1. Kapitel
„Bist du aus dem Bett gefallen, Rainer?“
Der groß gewachsene grauhaarige Mann mit Vollbart und Pferdeschwanz war offenbar zielstrebig auf dem Weg zu dem Tisch im Speisesaal, an dem er am Abend gesessen und irgendeinen umfangreichen Text bearbeitet hatte, zu dem er sich nicht weiter geäußert hatte. Verdutzt drehte er sich um und sah zur Empfangstheke, wo Jenny stand und eine Handvoll Belege sortierte. Sie winkte ihm zu, fuhr sich durch ihre blonden Locken und musste dann von Herzen gähnen.
„Du etwa nicht?“, konterte er amüsiert. „Dass in deiner Küche morgens um die Zeit Hektik herrscht, weiß ich ja, aber üblicherweise überlässt du diese Arbeiten deinen Angestellten.“
„Oh, die lasse ich da hinten auch in Ruhe arbeiten“, versicherte sie ihm. „Da will ich niemandem in die Quere kommen. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“
„Ich suche meinen Kugelschreiber“, sagte er und schaltete die Taschenlampe seines Handys ein, um unter den Tisch zu leuchten.
„Sonntagmorgen um halb sieben?“
„Wenn ich bis um acht Uhr warte, wird er womöglich von einem anderen Gast entdeckt, der ihn einsteckt, weil er ihn für einen Werbe-Kuli hält“, erklärte er.
„Was er aber nicht ist?“, folgerte Jenny.
„Richtig. Der ist ein kleines Meisterwerk, ein Geschenk vom Set Designer einer meiner Filme.“ Rainer ging neben dem Tisch in die Hocke und zog einen der Stühle nach hinten. „Ach, da ist er ja“, rief er erleichtert, nahm den Stift an sich und ging zu Jenny. „Hier, siehst du? Der ist mit einem ganz feinen Knochenmuster verziert, alles Handarbeit.“
„Also ein echtes Einzelstück.“ Jenny nahm den Kugelschreiber und betrachtete ihn ganz genau von allen Seiten. „Das sieht grandios aus. Aber warum ausgerechnet Knochen? Ein Horrorfilm?“
Rainer schüttelte den Kopf. „Ein Piratenfilm.“
„Ah, wegen der Piratenflagge“, sagte sie und nickte.
„Richtig. Und warum machst du am Sonntagmorgen um halb sieben deine Buchhaltung?“, gab er zurück und deutete auf die Belege, die sie in der Hand hielt.
„Ich nutze nur die Wartezeit sinnvoll“, sagte Jenny.
„Die Wartezeit? Darf ich fragen, worauf du wartest?“
„Darfst du“, entgegnete sie grinsend. „Und ich werde es dir sogar sagen, ohne dass du mich extra danach fragen musst.“
„Ich habe dich doch gerade …“, wollte er protestieren, sagte dann aber: „Stimmt, ich hatte ja nur gefragt, ob ich dich fragen darf.“ Er nickte nachdenklich.
„Ich habe dir doch von meiner Freundin Babette Kramers erzählt, die letzten Monat von Groningen hierher nach Zuiderdijk umgezogen ist“, sagte Jenny schließlich.
„Ah ja, die sagenumwobene Freundin, die ich noch immer nicht kennengelernt habe, und die …“
„… die du aber in den nächsten Sekunden kennenlernen wirst, weil sie gleich zur Tür hereinspaziert kommt“, sagte Jenny.
„Hm, kannst du hellsehen?“, fragte Rainer.
„Nein, aber ich kann sie sehen“, antwortete sie. „Der Spiegel schräg hinter dir zeigt mir nämlich, wer das Haus betritt, auch wenn ich gerade mit dem Rücken zur Tür stehe.“
Beide drehten sich um, als die Tür aufging und eine zierliche Frau hereinkam, die einen regen- und windabweisenden Jogginganzug trug. Mit ihrer wallenden roten Mähne hätte sie wahrscheinlich auch ohne Vorsprechen eine Hauptrolle in dem Musical Hair bekommen, obwohl ihr strahlendes Lächeln gepaart mit einem Hauch von Sommersprossen vielleicht schon genügt hätte.
