Leseprobe Mord mit Milch und Zucker

Leichensack und Nachttopf

Jeden Donnerstagabend genehmigte ich mir ein Glas Wein. Warum ich das tat? Ganz einfach, weil ich jeden Donnerstagabend mit meiner mich liebenden Mutter telefonierte. Danach konnte ich zwar gelegentlich sogar etwas Stärkeres als vergorenen Traubensaft gebrauchen, aber da ich am nächsten Tag immer zur Arbeit musste, beschränkte ich mich lieber auf Wein.

Gestern waren es allerdings zwei Gläser gewesen, weshalb ich heute Morgen nur unter äußerster Anstrengung aus dem Bett gekommen war. Diesen überaus ärgerlichen Umstand verdankte ich zu siebzig Prozent meiner Mutter, die mich bei unserem gestrigen Telefonat wieder einmal mit der Enkelkindleier traktiert hatte.

„Warum findest du keinen Mann, Alice? Alle meine Freundinnen haben schon Enkelkinder. Ich hasse es, wenn sie sich über die süßen Kleinen auslassen und ich nicht mitreden kann.“

Und so weiter und so fort.

Ja, ich war dreiunddreißig und noch Single. Nein, ich hatte keine Aussicht auf eine vielversprechende Beziehung, die irgendwann in naher Zukunft in Enkelkinder für meine Mutter würde gipfeln können. Mich störte das nicht. Zumindest nicht der Teil mit den Enkelkindern. Ich liebte mein Leben, wie es war. Ich liebte meinen Job in der Crayford Library, meine Unabhängigkeit und mein kleines, schnuckeliges Zweizimmerapartment. Die Einzige, die mir neben meiner Mutter das Leben regelmäßig madig machte, war meine Vermieterin, Mrs Margaret Cunningham. Womit wir bei den übrigen dreißig Prozent angelangt wären, die mich gestern Abend dazu getrieben hatten, mir ein zweites Glas Chardonnay zu genehmigen.

Es ging mir partout nicht in den Kopf, wie eine dermaßen zarte, runzelige Frau in der Lage war zu brüllen, als wäre sie der Graurücken eines Gorillarudels. Na ja, eigentlich lebten Gorillas ja nicht in Rudeln, sondern in Haremsgruppen, was ich, nebenbei bemerkt, für ziemlich sexistisch von diesen Primaten hielt. Jedenfalls war gestern gegen elf Uhr nachts offenbar Mrs Cunninghams Sohn George in Ungnade bei seiner Königin Mutter gefallen. Da meine Wohnung im obersten Geschoss und genau gegenüber der von Mrs Cunningham lag, hatte ich ihre Schreie hautnah miterleben können. Dass ihr Unmut ausnahmsweise einmal nicht meiner Person gegolten hatte, war um diese Uhrzeit und nach dem überproportional erschöpfenden Gespräch mit meiner Mum nur geringfügig tröstend gewesen.

Als Resultat meiner kurzen, weingeschwängerten Nacht begann der Morgen außerplanmäßig holprig. Zu meinem Leidwesen war ich generell ein recht schusseliger, tollpatschiger Mensch. In Kombination mit einem müden Geist verleitete mich diese Grundkonstitution zu dem ein oder anderen Missgeschick. Wie zum Beispiel einen Zipfel meines Morgenmantels beim ersten frühmorgendlichen Toilettengang in die Schüssel hängen zu lassen oder die Dusche kalt statt warm aufzudrehen. Immerhin rüttelten mich diese Zwischenfälle ordentlich wach, denn mein Kaffee war mit Salz anstelle von Zucker ungenießbar.

Ein Paar beigefarbene Stilettos – ein Weihnachtsgeschenk von meiner Mutter – und Mrs Cunningham setzten meinem missratenen Morgen dann die Krone auf. Es war mein schlechtes Gewissen wegen der fehlenden Enkelkinder, das mich dazu veranlasste, mir trotz der ohnehin ungünstigen Ausgangsbedingungen diese Mördertreter anzuziehen. Obwohl ich darin nicht besonders gut laufen konnte, war meine Mutter felsenfest davon überzeugt, dass ich mir damit den Mann fürs Leben an Land ziehen könnte. Also stakste ich – ganz die dämliche, pardon, pflichtschuldige Tochter – mit diesen Killermaschinen an den sofort schmerzenden Füßen aus meiner Wohnung. Ich war exakt bis zur Hälfte des obersten Absatzes gekommen, da schrillte auch schon Mrs Cunninghams Stimme durchs Treppenhaus.

