nicht wahr?«
»Die Tatsache, dass Ihr Geschäft im Shopping Village ansässig ist, hat Ihnen sofort einen Vorsprung verschafft. Wir Gemeinderäte unterstützen gern lokale Unternehmen, wo immer dies möglich ist.«
»In diesem Fall hätte mein Timing nicht besser sein können … The Memory Box zur gleichen Zeit zu gründen, in der der Rat einen Gemeindefilm in Auftrag geben will.« Sie lächelte. »Wenn das kein Glück ist …«
»Eine glückliche Fügung«, stimmte Matthew zu.
»Irgendeine Idee, wann Judith sich voraussichtlich melden wird?«
»Ich bin mir sicher, dass Sie heute irgendwann von ihr hören werden«, erwiderte Matthew. »Ich sollte Sie wahrscheinlich warnen … Judith kann eine strenge Projektleiterin sein. Sie erwartet Großes von diesem Gemeindefilm.«
»Dann sollte ich besser hart arbeiten«, sagte Violet. »Vorausgesetzt, ich bekomme den Zuschlag.«
»Genau.« Matthew zwinkerte erneut. »Wie auch immer, ich überlasse Sie nun wieder sich selbst. Ich bin nur hergekommen, um Sie im Shopping Village willkommen zu heißen und richtig Hallo zu sagen.«
»Danke«, sagte Violet. »Das weiß ich zu schätzen.«
»Kommen Sie gern irgendwann in meiner Werkstatt vorbei. Ich würde mich freuen, Ihnen alles zu zeigen, und ich kenne mich in der Lokalgeschichte auch ziemlich gut aus. Ich helfe Ihnen gern mit Informationen für den Film … vorausgesetzt, Sie werden beauftragt, ihn zu machen.«
»Danke«, erwiderte sie. »Das werde ich mir merken.«
Mit einem geheimnisvollen Lächeln wandte Matthew sich um und öffnete die Tür. Als sie sich hinter ihm schloss, schlüpfte Violet in das Hinterzimmer und vollführte einen verhaltenen, nicht zu voreiligen Freudentanz.
***
Es war drei Uhr, als Judith Talbot schließlich die Entscheidung des Rates überbrachte. Sie entschied, dies persönlich zu tun, und tauchte unangekündigt in The Memory Box auf, während Violet im Hinterzimmer war und sich eine Tasse Tee zubereitete.
»Judith!«, sagte sie, als sie ihren dampfenden Becher zurück in den vorderen Teil des Ladens trug. »Ich habe Sie nicht hereinkommen gehört.«
»Es wäre klug, eine Glocke über der Tür anzubringen«, sagte Judith. »Man kann nicht vorsichtig genug sein, wissen Sie?«
»Bitte setzen Sie sich. Kann ich Ihnen einen Tee oder Kaffee bringen? Das Wasser hat gerade gekocht.«
»Nein, trotzdem vielen Dank«, sagte sie, setzte sich und faltete die Hände in ihrem Schoß.
Violet stellte fest, dass Judith sich gern konservativ kleidete, in gedämpften Grau- oder Brauntönen. Heute trug sie ein schienbeinlanges, locker sitzendes Kleid, das die Farbe von Gewitterwolken hatte. Paradoxerweise schien die Ratsvorsitzende auch eine Vorliebe für bunte Accessoires und passende Brillen zu haben. Die rote Brille von gestern war durch eine mit quadratischen Gläsern und kaugummirosa Rahmen ersetzt worden, die perfekt zu der klobigen rosa Kette passte, die um ihren Hals hing.
»Ich komme mit guten Nachrichten«, sagte Judith. »Nachdem wir Ihr Angebot sorgfältig geprüft haben, freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Sie zur Regisseurin unseres Gemeindefilms ernennen möchten.«
Violet packte ihren Schreibtisch und spürte, wie ihre Knie zitterten, als sie sich hinsetzte. Matthews nicht gerade subtile Hinweise hatten ihr allen Grund zur Hoffnung gegeben, aber Judiths offizielle Bestätigung über die Entscheidung des Rates zu hören, war eine große Erleichterung.
Eine Welle der Dankbarkeit stieg in ihr auf. Sie wollte vor Freude lachen – lachen und lachen und lachen, bis sie weinte –, aber Judith Talbot beobachtete sie mit ernstem Gesichtsausdruck von der anderen Seite des Schreibtisches. Violet ignorierte das fröhliche Kichern, das ihr in der Kehle steckte, biss sich auf die Lippen und zwang sie in ein kontrolliertes und professionelles Lächeln – eines, von dem sie hoffte, dass es ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Überraschung und Freude vermitteln würde.
»Das sind wunderbare Neuigkeiten. Vielen Dank, Judith.«
»Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis wir uns mit unserer Entscheidung bei Ihnen gemeldet haben«, fügte Judith hinzu. »Ich habe darauf gewartet, dass die Rechtsabteilung den Papierkram erstellt. Ich dachte, es wäre eine schöne Idee, die gute Nachricht persönlich zu überbringen und gleichzeitig den Vertrag mitzubringen.«
Sie zog ein Dokument aus einer voluminösen rosa Handtasche und reichte es Violet.
»Wir können beide den Vertrag jetzt unterzeichnen, wenn Sie damit einverstanden sind, oder Sie können sich etwas Zeit nehmen, um ihn zuerst durchzulesen. Ganz wie Sie möchten.«
Nachdem sie jede Seite überflogen und die wichtigsten Punkte überprüft hatte, stimmte Violet zu, den Vertrag sofort zu unterzeichnen. Sie wollte dem Rat keine Zeit geben, seine Meinung zu ändern.
»Wir hatten darauf gehofft, dass Sie sofort mit der Arbeit an dem Projekt beginnen würden«, sagte Judith.
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, erwiderte Violet und fügte dem Dokument ihre Unterschrift hinzu. »Ich werde gleich morgen früh anfangen.«