„Du bist ja tatsächlich schon wach“, rief Babette ihr zu. „Ich dachte, ich müsste dich erst noch persönlich wachrütteln.“ Sie lächelte Rainer an. „Will da jemand Erster in der Schlange vor dem Frühstücksbüfett sein?“, fragte sie und zwinkerte ihm zu.
„Babette, darf ich dir vorstellen?“, ging Jenny dazwischen. „Das ist Rainer Trompeter, ein Freund der Familie, der schon in Westkapelle zu unseren Stammgästen gehörte.“
„Hallo, Rainer. Der Name klingt deutsch.“
„Ist er auch“, erwiderte er.
„Rainer, das ist Babette Kramers, meine Freundin seit der Grundschule“, redete Jenny weiter. „Nach ihrer Hochzeit haben sich unsere Wege für ein paar Jahre getrennt, weil sie nach Groningen gezogen ist, wo ihr Mann als Ingenieur gearbeitet hat.“
„Wurde er versetzt?“, erkundigte sich Rainer.
„Nein, da oben wird so nach und nach alles geschlossen, weil wegen der Erdbebengefahr kein Gas mehr gefördert wird“, erklärte Babette.
„Erdbeben? Die nördlichen Provinzen sind doch gar keine Erdbebenregion, dass man deswegen die Gasförderung einstellen müsste, oder irre ich mich?“, fragte er verwundert.
„Nein, nein. Die Erdbeben sind durch die Gasförderung ausgelöst worden“, stellte Babette richtig. „Wir konnten zum Glück unser Haus zu einem guten Preis verkaufen, weil irgendein Unternehmen sich da ansiedeln will und jeden Quadratmeter Fläche braucht, den man irgendwie ergattern kann. Für unser Haus hätten wir keine fünf Euro mehr bekommen. Da war alles voller Risse, und ich weiß nicht, wie lange das noch gehalten hätte. Dann ergab sich ein Job im Hafen in Rotterdam, und weil das nicht weit weg ist, habe ich gesagt, dass wir nach Zuiderdijk ziehen sollten. Dann habe ich wenigstens meine beste Freundin wieder. Tja, und da bin ich.“ Sie machte eine triumphierende Geste.
„Dann … hast du früher auch in Westkapelle gewohnt?“, fragte Rainer verwundert. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dich da gesehen zu haben.“
„Du meinst, weil ich dir garantiert aufgefallen wäre?“, konterte sie grinsend und deutete auf ihre rote Mähne.
Rainer musste lächeln. „Wenn du die Haare schon immer so getragen hast, dann wäre das sicher der Fall gewesen“, stimmte er ihr zu.
„Hm, das wundert mich“, sagte Babette. „Wir haben damals zwar in Meliskerke gewohnt, aber weil meine Eltern beide gearbeitet haben, bin ich nach der Schule immer mit zu Jennys Eltern gegangen. Das ist seltsam.“
„Ich glaube, so seltsam ist das nicht“, meldete sich wieder Jenny nachdenklich zu Wort. „Rainer war immer nur während der Ferien hier, und du warst während der Ferien mit deinen Eltern bei deiner Tante in Spanien. Ihr seid euch früher sehr wahrscheinlich nie begegnet. Ach übrigens, falls es einer von euch nicht weiß: Ich bin Jenny van Oosterburg, mir gehört die Pension Huis Zonnebloem hier in Zuiderdijk. Ihr dürft mich gern Jenny nennen.“
„Ah, jetzt weiß ich, wo ich dich schon mal gesehen habe“, sagte Rainer und zwinkerte ihr zu, dann aber zog er die Augenbrauen zusammen. „Mir fällt gerade ein, dass ich immer noch nicht weiß, warum ihr alle so früh am Morgen auf den Beinen seid.“
„Weil Jenny und ich eine große Runde Joggen gehen werden“, verkündete Babette mit strahlender Miene.
Es kam Jenny wie ein Fingerzeig des Schicksals vor, als gleich darauf eine heftige Windböe Regen gegen die Scheiben des Eingangsbereichs prasseln ließ. „Ich würde sagen, es hat gerade eben angefangen zu regnen“, sagte sie und war mit einem Mal gar nicht mehr so begeistert davon, früh am Morgen durch Zuiderdijk zu joggen.
