Kapitel 1
Kurland Hall, England, Dezember 1820
Nach drei Jahren Ehe war Lucy, Lady Kurland, die üble Laune von Sir Robert am Frühstückstisch gewohnt. Er hasste es, beim Essen zu plaudern, was für sie oft frustrierend war, da es den anstehenden Tag viel zu bereden galt. Unglücklicherweise hatte ihr Ehemann die Angewohnheit, sich hinter seiner Zeitung zu verstecken und jeden Versuch einer Unterhaltung ihrerseits nur mit vereinzeltem Knurren zu beantworten.
So war es auch an diesem Wintermorgen, allerdings hatte zur Abwechslung auch Lucy wenig Interesse, mit ihm zu sprechen. Obwohl sie tief geschlafen hatte, war sie müde und selbst ein wenig mürrisch gestimmt. Die Weihnachtszeit kam immer näher und obwohl es nicht länger zu ihren Pflichten gehörte, sich um das Pfarrhaus und ihren Vater zu kümmern, hatte sie dennoch viel zu tun.
„Die Post, Mylady.“
„Vielen Dank, Foley.“
Lucy nahm das vom Butler präsentierte Silbertablett an sich und sortierte die Briefe und Rechnungen, bis sie ihre Korrespondenz von der ihres Mannes getrennt hatte.
„Ein Brief von deiner Tante Rose, Robert. Sie scheint gerade in London zu sein.“
„Hm?“ Hinter der Zeitung tauchte eine Hand auf und Lucy legte den schweren Brief hinein. „Danke dir.“
Lucy trommelte mit den Fingern auf dem Stapel aus Briefen herum. Sie hatte keine Lust, auch nur einen zu öffnen. Sie würde nichts anderes vorfinden als Mitleidsbekundungen zu ihrem gesundheitlichen Zustand und daran wollte sie keinen weiteren Gedanken verschwenden. Sie wusste die Besorgnis zwar zu schätzen, aber sie wollte sich nicht noch schlechter fühlen als ohnehin schon.
Sie seufzte und blickte durchs Fenster. Über dem winterlich kargen Garten des Anwesens hingen dunkle Wolken. Die Bäume waren kahl. Die wenigen Sonnenstrahlen, die es durch das Grau schafften, ließen vereinzelt die Eiskristalle an den Grashalmen glänzen. Offenbar war es auch recht windig, weshalb sie sich noch einmal überlegte, ob sie heute wirklich wie geplant ins Dorf gehen würde. Sie hatte ihrem Vater versprochen, ihn im Pfarrhaus zu besuchen. Und am Nachmittag erwartete sie einige der Frauen aus dem Dorf zum Tee im Herrenhaus.
Es mussten Pläne für die Festtage gemacht werden und dafür brauchte sie die Hilfe von allen im Ort. Lucy biss sich auf die Lippe. Ihr war nicht danach zumute, die Kräfte der örtlichen Oberschicht zu mobilisieren, denn dafür war oft eine Menge Feingefühl notwendig. In ihrer kleinen Gemeinde hatte sie den höchsten sozialen Status inne und viele verließen sich darauf, dass sie den Ton angab. Unter normalen Umständen würde sie diese Erwartung mit Energie erfüllen, aber heute …
Sie legte die Serviette auf dem Tisch ab, nahm ihre Briefe und rückte mit ihrem Stuhl zurück.
„Diese verdammte, inkompetente Regierung“, murmelte Robert verborgen hinter seiner Zeitung vor sich hin. Er verfolgte noch immer die Ambition, ein Abgeordneter im Parlament zu werden, es hatte sich bisher allerdings kein geeigneter Sitz für ihn gefunden.
Foley, der neben Lucy stehen geblieben war, räusperte sich. „Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie schon fertig sind, Mylady? Sie haben nur einen halben Toast zu sich genommen.“
„Ich habe keinen Hunger.“ Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, als er ihr den Stuhl wegrückte, während sie sich erhob.
„Können Sie bitte dafür sorgen, dass das Feuer in meinem Wohnzimmer entfacht wird? Und könnten Sie Mr Coleman darum bitten, in einer halben Stunde mit der Kutsche vorzufahren?“
„Selbstverständlich, Mylady.“ Foley verbeugte sich tief. „Und wie wäre es mit einer frischen Kanne Tee? Die Köchin hat gerade erst ein paar Scones gebacken, die wunderbar zu Erdbeermarmelade und Clotted Cream passen würden.“
„Tee wäre wunderbar.“
Sie verließ den Frühstückssalon und begab sich in ihr Wohnzimmer, wo das neue Hausmädchen, entgegen ihrer Sorge, bereits das Feuer angezündet hatte und der kalte Raum daher schon ein wenig warm war. Lucy setzte sich an ihren Schreibtisch und ging den Briefstapel durch. Ein Schreiben ihres Bruders Anthony, der derzeit im Ausland stationiert war, legte sie zur späteren Lektüre beiseite. Immerhin hatte er keine Ahnung, wie es ihr ergangen war. Von ihm würde sie daher zur Abwechslung von seinen Aussichten einer strahlenden Karriere im Regiment der 10. Husaren des Prinzen von Wales lesen. Er würde sich nur darüber Gedanken machen, wie er dies mit seinem begrenzten Budget würde erreichen können.
Sie brach das Siegel auf einer Rechnung ihrer Schneiderin in Hertford und überflog das Schreiben. Sie konnte den Betrag problemlos aus ihrem Taschengeld begleichen, das sie einmal pro Quartal erhielt. Sie ging immer gewissenhaft damit um, damit sie Robert nie nach zusätzlichem Geld fragen musste. Er war allerdings auch ein recht großzügiger Geldgeber. Im Gegensatz zum Großteil des Landadels stammte das meiste seines Vermögens aus dem industriellen Norden und dieses Erbe hatte in den letzten Jahren des Konflikts und der politischen Unruhen nur an Wert gewonnen.
Sie begutachtete den letzten Brief des Stapels. Darauf befand sich kein Poststempel und er war auch nicht per Unterschrift frankiert. Das Papier wirkte billig und die Handschrift war krakelig.
Lucy runzelte die Stirn, als sie das Blatt entfaltete und sich bemühte, das Geschriebene zu entziffern.
Du wirst allein und kinderlos sterben. Keiner deiner heidnischen Zaubersprüche wird funktionieren. Die Turners haben dich für immer mit einem Fluch belegt.
Lucy blinzelte verdutzt und las den kurzen Text erneut. Der Brief war nicht unterschrieben. Wer würde ihr so etwas schicken und warum? Hastig suchte sie nach ihrem Taschentuch, in der Angst, dass jemand sie weinen sehen könnte. Sie war entsetzt über ihre eigene Schwäche.
Eigentlich betrachtete sie die Heilerin im Dorf, Grace Turner, als ihre Freundin. Konnte es sein, dass Grace hinter ihrem freundlichen Äußeren noch immer Lucy die Schuld für die vergangenen Ereignisse gab? Lucy zwang sich dazu, tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen.
„Dieser alberne Drang, wegen jeder Kleinigkeit zu weinen, muss aufhören“, sprach Lucy laut zu sich selbst. „Du bist eine vom Glück begünstigte Frau, die in einem wunderschönen Haus lebt mit einem Mann, der …“ Sie hielt inne. „Der nicht einmal bemerkt hat, dass du vom Frühstückstisch aufgestanden bist.“
Aber warum sollte er auch? Sie hatte ihn in den letzten Monaten bei jedem Versuch, mit ihr zu sprechen, nur angefahren. Kein Wunder, dass er sich hinter seiner Zeitung versteckte.
„Ihr Tee, Mylady.“
Hastig sammelte sie sich und versteckte den Brief unter dem Stapel. „Vielen Dank, Foley.“
„Und die Kutsche wird Sie um elf erwarten, wenn es Ihnen genehm ist.“
„Das passt wunderbar.“
Sie hielt ihr freundliches Lächeln aufrecht, bis der Butler wieder verschwunden war. Dann widmete sie sich ihrem Tagesplan und las nach, welche Aufgaben heute noch anstanden. Sie würde sich mit der Köchin und der neuen Haushälterin Mrs Cooper unterhalten und dann nach oben gehen, um sich wärmere Kleidung anzuziehen. Es war nicht ihre Art, Trübsal blasend herumzusitzen, außerdem gab es viel zu tun. Ihre Zwillingsbrüder würden Ende der Woche aus der Schule zurückkehren, was wahrscheinlich auch der Grund war, warum ihr Vater sie so dringend sprechen wollte. Ihre Brüder beschäftigt zu halten und anderen zu helfen, würde immerhin bewirken, dass Lucy sich zur Abwechslung wie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft fühlen würde.
„Sir Robert.“
„Was gibt es, Foley?“
Major Sir Robert Kurland ließ seine Zeitung sinken und blickte seinen alten Butler an, der ihn seinerseits ungehalten ansah.
„Wünschen Sie, dass ich damit beginne, den Tisch abzudecken?“
Mit einem Seufzen faltete Robert die Zeitung und sah sich im Frühstückszimmer um. „Wo zum Teufel ist Lady Kurland?“
„Sie hat sich vor etwa einer Viertelstunde vom Tisch verabschiedet, Sir.“ Foleys anklagender Blick wurde noch eine Spur intensiver. „Sie hat kaum einen Bissen gegessen.“
„Wer sind Sie? Ihre Krankenschwester? Wenn sie keinen Hunger hat, dann hat sie eben keinen Hunger.“ Noch während Robert die Worte aussprach, wurde ihm klar, dass er vielleicht falsch lag. Es war ausgesprochen nachlässig von ihm, dass er nicht einmal gemerkt hatte, was um ihn herum passiert war. „Hat Lady Kurland Sie darum gebeten, mir etwas Bestimmtes auszurichten?“
„Nein, Sir. Aber ich finde, sie sah ein wenig müde aus. Die Dienerschaft ist schon ganz besorgt um sie.“
„Ich bin mir sicher, dass meine Frau nie wollen würde, dass man sich wegen ihr Sorgen macht. Sie konzentriert sich lediglich darauf, wieder zu Kräften zu kommen.“
„Indem sie nicht isst, Sir?“
Robert hob den Kopf. „Foley, ich respektiere Ihre Meinung ausgesprochen, aber bitte deuten Sie nicht an, dass ich keine Ahnung vom Gesundheitszustand meiner Frau habe.“
„Ich würde mir nie anmaßen, mich zwischen einen Mann und seine Ehefrau zu stellen, Sir.“ Foley hob das Kinn. „Aber…“
Robert stand schwerfällig auf und nahm seinen Gehstock. „Wo ist die Dame des Hauses jetzt?“
„Sie war gerade noch in ihrem Wohnzimmer, aber ich glaube, sie ist nach oben gegangen, um sich umzuziehen, Sir Robert.“
„Vielen Dank.“
Robert machte sich an den langsamen Aufstieg ins obere Stockwerk. Morgens waren seine zusammengeflickten Knochen immer ein wenig steif, besonders in der Winterkälte. Je mehr er ging, desto einfacher wurde es – bis er sich irgendwann überanstrengte und wieder ganz von vorn beginnen musste. Immerhin konnte er inzwischen wieder reiten, auch wenn die Angst noch immer jedes Mal als bitterer Beigeschmack zu spüren war, wenn er sich auf einen Pferderücken schwang.