„Trampel hier nicht so durch die Gegend, Mädchen, du bringst noch das ganze Haus zum Einsturz!“

Eigentlich hätte ich ja damit rechnen müssen, erschrak aber derart, dass ich die nächsten zweieinhalb Stockwerke um ein Haar im Sturzflug genommen hätte.

Der restliche Tag in der Bibliothek lief im Gegensatz zum Morgen glücklicherweise verhältnismäßig problemlos ab. Nur mein angeknackster Knöchel und der fehlende Kaffee erinnerten mich an den grauenvollen Start in den Freitag.

Jetzt, um zwanzig nach fünf am Nachmittag, war ich allerdings mehr als reif fürs Wochenende. Ich brachte die letzten Yards bis zum Mehrparteienhaus, in dem mein Apartment lag, trotz meiner von Blasen übersäten Füße ohne lautstarke Schmerzensbekundungen hinter mich und erstarrte bei dem Anblick, der sich mir dort bot.

Vor dem Eingang des Hauses parkten eine Ambulanz, ein Streifenwagen, eine schwarze Limousine und ein dunkelgrauer Vauxhall. Zwei Beamte in langen dunklen Mänteln und mit glänzenden Marken an den Reversen hatten die Köpfe zusammengesteckt. Das ungleiche Paar, einer älteren Semesters, rundgesichtig, fassbäuchig und kahl, der andere groß gewachsen, mit verboten dichtem Haar und einer athletischen Figur, unterhielt sich in gesenktem Tonfall. Die beiden machten Platz, als schwarz gekleidete Männer eine Bahre aus der engen Haustür manövrierten.

Unwillkürlich reckte ich den Hals, um einen Blick auf die tote Person zu erhaschen. Doch ich sah niemanden, lediglich einen schwarzen, unförmigen Sack. Mein Herz rutschte mir in die Hose oder, besser gesagt, in den Trumpet Skirt, und ich war unfähig, mich auch nur einen Inch von der Stelle zu rühren, während der Leichensack in die Limousine geladen wurde.

Im Kopf ging ich die einzelnen Hausbewohner durch, überlegte fieberhaft, welche arme Seele es erwischt haben mochte. Dann trat George Cunningham aus der Eingangstür und sprach mit den Cops in Zivil. Sein Gesicht wirkte verkniffen, was allerdings nicht viel zu bedeuten haben musste, denn George sah immer so aus, als hätte er gerade eine bittere Pille geschluckt.

Ich musste wissen, wer das Zeitliche gesegnet hatte, also schüttelte ich meine Betroffenheit ab und setzte mich in Bewegung.

„Mein Beileid zum Verlust Ihrer Mutter, Mister Cunningham“, hörte ich den älteren der beiden Polizisten sagen, als ich nah genug dran war. Seine Stimme war neutral, enthielt keine Spur von echter Anteilnahme.

George schien das nicht zu kümmern. Er nickte bloß und wandte sich an einen, der schwarz gekleideten Männer, die offenbar zum Bestattungsunternehmen gehörten. Die Szene wirkte vollkommen absurd und unwirklich auf mich. Margaret Cunningham sollte tot sein? Verstorben? Vom Sensenmann geholt? Bis auf ihr Alter, ich konnte nicht einmal sagen, wie alt meine ehemalige – bei diesem Gedanken musste ich schwer schlucken – Vermieterin tatsächlich gewesen war, hatte sie sich meines Wissens nach bester Gesundheit erfreut. Gestern noch war sie, über die abgesprungenen Fliesen im Treppenhaus zeternd, die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinaufgestiegen. Ihr Ableben kam, zumindest für mich, reichlich unerwartet.

Unschlüssig, was ich machen sollte, drückte ich mich einige Schritte entfernt neben dem Eingang herum und beobachtete, wie George mit dem Mitarbeiter des Beerdigungsunternehmens sprach. Gesprächsfetzen drangen an meine Ohren, aber ich hatte wenig Interesse an ihrer Unterhaltung. Ich wollte wissen, was Mrs Cunningham zugestoßen war. Darum trat ich schließlich an die Cops heran, die sich allem Anschein nach gerade zum Gehen wandten.