„Geregnet hat es eben auch schon“, meinte Babette gelassen. „Es scheint jetzt bloß Sturm dazugekommen zu sein.“
„Du siehst aber nicht aus, als wärst du durch den Regen hergelaufen“, wunderte sich Jenny.
„Bin ich auch nicht, weil mein Schatz mich vor der Tür abgesetzt hat. Er muss kurzfristig für einen Kollegen einspringen.“
„Ihr beide habt euch ja das perfekte Wetter ausgesucht, um mit dem Joggen zu beginnen“, meinte Rainer und zog skeptisch eine Augenbraue hoch, als weitere Regenschwaden gegen das Glas getrieben wurden.
Babette zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Wie sagt ihr Deutschen immer? Es gibt kein falsches Wetter …“
„… nur Verrückte, die bei Kälte freiwillig durch Sturm und Regen laufen“, führte Rainer schmunzelnd den Satz anders zu Ende, als sie es erwartet hatte. „Wenn ihr wenigstens im April oder Mai damit anfangen würdet, wenn es morgens auch schon etwas heller ist, aber nicht gleich in der ersten Januarwoche.“
„Wenn ich ehrlich sein soll, würde ich mich ja lieber wieder ins Bett legen“, gestand Jenny, als das Prasseln an den Scheiben noch lauter und beharrlicher wurde. „Da würde ich mich wirklich wohler fühlen.“
„Nichts da, die Wampe muss weg“, widersprach Babette und klatschte ihr im Spaß mit den Handrücken gegen den Bauch.
„Ich habe keine Wampe“, protestierte Jenny.
„Doch, hast du. Ich weiß, wie viel Speculaas, Schokolade und Marzipan du allein bei mir seit Sinterklaas gefuttert hast.“
„Habe ich nicht. Das war nur ein bisschen“, beharrte Jenny.
„Und dazu dann noch die Oliebollen-Orgie an Silvester. Zwei mit Rum, zwei mit Vanillevla, zwei mit Rosinen, zwei mit Banane …“
„Ja, ja, ja, ist ja gut!“ Jenny hob kapitulierend die Hände. „Hätte ich mir bloß keinen menschlichen Kalorienzähler zugelegt!“
„Hast du aber, und dafür wirst du jetzt bestraft – und fit wirst du bei der Gelegenheit auch wieder“, konterte Babette gut gelaunt zurück. „Zwei Fliegen mit einer Klappe.“
„Ich würde eher sagen, zwei Muskelkater zum Preis von einem.“
Babette schüttelte den Kopf. „Für so was macht man schließlich Stretching. Das hast du doch heute Morgen gemacht, oder?“
„Wenn ich Nein sage“, fragte Jenny mit einem listigen Funkeln in den Augen, „darf ich daheim bleiben?“
„Nein“, gab ihre Freundin mit gespielter Härte zurück. „Wenn du nicht läufst, laufe ich auch nicht, und das kann ich mir nicht erlauben. Schließlich habe ich mir ja in den letzten Wochen auch eine Wampe angefuttert, seit ich hier bin …“
Rainer musterte die zierliche Frau und meinte lakonisch: „Ich nehme an, die Wampe hast du zu Hause gelassen, weil sie beim Joggen stört.“
„Was?“ Sie sah an sich herab und legte eine Hand auf ihren Bauch. „Das sind mindestens drei Kilo zu viel.“
„Bei drei Gramm zu viel würde ich zustimmen“, sagte Rainer amüsiert. „Aber nicht bei drei Kilo.“
„Babette war früher auch schon so“, warf Jenny ein. „Selbst wenn sie völlig makellos wäre, würde sie sich darüber beklagen, dass es nichts gibt, worüber sie sich beklagen kann.“
„Ach, ihr versteht mich alle nicht“, erwiderte Babette kopfschüttelnd. „Aber in dem Punkt versteht mich ja nicht mal mein Mann.“
„Kann ich gut verstehen“, scherzte Rainer und musste gähnen. „Entschuldigt, aber ich muss noch ein paar Stunden Schlaf nachholen … in meinem warmen, kuscheligen Bett, wo ich dann den Regentropfen lausche und nach einer Weile über dem Geräusch einschlafe, weil es so gemütlich ist.“
„Hör nicht auf diesen Mann“, ermahnte Babette ihre Freundin. „Den hat der Teufel hergeschickt, damit er dich davon abhält, etwas für deinen Körper zu tun.“
Rainer verzog den Mund. „Verdammt, ich wurde durchschaut. Dann nichts wie weg.“ Er ging Richtung Treppe. „Wir sehen uns später … hoffe ich“, fügte er an und setzte eine finstere Miene auf.