Dieser Winter war für ihn besonders hart gewesen, wodurch sein Gemüt ähnlich unstet war wie sein Gang. Er klopfte an die Tür ihres gemeinsamen Schlafzimmers und trat ein. Seine Frau stand vor dem Spiegel und wollte sich offenbar gerade ihre Haube aufsetzen. Das Gewand, das sie trug, war in seinem liebsten Blauton gehalten und ihre Haare waren zu einer Krone geflochten.
„Ich dachte, Dr. Fletcher hätte dich angewiesen, dich auszuruhen.“
„Er sagte, ich soll mich ausruhen, wenn ich mich müde fühle.“ Sie sah ihn nicht direkt an, da sie sich darauf konzentrierte, die Schnüre der Haube zuzubinden. „Es geht mir ausgezeichnet.“
„Du siehst müde aus.“
Sie wandte sich ihm zu und gestattete ihm, ihr beim Anziehen ihrer Pelisse zur Hand zu gehen. „Ich gehe ins Dorf, um mit meinem Vater zu sprechen. Ich bin heute Mittag wieder zurück.“ Sie nahm ihre Handschuhe und ihren Korb. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun??“
Er blickte sie ungehalten an. „Vielleicht mir ein bisschen mehr als nur einen Moment deiner Zeit schenken??“
„Ich habe eine halbe Stunde mit dir am Frühstückstisch verbracht und du hast meine Anwesenheit kaum bemerkt.“
„Ich … Verdammt nochmal, Lucy. Ich habe gelesen und die Zeit vergessen und …“
„Und jetzt muss ich mich auf den Weg machen. Sicherlich willst du nicht, dass ich das Pferd bei diesem Wetter draußen herumstehen lasse, oder?“ Das Lächeln, das sie ihm schenkte, erreichte ihre Augen nicht. „Sophia kommt vorbei, um Anna im Pfarrhaus zu besuchen und über die Weihnachtsfeiertage zu sprechen.“
„Sie und Andrew sind aus London zurückgekehrt?“
„Ja, und sie werden die Feiertage gemeinsam mit uns feiern.“ Sie zögerte. „Ich glaube, ich habe dich deswegen im September gefragt.“
„Und seitdem ist viel passiert, sodass ich es vergessen habe“, erwiderte Robert. „Ich freue mich schon darauf, die beiden wiederzusehen.“
„Ich auch.“ Lucy strich ihre Kleider glatt. „Ich muss los.“
„Bist du sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?“, fragte Robert, um einen weiteren Versuch der Wiedergutmachung zu starten. „Ich muss deinem Vater noch ein Buch zurückgeben.“
„Ich könnte es für dich mitnehmen.“
„Oder ich könnte mich mit dir am Pfarrhaus treffen, nachdem ich mich mit Dermot unterhalten habe.“
Sie nickte und zog sich die Handschuhe an. „Ich bin mir sicher, dass mein Vater sich sehr freuen würde, dich zu sehen.“
Er verneigte sich, trat einen Schritt zurück, öffnete die Tür und ließ sie aus dem Raum gleiten. Sobald sie auf der Treppe nach unten verschwunden war, richtete er seinen Blick gen Himmel.
„Du bist ein stümperhafter Dummkopf, Robert Kurland.“ Wieso hatte er sich hinter seiner Zeitung versteckt? Er wusste, dass sie unglücklich war, konnte aber seine Sorge um sie nicht richtig in Worte fassen und vermochte es nicht, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Vielleicht war das Problem aber auch, dass sie nicht einmal akzeptieren wollte, dass er sich Sorgen um sie machte. Es fühlte sich an, wie einen zusammengerollten Igel in der bloßen Hand zu halten und ihn streicheln zu wollen.
Er würde sich noch einmal mit seinem Freund Dr. Fletcher unterhalten und ihn um weiteren Rat bitten. Bisher schluckte Lucy vorbildlich jede Pille und jede Tinktur, die der Doktor ihr verabreichte. Trotzdem sah sie müde, erschöpft und … traurig aus. Ihr unbändiger Mut und grenzenloser Optimismus hatten ihm durch einige der furchtbarsten Momente seines Lebens geholfen. Ihr durch ihre eigene Krise hindurchzuhelfen, war das Mindeste, das er tun konnte.
Aber wie?
Als er sich zum Gehen wandte, steckte er die Hand in die Tasche, in der sich, wie er jetzt bemerkte, noch der Brief seiner Tante befand. Er zog ihn hervor und begutachtete die saubere Handschrift. Lucy schätzte seine Tante Rose sehr.
Vielleicht gab es ja doch etwas, das er tun konnte …
Lucy nippte an ihrem Tee und nickte, während Anna ihre Pläne für die Weihnachtsgottesdienste erklärte. Ihre Schwester war ausgesprochen gut gelaunt, wenn man bedachte, dass sie täglich mit ihrem Vater zu tun hatte. Aber Anna war schon immer das Lieblingskind des Pfarrers gewesen. Abgesehen von vereinzelten Seitenhieben über ihre recht kostspielige Saison in London, während der es ihr nicht gelungen war, einen geeigneten Ehemann zu finden, ließ er sich nur zu gerne von ihr umsorgen.
Der Gedanke, dass ihre wunderschöne Schwester ihre Chance auf einen Ehemann und eine Familie verspielte, um sich um den Haushalt ihres Vaters zu kümmern, war Lucy ganz und gar zuwider. Glücklicherweise besuchte der ebenfalls noch immer unverheiratete Nicholas Jenkins regelmäßig und zuverlässig das Pfarrhaus. Andernfalls hätte Lucy womöglich versucht, Anna davon zu überzeugen, sich mit ihr als Anstandsdame erneut in die Gesellschaft einführen zu lassen – entweder hier im Ort oder sogar für eine weitere Saison in London.
„Was meinst du, Lucy?” Anna sah sie erwartungsvoll an und Lucy hatte einen Moment lang Schwierigkeiten, sich zu sammeln.
„Entschuldige bitte. Ich war in Gedanken gerade woanders.“
Ihre Schwester tätschelte ihr die Hand. „Du steckst heute mit dem Kopf in den Wolken. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
„Es geht mir ausgezeichnet.“ Lucy versuchte, die Besorgnis ihrer Schwester zu besänftigen. „Wozu wolltest du meine Meinung hören?“
„Zu meiner Idee, die Kinder aus der Dorfschule in der Woche vor Weihnachten im Gottesdienst singen zu lassen.“
„Ich finde die Idee wunderbar. Hast du schon mit Miss Broomfield darüber gesprochen?“
Anna verzog die Miene. „Ich hatte gehofft, dass du das für mich übernehmen könntest, Lucy. Da du und Sir Robert die Schule ins Leben gerufen haben, ist sie vielleicht eher gewillt, mit dir zu sprechen. Sie ist ein wenig einschüchternd.“
„Ich frage gerne für dich nach. Ich habe sie noch gar nicht persönlich kennengelernt und wollte sie daher ohnehin besuchen. Ich gehe auf meinem Weg zurück nach Kurland Hall bei ihr vorbei. Wie macht sich eure neue Küchenhilfe?“
„Sie ist sehr eifrig und kommt gut mit der Köchin und den anderen Bediensteten aus. Ich könnte mir niemand besseren wünschen.“
„Freut mich zu hören. Sie ist die Enkelin von Mr Coleman.“
„Ich weiß. Sie hat sich gerade mit ihm unterhalten, als ich in der Küche war. Es ist schön, endlich gut eingespielte Bedienstete zu haben.“
In der Ferne erklang eine Glocke und Anna erhob sich. „Das könnte Sophia sein. Ich lasse mehr Tee kommen.“
„Es könnte auch mein Ehemann sein“, rief Lucy ihr nach. „Ihm ist es in den Sinn gekommen, Vater zu besuchen, um ihm eines seiner Bücher zurückzubringen.“
„Dann sorge ich dafür, dass wir genug heißes Wasser haben. Oder glaubst du, dass die Gentlemen auf den Tee verzichten und lieber etwas Stärkeres haben möchten?“ Trotz Lucys Bedenken schien der Haushalt des Pfarrhauses unter der Führung einer Frohnatur wie Anna sehr gut zu laufen. Auch ihr Vater wirkte glücklicher. Er hatte einen Vikar, der gewillt war, viel Zeit in das geistliche Wohlergehen der Gemeinde zu investieren, was dem Pfarrer die Gelegenheit gab, seiner Leidenschaft für Pferde, die Jagd und andere Zeitvertreibe eines Gentleman auf dem Land nachzugehen.
„Lucy!”
Sophia Stanford trat in den kleinen Salon und stürmte auf Lucy zu, um sie in die Arme zu schließen. Sie trug eine Haube mit langen, rosa Federn und eine luxuriöse Pelisse mit Pelzbesatz in einem ansprechenden Grünton.
„Ich war so enttäuscht, dass du uns im September nicht in London besucht hast“, sagte Sophia mit strenger Stimme, hakte sich bei Lucy ein und setzte sich mit ihr auf das Sofa. „Wir hatten uns alle schon so gefreut und dann kam die Nachricht von Sir Robert, in der er mitteilte, dass deine Gesundheit eine Reise nicht möglich mache. Ich habe den Kindern in Erinnerung gerufen, dass wir die Weihnachtszeit hier in Kurland St. Mary verbringen würden. Das hat die Enttäuschung ein wenig geschmälert.“
„Ist Mr Stanford heute mit dir gekommen?“, fragte Lucy.
„Nein, er ist in meinem alten Zuhause und befragt den Landverwalter meiner Mutter und passt auf die Kinder auf.“ Sophia lächelte. „Er kümmert sich wirklich sehr gut um mich und unsere Familie.“
Anna war kaum mit dem Teetablett zurückgekehrt, als auch schon die nächsten Gäste eintrafen.
„Mrs Fletcher und Miss Chingford“, verkündete das neue Hausmädchen, als Penelope und ihre Schwester hinter ihr den Salon betraten.
