Kapitel 1
»Sie bringen mich um«, sagte er.
Er war jung, vielleicht fünfundzwanzig. Er war ihr mit sinnlichem Schritt nach draußen gefolgt; sein Anzug Marke Armani umfasste ihn wie eine sündige Frau.
Die Angst wischte die abschätzige Fratze weg, die er vor fünf Minuten im Laden noch im Gesicht getragen hatte. Jetzt war er allein mit Josie Marcus auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in der Vorstadt von St. Louis. Sie gingen in einem Meer leerer Autos unter, die im herbstlichen Sonnenschein schmorten. Weder das mobile Publikum noch Josie kümmerte es, was mit dem Mann passierte.
»Ich flehe Sie an«, sagte er. »Tun Sie’s nicht.« Seine vollen Lippen zitterten. Seine Lippen waren so hübsch, wenn sie um Gnade flehten.
Josie versuchte, Mitleid mit dem Mann zu haben, doch sie dachte daran, wie verächtlich er sie in dem Laden angesehen hatte. Seine Oberlippe hatte sich gekräuselt wie eine gesalzene Schnecke, als ihm ihre billige Jeans aufgefallen war. Sie hatte sich seinetwegen geschlechtslos und unmodisch gefühlt. Er hatte sie praktisch weggestoßen, um einer falschen Blondine mit aufgeblasenen Brüsten nachzujagen.
Josie fragte sich, wie viele andere Frauen er schon so behandelt hatte. Er verdiente, was auf ihn zukam. Ein schnelles, schmerzloses Ende war zu gut für ihn.
»Tut mir leid«, meinte Josie. »Sie haben sich zu viele Fehler geleistet. Ich habe meine Befehle.«
Er packte ihre Hand. Er stank nach Angst, Schweiß und Herrenparfüm.
Josie riss ihre Hand zurück, doch nicht bevor sie bemerkte, dass seine weicher und zarter war. »Fassen Sie mich nicht an«, sagte sie, »oder es kommt noch schlimmer.«
»Warten Sie!«, flehte er. Schweiß floss seine Stirn hinunter. »Ich weiß nicht, was man Ihnen bezahlt, aber ich kann Ihnen mehr bezahlen. Wie viel wollen Sie? Wollen Sie meinen nächsten Provisionsscheck? Den können Sie haben. Und den danach auch. Bitte, bitte schreiben Sie den Bericht nicht, sonst bin ich am Ende.“
Sie sah sich sein Save-Chic-Namensschild an. »Tut mir Leid, Patrick«, sagte sie, »aber Sie kennen die Regeln. Sie müssen jeden Save-Chic-Kunden bedienen, egal, was er anhat. Bei Save Chic wissen wir, dass die moderne Schmuckkäuferin sich vielleicht nicht wie eine Millionärin anzieht, aber sie könnte wie eine bezahlen. Ich hab’ absichtlich eine billige Jeans und ein T-Shirt getragen, wie die Firma es vorgeschrieben hat, aber ich hab’ eine Uhr von Movado. Das ist gute Ware, Patrick. Das hätten Sie bemerken müssen.«
Sie fuhr mit den Anschuldigungen fort. »Man hätte mich an der Tür mit ›Willkommen im Save Chic Shop‹, begrüßen sollen. Stattdessen haben Sie mich abschätzig angeschaut. Ich hab mich Ihretwegen minderwertig gefühlt, Patrick. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte Sie nicht dazu bringen, mich zu bedienen, während Sie sich auf die junge Blondine in dem geschmacklosen Versace gestürzt haben. Sie hat nichts gekauft, oder? Aber ich hab’ die Herzhalskette aus Sterlingsilber für zweihundert Dollar gekauft.« (Die Halskette war eine Imitation der berühmten Herzkette von Tiffany, fünfzig Dollar billiger als das Original, doch das zu erwähnen wäre nicht höflich gewesen.)
»Ich musste Sie anflehen, mein Geld zu nehmen, nicht wahr, Patrick?« Josie sah ihm in die Augen. Patrick zuckte zusammen. Er wusste, dass es so war.
»An der Kasse hätten Sie mich auf die achtzehnkarätigen Goldohrringe im Angebot hinweisen sollen, haben Sie aber nicht. Sie hätten mich fragen sollen: ›Haben Sie die Save-Chic-Kundenkarte? Für nur fünfundzwanzig Dollar bekommen Sie zehn Prozent Rabatt auf jeden Einkauf.‹ Sie haben es abgekürzt.«
»Es standen noch mehr Kunden an«, meinte Patrick. Seine träge Langeweile war doppelzüngiger Verzweiflung gewichen. »Die Leute hassen diese blöde Leier. Die wollen einkaufen und abhauen.«
»Tut mir leid, Patrick«, sagte Josie. »Meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass Sie den konzerneigenen Verkaufsvorgang befolgen. Woher wussten Sie, dass ich eine Testkäuferin bin?«
»Nur Testkäufer wollen das ganze Save-Chic-Kundenkartengerede hören«, meinte Patrick. »Alle anderen versuchen es zu unterbinden, sobald wir anfangen.«
Patrick fiel auf die Knie. Igitt, dachte Josie, jetzt bettelt er.
»Bitte, ich flehe Sie an,« sagte er. »Geben Sie Ihren Bericht nicht ab. Sie haben es in der Hand. Sie können mich retten. Man wird mich rauswerfen. Ich bin schon auf Probe. Meine Chefin sucht schon nach einem Grund mich loszuwerden. Sie ist alt und sie hasst mich.«
Sie ist fünfunddreißig, du Depp, wollte Josie sagen. Sie ist nur vier Jahre älter als ich, aber sie altert schnell, weil sie für Leute wie dich verantwortlich ist.