„Entschuldigen Sie!“, rief ich vor Anspannung etwas zu laut und rückte meine Brille zurecht.

Die beiden drehten sich zu mir um. Wahrscheinlich bildete ich mir den Argwohn in ihren Blicken nur ein, oder es war der natürliche Gesichtsausdruck von Polizisten, trotzdem blieben mir unter der intensiven Musterung die Worte im Hals stecken. Oh, in diesem Moment verfluchte ich meine elende Neugier.

„Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen“, brummte mir der ältere Cop entgegen.

Hier gab es sehr wohl etwas zu sehen!, korrigierte ich ihn im Geiste. Eine alte Frau, die wider Erwarten von dieser Welt geschieden war. Um eine selbstbewusste Haltung bemüht, straffte ich die Schultern, was ich nur äußerst selten tat, weil dadurch meine Oberweite hervorstach und mir das Gefühl gab, wie Pamela Anderson auszusehen. Na ja, also wenigstens diese Körperregion betreffend.

„Ich wohne hier“, brachte ich piepsig hervor, was meinen Plan, souverän auf die beiden Männer zu wirken, augenblicklich wieder zunichtemachte, und deutete auf die Haustür.

Meiner Unbeholfenheit zum Trotz, wirkten die Polizisten nun ein wenig interessierter an mir.

„Dann kannten Sie Mrs Cunningham“, stellte der jüngere fest, während sein grobschlächtiger Kollege auf die Armbanduhr blickte und sich über den ausladenden Bauch rieb. Anscheinend hatte er doch nicht vor, mir länger seine Aufmerksamkeit zu schenken.

„Sie war meine Vermieterin.“ Und die bissigste Person, die ich kannte, äh, gekannt hatte.

Eine Pause entstand, in der ich fieberhaft nach den richtigen Worten suchte, um die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge lag. Die zwei wirkten jedoch nicht so, als würden sie länger denn unbedingt nötig bleiben wollen. Mr Bierbauch nickte mir kurz zu und watschelte ohne eine Erwiderung zum Vauxhall.

Jetzt oder nie, Alice!, dachte ich und verpasste mir einen gedanklichen Tritt in den Allerwertesten.

„Was ist ihr denn zugestoßen?“

„Nun, ich schätze, das Alter.“

Meine Schultern sackten ein Stück nach unten, währenddessen sich auch der zweite Cop verabschiedete und mich auf der Straße stehen ließ. Ich war ordentlich durcheinander und irgendwie – traurig. Konnte man das fassen? Mrs Cunningham hatte nie ein gutes Haar an mir gelassen, mich regelmäßig in den Wahnsinn getrieben und mir das Leben schwer gemacht. Trotzdem war ich erschüttert von ihrem Tod.

Ich warf einen letzten Blick auf die schwarze Limousine der Bestatter und verzog mich nach oben in meine Wohnung. Die Absätze meiner Schuhe klackten bei jedem Schritt auf den zartgelben Fliesen. Das Geräusch erinnerte mich an die Blasen, die mir mein Rückschritt in der Emanzipation eingebracht hatte, und – was in diesem Fall wesentlich schwerer wog als unbequemes Schuhwerk – es machte mir erst richtig bewusst, dass Mrs Cunningham unwiederbringlich fort war. Niemand würde in den nächsten Sekunden seinen Kopf aus der Tür stecken und mich tadeln, weil ich im Treppenhaus Lärm machte. Genauso wenig würde mich Sonntagmorgen ein vehementes Klopfen aus dem Schlaf reißen, weil ich wieder einmal vergessen hatte, der Hausordnung gemäß schon am Samstagabend den Müll runterzubringen. Es war mir bis heute ein Rätsel, woher die alte Lady immer gewusst hatte, dass gerade mein Müllsack im großen Container fehlte. Aber sie hatte es stets gewusst. Nichts, was in diesem Haus vor sich ging, war Mrs Cunningham jemals verborgen geblieben.

Gedankenverloren kramte ich meinen Schlüsselbund aus der Handtasche und vermied dabei, einen Blick über die Schulter zu werfen. Hinter der Wohnungstür in meinem Rücken stand definitiv niemand und linste durch den Spion.