„Es ist nicht nötig, so förmlich zu sein, Fiona. Wir sind praktisch Teil der Familie“, sagte Penelope und machte einen Knicks. Sie nahm ihre Haube ab und gab damit die Sicht frei auf ihre blonden Locken und makellose Haut. „Guten Morgen, Mrs Stanford, Anna, Lucy. Wir haben die Kutsche der Stanfords gesehen und beschlossen, unsere Aufwartung zu machen.“
Anna, die hinter Penelope stand, blickte Lucy an, zog die Augenbrauen hoch und trat dann vor. „Gesellt euch doch auf einen Tee zu uns. Es ist immer schön, euch beide hier willkommen heißen zu dürfen.“
Lucy war schon immer der Meinung gewesen, dass es ein Jammer war, dass Anna nicht als Mann geboren worden war. Sie hätte einen exzellenten Diplomaten abgegeben.
Kurz darauf entschuldigte Dorothea Chingford sich, um den Vikar, Mr Culpepper, aufzusuchen und um geistlichen Rat zu bitten. Damit war es an Anna und Lucy, sich um ihre weitaus gesprächigere Schwester zu kümmern.
Penelope zog die Handschuhe aus und machte es sich auf einem der Stühle bequem. Trotz ihres begrenzten Budgets als Frau eines Dorfarztes sah sie immer aus, als wäre sie gerade aus einer Modezeichnung entstiegen. „Wie mir scheint, hat meine Schwester den Vikar Mr Culpepper ins Visier genommen. Was wissen wir über seine Familie? Ist sie wohlhabend?“
„Ich glaube, sein Vater ist ein Vikar in Westengland und hat mehrere andere Kinder“, erwiderte Lucy.
„Dann vermutlich überhaupt nicht wohlhabend.“ Penelope rümpfte die Nase „Eine Schande.“
„Du hast doch selbst festgestellt, dass es eine wunderbare Idee sein kann, der Liebe und nicht des Reichtums wegen zu heiraten, Penelope. Wieso sollte deine Schwester nicht deinem Beispiel folgen?“, fragte Lucy.
„Weil sie nicht so närrisch ist wie ich.“
„Bist du in deiner Ehe etwa unglücklich?“ Lucy zog die Augenbrauen hoch.
„Ich bin sehr zufrieden mit meiner Entscheidung, allerdings würde ich es nicht bereuen oder ablehnen, wenn mein liebster Dr. Fletcher plötzlich ein Vermögen erben würde.“ Penelope wandte sich zu Anna. „Hat Mr Culpepper euch oder eurem Vater gegenüber irgendetwas dazu gesagt, was er bezüglich Dorothea für Absichten hegt?“
„Er hat mir gegenüber nichts dergleichen angesprochen“, sagte Anna vorsichtig. „Soll ich Vater darum bitten, mit ihm darüber zu sprechen?“
„Das werde ich selbst machen.“ Penelope faltete die Hände im Schoß. „Ich kann es nicht dulden, wenn meine Schwester ihre Jugend an einen Mann verschwendet, der an ihr nicht interessiert ist. Wie ihr beide wisst, habe ich viel zu viele Jahre damit verschwendet, darauf zu warten, dass Major Sir Robert Kurland mich heiratet.“
Nach einem weiteren belustigten Blick zu Lucy reichte Anna Penelope eine Tasse Tee. „Ich glaube, du hast am Ende die richtige Wahl getroffen. Es ist sehr offensichtlich, dass Dr. Fletcher dich verehrt.“
Penelope strich sich über die goldenen Locken. „Das sollte er auch, wenn man bedenkt, dass ich auf das Ansehen und die Privilegien, die mir durch meine Schönheit zustanden, verzichtet habe, um einen Niemand zu heiraten.“
Sophia verschluckte sich an ihrem Tee und Lucy klopfte ihr auf den Rücken. Sekunden später fragte Penelope Sophia auch schon zu den neusten Londoner Modetrends aus, sodass Lucy in Ruhe daneben sitzen und zuhören konnte.
Dorothea Chingford würde eine exzellente Braut für den Vikar abgeben. Sie kannten sich bereits seit drei Jahren und hatten immer versucht, bei gesellschaftlichen oder kirchlichen Anlässen in der Nähe des jeweils anderen zu sein. Dorothea besaß nicht die Ambitionen ihrer Schwester und würde die Gelegenheit begrüßen, in dem Dorf bleiben zu können, das sie lieben gelernt hatte. Im Dorf gab es ein kleines Haus, das sich im Besitz der Kirche befand und sich hervorragend für das junge Paar eignen würde. Lucy nahm sich vor, ihren Vater daran zu erinnern, es George Culpepper anzubieten, wenn es zur Hochzeit kommen sollte.
„Lucy, erwartest du uns heute Nachmittag noch auf Kurland Hall, um über die Pläne für die Weihnachtsfeierlichkeiten zu sprechen?“, fragte Penelope.
„Ja, in der Tat.“ Lucy stellte ihre Tasse auf dem Beistelltisch ab. „Tatsächlich sollte ich mich bald auf den Weg machen. Ich muss noch mit Miss Broomfield in der Schule sprechen.“
Sophia zog einen Schmollmund. „Du gehst schon wieder? Ich hatte kaum Gelegenheit, mich mit dir zu unterhalten.“
„Ich werde mich gerne heute Nachmittag in Kurland Hall zu dir gesellen. Wieso bleiben du und Andrew nicht im Anschluss zum Abendessen?“
„Was für eine wunderbare Idee.“ Lucy blickte auf, als Robert das Zimmer zusammen mit ihrem Vater betrat. Er beugte sich über Sophias Hand und platzierte dann einen Kuss darauf. „Ich wollte gerade die gleiche Einladung aussprechen. Wie geht es Ihnen, meine liebe Mrs Stanford?“
„Mir geht es sehr gut.“ Sophia lächelte ihn an. „Ihr bester Freund gibt einen ausgezeichneten Ehemann ab.“
„Ich bin froh, das zu hören.“
Während Robert mit Sophia sprach, fühlte Lucy Groll in sich aufsteigen. Ihr Ehemann war erstaunlich charmant für einen Mann, der ihr gegenüber kaum drei Sätze am Frühstückstisch hervorgebracht hatte.
„Kann ich die Kinder heute mitbringen?“, fragte Sophia. „Sie freuen sich schon unglaublich, Sie beide zu sehen.“
Robert sah unsicher zu Lucy. „Ich … bin mir nicht sicher.
Lucy geht es in letzter Zeit nicht so gut. Sie könnte…“
Lucy schnitt ihm das Wort ab. „Ich würde mich sehr freuen, eure Kinder zu sehen, Sophia. Wie kannst du nur etwas anderes denken, Robert?“
Sophia blickte unsicher von ihr zu Robert und wieder zurück. „Das freut mich zu hören, schließlich werde ich für noch mehr Nachwuchs sorgen.“ Sie klopfte vorsichtig auf ihren Bauch. „Allerdings nicht vor Ostern, glaube ich.“
Sofort wurde Sophia mit Glückwünschen überhäuft, während Lucy nur lächeln konnte. Um die Situation noch schlimmer zu machen, seufzte Penelope theatralisch und stellte sich an Sophias Seite.
„Ich wollte eigentlich bis nach den Feiertagen warten, um meine Nachrichten mitzuteilen“, verkündete Penelope feierlich. „Aber ich muss gestehen, dass auch ich mich in einem recht interessanten Zustand befinde.“
Lucy brachte mühsam weitere Glückwünsche hervor und verließ dann, als sie schließlich unbeobachtet war, das Zimmer und ging die Treppe hinauf in ihr früheres Schlafzimmer. Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Taschentuch, konnte es jedoch nicht finden. Schon fielen die ersten Tränen hinunter auf den gemusterten Musselin-Stoff ihres Korsetts. Als die Tür hinter ihr aufging, stürzte sie hastig zu ihrer alten Kommode, beugte sich tief über die oberste Schublade und gab vor, darin nach etwas zu suchen.
„Bist du das, Anna? Ich habe gerade nur nach einem sauberen Taschentuch gesucht.“
„Lucy.”
Sie erstarrte, als sich eine warme Hand in ihren Nacken legte. Sanft wurde sie herumgedreht in die trostspendende Wärme der Umarmung ihres Mannes. Ein großes Taschentuch wurde ihr in die Hand gelegt.
„Alles ist gut.“
Einen langen Moment tat sie nichts, als seinen vertrauten Geruch einzuatmen und sich einfach nur festhalten zu lassen. Schließlich nutzte sie das Taschentuch, um sich die Nase zu schnäuzen, und löste sich aus seiner Umarmung.
„Bitte entschuldige. Es ist nicht so, dass ich mich nicht für Sophia und Penelope freuen würde. Ich habe nur das Gefühl, das ich diejenige hätte sein sollen, die die frohe Botschaft zu verkünden hat und …“
„Ich bin mir sicher, dass keine der beiden bemerkt hat, dass es dich mitgenommen hat.“ Er musterte ihr Gesicht eingehend. „Hast du Mrs Stanford erzählt, was passiert ist?“
„Ich habe mich nicht wohl dabei gefühlt, es in einem Brief mitzuteilen. Ich wollte es ihr bei ihrer Ankunft erzählen.“ Lucy tupfte ihre Augen ab. „Aber wie kann ich das jetzt tun, wo sie doch so glücklich ist?“
Eine kleine Sorgenfalte erschien auf seiner Stirn. „Sie würde es sicherlich wissen wollen.“
„Dass es mir unmöglich ist, ein Kind zu bekommen?“
„Lucy … das hat Dr. Fletcher nie gesagt.“
Sein ungewohnt sanftes Benehmen ließ ein schmerzhaftes Gefühl in ihrer Brust hochsteigen. „Ich möchte in Sophia keine dummen Ängste über ihren eigenen Gesundheitszustand wecken.“
„Wenn sie wirklich deine Freundin ist, dann wird sie merken, dass du durcheinander bist und dich nach einer Erklärung fragen. Hast du vor, sie in dem Fall anzulügen?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“ Sie hob das Kinn. „Was schlägst du vor?“
„Es liegt nicht an mir, diese Entscheidung zu treffen, meine Liebe. Aber ich werde Andrew die Wahrheit sagen. Ich würde meinen ältesten Freund lieber nicht anlügen wollen.“
„Dürfte ich vorschlagen, dass du es nicht tust?“
Er trat einen Schritt zurück. „Ich will nicht mit dir darüber streiten.”