»Bitte, meine Mutter ist krank«, bettelte er. »Sie muss operiert werden. Sie hat nur mich. Wenn ich keine Arbeit habe, kann ich ihr nicht helfen.«
»Stehen Sie auf, Patrick«, sagte sie. »Sie ruinieren Ihren Anzug. Den werden sie für Ihre Vorstellungsgespräche brauchen.«
»Blöde Kuh!«, entfuhr es Patrick, während er sich die Knie abstaubte.
»Ich wette, das sagen Sie zu allen Mädels«, sagte Josie.
Sie sah zu, wie er schnurstracks auf das Einkaufszentrum zuging. Kranke Mutter, na klar. Josie war in neun Jahren nur dreimal aufgeflogen. Jedes Mal war es ein Mann gewesen und jedes Mal hatte er behauptet, er sei der einzige, der seine kranke, alte Mutter unterstützte. Josie vermutete, Patrick unterstützte tatsächlich eine fette, alte Kreditkartenfirma. Er war wahrscheinlich bis über beide hübsche Ohren verschuldet mit Spielzeugen für Kerle: eine hochmoderne Lautsprecheranlage, ein Plasma-Fernseher, ein geiles Auto, coole Klamotten. Ihr Bericht würde Patrick einen Strich durch die Rechnung machen.
Er hätte sich nicht mit Geheimkundin Josie Marcus anlegen sollen, dachte sie.
Die Testkäuferin ist der Spion der Vorstadt. Ich verdiene mein Geld mit Shoppen. Ich werde dafür bezahlt, etwas zu tun, was andere Frauen der Freude wegen machen. Besser als die anderen Möglichkeiten. Ich bin eine gewöhnlich aussehende Frau mit drei Jahren Uni und ohne Fachausbildung. Ich könnte mein Geld im Verkauf, mit Pommesschaufeln oder als Putzfrau verdienen.
Testkäuferin ist die aufregendste Arbeit, die ich machen kann. Die Leute halten es für äußerst glamourös. Da muss ich immer lachen, besonders am Tagesende, wenn meine Füße wehtun, weil ich zehn Meilen durch die Einkaufszentren gelaufen bin, und mein Hals und meine Augen vom stundenlangen Fahren schmerzen. Manchmal sitze ich dreihundert Meilen lang am Steuer.
Wozu also das Ganze?
Josie liebte die Dramatik.
Wie jeder gute Spion konnte Josie ihr Äußeres verändern. Sie hatte einen Schrank voller Verkleidungen. An einem Tag war sie eine hochnäsige Dame, die Prada trug und in Designerboutiquen einkaufte. Am nächsten Tag war sie ein Landei im Neckholder, das durch Billigläden schlurfte. Sie liebte die Verkleidungen, obwohl einige davon ihrer Mutter peinlich waren.
Josie liebte die Gefahr.
Ladenarbeiter mochten Testkäufer nicht. Beim letzten Mal, als Josie aufgeflogen war, hatte sie einen Kassierer auf frischer Tat bei einem Umtauschschwindel ertappt. Der diebische Angestellte erkannte, dass Josie eine Testkäuferin war, folgte ihr auf den Parkplatz und drohte damit, sie zu verprügeln. Josie wählte 911 auf ihrem Handy und der Verkäufer nahm Reißaus. Weder der Ladenbesitzer noch Josie sahen den Typen je wieder.
Nun gut, sie war nicht James Bond, doch ihr Job war spannender als bei Kmart hinter der Kasse zu stehen. Testkäufer waren schon bedroht, bestochen und zusammengeschlagen worden. Der bloße Gedanke brachte ihr einen kleinen Nervenkitzel. Bei den meisten anderen Jobs würde sie vor Langeweile sterben.
Darüber hinaus war Josie äußerst pflichtbewusst. Sie sah es als ihre Aufgabe an, dem Durchschnittseinkäufer Freund und Helfer zu sein.
Einkäufer wie diese da, dachte Josie. Sie sah einer ungefähr vierzigjährigen Frau zu, die mit ihren sperrigen Einkaufstaschen zu kämpfen hatte. Sie sah ordentlich aus in ihrer sauberen Khakihose und dem rosa Pullover, doch Verkäufer wie Patrick würden sie kein zweites Mal anschauen. Die Frau schob die Taschen in ihren blauen Minivan, wobei sie Hockeyschläger und Kindersitze umverteilte, um Platz für sie zu schaffen.
Frau Minivan war die unbesungene Einkäuferin, das Rückgrat der amerikanischen Wirtschaft, die Pointe tausender Witze. Frau Minivan stand am Morgen nach Thanksgiving um fünf Uhr auf, damit sie als Erste um die weihnachtlichen Spielzeugschnäppchen bei Target Schlange stehen konnte. Frau Minivan begab sich mutig unter die mürrischen Menschenmengen der Nachweihnachtszeit, um Feiertagsdekorationen um fünfundsiebzig Prozent billiger zu kaufen. Dann lagerte sie diese fürs nächste Jahr ein.
Das war die Frau, für die Josie Testkäufe tätigte. Sie meinte, Frau Minivan verdiene das Beste. Normalerweise bekam sie es nicht. In Josies neun Jahren als Testkäuferin hatte sie genug Papierkram ausgefüllt, um die Mall of America zu tapezieren.
Was war aus ihren Berichten geworden? Nichts, in den meisten Fällen. Sie vermutete, dass viele Firmen diese einfach zu den Akten legten. Aber nicht immer. Testkäufer waren überarbeitet, unterbezahlt und von den Läden, für die sie arbeiteten, verachtet. Manchmal jedoch hatten sie die Zügel in der Hand. Dann rollten Köpfe. Inkompetente Geschäftsleiter verloren aufgrund ihrer Berichte ihre Prämien. Unhöfliche Verkäufer verloren ihre Arbeit. Wenn die Läden ihr Geschäft ernsthaft verändern wollten, dann war Josies Bericht das letzte Wort. Dagegen konnte man keine Berufung einlegen.