Mit einem leisen Klicken entriegelte sich das Schloss, nachdem ich den Schlüssel zweimal herumgedreht hatte, und ich betrat mein Apartment. Auf dem Läufer im Flur erwartete mich ein Stapel Briefe, die der Postbote durch den Schlitz geschoben hatte. Ich ignorierte sie, streifte mir stattdessen die Stilettos von den schmerzenden Füßen und wäre beinah der Länge nach hingekracht. In letzter Sekunde krallte ich mich an der Kommode fest, konnte jedoch nicht verhindern, dass mir bei meinem halben Spagat die Strumpfhose im Schritt riss. Wenig ladylike hievte ich mich wieder in eine aufrechte Position. Unter meinen linken Fuß war etwas Rutschiges geraten. Wahrscheinlich einer der Briefumschläge, der sich meiner Missachtung wegen an mir hatte rächen wollen. Garstige Rechnungen!

Beim Versuch aufzutreten, bemerkte ich, dass dieses vermaledeite Etwas anhänglich war. Es klebte nach wie vor an meiner Sohle, jedem Schütteln meines Fußes zum Trotz. Unwillig blies ich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und langte nach dem Übeltäter. Es war ein kleiner gelber Klebezettel. Gänsehaut kroch mir den Rücken hinauf, während ich den Zettel anstarrte, auf dessen Kleberand sich Staub gesetzt hatte. Dieses quadratische Stückchen Papier stammte zweifelsohne von Mrs Cunningham. Sie musste es vor ihrem Hinscheiden durch den Briefschlitz gesteckt haben.

Im Prinzip sollte mich die Nachricht an und für sich nicht verwundern. Immerhin war sie bei Weitem nicht die erste ihrer Art, die ich zu Gesicht bekam. Mrs Cunningham hatte es gepflegt, die Dinger überall und ständig irgendwohin zu kleben. An Postkästen, aus denen auch nur eine winzige Ecke einer Zeitung oder eines Magazins herausstand, mit der Anweisung, sie auszuräumen. An Fahrräder im Hausflur, die unerlaubterweise dort abgestellt wurden, mit der Drohung, die Luft aus den Reifen zu lassen, wenn derlei noch einmal vorkommen würde. Und sogar auf schmutzige Fliesen im Treppenhaus, mit der Frage, welcher Dreckspatz dafür verantwortlich sei, oder der Aufforderung an ihren Sohn George, die Sauerei zu beseitigen. Ja, und natürlich hatte sie sich ebenso wenig davor gescheut, ihre verdammten Zettel regelmäßig an meine Apartmenttür zu kleben, um mich wegen irgendetwas zu tadeln, das ihr nicht gefiel, sei es Kochgeruch, dass ich zu lange geduscht oder das Licht im Hausflur angelassen hatte.

Ein Aspekt an diesem speziellen Klebezettel, der mich gerade fast zu Fall gebracht hätte, war allerdings ungewöhnlich. Noch nie zuvor hatte sie einen durch meinen Briefschlitz gesteckt. Denn bisher hatte es Mrs Cunningham nicht gestört, ihre Nachrichten öffentlich zu platzieren.

Argwöhnisch drehte ich das Stückchen Papier um. Es war unverkennbar die krakelige Handschrift der alten Lady, die ein einzelnes Wort bildete. Nachttopf. Zweimal unterstrichen, wohlgemerkt.

Wie ein Esel starrte ich auf die Buchstaben, stütze mich dabei immer noch in der gleichen Pose mit einer Hand an der Kommode ab, den Fuß, von dem ich den gelben Zettel gezupft hatte, leicht erhoben.

N-a-c-h-t-t-o-p-f, las ich Buchstabe für Buchstabe, ohne dadurch schlauer zu werden.

Mrs Cunningham hatte mich in der Vergangenheit schon vieles genannt. „Trampeltier“, „Auerochse“, „Brillenschlange“ oder gut und gerne auch „Vierauge“. Aber eine Bezeichnung wie „Nachttopf“ hatte sie mir niemals angedeihen lassen.

Stirnrunzelnd und etwas getroffen, gab ich die unbequeme Haltung auf, in der ich verharrt war, und ging ins Wohnzimmer. Den heimtückischen Klebezettel verbannte ich in den Mülleimer.

Warum sollte ich mir länger Gedanken darüber machen? Der alte Drache war nicht mehr. Nachttopfzettel hin oder her.