„Hoffst du?“, wiederholte Jenny irritiert. „Weißt du irgendwas, was wir nicht wissen?“
„Ich weiß nur, dass der Erfinder des Joggens beim Joggen gestorben ist“, gab er mit einem Augenzwinkern zurück.
„Wir haben nicht vor, unterwegs zu sterben“, antwortete Babette überzeugt, hielt die Tür für Jenny auf und ließ sie vorbeigehen. Dann fasste ihre Haare zusammen und zog die Kapuze ihres Jogginganzugs über den Kopf.
„O Gott, das regnet ja noch schlimmer, als ich gedacht hatte“, stöhnte Jenny, als sie unter dem schützenden Vordach hervorkam. „Wir werden nach zehn Metern klatschnass sein!“
„Na und?“, sagte ihre Freundin unbekümmert. „Mehr als nass werden, kann man nicht. Komm!“ Sie gab ihr einen Klaps auf die Schulter und lief zum Tor, durch das sie auf den Dijkweg gelangten, der seinem Namen entsprechend am Deich entlang verlief.
„Also, rauf auf den Deich sollten wir besser nicht gehen“, fand Jenny. „Wenn wir gegen den Wind laufen, kommen wir nicht von der Stelle …“
„… und wenn wir mit dem Wind laufen“, ergänzte Babette, „dann treibt der uns vor sich her, was auch keinen Spaß macht. Vor allem nicht, wenn man auf einmal von einer heftigen Böe erwischt wird, die einem die Beine unter dem Po wegweht.“ Sie nickte zustimmend. „Dann lass uns doch durchs Dorf laufen. Da ist um die Zeit keiner unterwegs, der uns in den Weg geraten könnte.“
„Und auch keiner, der mich dabei sehen könnte, wie ich mich zum Affen mache“, fügte Jenny hinzu und folgte Babette, die links um den Block lief.
Noch bevor sie an der nächsten Ecke angekommen waren, an der sie wieder nach links abbiegen mussten, fragte Babette neugierig: „Und? Was läuft zwischen euch?“
Jenny wischte sich den Regen aus dem Gesicht und warf ihrer Freundin einen ratlosen Seitenblick zu. „Zwischen wem?“
„Na, zwischen dir und Rainer“, stellte Babette klar.
„Rainer? Rainer Trompeter?“, fragte Jenny. „Du meinst den Rainer, den du gerade eben kennengelernt hast?“
„Ja, sicher.“
Jenny schüttelte den Kopf. „Da läuft gar nichts. Wir sind einfach nur gute Freunde. Wir kennen uns von früher, weil er immer bei meinen Eltern in der Pension ein Zimmer nahm, wenn er Urlaub in Westkapelle machte. Irgendwann ist er nach Amerika gegangen, hat beim Film angefangen und arbeitet in Hollywood, und jetzt ist er für eine Weile hier.“
„Der Mann lebt in Hollywood und macht ausgerechnet in Zuiderdijk Urlaub?“, fragte Babette ungläubig, während sie sich der Grote Straat näherten. „Nichts gegen Zuiderdijk, ich liebe es hier wirklich, aber Rainer könnte in Florida Urlaub machen, wenn ihm der Strand an der Westküste zu langweilig ist. Aber in dieses Dorf hier zu kommen, um ein paar Wochen Urlaub zu machen? Das klingt nicht sehr überzeugend. Ich glaube schon, dass er es auf dich abgesehen hat.“
Jenny seufzte. „Er ist nicht hier, um ein paar Wochen Urlaub zu machen, sondern er nimmt eine mehrmonatige Auszeit von seinem Job.“
„Und das kaufst du ihm ab?“, fragte Babette. „Wenn er in Hollywood so eine große Nummer ist, dann könnte er doch in einem Luxushotel wohnen, wo es ihm an nichts fehlt.“
„Gib es auf, Babette“, sagte Jenny amüsiert. „Du kannst noch so sehr argumentieren, warum und wieso er was von mir will und warum das alles irgendwie nicht so ganz überzeugend klingt. Da ist nichts zwischen uns, und da wird auch nichts sein“, versicherte sie ihrer Freundin. „Er ist ein guter Freund, weiter nichts. Wenn überhaupt, dann ist er für mich so was ein großer Bruder. Wenn ich einen älteren Bruder hätte, mit dem ich mich gut verstehen würde, dann wäre er wie Rainer.“
„Wenn du das sagst“, meinte Babette in einem Tonfall, der nach einem Hauch von Zweifel klang, aber immer noch vage genug war, um ihn leugnen zu können.