Save Chic hatte ein ernsthaftes Personalproblem. Nachdem die Firma im Wall Street Journal in der Liste der „zehn unfreundlichsten Ladenketten Amerikas“ genannt worden war, waren ihre Aktien um sieben Punkte gefallen. Die Kette stellte Testkäufer ein. Patrick, der unhöfliche Verkäufer, hatte Recht. In der Zentrale würde man an die Decke gehen, wenn man ihren Bericht sah. Er war einer der Verkaufsmitarbeiter, die den Ruf der Kette ruiniert hatten. Man würde ihn feuern.
Josie fühlte sich nicht schuldig. Es gab genügend gute Verkäufer, die Patricks Job machen konnten. Josie musste sich um Frau Minivan sorgen.
Frau Minivan, die ihre Pakete mittlerweile sicher verstaut hatte, blickte auf ihre Uhr, schwang sich auf den Fahrersitz und brauste davon. Sie hatte es sehr eilig.
Josie schaute auf ihre eigene Uhr. Ein Uhr. Sie sollte sich besser auf den Weg machen. Schade, dass sie den silbernen Reif für 250 Dollar aus diesem Save Chic nicht behalten durfte. Sie musste ihn bei einem anderen Save Chic abgeben. Die Leute glaubten, Testkäufer durften die Designerkleidung und -schuhe, die sie bei der Arbeit kauften, behalten. Keineswegs. T-Shirts aus Billigläden, Jeans und Kinderkleidung vielleicht. Teure Artikel aber wanderten zurück, oft, um den Umtauschvorgang eines Ladens zu überprüfen. Wenn Josie überhaupt Einkaufsgeld bekam, war es so wenig, dass man sich schämen konnte. Manchmal war der schwerste Teil ihres Jobs, fünfundzwanzig Dollar in einer gehobenen Boutique auszugeben.
Bevor sie das Auto anließ, verschloss Josie die Türen, dann holte sie die knallrosa Save-Chic-Tasche hervor. Sie öffnete die samtene Schmuckschachtel, starrte auf die silberne Halskette und seufzte. Das Sterlingsilber schien wie Mondlicht.
Vor zehn Jahren hatte Nathan ihr Halsketten wie diese gekauft. Sie hatte so viele hübsche Dinge gehabt, so viele gute Zeiten. Nun war alles weg. Alles, was ihr von ihrer Liebe übrigblieb, war Amelia, ihre neun Jahre alte Tochter.
Amelia war der Hauptgrund dafür, dass Josie als Testkäuferin arbeitete. Die Bezahlung war lausig. Sie wurde von ihrem Chef schikaniert. Sie hätte zurück auf die Uni gehen und einen besseren Job finden können, doch Testkäuferin zu sein hatte einen großen Vorteil: flexible Arbeitszeiten. Josie wollte bei ihrer Tochter sein. Sie konnte Amelia keinen Vater bieten, doch Josie konnte ihrer Tochter ihre eigene Zeit schenken. An den meisten Tagen konnte Josie Amelia in die Schule bringen und abholen. Sie hatten Zeit Hausaufgaben zu machen, zu Abend zu essen und sogar Spaß zu haben, vorausgesetzt dass Josie nicht auf Parkplätzen vor Einkaufszentren saß und über die Vergangenheit seufzte.
Sie schloss die rosa Schachtel und machte sich auf zum Save Chic in der St. Louis Galleria. Sie würde sich blöd vorkommen, wenn sie die Halskette eine Stunde, nachdem sie sie gekauft hatte, zurückbrachte. Der Verkäufer würde die Zeit auf dem Kaufbeleg sehen.
Aber so kam es nicht. Im selben Augenblick, als Josie den Save Chic betrat, wusste sie, dass alles gutgehen würde. Der knallrosa Teppich war frisch gesaugt. Die Spiegel glänzten. Die schwarz lackierten Vitrinen waren frei von Fingerabdrücken. Am Kronleuchter hing keine einzige Spinnwebe.
Eine schlanke Afroamerikanerin mit einem Namensschild, auf dem »CAROLEENA« stand, hieß Josie an der Tür willkommen. Die rosa Tasche in Josies Hand bedeutete undankbaren Papierkram, doch Caroleena bediente sie trotzdem. »Eine Frau darf immer ihre Meinung ändern«, sagte sie. »Also, gibt es noch etwas, was ich Ihnen heute zeigen darf?«
Caroleena würde eine glänzende Bewertung bekommen. Josie gefiel dieser Teil ihres Jobs – der, bei dem sie die Guten belohnte. Caroleena würde sich anständig um Frau Minivan kümmern.
Es war nach zwei Uhr, als die Formalitäten für den Umtausch erledigt waren und Josie wieder in ihrem Auto saß. Sie kam knapp rechtzeitig bei der Barrington School for Boys and Girls an. Sie fuhr in die lange, gebogene Einfahrt und stellte sich in die Schlange hinter die anderen Mütter. Josie aus Maplewood konnte nicht glauben, dass sie eine Tochter in der vornehmsten Privatschule der Stadt hatte. Sie liebte die roten Backsteingebäude der Barrington mit ihrer reinweißen Umrahmung. Sie versprachen eine gute Zukunft. Amelia würde einmal Ärztin, Rechtsanwältin oder Firmenchefin werden. Sie würde keine Testkäuferin sein wie ihre Mutter. Josies Tochter würde einen Beruf ausüben. Niemand sagte: »Wenn ich einmal groß bin, will ich Testkäufer werden.« Es war etwas, wo die Leute – hauptsächlich Frauen – hineinfielen, wenn sie Kinder bekamen und Geld brauchten.
»Amelia Marcus«, kündigte die Direktorin an und Josies Tochter kam mit ihrem schweren, dunkelgrünen Rucksack herausgerannt. Amelias lange Haare flogen ihr nach. Ihre blaue Hose hatte Grasflecken auf den Knien und ihre Bluse war nicht hineingesteckt. Josie hoffte, dass ihre Tochter nicht in ein Gerangel verwickelt worden war.