Leider sah der analytische Teil meines Gehirns, der das geschriebene Wort verehrte, sogar wenn es „Nachttopf“ lautete, die Sache anders. Es verurteilte mich dazu, den restlichen Abend über die Botschaft nachzugrübeln. Beim Abendessen, beim Duschen und lange noch, nachdem ich ins Bett gegangen war. Ich wälzte mich in den Laken unruhig und gelegentlich murrend hin und her, weil mich dieser verfluchte Klebezettel einfach nicht losließ. Mir war, als würde er mit der kratzigen Stimme von Mrs Cunningham aus dem Mülleimer in der Küche nach mir rufen. Wie ein gelbes, quadratisches Gespenst.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, rief ich in die Dunkelheit meines Schlafzimmers hinein und schlug die Bettdecke zurück.

Nun war es amtlich. Ich musste in die Irrenanstalt eingewiesen werden. Denn was ich im Begriff war zu tun, hatte nichts mehr mit gesundem Menschenverstand zu tun.

Mittlerweile war ich mir sicher, dass „Nachttopf“ kein kompromittierender Kosename für mich sein sollte, sondern eine Botschaft, der ich auf den Grund gehen würde. Ich stieg aus dem Bett, verhedderte mich mit dem kleinen Zeh in den Fransen meines Bettvorlegers und hätte meine verrückte mitternächtliche Aktion um ein Haar mit einer Bruchlandung gestartet.

„Verflixtes Ding!“, schimpfte ich, strampelte den Teppich zur Seite und schaltete die Nachttischlampe ein.

Mit ziemlicher Sicherheit wäre das genau der richtige Zeitpunkt gewesen, um meinen abenteuerlichen und zugegebenermaßen dezent illegalen Plan in den Wind zu schießen und zurück ins Bett zu krabbeln. Aber ich musste wissen, was es mit diesem Klebezettel auf sich hatte. Darum warf ich mich rasch in Jogginghose und Morgenmantel und ging in die Küche. Aus dem Mülleimer unter der Spüle holte ich besagten Klebezettel wieder hervor, befreite ihn von einer fettigen Nudel vom vorgestrigen Abendessen und pinnte ihn anschließend auf die Korktafel an der Wand. Jetzt brauchte ich nur noch einen Schraubenzieher, dann konnte es losgehen. In der Abstellkammer wurde ich fündig. Dort stand der pinkfarbene Werkzeugkoffer, den meine beste Freundin Chelsea Gover mir vor zwei Jahren zum Weltfrauentag geschenkt hatte. Im Gegensatz zu meiner Mutter hielt Chelsea etwas von Emanzipation, wofür ich ihr noch nie so dankbar gewesen war wie in diesem Augenblick.

„Ha!“ Da war er, der kleine Schlingel.

Ich schloss die Finger um den passend zur Metallbox in Pink gehaltenen Plastikgriff des Schraubenziehers, der zum ersten Mal in seinem Leben zum Einsatz kommen würde. Mit meinen weichen Frotteeslippern an den Füßen öffnete ich möglichst geräuschlos die Wohnungstür und spähte hinaus in den finsteren Gang. Alles war ruhig, von dem rhythmischen Trommeln der Regentropfen vor dem Fenster einmal abgesehen. Silbernes Licht drang durch das hohe Fenster im Zwischengeschoss ins Treppenhaus und projizierte lange Schatten auf den Fliesenboden.

Los jetzt!, sagte ich mir selbst und schlich mit dem Schraubenzieher bewaffnet ans andere Ende des Flurs. Insgeheim hatte ich die Tatsache belächelt, dass Mrs Cunninghams Sohn George mit seinen knapp fünfzig Jahren immer noch im Haus seiner Mutter lebte.

„Er hat die Wohnung im Erdgeschoss nur deshalb bezogen, um nicht als komplettes Muttersöhnchen dazustehen“, hatte ich des Öfteren zu Chelsea gesagt.

Nun war ich heilfroh, dass George tatsächlich nicht im Apartment seiner verstorbenen Mutter lebte, ansonsten hätte ich mir das hier sofort wieder abschminken können.

Ich war bestimmt keine professionelle Einbrecherin, aber wie man Türen, im Speziellen diejenigen in diesem Haus, aufbekam, wusste ich. Mindestens einmal im Monat vergaß ich nämlich, meine Schlüssel beim Verlassen der Wohnung mitzunehmen, darum hatte ich bereits eine gewisse Übung darin, Schlösser aufzuhebeln. Was mit einer Kreditkarte funktionierte, musste mit dem richtigen Werkzeug ein Klacks sein.