„Mir war nicht klar, dass wir gerade streiten.“
„Aber das werden wir bald. Immer, wenn ich versuche, darüber zu sprechen, was passiert ist, machst du daraus ein Reizthema.“
In ihren Augen sammelten sich erneut Tränen, aber sie unterdrückte mit eisernem Willen ein erneutes Weinen. „Willst du damit andeuten, dass alles meine Schuld ist?“
„Nein! Ich versuche …“
„Denn damit hättest du recht. Das alles ist meine Schuld. Wärst du jetzt so gütig, dich aus meiner Gesellschaft zu entfernen, sodass ich mich sammeln kann?“
Robert biss sichtbar die Zähne zusammen. „Ich bin dein Ehemann. Ich habe doch sicherlich das Recht, dir meine Gefühle für dich auszudrücken und über das Vorgefallene zu sprechen.“
„Was mich angeht, hast du bereits alles getan, was man von einem Gentleman in dieser Situation erwartet.“
„Also soll ich einfach ignorieren, dass du müde bist und dich hundeelend fühlst?“
„Ja!“ Sie stampfte auf. „Es würde mir schon viel besser gehen, wenn alle es unterlassen würden, mich ständig darauf aufmerksam zu machen, und mich einfach in Ruhe ließen!“
„Alle?“ Er trat einen Schritt zurück. „Ah, ich verstehe.”
Sie sammelte ihre wenigen verbliebenen Kräfte. „Können wir nicht zu Hause darüber reden? Ich möchte nicht, dass mein Vater uns streiten hört.“
„Wir streiten nicht.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Du bist lediglich auf einen Kampf aus und ich weigere mich, dir diesen Wunsch zu erfüllen.“
„Wenn du selbst nicht gehen möchtest, könntest du mir dann zumindest den Wunsch erfüllen, mich gehen zu lassen?“
Er musterte sie lange, bevor er zur Seite trat und sie passieren ließ. Er stieß die Tür auf und verbeugte sich tief. „Mylady.“
Sie stürmte an ihm vorbei und rannte beinahe die Treppe nach unten und durch den Haupteingang hinaus. In ihrer Eile vergaß sie sogar ihre Haube. Sie wollte nicht, dass er freundlich und verständnisvoll war. Sie wollte, dass er … Ja, was wollte sie eigentlich?
Mr Coleman kam ihr aus der Küche entgegen und half ihr in die Kutsche. „Major Kurland ließ mich wissen, dass Sie bereit sind aufzubrechen. Außerdem sollte ich Ihnen das hier geben.“ Er legte die Haube neben sie auf den Sitz. „Lassen Sie uns jetzt nach Hause fahren.“
„Ich muss zuerst zum Schulhaus.“
„Dann bringe ich Sie dort hin, aber ich möchte nicht, dass Sie zu lange in der Kälte bleiben, Mylady.“
Kapitel 2
Die Schule von Kurland St. Mary gehörte der Familie Kurland und befand sich am Rand des Dorfes in der Nähe des Ententeichs und der offenen Felder. Einst hatte der Dorfschmied darin gewohnt, das Haus war jedoch langsam verfallen, nachdem die Familie nach Hertford weggezogen war. Das Gebäude war aus stabilen Ziegel- und Natursteinen gebaut. Das Innere war entkernt und der Raum neu eingeteilt worden in ein großes Klassenzimmer und eine Garderobe, wo die Schüler ihre Straßenkleidung aufhängen konnten.
Am hinteren Ende des Gebäudes befand sich der Eingang zum abgetrennten Wohnbereich der Lehrerin, der sich in die Etage über dem Klassenzimmer erstreckte. Während der Einrichtung der Schule durch die Familie Kurland hatte Lucy viele Monate damit verbracht, die Entwürfe für das Gebäude zu studieren und Vorstellungsgespräche mit möglichen Lehrerinnen zu führen. Die derzeitige Lehrerin Miss Broomfield hatte ihre Stelle erst kürzlich angetreten, nachdem die letzte Lehrerin, die Lucy ausgesprochen geschätzt hatte, gegangen war, um einen Bauern aus der Gegend zu heiraten.
Miss Broomfield war ihnen wärmstens von einem Bekannten des Pfarrers empfohlen worden, Lucy hatte sich bisher allerdings noch nicht selbst eine Meinung bilden können. Wie es in Dörfern auf dem Land üblich war, besuchten die meisten Kinder, die tatsächlich angemeldet waren, die Schule erst, wenn sie ihre alltäglichen Pflichten in ihren Familien erledigt hatten. Einige von ihnen arbeiteten auf den Bauernhöfen im Umland, während andere Aufgaben im Dorf oder zu Hause für ihre Eltern zu erfüllen hatten.
Robert hatte darauf bestanden, dass alle Kinder, die auf den Ländereien der Kurlands lebten, die Gelegenheit erhalten sollten, die Schule zu besuchen. Allerdings waren viele Eltern der Idee abgeneigt, ihre Kinder Zeit außerhalb des eigenen Haushalts verbringen zu lassen, und sahen Schulbildung als sinnlos an. Lucy wiederum hatte darauf bestanden, dass die Schule auch Mädchen offenstehen müsse, woran mit Ausnahme ihres Vaters und ihres Ehemanns alle in der Grafschaft Anstoß genommen hatten.
Tatsächlich kamen auch nur wenige der Mädchen, aber zwei der älteren waren eingestellt worden, um der Lehrerin zur Hand zu gehen. Die beiden wurden dabei so gut bezahlt, dass ihre Familien wenig Einwände vorzubringen hatten.
Lucy erklomm die Stufen und öffnete die Tür zur Garderobe des Schulhauses. Der Geruch von feuchter Wäsche und ungewaschenen Körpern schlug ihr entgegen, sodass sie darauf achtete, nicht zu tief einzuatmen.
Die Tür zum eigentlichen Klassenzimmer stand offen. Lucy konnte Stimmen hören, die im Chor das Einmaleins rezitierten. In den Wintermonaten waren häufig mehr Kinder in der Schule, da es für sie auf den Bauernhöfen weniger zu tun gab. Die Schule war mit einem großen Kamin ausgestattet, der das Gebäude selbst an den kältesten Tagen warmzuhalten vermochte. Sie hatte den Verdacht, dass einige der Kinder nur zur Schule kamen, um sich für ein paar Stunden aufzuwärmen, was Lucy ihnen kaum zum Vorwurf machen konnte.
„John Thacker!“
Lucy zuckte zusammen, als sie den Stock der Lehrerin auf Holz schlagen hörte.
„Ja, Miss?“
„Schläfst du schon wieder?“
„Nein, Miss.”
Als Lucy die Tür öffnete, wurde sie vom Anblick der Lehrerin begrüßt, die den Stock über den Kopf erhoben hatte und offenbar kurz davorstand, den kleinen Jungen, der vor ihr kauerte, zu schlagen.
„Guten Morgen, Miss Broomfield“, rief Lucy ihr zu.
Die Lehrerin erstarrte und die Spitze des Stocks machte knapp vor dem Ohr des Jungen Halt.
„Wer sind Sie und was haben Sie in meinem Schulhaus verloren?“
Lucy zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin Lady Kurland.“
„Lady Kurland!” Miss Broomfield ließ den Stock sinken und legte ihn auf ihrem Pult ab. „Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet.“
„Offensichtlich nicht.“ Lucy schenkte der Lehrerin ihr formellstes Lächeln. „Dürfte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?“
„Wenn Sie darauf bestehen.“ Miss Broomfield zeigte auf eines der älteren Mädchen, das still an einem Pult am Rand des Klassenzimmers saß. „Rebecca, du übernimmst den Unterricht. Ich bin gleich zurück.“
„Jawohl, Miss Broomfield.“
Lucy tätschelte im Vorbeigehen Johns Kopf und folgte Miss Broomfield in den privaten Teil des Schulhauses. Die Lehrerin hielt Lucy die Tür auf und schloss sie hinter ihnen, bevor sie mit einem Rascheln ihrer schwarzen Röcke an ihr vorbei hinter den Schreibtisch eilte. Die Frau war kleiner als Lucy, besaß spitze Gesichtszüge und hielt sich jederzeit in kerzengerader Position wie ein Soldat beim Parademarsch.
„Ich würde es bevorzugen, wenn Sie sich das nächste Mal in einer Nachricht erkundigen würden, ob ich Zeit für ein Gespräch mit Ihnen habe, bevor Sie in meiner Schule erscheinen, Lady Kurland.“
„Das werde ich künftig beachten.“ Lucy lehnte den ihr angebotenen Stuhl ab. „Ich bin hier, um zu fragen, ob die Kinder vielleicht bereit dazu wären, in einem der Weihnachtsgottesdienste zu singen.“
„In der Kirche von Kurland St. Mary?“
„Ja. Haben Sie die Musikstunden, die Miss Brent angefangen hatte, fortgesetzt?“ Miss Broomfields dunkle Augen verengten sich.
„Ich verschwende üblicherweise die Zeit im Klassenzimmer nicht für derart belanglose Dinge, Mylady.“
„Dann sollten Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen.“
Lucys Lächeln war zwar weiterhin höflich, aber sie hatte nicht vor, von oben herab mit sich sprechen zu lassen. „Ich bin mir sicher, Ihnen wurde deutlich gemacht, dass wir für die Kinder eine gut ausgewogene Erziehung und Bildung erwarten.“
„Obwohl die meisten von ihnen kaum das Alphabet beherrschen?“, gab Miss Broomfield schnippisch zurück. „Und zu müde und träge in der Schule erscheinen, um sich vernünftig in den Unterricht einbringen zu können?“
„Die meisten von ihnen haben bereits einen harten Arbeitstag hinter sich, wenn sie herkommen“, gab Lucy zu bedenken. „Ich stimme Ihnen zu, dass Lesen und Schreiben Priorität haben sollte, aber es gibt immer genug Zeit für Musik und Kunst.“
„Hmpf.“ Miss Broomfields Miene war unverändert entschlossen. „Ich bin mir nicht sicher, dass man den Kindern erlauben sollte, vor einem Publikum aufzutreten. Wir wollen sie ja nicht auf dumme Gedanken bringen.“
„Welche Gedanken wären das?“, fragte Lucy.
„Gedanken an unsittliche Berufe wie eine Karriere auf der Bühne oder der Glaube, dass sie vielleicht irgendwie besonders sein könnten, nur weil sie vor Persönlichkeiten über ihrem Stand auftreten durften.“
„Sie werden dabei auch vor ihren eigenen Eltern und Familien auftreten. Ich glaube kaum, dass ihnen das zu Kopf steigen könnte. Lucy tastete hinter sich und lehnte sich leicht mit einem Arm an das Bücherregal. Obwohl sie gegenüber anderen auf dem Gegenteil bestand, fühlte sie sich manchmal furchtbar müde.