Amelia plumpste ins Auto und zog ihren Rucksack und ihre Jacke hinter sich her.
»Hast du heute viele Hausaufgaben?«, fragte Josie.
»Nicht mehr als sonst«, meinte Amelia.
»Dann ist es, mein’ ich, Zeit für eine Guerilla-Gorilla-Expedition.«
»Klasse!«, meinte Amelia. Ihr gefiel das Affengehege »Jungle of the Apes« im Zoo von St. Louis. Sie konnten ihn von ihrer Wohnung aus praktisch zu Fuß erreichen. Nun ja, das war vielleicht etwas übertrieben, doch er lag sehr nahe. Josie hatte keine Zeit für viele Tagesausflüge, also fingen sie an, ungeplant für ein oder zwei Stunden nach der Schule im Zoo vorbeizuschauen. Josie bezeichnete das als Guerilla-Gorilla-Expeditionen.
»Ich rufe noch deine Großmutter an und sage ihr, wo wir sind«, sagte Josie und öffnete ihr Handy.
»Sie wird sagen, wir sollen uns vor dem Abendessen nicht den Appetit mit dem Fraß aus dem Zoo verderben«, meinte Amelia.
»Du kannst die Zukunft vorhersagen, o große Weise«, sagte Josie, als sie auflegte.
»Das sagt Grandma immer«, entgegnete Amelia im Ernst.
Josie erwischte einen freien Parkplatz an der Straße nahe dem Zoo. Sie raschelten durch die abgefallenen Platanenblätter zum belaubten, verglasten Affengehege. Die Käfige mit den nackten Gitterstäben gab es lange nicht mehr. Diese Gorillas lebten in einem vorgetäuschten Wald. Amelia konnte dem großen Silberrücken und seinen Gefährtinnen stundenlang zusehen.
»Ich mag die Affen«, sagte Amelia.
»Mir gefallen Pinguine persönlich besser«, meinte Josie.
»Magst du die kleinen Gorillababys nicht?«, fragte Amelia.
»Die sind niedlich«, sagte Josie, doch sie konnte den erwachsenen Tieren nicht in ihre traurigen Augen schauen.
Sie sahen den Gorillas fast eine halbe Stunde lang zu. Dann gingen Mutter und Tochter hinaus und aßen heiße Brezeln und eiskalte Cola, während die Seelöwen sich sonnten. Der Tag war warm, doch Josie konnte die darunterliegende Kälte spüren, als die Sonne anfing unterzugehen.
»Zieh deine Jacke an, Amelia«, sagte sie. Ausnahmsweise gab Amelia keine Widerworte.
»In der Schule haben sie gesagt, dass unser Zoo einer der besten auf der ganzen weiten Welt ist«, sagte Amelia.
»Da haben sie Recht.«
»Sogar besser als der in New York?«, fragte Amelia.
»New York sieht mit uns verglichen wie ein Hundezwinger aus«, antwortete Josie.
Amelia lachte nicht. »Ich dachte, in New York ist alles gut.«
»Da gibt es weder dich noch mich noch den Zoo von St. Louis«, sagte Josie.
Da kicherte Amelia endlich. »Wie war dein Tag?«, fragte sie mit einem jener plötzlichen Wechsel zum Erwachsenen.
Josie antwortete ihrer Tochter mit gleichem Ernst: »Gut und schlecht. Das Gute war, dass ich eine sehr nette Verkaufsangestellte getroffen habe und einen guten Bericht über sie schreiben kann. Aber in einem anderen Laden habe ich einen echt gemeinen Kerl getroffen. Der ist mir auf den Parkplatz gefolgt.«
»Hattest du Angst?«, fragte Amelia. Kleine Runzeln verzerrten ihre zarte Stirn. Josie wünschte, sie hätte es nicht erwähnt. Amelia machte sich von Natur aus Sorgen.
»Ich fürchte keinen Mann«, sagte Josie und hielt ihre eiskalte Cola wie ein Schwert in die Höhe. »Und auch keine Frau, außer deiner Großmutter. Wisch dir also den Brezelsenf vom Mund, sonst weiß sie, dass wir Zoofraß gegessen haben.«
»Sie wird’s so oder so wissen, wenn wir nicht zu Abend essen«, entgegnete Amelia. »Was hat der böse Mann getan, als er dir auf den Parkplatz gefolgt ist?«
Ihr Kind ließ sich nicht ablenken. Das hatte es von seinem Vater.
»Er wollte, dass ich es überdenke und einen guten Bericht über ihn schreibe.«
»Hast du aber nicht, oder?« Mit neun hatte Amelia feste Vorstellungen von Recht und Unrecht.
»Ich ändere keine Berichte«, sagte Josie. »Niemals. Aus keinem Grund, egal, wie viel Ärger es bedeutet. Recht ist Recht.«
Josie würde sich in den nächsten Wochen an ihre Antwort erinnern, wenn drei Menschen tot waren. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre, wenn sie ihren Bericht etwas abgeschwächt hätte, wären manche von ihnen dann noch am Leben?
Zum Glück stellte Amelia ihr nie diese Frage.
Kapitel 2
Josie zog das Blatt aus dem Faxgerät in ihrem hauseigenen Büro und las ihren Geheimauftrag ab.
Danessa. Plaza Venetia. Zwischen 10:00 und 10:30 Uhr.
Danessa. Einkaufszentrum Covington. Zwischen 11:30
und 12:30 Uhr.
Danessa. Einkaufszentrum Greenhills. Zwischen 13:00
und 14:30 Uhr.
Zwei Tage hintereinander einkaufen. Zeiten am zweiten
Tag von unten nach oben wechseln.
Es musste wichtig sein, wenn ihr Chef es selbst faxte. Und geheim noch dazu, sonst würde Harry seine Sekretärin damit beauftragen. Josie hatte ihn noch nie einen Finger an ein Faxgerät legen sehen. Er schickte Josie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu den Danessa-Läden in drei der vornehmsten Einkaufszentren im St. Louis County. Was war da los? Bestimmt ging es um den Vertrag mit Creshan. Sie sah sich die Kundeninformation an. Richtig. Genau so war es. Die Meldung lief seit zwei Tagen überall in den Nachrichten.