Ich kam mir ungemein verwegen vor und, ehrlich gesagt, auch ein klein wenig morbid, als ich den Schraubenzieher ansetzte und gleichzeitig am Türknauf ruckte. Mit einem Klicken ging die Apartmenttür auf und knarrte dermaßen gespenstisch, dass ich beinah den Schraubenzieher fallen gelassen und Reißaus genommen hätte.

Ganz ruhig, Alice, denk an den Nachttopf, versuchte ich mich zu beruhigen und unterdrückte ein hysterisches Kichern. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich einmal mitten in der Nacht in Mrs Cunninghams Wohnung einsteigen würde, um ihren Nachttopf zu suchen.

Beim Eintreten empfing mich ein strenger Geruch nach alten Leuten. Eine muffige Mischung aus Haarfestiger, Hühneraugensalbe und Mottenkugeln. Ich rümpfte die Nase und fragte mich abermals, welcher Teufel mich eigentlich ritt.

Es war düster, und meine Füße sanken tief in den weichen Teppichboden ein, als ich mich durch den Flur ins Wohnzimmer begab. Linker Hand stand eine Tür offen. Da ich meine aberwitzige Suche ja irgendwo beginnen musste und nicht glaubte, im Wohnzimmer auf den heiligen Gral zu stoßen, betrat ich den kleinen Raum. Hier drinnen war es stockdunkel, darum tastete ich neben dem Türrahmen nach einem Lichtschalter. Meine Hand fuhr über kühle Fliesen und tappte anschließend auf etwas Weiches, Feuchtes. Ein erstickter Laut entfuhr mir, und ich bereute es, keine Taschenlampe mitgebracht zu haben.

Schaudernd tastete ich weiter und fand endlich den Lichtschalter. Das plötzlich grelle Licht in dem beengten Bad blendete mich, und es dauerte einige Sekunden, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten. Als Erstes entdeckte ich den nassen Schuft, in den ich versehentlich gegriffen hatte, eine weiße Unterhose mit Rüschenbesatz, die Mrs Cunningham neben der Tür an einem Haken zum Trocknen aufgehängt hatte. Ohne weiter darüber nachdenken zu wollen, ließ ich den Blick über die Duschwanne schweifen, in der ein einsames Seifenstück lag, über den mit Plüsch überzogenen Toilettendeckel und weiter zum Waschbecken, das ebenso unspektakulär war wie der Rest.

Nachttopf – Fehlanzeige.

Seufzend schaltete ich das Licht wieder aus und setzte meine Suche im angrenzenden Schlafzimmer fort. In dem mit Kleidung und Zeitungsstapeln vollgerammelten Raum bekam ich stetig wachsende Beklemmungserscheinungen. Zu gern hätte ich auch hier das Licht angemacht, da der Raum aber im Gegensatz zum Bad ein Fenster zur Straße hin hatte, hielt ich das für keine gute Idee. Wenigstens erhellte das hereinscheinende Licht der Laternen die Szene, sodass ich mehr von meiner Umgebung erkennen konnte als im finsteren Flur.

Wenn ich ein Nachttopf wäre, wo würde ich mich dann verstecken?, überlegte ich angestrengt, während ich mir einen Weg durch den Raum zum Bett hin bahnte. Ich musste rational denken. Ein Nachttopf wurde, dem Namen nach, in der Nacht verwendet, um sein Geschäft zu verrichten, damit sich faule alte Faltenpopos nicht auf die Toilette schleppen mussten. Also war es naheliegend, genau hier zu suchen, am schmalen Bett von Mrs Cunningham. Doch rund um das Schlaflager konnte ich nichts außer weitere Zeitschriften und Handtuchberge ausmachen. Blieb nur eines. Ich wollte das wahrlich nicht, ich war jedoch schon zu weit gekommen und würde vor dem nächsten logischen Schritt nicht zurückschrecken.

Also ging ich auf alle viere, um unter das Bett zu sehen. Die Tagesdecke hing bis zum Boden hinunter, was wenig hilfreich bei dem Unterfangen war. Ich hätte sie einfach zurückschlagen können, doch die Masse an Zierkissen mit gruselig niedlichen Katzenporträts darauf hinderte mich daran. Schlussendlich musste ich mich auf den Bauch legen und den Kopf unter den Wall aus Tagesdecke stecken.