„Dennoch, Lady Kurland …“
„Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Lucy sammelte ihre Kräfte. „Wenn Sie glauben, mir in dieser Angelegenheit nicht helfen zu können, werde ich Sir Robert und meinen Vater über Ihre Entscheidung in Kenntnis setzen.“
Miss Broomfield runzelte die Stirn. „Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht helfen würde, Lady Kurland. Ich habe nur angemerkt, dass es meinem Gewissen widerstrebt. Ich bin mir allerdings sehr darüber im Klaren, dass meine Stelle hier davon abhängt, wie gut ich den Wünschen meiner Arbeitgeber nachzukommen vermag.“
„So ist es in der Tat.“ Lucy nickte leicht. Wie hatten ihr Vater und Robert dieser furchtbaren Person nur die Stelle anbieten können? Wäre Lucy gesund genug gewesen, um selbst das Vorstellungsgespräch zu führen, wäre es zweifelhaft gewesen, ob Miss Broomfield ihre Zustimmung hätte gewinnen können. „Wenn Sie es bevorzugen, werde ich es selbst übernehmen, den Kindern die Weihnachtslieder beizubringen.“
„Oh, nein. Das wird nicht notwendig sein, Mylady“, sagte Miss Broomfield eilig. „Lassen Sie mich einfach in einer Nachricht wissen, was sie lernen sollen und ich werde eins der Mädchen damit betrauen.“
„Vielen Dank.“ Lucy nickte. „Wo ich ohnehin hier bin: Gibt es sonst etwas, das Sie mit mir besprechen wollen, Miss Broomfield?“
„Nun, der Schornstein in meinem Teil des Schulhauses scheint teilweise verstopft zu sein“, sagte Miss Broomfield sichtbar unerfreut über das Gespräch. „Ich traue mich nicht, dort ein Feuer zu entfachen.“
„Ich werde umgehend jemanden vorbeischicken, der sich darum kümmert.“
„Vielen Dank.“ Diesmal wirkte Miss Broomfields Lächeln weniger erzwungen.
„Ansonsten sind die Wohnräume, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben, mehr als angemessen.“
„Ich bin froh, das zu hören.“ Lucy wandte sich zum Gehen. „Schläft John Thacker wirklich jeden Tag im Unterricht ein?“
„In der Tat. Ich verstehe nicht, warum er überhaupt herkommt, wenn er die Augen nicht offenhalten kann!“ Miss Broomfield kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, um Lucy zu begleiten. Die Lehrerin roch nach feuchter Wolle und starker Laugenseife. „Seine Schwester ist fast genauso schlimm.“
„Vielleicht liegt es daran, dass ihre Mutter gerade ein weiteres Kind bekommen hat.“
Die Lehrerin schniefte ungehalten. „Wie viele Kinder sind es damit insgesamt? Es sind schon zehn, nicht wahr?“
„Es ist der Wille des Herrn, anzunehmen, was uns gegeben ist und uns daran zu erfreuen“, merkte Lucy an. Sie nahm sich vor, der armen Mrs Thacker einige zusätzliche Vorräte aus der Küche von Kurland Hall zukommen zu lassen. Die Familie lebte auf einem der abgelegenen Höfe und das Haus musste inzwischen bis zum Bersten gefüllt sein. „Nun, was das angeht, gibt es auch die Möglichkeit der Abstinenz, Mylady.“
„In der Tat, aber wer sind wir, darüber zu urteilen, was in der Ehe eines anderen Paares angebracht ist?“, fragte Lucy mit süßlicher Stimme.
„Da ich nie verheiratet war oder mich auch nur nach einer derartigen Vereinigung gesehnt habe, kann ich dazu kaum etwas sagen, Lady Kurland.“
„Exakt.“
Lucy kehrte mit Miss Broomfield an ihren Fersen ins Klassenzimmer zurück. John Thacker lag bereits mit dem Kopf zwischen seinen Armen auf dem Pult und schlief tief und fest. Er war nicht das einzige Kind, das die Abwesenheit der Lehrerin genutzt hatte, um ein Nickerchen einzulegen. Lucy räusperte sich laut und ließ damit mehrere Köpfe emporschnellen.
Sie nickte Josephine Blake zu, die gerade einem der kleineren Kinder dabei half, aus der Bibel vorzulesen.
„Vielen Dank, dass ihr euch so gut um die Kinder gekümmert habt, während ich mich mit Miss Broomfield unterhalten habe, Rebecca und Josephine.“
„Sehr gerne, Mylady.“ Rebecca Hall warf der Lehrerin einen ängstlichen Blick zu. „Ich habe mein Bestes getan, aber …“
„Das genügt, Rebecca. Du kannst mit der Korrektur der Diktate fortfahren.“
Miss Broomfield nahm wieder ihren Stock an sich und bezog Position vor den plötzlich aufmerksamen und leisen Kindern. „Wir setzen unser Einmaleins fort. Guten Tag, Lady Kurland.“
Nach der brüsken Verabschiedung kehrte Lucy zur Kutsche zurück und ließ sich von Mr Coleman hineinhelfen. Sie würde mit Robert über Miss Broomfield sprechen müssen. Lucy glaubte nicht, dass die Frau dafür geeignet war, sich um junge, leicht beeinflussbare Gemüter zu kümmern. Auch ihre offensichtliche Abschätzigkeit gegenüber denjenigen, die sie als weniger gebildet oder wohlhabend erachtete, hatte sie Lucy nicht gerade sympathischer gemacht. Da ihr Ehemann noch viel ungewöhnlichere Überzeugungen besaß als Lucy, was Bildung für das einfache Volk betraf, ging sie davon aus, dass er seine Personalwahl vielleicht noch einmal überdenken wollen würde.
Lucy ließ sich in das Polster der Kutschbank sinken und blickte zum grauen Himmel empor. Eine Spur von Frost lag in der Luft und eine winterliche Brise wehte über die kargen Felder. Während der Fahrt die Hauptstraße hinunter erwiderte Lucy die Knickse und gelüfteten Hüte der Dorfbewohner mit einem Lächeln, ließ aber nicht wie sonst üblich die Kutsche anhalten, um zu plaudern. Sie fühlte sich einfach nur müde, und wenn sie für ihre Gäste am Nachmittag noch eine passable Gastgeberin sein wollte, würde sie noch ein erholsames Nickerchen machen müssen.
Sowohl Grace Turner als auch Dr. Fletcher hatten darauf beharrt, dass sie mehr essen musste, aber der Appetit hatte Lucy verlassen. Ein Zittern packte sie, als die Kutsche von der Dorfstraße auf den Weg zu den Toren von Kurland Hall abbog. Vielleicht war es langsam an der Zeit, nicht länger mit der offenen Kutsche zu fahren und Coleman darum zu bitten, das ältere, geschlossene Gefährt bereit zu machen.
„Wir sind fast zu Hause, Mylady“, rief Coleman ihr zu, als sie auf die von Ulmen umsäumte Auffahrt zum Herrenhaus bogen.
„Vielen Dank.“
Für kurze Zeit war durch die kahlen Bäume hindurch die Rückseite des Hauses zu sehen, an der noch immer das ursprüngliche Fachwerk aus elisabethanischer Zeit zu erkennen war. Dann kam der Haupteingang in Sicht. Diese Seite des Hauses war von Roberts Vater umgebaut und modernisiert worden. Nach fünfhundert Jahren von Umgestaltungen durch die Familie, war der innere Aufbau des Hauses ein wenig verwirrend. Manchmal verirrten Gäste sich in den falschen Flügel des Hauses und mussten von den Bediensteten gerettet werden.
Robert liebte seinen Familiensitz und weigerte sich, einzugestehen, dass vielleicht Verbesserungen daran möglich wären. Obwohl ihr eigener Vater das mittelalterliche Pfarrhaus hatte abreißen und als eckiges Steinhaus im Adam-Stil neu hatte aufbauen lassen, bevorzugte Lucy insgeheim Kurland Hall. Sollte Robert keinen Erben hervorbringen, würde das Herrenhaus nach fünfhundert Jahren im Familienbesitz an seinen Cousin Paul gehen. Der verabscheuungswürdige Schurke, der aus dem Land verbannt worden war, würde alles erben.
Lucy erschauderte bei dem Gedanken. Als sie aus der Kutsche stieg, wurde sie bereits von Foley erwartet, der ihr die Eingangstür aufhielt. Es war ihre Pflicht, ihrem Mann einen Erben zu schenken, und bisher hatte sie ihn darin enttäuscht.
„Willkommen zurück, Mylady.“
„Vielen Dank.“ Lucy zog die Handschuhe aus und trat ein. „Ich werde mit Mrs Cooper sprechen und mich dann in mein Schlafzimmer zurückziehen. Könnten Sie Betty darum bitten, mich dort aufzusuchen?“
„Sehr wohl, Mylady.“ Foley nahm ihr die Handschuhe ab. „Ich werde sie sofort suchen.“
Um drei Uhr saß Lucy schon wieder in ihrem Gesellschaftszimmer und schenkte ihren Gästen – ihrer Schwester Anna, Penelope Fletcher und Sophia – Tee ein.
Foley erschien in der Tür und rief einige Neuankömmlinge mit der Förmlichkeit einer großen Ballveranstaltung aus.
„Mr Nicholas Jenkins und Mrs Jenkins, Mylady.“
Lucy erhob sich, um die alte Dame zu begrüßen und führte sie zum Stuhl, der dem Feuer am nächsten stand. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mrs Jenkins. Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?“
„Ich würde etwas Stärkeres bevorzugen.“ Mrs Jenkins zwinkerte Lucy zu. „Heißer Whiskey mit Ingwer würde meinem rauen Hals sicherlich guttun.“
„Ich werde Foley anweisen, Ihnen umgehend ein Glas zu bringen.“ Lucy unterhielt sich kurz mit Foley und blieb dann bei Nicholas Jenkins stehen, der sich Anna zugewandt hatte. „Vielen Dank, dass Sie Ihre Großmutter begleiten, Nicholas.“
„Es ist mir ein Vergnügen, Mylady.“ Er verbeugte sich über ihrer Hand. „Ich bin wie immer ihr ergebener Diener.“
Anna berührte ihn am Ärmel. „Ich werde Ihre Großmutter heute nach Hause begleiten und Ihnen damit den erneuten Weg ersparen.“
Nicholas lächelte Lucys Schwester an. Der hochgewachsene junge Mann hatte ein freundliches Gesicht und dunkle, braune Augen. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Miss Anna. Ich freue mich auf Ihre Ankunft.“ Er zwinkerte ihr zu. „Und vielleicht kann ich Sie davon überzeugen, noch ein wenig länger zu bleiben und uns beim Abendessen Gesellschaft zu leisten.“
Anna erwiderte das Lächeln. „Vielen Dank, Nicholas, aber ich werde heute Abend zu Hause erwartet. Mein Vater will dringend die Pläne für die Gottesdienste in der Weihnachtszeit besprechen.“
„Dann ein Andermal.“
Anna ging weiter, um sich mit Mrs Jenkins zu unterhalten, sodass Lucy als Einzige zurückblieb, um die Frustration in Nicholas’ Miene erkennen zu können. Kurz entschlossen sagte sie mit gesenkter Stimme: „Geben Sie sie noch nicht auf, Mr Jenkins.“
„Das werde ich nicht.“ Er seufzte. „Aber ich muss gestehen, dass ich Ihren Vater manchmal verfluche.“
„Das kann ich nur zu gut nachvollziehen“, sagte Lucy.