Danessa Celedine, eine bekannte ortsansässige Schönheit, kreierte vorzügliche Handtaschen und verkaufte sie in ihren drei Läden neben anderen Designerhandtaschen.
Danessa war der Star auf jedem gesellschaftlichen Event in St. Louis. Sie erschien wunderschön zurechtgemacht mit ihrem russischen Liebhaber Serge. Ihre Handtaschen konnten fünftausend Dollar und mehr kosten, wobei die Kundschaft weltbekannt war und weit über die Stadt hinaus ging. Reese Witherspoon war im People-Magazin auf einem Foto mit einer Danessa-Tasche in der Hand zu sehen. Gwyneth Paltrow hatte eine silberne Danessa-Handtasche bei den Oscars dabei.
Josie kannte keine Frau, die ihre Geldbörse für eine fünftausend Dollar teure Handtasche öffnete, aber Danessa sehr wohl. Sie verstand den Markt so gut, dass ihre Läden bald an die Creshan Corporation verkauft werden sollten. Diese hatte vor, eine landesweite Kette daraus zu machen.
Der Großkonzern wollte Danessa Celedine einen Dienstvertrag anbieten, sodass sie als Sprecherin verbleiben würde. In der St. Louis Gazette hieß es, der Vertrag belaufe sich auf fünfzig Millionen.
Doch die Zeitungen – und Danessa – wussten nicht, dass die Creshan Corporation Josies Firma Suttin Services engagiert hatte, um Testkäufe bei Danessa zu tätigen, bevor das Geschäft abgeschlossen wurde. Josie konnte einen kleinen Nervenkitzel nicht unterdrücken. Fünfzig Millionen Dollar hingen an Josie aus Maplewood. Das Schicksal der reichsten Frau der Stadt hing von einer Unbekannten aus einem unbedeutenden Stadtteil ab.
Josie wusste, welche Verkleidung sie tragen musste, wenn sie bei Danessa einkaufte. Sie würde das Modeopfer geben. Ach, es war die Rolle, die sie am wenigsten mochte. Die Verkleidung schmerzte von Kopf bis Fuß. Besonders am Fuß.
Wer verdienen will, muss fühlen, dachte Josie sich.
Sie schob ihre glatten, kurzgeschnittenen braunen Haare unter die dicke, schwere, blonde Perücke. Dann schminkte sie sich ordentlich. Als Nächstes zwängte sie sich in eine formgebende Strumpfhose. Alles ganz furchtbar.
Josies roter Hosenanzug von Escada war mit goldenen Tressen und Knöpfen bedeckt. Ich sehe aus wie ein Michael-Jackson-Doppelgänger, dachte sie.
Als letzte Folter quetschte Josie ihre Füße in extraspitze Riemchenpumps von Prada. Sie zuckte zusammen, als ihre Zehen in ein gleichschenkliges Dreieck gepresst wurden. Herrje, diese Schuhe taten weh, und der Schmerz würde nur noch schlimmer werden. Sie musste Meilen über Marmor zurücklegen.
Josie sah sich in ihrem Schlafzimmerspiegel an.
Ziemlich gut, dachte sie. Beinahe den Schmerz wert. Mit einunddreißig war sie noch jung und dünn genug, um als menschliche Trophäe durchzugehen, wenn sie nicht vergaß, die Hüften zu schwingen und mit ihrer schulterlangen Perücke zu spielen.
»Nicht schlecht«, sagte sie hörbar. »Zumindest wirft man mich nicht aus dem Plaza Venetia.«
»Und wie viele Karrieren vernichtest du heute, Josie?«
Josie erschrak. Ihre Mutter, Jane Marcus, stand mit den Händen an den Hüften an der Schlafzimmertür.
»Ach, Mom, ich vernichte keine Karrieren.«
»Doch, das tust du.« Jane verzog den Mund zu einer geraden Linie, was bedeutete, dass mit ihr nicht zu diskutieren war. »Das sagt meine Freundin Edie. Die arbeitet bei Bluestone’s. Nicht weil sie muss. Edie will nur nicht zu Hause sitzen.«
»Klar«, sagte Josie, als sie ihre goldenen Ohrringe ansteckte. »Jede sechzigjährige Frau liebt es, vierzig Stunden die Woche im Kaufhaus zu stehen.«
Josies Mutter ignorierte sie. »Edie weiß ohne Zweifel, dass eine Verkaufsmitarbeiterin bei Bluestone’s gefeuert wurde, nachdem ein Testkäufer vorbeikam. Nur weil sie meinte, sie sei zu beschäftigt, ihr die Kaschmirpullover zu zeigen. Sie war siebenundzwanzig Jahre bei Bluestone’s und das war der Dank dafür.«
»Mom, Mom,« sagte Josie, »du regst dich völlig grundlos auf. Ich mache keine Testkäufe für Bluestone’s.«
»Du bist wie die CIA. Machst dein schmutziges Geschäft im Geheimen ohne Rechenschaft abzulegen.«
»Das bin ich, Mom. Josie Marcus, Kaufhaustussi mit der Lizenz zum Töten. Ich muss los, sonst komm ich zu spät.«
Josie sah ihre Mutter an, wie sie mit sturen Zügen dastand. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Jane war eine Kämpferin. Sie hatte schwer für Josie gekämpft, doch Kämpfern fiel es oft nicht leicht aufzuhören.
»LDD, Mom«, sagte sie.
»Ich will aber nicht«, meinte ihre Mutter und streckte die Unterlippe vor wie Amelia.
Josie lachte. »Du musst aber. Familienordnung.«
»LDD« stand für »Lass dich drücken«. Seit Josie ein kleines Mädchen gewesen war, war es so, dass, wenn ein Familienmitglied »LDD« sagte, man sich umarmen musste. Es war eine heilige Regel. LDD hatte schon viele Streitereien geschlichtet.