Gott im Himmel, steh mir bei!

Staub kitzelte mich in der Nase, und ein stechender Geruch nach abgestandenem Urin trieb mir Tränen in die Augen. Allerdings verhieß der Gestank, bei dem ich in jeder anderen Lage definitiv auf der Stelle kreischend davongelaufen wäre, dass ich auf der richtigen Spur war. Zähne zusammenbeißen und durch, lautete die Devise.

Das Bett war derart niedrig, dass ich mir zweimal den Hinterkopf am Lattenrost anstieß. Den bestialischen Geruch würde ich bestimmt nicht mehr lange aushalten, darum kniff ich die Augen zusammen und tastete abermals blind in der Dunkelheit umher.

Vorhin im Bad hatte ich bereits eine Unterhose von Mrs Cunningham zwischen den Fingern, etwas Schlimmeres kann mich wohl kaum erwarten, redete ich mir selbst gut zu, um mir Mut zu machen. Sekunden später stieß ich auf ein glattes, kühles Teil, das einen Henkel hatte.

Jackpot!

Wenn es sich dabei nicht um eine überdimensionale Kaffeetasse handelte, hatte ich gefunden, wonach ich suchte. Mit angehaltenem Atmen zog ich mich rasch aus der stinkenden Höhle unter dem Bett zurück und beförderte den verdächtig schweren Nachttopf zutage. Es schwappte darin, und mir war danach, den Kopf in den Nacken zu legen und loszuschreien.

Da war er nun, der Nachttopf. Und jetzt? Vor meinem geistigen Auge sah ich Mr Cunningham auf einer Wolke sitzen und sich über mich schlapplachen. Würgend rappelte ich mich auf und hob die volle Schüssel mit dem schief sitzenden Deckel vorsichtig hoch. Bitte, bitte lass mich einmal in meinem Leben nicht ungeschickt sein und diese Büchse der Pandora versehentlich ausleeren!, flehte ich und kehrte mit meiner heiklen Fracht zurück ins Bad. Dort stellte ich den Topf neben die Seife in die Duschwanne, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte.

Das kalte Licht der Neonröhre über dem Waschbecken flackerte, während ich den Ekel verdrängte und beherzt nach dem Deckel des Nachttopfs griff. Eins, zwei, drei, zählte ich an und lüftete den Inhalt. Der Geruch nach altem Urin verstärkte sich, ansonsten passierte rein gar nichts. Die Schüssel war mit einer trüben gelborangen Flüssigkeit gefüllt. Ende.

Frustriert murrend setzte ich den Deckel wieder auf den Topf und fragte mich, was ich eigentlich erwartet hatte. Warum hatte ich der mysteriösen Nachricht von Mrs Cunningham auch unbedingt auf die Spur kommen müssen?

Über meine eigene Neugierde und die daraus resultierende Dummheit den Kopf schüttelnd, griff ich erneut nach dem Nachttopf, um ihn an seinen angestammten Platz unter dem Bett zurückzubringen. Sollte George doch die Freude haben, ihn auszuleeren. Als ich das Teil mit verdrossener Miene und verzogenem Mund anhob, raschelte es leise. Etwas blieb in der Duschwanne zurück. Mit dem widerwärtigen Nachttopf in der Hand, starrte ich auf einen weiteren gelben Klebezettel. Mein Herz machte einen Satz. Am liebsten wäre ich jubelnd im Kreis herumgehüpft. Zuerst musste ich allerdings den übelriechenden Pott loswerden.

Nachdem ich ihn wieder unters Bett geschoben hatte, schlich ich zurück ins Bad und pickte mit spitzen Fingern den Klebezettel aus der Wanne. Er war an einer Ecke feucht geworden. Das hinderte mich glücklicherweise nicht daran, das Wort darauf zu entziffern. Attic. Ich runzelte die Stirn. Attic – Dachboden. Mrs Cunningham hatte offenbar gewollt, dass ich den Zettel fand. Weiß Gott, warum sie mir nicht von Anfang an diese Nachricht durch den Briefschlitz gesteckt hatte. Die Antwort darauf war so simpel wie ärgerlich: Mrs Cunningham war eine alte, fiese Schrulle gewesen. Sie hatte mir jedoch ein Rätsel hinterlassen, und ich konnte nicht anders, als dem auf den Grund zu gehen.