„Sie will ihn nicht verlassen“, sprach Nicholas weiter, die Augen auf Anna gerichtet. „Ich bin ratlos, wie ich sie vom Gegenteil überzeugen könnte.“
„Uns wird schon etwas einfallen.“ Lucy klopfte auf seinen Ärmel. „Verzagen Sie nicht.“
Sie begleitete ihn zur Tür und begegnete dort Foley, der mit weiteren Gästen eingetroffen war.
„Mrs Greenwell, Miss Greenwell und Miss Amanda Greenwell, Mylady“, brachte Foley außer Atem hervor.
Nicholas verneigte sich vor den Neuankömmlingen. „Guten Tag.“
Die älteste Tochter, Margaret, streckte ihre behandschuhte Hand aus und zog einen Schmollmund. „Sie gehen schon wieder? Aber ich bin doch gerade erst eingetroffen.“
Lucy warf Miss Greenwell ob ihres verspielten Tonfalls und Augenzwinkerns einen überraschten Blick zu. Hatte Anna möglicherweise Konkurrenz um den begehrenswertesten Junggesellen des Dorfes?
„Leider muss ich aufbrechen.“ Nicholas küsste Miss Greenwells Hand und trat einen Schritt zurück. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe noch ein paar Erledigungen für meine Großmutter zu machen.“
Er nickte Lucy zu und machte sich auf den Weg den Flur hinunter. Nicholas war durch seine Zeit in London eindeutig reifer geworden und wirkte deutlich souveräner, als Lucy ihn in Erinnerung hatte. Wenn es einen Weg gab, Anna aus dem Pfarrhaus zu kriegen, war Lucy überzeugt, dass er ihn finden würde.
„Was für ein Jammer, dass Mr Jenkins nicht bleiben konnte“, bemerkte Mrs Greenwell, während Lucy sie in das Gesellschaftszimmer führte. „Er ist so ein angenehmer Gentleman, der sich wirklich rührend um seine Großmutter kümmert.“
„In der Tat.“ Lucy bot den Damen einen Platz auf dem Sofa neben Sophia an. „Seine Eltern sind verstorben, als er noch sehr jung war. Mrs Jenkins hat sich außerhalb des Internats um seine Erziehung gekümmert.“
„Ich kann Ihnen sagen, dass es eine schöne Überraschung war, hier auf dem Land einen so heiratswürdigen Gentleman anzutreffen.“ Mrs Greenwell lächelte ihre Töchter an. „Ich glaube, Margaret ist überzeugt, viel mit ihm gemeinsam zu haben.“
Lucy sah sich im Raum um, um herauszufinden, wo genau Anna sich gerade aufhielt, und lehnte sich dann zu Mrs Greenwell. „Ich habe den Verdacht, dass Mr Jenkins ein Auge auf meine Schwester Anna geworfen hat.“
„Sie ist eine ausgesprochene Schönheit“, stimmte Mrs Greenwell mit einem Seufzen zu. „Aber er hat noch nicht offiziell um ihre Hand angehalten, nicht wahr?“
„Soweit ich weiß, nein.“
Mrs Greenwells Miene erhellte sich merklich. „Dann könnte er seine Meinung vielleicht noch ändern, wenn er die Gelegenheit erhält, ein wenig mehr Zeit mit meiner Margaret zu verbringen.“
Lucy konnte ihr für ihrem Optimismus kaum einen Vorwurf machen. Jede liebende Mutter war in erster Linie darauf bedacht, ihre Töchter zu verheiraten. Sie bezweifelte, dass die Greenwells über ausreichend Geld verfügten, um sich eine Saison in London für ihre Töchter leisten zu können. Daher hatten sie sich bisher damit zufriedengeben müssen, Bälle auf dem Land zu besuchen und junge Männer aus den Nachbarshäusern zu treffen.
Auch wenn sie Verständnis für ihr Ansinnen hatte, lag es Lucy fern, Margaret Greenwell zu gestatten, Nicholas Jenkins für sich zu gewinnen. Anna verdiente es, einen Mann zu heiraten, der sie nicht nur schon seit Jahren liebte, sondern auch noch der Erbe eines Viscounts war.
„Guten Tag, Lady Kurland.“
Lucy wandte sich um und erblickte einen weiteren Gast, der unauffällig das Gesellschaftszimmer betreten hatte.
„Josephine, wie schön, dich zu sehen. Bist du mit den Greenwells gekommen?“
„Ja, Mylady.“ Sie machte einen Knicks.
Das Mädchen trug noch immer das triste, blaue Musselin-Kleid mit Schürze, das sie bereits in der Schule getragen hatte. Lucy war sich nicht ganz sicher, welcher Art die Beziehung zwischen den Greenwells und Josephine Blake war, die zeitweise als Begleiterin der Töchter der Familie arbeitete und gleichzeitig ihre Pflichten in der Schule erledigte.
Lucy hatte Robert davon überzeugt, Josephine die bezahlte Stelle anzubieten. Sie wusste, wie schwer es war, von der Güte anderer Menschen leben zu müssen, und sie hoffte, dass Josephine mit dem Geld, das sie erhielt, zumindest ein kleines Stück Unabhängigkeit erlangen konnte. Nicht, dass es den Anschein machte, dass sie von den Greenwells schlecht behandelt wurde. Sie ließen nur keinerlei Zweifel daran, dass Josephine nicht als junge Dame oder auch nur als Teil der Familie anzusehen war.
Rebecca Hall, das andere Mädchen, das in der Schule arbeitete, stammte aus einer großen Familie, die die verbliebene Schmiede des Dorfes betrieb. Sie war nach Kurland Hall marschiert und hatte ihre Absicht erklärt, nicht als Dienstmädchen arbeiten zu wollen und stattdessen weiter zu lernen. Robert hatte dieser Wunsch zur selbstbestimmten Weiterentwicklung imponiert und so hatte er nicht gezögert, Rebecca die Stelle anzubieten.
„Komm und setz dich, Josephine. Du musst erschöpft von der Arbeit in der Schule sein.“
„Erschöpft?“ Mrs Greenwell blickte auf. „Sie muss doch nur Miss Broomfield zur Hand gehen, Lady Kurland. Das ist wohl kaum eine anstrengende Aufgabe.“
Lucy lächelte ihren Gast an. „Allein der Gedanke, mich mit einem Dutzend Kinder herumzuschlagen, ermüdet mich. Ich war heute Morgen im Schulhaus. Ich habe nichts als Bewunderung für jemanden, der sich einer solchen Aufgabe annimmt.“
Margaret erschauderte. „Ich würde keinen Fuß dort hinein setzen. Diese Kinder stinken furchtbar und ich habe den Verdacht, dass einige von ihnen Flöhe haben.“
Anna schaltete sich ein, bevor Lucy antworten konnte. „Das liegt daran, dass sie oft keinen Zugang zu derartigen Annehmlichkeiten haben, die Sie als Selbstverständlichkeit ansehen, Miss Greenwell. Dazu gehören heißes Wasser, zum Waschen, Wechselkleidung und manchmal sogar ausreichend Essen“, erklärte sie. „Setz dich zu uns, Josephine, und ich schenke dir etwas Tee ein.“
„Ermutigen Sie sie nicht, sich hinzusetzen, Miss Harrington!“ Das Lachen von Mrs Greenwell war spürbar aufgesetzt. „Sie wird sonst noch einschlafen und was machen wir dann? Ich dachte, sie könnte bei diesem Treffen im Hintergrund einige Notizen machen und ein wenig mithelfen, sonst hätte ich sie nicht mitgebracht.“
Josephine, die schon der Aufforderung, sich zu setzen, folgen wollte, trat so hastig zurück, dass sie mit Lucy zusammenstieß. „Ich würde sehr gerne helfen.“
„Dein Hilfsangebot nehme ich dankend an, aber setz dich zuerst einmal hin und trinke etwas Tee, während ich meine Gedanken ordne“, sagte Lucy. Lucy nahm Josephine am Ellbogen und führte sie hinüber zu Anna. Anna klopfte auf den Platz neben sich auf dem Sofa und Josephine ließ sich mit unsicherem Blick in die Richtung von Mrs Greenwell, die noch immer ein wenig steif lächelte, auf dem Polster nieder.
Nachdem Lucy sicher war, dass Josephine sich in sicheren Händen befand, widmete sie sich wieder ihren anderen Gästen und sorgte dafür, dass alle ausreichend Tee, Kaffee und kleine Gebäckstücke hatten, die die Köchin hatte bringen lassen.
Nachdem alle versorgt waren, verschaffte sich Lucy mit einem Räuspern Gehör. „Sollen wir die Sitzung beginnen?“
Josephine setzte sich zu Lucy an den Schreibtisch und hielt ihre Feder bereit.
„Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen.“ Lucy sah ihre Gäste mit einem Lächeln an. „Als Erstes möchte ich bekannt geben, dass Sir Robert und ich uns entschieden haben, an Heiligabend einen Ball auszurichten.“
Mrs Jenkins meldete sich zu Wort: „Wie schön! Und wie ausgesprochen freundlich von Ihnen beiden.“
„Ich freue mich jetzt schon darauf!“, rief Margaret an ihre Schwester gewandt aus.
„Wir haben uns außerdem dazu entschieden, einen Tanz für alle Bediensteten des Anwesens und die Dorfbewohner abzuhalten. Es wird Spiele und Geschenke für alle Kinder geben.“
„Eine sehr gute Sache.“ Anna klatschte aufgeregt in die Hände. „Wie können wir helfen?“
Lucy rollte ihre Liste aus. „Ich habe ein paar Vorschläge aufgeschrieben und ich würde natürlich die Hilfe von Ihnen allen sehr zu schätzen wissen. Vielleicht fangen wir mit den praktischen Fragen an und arbeiten uns dann weiter vor?“
Nach einer Stunde war jede der Frauen zu Wort gekommen und hatte Lucy versprochen, ihren Bitten nachzukommen. Lucy faltete die Liste wieder zusammen.