Jane lachte ebenfalls. Josie hielt ihre Mutter fest, roch ihr Shampoo und ihr Puder von Estée Lauder, sah die Altersflecken auf ihren Händen. »Danke, Mom. Ich weiß zu schätzen, was du für mich tust.«
Jane seufzte. »Ich habe nicht so viel geopfert, damit du als Industriespionin arbeiten kannst.«
»Mein Job ist es, den Kunden zu helfen. Ich stelle sicher, dass sie guten Service bekommen.«
»Von all der Heimlichtuerei kann nichts Gutes kommen«, sagte ihre Mutter. »Ich könnte dir einen Job bei der Bank besorgen, Josie. Einen guten Job, bei dem ich stolz auf dich sein kann.«
Josie wusste, dass sie diese Diskussion nicht gewinnen konnte. »Ich muss nachsehen, ob Amelia ihr Frühstück gegessen hat. Mein erster Auftrag ist ganz im Westen. Ich muss früh los.«
»Man darf das Kind doch nicht so drängen«, meinte ihre Mutter. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Sie muss ihr Essen erst verdauen. Ich bringe sie rechtzeitig zur Schule. Fahr du nur.«
Josie konnte ihrer Mutter nie lange böse sein. Wegen Janes Großzügigkeit funktionierte ihr eigentümlicher Haushalt. Sie wohnten im Zweifamilienhaus ihrer Mutter. Ihre Mutter hatte den oberen Teil und Josie und Amelia wohnten im unteren Stock.
»Danke, Mom«, sagte Josie. »Bye, Amelia! Dein Pausenbrot ist in deinem Rucksack. Hab’ dich lieb.« Sie lief in die Küche, um ihre Tochter zu küssen, dann hastete sie zum Auto.
Mütter. Man kommt mit ihnen nicht aus, aber ohne sie auch nicht, dachte Josie. Die Worte ihrer Mutter taten noch immer weh. Die alten Zweifel brodelten in ihrem Kopf. Ich werde nicht darüber grübeln. Ich lebe mein Leben, nicht das meiner Mutter.
Josie stieg in ihren unauffälligen grauen Honda Accord – selbst ihr fiel es schwer, ihn auf Parkplätzen zu finden – und fuhr auf den Highway 40. Ach nein, die I-64. Wie die meisten Bewohner von St. Louis lebte Josie etwas in der ruhmreichen Vergangenheit der Stadt. Wenn etwas umbenannt wurde, verwendete sie weiterhin den alten Namen. Das machte es einem Außenseiter schwer, etwas zu finden, doch St. Louis war eine Stadt für Eingeweihte.
Der Highway 40 war das Tor zu den reichen Vorstädten im Westen und zu den drei Einkaufszentren, in denen sie heute einkaufen würde. Die Einkaufszentren waren der Grund, aus dem sie sich in eine formgebende Strumpfhose gequetscht hatte. Josie hatte da ihre eigene Theorie: je gehobener das Einkaufszentrum, desto dünner die Kunden. Fünfundsiebzig Prozent der amerikanischen Erwachsenen mochten übergewichtig sein, aber nicht in den hochpreisigen Einkaufszentren. Fett zu sein war die höchste gesellschaftliche Sünde für die Reichen.
Als Erstes fuhr sie zum Plaza Venetia, »wo die Besten am Besten einkaufen«.
Josie wusste nicht, ob die Leute die besten waren, aber sie waren definitiv die weißesten. Der Plaza Venetia war weißer als eine Wäscherei des Klans. Das Einkaufszentrum sah aus wie aus Vom Winde verweht, nur noch ärger; riesige Rundbauten mit weißen Säulen und nutzlosen Balkonen, Fenstertüren, die zu nichts führten, venezianische Fenster, die Parkplätze überblickten.
Drinnen gab es einhundert exklusive Läden und Restaurants, einschließlich Danessa.
Da begriff Josie.
Ihre Mutter war ein eingefleischter Fan von Danessa Celedine. Was, wenn Josie einen schlechten Bericht über Danessa schreiben musste? Gott sei Dank unterlag ihre Arbeit der Geheimhaltung. Jane würde niemals erfahren, dass ihre verräterische Tochter ihre geliebte Danessa ausspionierte.
Jane meinte, Danessa sei die Antwort von St. Louis auf Martha Stewart und Prinzessin Diana – vor deren Unglücksfällen natürlich. Danessa war für ihre Wohltätigkeit bekannt. Danessa gewann Janes unsterbliche Hingabe, als sie der Sammlung für die Reparatur der Orgel in ihrer Kirche eintausend Dollar spendete. Danach war Jane dem wachsenden Chor beigetreten, der Danessa Lobeshymnen sang.
Danessa wurde in Schlagzeilen in jeder örtlichen Zeitung und Zeitschrift erwähnt und auch in einigen überregionalen, einschließlich der New York Times. Mädchen an Amelias Schule machten Sammelbücher über Danessa. Ihre eigene Tochter nicht, Gott sei Dank. Es war schwer genug, mit Janes Heldenanbetung auszukommen.
»Wie elegant«, seufzte Jane, wenn sie Danessas Foto in der Zeitung sah.
»Wie großzügig«, sagte Jane, wenn in den Fernsehnachrichten zu sehen war, wie Danessa einen Scheck für ein Kinderheim unterschrieb.
»Wie gescheit«, staunte Jane, wenn sie über den Vertrag mit Creshan las. »Danessa hat etwas aus sich gemacht.«
Josie hörte den Rest dieses unausgesprochenen Satzes: Und du nicht.
Da hast du’s, Mom, dachte Josie. Ich fälle das Urteil über die wunderbare Danessa. Aber sagen konnte sie nichts. Würde sie auch nicht. Josie hatte ihre Prinzipien. Außerdem erwartete sie keinen Ärger. Sie hörte nie einen Mucks gegen Danessa. Andererseits war sie noch nie in einem Danessa-Laden gewesen. Sie konnte es sich nicht mal leisten vorbeizuschauen.
Josie fuhr auf den Parkplatz des Plaza Venetia und schaute auf die Uhr: 10:00 Uhr. Sie vermerkte die Uhrzeit auf dem Fragebogen, sowie die Wetterverhältnisse: sonnig und heiß. In St. Louis fühlte sich der Spätseptember wie August an. Selbst das gut gepflegte Gras um das Einkaufszentrum war an den Ecken gelb und die Balsaminen sahen schlaff aus.
Dann schaute sie sich die Fragen an. Josie durfte den Fragebogen nicht in den Laden mitnehmen, aber es half, die Fragen nochmal durchzugehen.
War der Laden sauber und ordentlich?
Waren die Auslagen gut zusammengestellt?
Waren die Tresen, Regale und Schaukästen frei von Staub und Fingerabdrücken?
War der Korb mit Danessas Autogrammfotos gut sichtbar platziert?
Waren die WC-Anlagen sauber? War genügend Papier in den Kabinen und im Papierspender?
Wurden Sie begrüßt, als Sie den Laden betraten?
War die Begrüßung freundlich?
Waren die Verkaufsmitarbeiter ordentlich angezogen?
Kannten sich die Verkaufsmitarbeiter mit den Waren aus? Konnte Ihr Verkaufsmitarbeiter diese drei Fragen über das Produkt beantworten:
1. Designer oder Herkunftsland?
2. Preis?
3. Besondere Eigenschaften?
Als Sie Ihren Kauf tätigten, hat der Verkaufsmitarbeiter Sie um Ihren Führerschein und Ihre Telefonnummer gebeten?
Wie hieß Ihr Verkäufer?
Hat der Verkaufsmitarbeiter sich bei Ihnen für den Einkauf bei Danessa bedankt?
Allesamt sinnvolle Fragen. Da würde sogar ihre Mutter zustimmen.
Josie würde ihr Einkaufserlebnis auch von »mangelhaft« bis »hervorragend« bewerten und dann eine Kurzzusammenfassung schreiben müssen. Sie hatte fünfundzwanzig Dollar zum Ausgeben pro Laden.
Was soll ich bei Danessa denn jemals dafür kaufen? Fragte sie sich. Ganz bestimmt keine Handtasche. Na ja, sie würde sich etwas einfallen lassen.
Josie stolzierte auf ihren hohen, schnittigen Absätzen in den Plaza Venetia und fühlte sich sofort beschwingt. Einige gehobene Einkaufszentren pumpten wie Kasinos Sauerstoff in die Luft. Die Lautsprecher spielten tatsächlich ein Lied aus ihrer Teenagerzeit. Josie hatte die vierzig Jahre alten, zum Großteil toten Bands satt, die die ältere Generation bevorzugte.
Die Wände im Plaza Venetia waren geschmackvoll cremeweiß und beige gestrichen und wurden stetig erneuert. Alles war übertrieben sauber. Kronleuchter aus Muranoglas – große, leuchtende Schalen, die an schweren Silberketten hingen – blitzten und funkelten im Licht. Geräuschdämpfende Dschungel erwuchsen aus Marmorbeeten. Brunnen plätscherten leise.
Die innere Ruhe des Shoppens.
Während sie die Treppe hinaufging, dachte Josie über die Bedeutung der Handtasche nach. Der Schuh mag die Sexualität einer Frau darstellen, doch die Handtasche ist ihr Ich. Ist die Frau jung und verspielt? Dann hat sie eine kleine, sexy Handtasche. Ist sie älter und trägt die Lasten des Familienlebens? Dann hat sie eine dicke Oma-Handtasche voll tröstender Dinge von Pflastern bis hin zu Babyfotos. Geht es ihr ums Geschäft? Dann sieht man es an ihrer Tasche Marke Coach. Ist sie modebewusst, dann muss sie sich entscheiden, ob Prada, Gucci oder Kate Spade am besten zu ihrem Stil passt.
Josie schaute nochmal auf die Uhr, woraufhin sie sich auf den Einkauf am Zielobjekt vorbereitete.
Bei Danessa sah es eher nach einer Kunstgalerie als nach einem Handtaschenladen aus. Es hatte nichts von dem heiteren Durcheinander eines Billigladens. Die Wände waren einfach weiß gestrichen. Überteuerte Handtaschen waren auf Plexiglasständern ausgestellt wie die Kunstwerke, die sie waren.
Josie bewunderte das geschickte Perlenmuster und den kunstfertigen Verschluss der Abendtasche im Fenster. Sie verschluckte sich fast an dem unauffälligen Preisschild – »5000« stand einfach darauf, doch das sagte viel aus. Die Tasche hatte die derzeit angesagte Farbe: Zitronengelb. Was nächstes Jahr, wenn das nicht mehr die Farbe war? Spendete man eine veraltete Handtasche der Wohltätigkeit oder hielt man ein Begräbnis für sie ab?
Ein Foto von Reese Witherspoon mit ihrer Danessa-Tasche hing samt Autogramm über demselben Modell. Ein weiteres Foto zeigte Madonna, wie sie eine Tasche von Louis Vuitton und Takashi Murakami trug. Die Tasche stand auf einem Plexiglasständer. Josie dachte, sie hatte eine unvorteilhafte Ähnlichkeit mit der Handtasche für alte Frauen, die ihre Mutter bei Marshalls gekauft hatte.