„Vielen Dank.“ Lucy setzte sich gerade hin. „Jetzt muss ich nur noch einhundertfünfzig Einladungen schreiben und dafür sorgen, dass sie auch rechtzeitig zugestellt werden.“
„Damit kann ich dir helfen“, boten Anna und Sophia gleichzeitig an.
„Und ich werde dir Dorothea ebenfalls zur Unterstützung schicken“, fügte Penelope hinzu. „Sie muss sich einer anderen Beschäftigung widmen, als nur dem Vikar schöne Augen zu machen.“
„Wo wir gerade von Briefen sprechen …“ Mrs Jenkins öffnete ihr Retikül. „Ich habe heute Morgen einen erhalten, der mich recht verunsichert hat.“
„Eine Einladung?“, fragte Lucy.
„Nein, ein Brief, der an mich adressiert war, allerdings keinen Absender trug. Der Inhalt war ausgesprochen impertinent!“ Mrs Jenkins streckte ihn Lucy entgegen. „Bitte lesen Sie ihn für alle vor und ersparen Sie mir den Anblick.“
Lucy setzte ihre Brille auf, entfaltete das Blatt Papier und begann laut vorzulesen. „Dein Enkel ist umtriebig und ein Dieb. Sieh dich vor dieser Schlange in deinem Schoß vor!“
Lucy ließ den Brief sinken und starrte die alte Dame an. Der Tonfall des Schreibens erinnerte Lucy an die Nachricht, die sie selbst heute Morgen erhalten hatte. „Was für eine alberne und verletzende Aussage! Ich hoffe, Sie haben nichts auf diesen Unsinn gegeben.“
Mrs Jenkins legte eine Hand auf ihr Herz. „Ich muss gestehen, es hat mich doch ein wenig aufgewühlt. Wer würde so etwas Scheußliches sagen? Nicholas ist weder ein Dieb noch umtriebig.“
„Er ist ein ausgesprochen aufrichtiger Gentleman“, warf Anna ein. „Niemand würde etwas anderes glauben.“ Sie setzte sich auf den Stuhl neben Mrs Jenkins. „Madam, bitte lassen Sie sich nicht durch solchen Unsinn belasten. Offensichtlich wollte sich nur jemand einen schrecklichen Spaß auf Ihre Kosten erlauben. Ich habe keine Ahnung, warum.”
Mrs Jenkins tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab. „Aber es gab Gerüchte, dass sein Benehmen während seiner Zeit in London zu wünschen übrig ließ. Das wissen Sie selbst doch auch, Miss Anna. Tatsächlich haben Sie selbst …“
Anna unterbrach rasch den Redefluss der alten Dame. „Ich selbst habe nichts von besonders großer Tragweite getan. Nicholas war jung und hat aus seinen Fehlern gelernt. Ich habe tiefstes Vertrauen in seine Aufrichtigkeit.“
Margaret schniefte und flüsterte ihrer Schwester recht lautstark zu. „Als ob Sie eine Ahnung von Mr Jenkins innersten Gefühlen hätte.“
Lucy warf den Schwestern einen Blick zu, entschied sich aber dagegen, etwas zu sagen, da Anna die unfreundliche Bemerkung offenbar nicht gehört hatte.
Margaret erinnerte Lucy an Penelope, wenn diese besonders biestig war.
„Ich würde nichts auf den Brief geben, Mrs Jenkins“, sagte Lucy mit Nachdruck. „Haben Sie ihn gegenüber Ihrem Enkel erwähnt?“
„Nein, ich habe die Nachricht erst heute erhalten.“
„Dann würde ich ihn nicht damit behelligen. Je konsequenter man solchen Unsinn ignoriert, desto schneller wird er wieder vorbei sein.“ Es war ein guter Ratschlag. Jetzt musste sie ihn nur noch selbst befolgen. „Natürlich geben Sie uns bitte Bescheid, wenn Sie weitere Korrespondenz in derselben Handschrift und mit dem gleichen niederträchtigen Vorsatz erhalten. Dann werde ich darüber mit Sir Robert sprechen. Ich versichere Ihnen, dass er über derartige Angelegenheiten sehr ungehalten sein wird.“
„Vielen Dank, meine Liebe.“ Mrs Jenkins steckte ihr Taschentuch wieder ein. „Ich muss gestehen, dass mich der Brief sehr erschreckt hat, aber ich kann von meinem geliebten Enkel nicht schlecht denken.“
Lucy sah Anna an. „Vielleicht könntest du Mrs Jenkins nach Hause begleiten und bei ihr bleiben, bis Mr Jenkins zurückkehrt?“
„Das wäre mir eine Freude, Madam.“ Anna erhob sich und half der alten Dame beim Aufstehen. „Foley hat bereits die Kutsche vorfahren lassen, wir können also aufbrechen, wann immer es Ihnen beliebt.“
„Dann können wir uns sofort auf den Weg machen. Es sieht ein wenig nach Regen aus.“ Mrs Jenkins verabschiedete sich von den anderen Frauen, sammelte Retikül, Mantel und Gehstock ein und wurde behutsam von Foley und Anna die Treppe hinunterbegleitet.
Die Greenwell-Damen erhoben sich ebenfalls und traten an Lucy heran. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundlichkeit, Lady Kurland“, sagte Mrs Greenwell.
„Ich bin mir sicher, dass Mr Greenwell nur zu gerne bei der Feier für die Dienerschaft aushelfen wird. Er teilt die recht fortschrittlichen Ansichten über die Gleichheit der Menschen.“
„Wie auch Sir Robert“, erwiderte Lucy. „Es klingt, als würden die beiden gut miteinander auskommen.“
„Ich hoffe doch, dass Mr Jenkins dem Ball beiwohnen wird“, sagte Margaret Greenwell.
„Dessen bin ich mir sicher“, stimmte Lucy zu. „Er ist sehr aufmerksam gegenüber seiner Großmutter und denjenigen, die er seine Freunde nennt.“
„Das habe ich auch gehört.“ Margaret seufzte. „Ich wünschte, es wäre mir eingefallen, Mrs Jenkins nach Hause zu begleiten. Das war ein ausgesprochen einfallsreicher Schachzug.“
Lucy erstarrte. „Anna und Mrs Jenkins sind alte Bekannte. Sie kommen sehr gut miteinander aus.“
„Laut dem Tratsch im Ort ist Miss Harrington scheinbar die Güte in Person.“ Margarets Lächeln war verschwunden.
„Da sie meine Schwester ist, kann ich bestätigen, dass sie in der Tat, die freundlichste Person ist, der ich je begegnet bin. Es war mein Vorschlag, dass sie Mrs Jenkins begleiten solle, nicht der ihre. Sie ist nicht die Art von Mensch, die sich selbst in den Vordergrund drängt.“ Lucy sah die junge Dame an, bis Margaret errötete und den Blick abwendete.
Mrs Greenwell räusperte sich. „Wir sollten uns auf den Weg machen. Mein Ehemann schätzt es nicht, wenn die Pferde in einer solchen Kälte draußen stehen.“
„Dann werde ich Sie zu Ihrer Kutsche begleiten.“ Lucy öffnete die Tür zum Gang.
Sie wartete, bis die Kutsche der Greenwells abgefahren war, bevor sie langsamen Schrittes in das Gesellschaftszimmer zurückkehrte, wo Sophia bereits auf sie wartete. Wäre es möglich, mit ihrer besten Freundin zu sprechen, ohne zu erwähnen, was sie von ihrem lang ersehnten Besuch in London abgehalten hatte?
Lucy blieb zögernd an der Tür stehen, doch Sophia kam ihr bereits mit besorgtem Blick und Tränen in den Augen entgegen. Sie streckte beide Hände aus und ergriff die von Lucy.
„Oh, meine liebe Lucy. Penelope hat mir die Neuigkeiten mitgeteilt. Es tut mir so leid, meine liebste Freundin. Wieso hast du mir nicht geschrieben, um mir davon zu erzählen?“
„Ich dachte, dass es besser wäre, es dir persönlich zu sagen. Jetzt sehe ich allerdings, dass Penelope in der gleichen Zeit offenbar damit beschäftigt war, es herumzutratschen.“
Lucy ließ sich von Sophia zum Sofa führen, wo sie starr neben ihrer Freundin saß.
„Das ist nicht wirklich Tratsch.“ Sophia drückte Lucys Finger. „Du weißt, dass sie eifersüchtig auf unsere Freundschaft ist, daher wollte sie lediglich demonstrieren, dass sie mehr über dich weiß als ich, indem sie mich über deinen Gesundheitszustand in Kenntnis setzte.“ Sie zögerte. „Ich wünschte trotzdem, du hättest mir geschrieben.“
„Es ging mir noch nicht gut genug, um zu schreiben. Ich musste sehr zu meinem Missfallen fast eine Woche lang das Bett hüten. Sir Robert hat schon gedroht, mich ans Bett zu fesseln, wenn ich Dr. Fletchers Empfehlung nicht nachkomme. Und ich hatte kaum die Absicht, ihm nicht zu gehorchen, weil ich mich schwach wie eine neugeborene Katze fühlte.“ Lucy versuchte ein Lächeln aufzubringen. „Es war die zweite Fehlgeburt innerhalb eines Jahres.“
„Oh, Lucy.” Sophia reichte Lucy ihr Taschentuch. „Es gibt keine Worte in dieser Welt, die mein Beileid ausdrücken könnten.“
„Dr. Fletcher sagt, dass ich wieder zu Kräften kommen muss, aber es gibt so viel zu tun und …“
„Du wirst mir und den anderen erlauben, dir zu helfen“, sagte Sophia entschlossen. „Anna hat mir bereits anvertraut, dass sie sich Sorgen um dich macht. Sie befürchtet, dass du dir zu viel vornimmst mit dem Ball und dem Dorffest und …“
„Ich ziehe es vor, beschäftigt zu sein. Wenn ich nur herumsitze und endlos Säume vernähe, geht es mir deutlich schlechter.“
„Aber du musst uns gestatten, dir zu helfen.“ Sophia sah Lucy in die Augen. „Ein ‚Nein‘ lasse ich nicht gelten, meine Liebe, daher findest du dich besser sofort damit ab.“
Zum ersten Mal seit Langem lächelte Lucy. „Danke. Ich gebe mir Mühe. Aber verausgabe du dich bitte nicht zu sehr.“
„Ich fühle mich ausgesprochen gut, nachdem ich die ersten paar Monate der Übelkeit hinter mir habe. Ich fühle mich sogar, als hätte ich überschüssige Energie, und ich kümmere mich nur zu gerne um jeden deiner Nachbarn, der versuchen könnte, dich zu plagen.“ Sophia hielt inne. „Ich kann nicht behaupten, dass ich die Greenwell-Schwestern besonders mochte. Ich habe schon gehört, dass die älteste Tochter ein Auge auf Nicholas Jenkins geworfen hat.“
„Das glaube ich auch, aber da sie mit Anna kaum mithalten kann, bezweifle ich, dass sie damit Erfolg haben wird.“
Lucy seufzte. „Natürlich nur, wenn ich Anna davon überzeugen kann, Nicholas Gehör zu schenken. Sie scheint entschlossen zu sein, im Pfarrhaus bei meinem Vater bleiben zu wollen.“
„Dein Vater macht es seinen Töchtern sehr schwer, das Haus zu verlassen, nicht wahr?“
„Er braucht eine Ehefrau“, sagte Lucy. „Vielleicht sollten wir Nachforschungen zu ein paar guten Kandidatinnen anstellen, wenn wir die Einladungen für den Ball schreiben.“
„Was für eine ausgezeichnete Idee“, erwiderte Sophia. „Dann wäre Anna frei, das Pfarrhaus zu verlassen und die Zwillinge bekämen eine neue Mutter, die sie umsorgen kann.“
Lucy erhob sich. Allein die Anwesenheit von Sophia wirkte sich belebend auf ihren Geist aus. „Dann lass uns doch in mein Arbeitszimmer gehen und sofort eine Liste aufstellen.“
***
„Robert, hast du das Vorstellungsgespräch mit Miss Broomfield geführt, als sie sich auf die Stelle an unserer Schule beworben hatte?“
„Miss Broomfield?“ Robert blickte von seinem Buch auf, legte einen Finger zwischen die Seiten und widmete ihr seine Aufmerksamkeit. „Was ist denn mit ihr?“ Sie saßen nach einem exzellenten Abendessen noch gemeinsam in seinem Arbeitszimmer. Nach seinem gedankenlosen Benehmen beim Frühstück war er darauf bedacht, Lucy die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die ihr gebührte. „Dein Vater hat mit ihr gesprochen. Ich war zu der Zeit eher mit anderen Dingen beschäftigt.“
Tatsächlich hatte er sich mehr Sorgen um Lucy gemacht, die im dritten Monat ihrer Schwangerschaft eine Fehlgeburt erlitten hatte und sich davon im Bett erholte. Er hatte schon viele Schlachten durchlebt und dabei Dinge gesehen, die die meisten Männer verzagen lassen würden, aber das Leid seiner Frau zu sehen, war weit schrecklicher gewesen. Die Besetzung der offenen Stelle im Schulhaus war für ihn eher nebensächlich gewesen, sodass er dies seinem Schwiegervater überlassen hatte.
Trotz ihrer Auseinandersetzung im Pfarrhaus schien Lucy besseren Mutes zu sein, was er dem positiven Einfluss von Sophia Stanford zuschrieb. Dennoch war seine Frau recht still. Manchmal sehnte er sich fast danach, dass Lucy ihre besitzergreifende Art wiedererlangte. Allerdings hielt er sich zurück, sie in irgendeiner Form zu provozieren, solange es galt, bestimmte Themen nicht anzusprechen.
„Ich habe Miss Broomfield aufgesucht, um mich mit ihr über die Teilnahme der Kinder an einem der Weihnachtsgottesdienste zu unterhalten“, sagte Lucy weiter. „Es war unverkennbar, dass sie keinerlei Verständnis für die Kinder in ihrer Obhut hat.“
„Inwiefern?“
„Sie sieht sie als faule und gleichgültige Schüler. Sie hatte nur Spott übrig, als ich sie darauf aufmerksam machte, dass die meisten ihrer Schützlinge nicht nur die Schule besuchen, sondern auch noch für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen.“
„Miss Broomfield hat dich verspottet?“ Robert zog eine Augenbraue hoch. „Eine mutige Frau.“
„Sie hält mich offenbar für eine Schirmherrin, die keine Ahnung davon hat, wie eine Schule geleitet werden sollte.“
„Dann ist sie selbst schuld. Hast du versucht, ihre Ansichten richtig zu stellen?“
„Das habe ich, aber sie war gleichgültig gegenüber meinen Vorschlägen. Sie ist meiner Forderung nach Musikunterricht für die Kinder nur nachgekommen, weil ich damit gedroht habe, mein Missfallen dir und meinem Vater mitzuteilen.“ Sie legte ihr Nähzeug beiseite. „Ich habe sogar angeboten, selbst den Kindern die Weihnachtslieder beizubringen, aber sogar von diesem Gedanken schien sie beleidigt gewesen zu sein.“
Robert runzelte die Stirn. „Zur Abwechslung stimme ich Miss Broomfield zu. Es geht dir noch nicht gut genug, als dass du deine Tage in diesem zugigen Klassenzimmer umgeben von Kindern mit ewig laufenden Rotznasen verbringen solltest.“
Sie hob das Kinn und in ihren Augen glänzte eine Spur ihrer gewohnten Entschlossenheit. „Ich dachte, du wolltest, dass ich mir neue Beschäftigungen suche?“
„Ich zahle dieser Frau ein beträchtliches Gehalt, um an unserer Schule zu unterrichten, daher erwarte ich, dass meine Frau ihr das Lehren nicht abnimmt.“ Robert zögerte. „Es gibt auf dem Anwesen viele andere Angelegenheiten, bei denen deine Fähigkeiten besser aufgehoben wären.“
„Besser als beim Wohlergehen der Kinder im Dorf?“
„Ja, und darüber hinaus sind sie deiner Gesundheit derzeit deutlich zuträglicher.“
„Aber Miss Broomfield ist inkompetent! Ich denke sogar, dass du sie entlassen und über die Feiertage nach einem geeigneten Ersatz suchen solltest.“
„Weil sie in einer Sache anderer Meinung war als du? Das sieht dir gar nicht ähnlich, meine Liebe. Vielleicht sollten wir bis nach Weihnachten warten. Ich werde dann natürlich mit Miss Broomfield sprechen und darüber entscheiden, ob sie kompetent genug ist, um ihrer Aufgabe nachzukommen.“
„Das ist sie nicht.“ Lucys Augen blitzten auf.
„Du bist ausgesprochen schnell in deinem Urteil.“
„Nur weil sie so eine … Kälte an sich hatte.“
„Wie meinst du das?“ Robert runzelte die Stirn. Im Laufe ihrer Beziehung hatte er gelernt, ihre Gefühle ernst zu nehmen.
„Ich habe den Verdacht, dass sie eine dieser Frauen ist, die aus den völlig falschen Gründen Lehrerin geworden ist. Hast du ihre Empfehlungsschreiben griffbereit?“
„Ich glaube, Dermot hat sie irgendwo, aber …“
„Dann werde ich ihn darum bitten, sie für mich herauszusuchen. Ich möchte wetten, dass mein Vater sie vor ihrer Einstellung nicht gelesen hat.“
„Wir hatten tatsächlich einige Probleme, als Miss Brent so plötzlich entschied, zu heiraten und ihre Stelle aufzugeben. Mitten im Schuljahr kann man kaum erwarten, eine große Auswahl wirklich guter Lehrkräfte zu haben“, gab Robert zu bedenken.
Lucy lehnte sich vor. „Wir haben lange diskutiert, welche Art Schule wir gründen möchten, und noch länger besprochen, wie die perfekte Lehrerin dafür aussehen würde. Ich verstehe nicht, wieso das alles bei der Einstellung von Miss Broomfield ignoriert wurde.“
Robert biss die Zähne zusammen. „Ich nehme deine Bedenken ernst, meine Liebste, und ich habe vor, so bald wie möglich mit Miss Broomfield zu sprechen. In der Zwischenzeit, hältst du dich bitte aus der Sache heraus, bis es dir besser geht.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Können wir uns darauf einigen?“
„Wie du wünschst.“ Lucy faltete die Hände in ihrem Schoß und hielt den Blick darauf gerichtet.
Nach drei Jahren Ehe und vielen weiteren Jahren, in denen sie sich bereits vorher kannten, ließ Robert sich von ihrer Zustimmung nicht täuschen.
„Ich möchte dein Wort darauf haben, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Mein Wort, dass ich die Kinder nicht selbst unterrichten werde?“
„Dass du dich überhaupt nicht in die Leitung der Schule einmischen wirst.“
Sie seufzte. „Ich habe tatsächlich nicht die Kraft, mich jeden Tag mit einem Dutzend Kinder herumzuschlagen.“
„Wieso bestehst du dann auf diesem verdammten Ball und der Feier für die Dorfbewohner?“, fragte Robert.
„Weil ich irgendetwas zu tun brauche. Wenn du mir gar nichts gestattest, schwöre ich, dass ich irgendwann an Langeweile sterbe.“ Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. „Anna und Sophia haben angeboten, mir mit den Vorbereitungen zu helfen und Mr Greenwell will mit dir über die Ausrichtung der Aktivitäten für die Feier der Dorfbewohner sprechen. Es ist also nicht so, dass ich mich ganz allein um alles kümmere.“
Robert hielt inne und sie drückte sanft seine Finger. „Bitte, Robert. Lass mir zumindest das.“
„Das werde ich. Aber ich werde mit Anna und Sophia sprechen, um sicherzugehen, dass sie dir auch wirklich helfen und sich nicht dazu zwingen lassen, dich doch alles allein erledigen zu lassen.“
„Ich zwinge doch niemanden, Robert!“
„Dann bewegst du sie eben dazu. Darin bist du sehr gut.“
„Jemand muss es ja machen und du willst ja wohl kaum alle Aufgaben selbst übernehmen“, erwiderte Lucy.
„Wie ich bereits sagte, wenn es nach mir ginge, würde der Ball gar nicht erst stattfinden“, murmelte Robert und küsste die Hand seiner Frau. „Aber, wenn du dich aus dem Klassenzimmer heraushältst, bin ich gewillt, die ganze Grafschaft in meinem Haus zu empfangen und einen Tag im Jahr ihre Anwesenheit über mich ergehen zu lassen.“
Lucy schenkte ihm ein Lächeln. „Ich wusste, dass du meine Sichtweise irgendwann verstehen würdest.“
„Meine Liebste, nach drei Jahren Ehe hast du mich so gut erzogen wie einen Schoßhund.“
„Wohl kaum wie einen Schoßhund, Sir. Eher wie einen missmutigen Straßenköter.“
Er erwiderte ihr Lächeln. Es war schön, sie wieder lächeln zu sehen, auch wenn es auf seine Kosten war. Und wenn er sie davon überzeugen könnte, sich nicht in die Angelegenheiten der Schule einzumischen, war er mehr als gewillt, sich als Kompromiss auf den Ball einzulassen, der der ganzen Grafschaft zugutekommen würde. Den reichen wie den armen Bewohnern.