Alle Gürtel und Handtaschen in Danessas eigener Linie hatten den leicht wiedererkennbaren Verschluss mit dem diamantenen D. Josie begutachtete sie und fand, dass einige von Danessas Taschen für solch teure Ware schludrig verarbeitet waren. Eine hatte einen schlecht angenähten Riemen, der aussah als würde er leicht abbrechen. Die Perlen an einer Abendhandtasche waren glanzlos. Billige Plastikperlen, dachte Josie, die man für den Preis von Glasperlen verkaufte. Eine dritte Ledertasche hatte schiefe Nähte. Sie schaute in die Tasche. Das Etikett gab das Herstellungsland als Italien an, die Heimat guten Lederhandwerks. Das bezweifelte sie. Na ja, es war nicht ihr Job, die Ware zu bewerten.
Eine Handtasche in der Form eines eckigen Kartons aus einem Chinarestaurant stand auf einem weiteren Plexiglasständer. Josie verschluckte sich, als sie das Preisschild mit »3900« sah. Auch fiel ihr an dem Glasständer etwas Seltsames auf. Er war fast grau vor Fingerabdrücken, besonders auf Kleinkindhöhe. Und was war dieser rosa Klumpen an der Seite? Sie beugte sich vor, um besser zu sehen. Es war ein Batzen Kaugummi.
Vielleicht steckte irgendeine super modische Aussage dahinter. Josie sah nochmal hin. Nein. Irgendjemand hatte da seinen alten Kaugummi hingeklebt. Igitt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine kleine, dunkelhaarige Frau. Sie trug ihre Haare in modischen Spitzen. Ihr Akzent war exotisch. Sie war geschmeidig wie eine Katze und genauso selbstgefällig.
»Ich habe mir gerade die chinesische Handtasche angesehen«, sagte Josie.
»Sie ist spritzig«, meinte die Frau. Ihr Akzent klang osteuropäisch. »Ich spreche das richtig aus, ja? Mein Name ist Olga Rachmaninoff, wie der Komponist.«
»Schöne Tasche«, sagte Josie. »Aber ein Kind hat Fingerabdrücke auf den Vitrinen hinterlassen.« Josie erwartete, sie würde sich entschuldigen oder nach dem Glasreiniger langen.
»Ihr Amerikaner«, sagte Olga. »Ihr seid verrückt nach Putzen. Ich verkaufe. Ich schrubbe nicht wie ein Bauer. Wo ich herkomme, in Russland, da zeigen wir Kunden die Ware und sie kaufen. Wenn sie einem Kunden nicht gefällt, sagen wir: ›Geh zum Laden weiter unten.‹ Dann lachen wir. In dem Laden weiter unten gibt es auch nichts.«
»Verstehe«, meinte Josie. Deshalb war dieser Danessa-Laden wahrscheinlich auch leer.
»Darf ich Ihnen die Tasche zeigen?«, fragte Olga.
»Ich sehe mich nur ein wenig um«, meinte Josie. Sie war froh, als sie einen Korb voller Brillenetuis um 22,99 Dollar nahe der Kasse sah. Gut, dachte sie. Ich nehm’ eines für Mom mit. Sie verliert immer ihre Brille.
Olga kassierte ihren Einkauf. Sie bedankte sich nicht für Josies Kundschaft bei Danessa. Vielleicht war ein Einkauf für dreiundzwanzig Dollar in Russland keinen Dank wert.
Josie bemerkte, dass der Korb mit Danessas Autogrammfotos leer war. Das würde sie ebenfalls in ihrem Bericht erwähnen müssen.
»Darf ich die Toilette benutzen?«, fragte Josie.
Olga deutete auf eine Tür.
Zumindest konnte das WC die Prüfung bestehen, dachte Josie, als sie wieder in ihrem Auto saß. Der Rest der Untersuchung bekam einen Daumen runter nach dem anderen. Vielleicht hatte dieser Danessa-Laden einen schlechten Tag. Josie hatte immer noch zwei vor sich.
Um halb drei kämpfte Josie mit dem Verkehr auf der Clarkson Road und fragte sich, was sie mit ihrem Bericht anstellen sollte. Die höchste Bewertung, die sie einem der Läden geben konnte, war »ausreichend«. Bei Covington lag ein Durcheinander an Handtaschen auf dem Boden des Ladens, als wären sie aus einer Kiste gekippt worden, und auf der Toilette war die Glühbirne durchgebrannt. Die Verkäuferin schlafwandelte durch den Laden und scherte sich nicht darum, sie zu begrüßen. Josie meinte, sie hätte mit der Ware verschwinden können, ohne dass die Frau es bemerkt hätte.
Im exklusiven Laden bei Greenhills fand Josie einen halb aufgegessenen Schokoriegel neben einer tausend Dollar teuren Unterarmtasche. Die Verkaufsmitarbeiterin hob ihn auf und meinte: »Tut mir leid – mein Mittagessen.« Das war das Einzige, was sie zu Josie sagte.
Als Josie nach hinten ging, um die Toilette zu prüfen (kein Papier in der Kabine), bemerkte sie, dass das Tor zur Laderampe unverschlossen und offen war.
Bei Danessa gab es ernsthafte Schwierigkeiten mit der Organisation.
Es gibt noch ein Morgen, dachte sie. Vielleicht wird es ein besserer Tag. Wenn ich jedem der drei Läden morgen ein Hervorragend geben kann, wird mein Bericht nicht so schlimm. Und wenn ich heute Nacht fünfzehn Zentimeter wachse und zehn Kilo verliere, kann ich als Supermodel arbeiten.
Josies Bericht würde eine unangenehme Überraschung werden. Bei der Creshan Corporation würde man nicht erfreut sein. Danessa auch nicht. Josie konnte nichts tun. Was hatte sie ihrer Tochter gestern gesagt? Ich ändere keine Berichte. Niemals. Aus keinem Grund, egal, wie viel Ärger es bedeutet. Recht ist Recht.
Ich hab’ gesehen, was ich gesehen hab’, und werd’ morgen wohl noch mehr davon sehen. Das wird einen Mordsärger geben. Was, wenn mein Bericht den Vertrag mit Creshan zunichte macht?
Dann kam Josie ein Gedanke, der so furchteinflößend war, dass ihr der Atem stockte.
Was, wenn Mom es herausfindet?