„Tu ich ja auch, Babette“, erwiderte Jenny. „Nur weil dein Bruder und du euch nicht mal vertragen könntet, wenn einer von euch auf dem Mond leben würde, kannst du nicht davon ausgehen, dass das bei allen anderen Menschen auch so ist.“
Babette verzog den Mund. „Ja, ich weiß“, räumte sie ein. „Mein Bruder ist so ein Vollidiot, dass ich mir nicht mal vorstellen kann, wie es sein muss, einen netten und freundlichen Bruder zu haben, aber nicht einen solchen Schwachkopf, der sich nur melden kann, wenn er wieder mal abgebrannt ist, und dann Lügen über mich verbreitet, wenn ich ihm kein Geld gebe.“
„Es ist schon schade, dass ihr beide euch so gar nicht versteht“, sagte Jenny mitfühlend.
„Halb so wild“, meinte ihre Freundin unbekümmert. „Die meiste Zeit des Jahres habe ich ja Ruhe, und jetzt muss er sowieso erst mal herausfinden, wo ich bin, wenn er in Groningen vor unserem Haus steht, das dann vielleicht sogar schon abgerissen worden ist.“ Der Gedanke ließ sie vergnügt auflachen, während sie um die nächste Ecke bogen und die Grote Straat entlangliefen, ohne dass der Regen nachließ.
Nach einer Weile musste Jenny zugeben, dass Babette recht hatte, als sie davon gesprochen hatte, dass man nur einmal nass werden könne. Der Jogginganzug war so wasserdicht, wie er in der Werbung angepriesen worden war, und gleichzeitig so luftdurchlässig, dass sie sich unter dem Stoff nicht zu Tode schwitzte. Nass wurde nur ihr Gesicht, und das konnte sie von Zeit zu Zeit mit den Händen abwischen.
Sie hatte sich Joggen im Regen viel unangenehmer vorgestellt, aber so …
Das Unwetter schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn gleich darauf zuckte ein Blitz über den Nachthimmel von Zuiderdijk und tauchte die Umgebung für den Bruchteil einer Sekunde in taghelles Licht. Gleich darauf folgte ein Donnerschlag, der den Boden zittern ließ.
„Ich glaube, jetzt will ich nach Hause“, sagte Jenny zu ihrer Freundin, gerade als sie von einem starken Windstoß erfasst wurde. „Ich habe nämlich tatsächlich nicht vor, unterwegs zu sterben, auch nicht durch einen Blitz.“
Babette blieb vor einem der vielen Lokale stehen. „Heißer Tee mit einem Schuss Rum?“, fragte sie.
„Von mir aus auch heißer Rum mit einem Schuss Tee“, gab Jenny zurück, „solange du einverstanden bist, dass wir jetzt sofort nach Hause laufen.“
Ihre Freundin grinste sie an. „Du hast mich überredet.“
„Gut, dann laufen wir querfeldein über den Marktplatz“, sagte Jenny. „Da stehen zwar links und rechts Bäume, in die der Blitz einschlagen könnte, aber dann können wir die Abkürzung zwischen den beiden Nebengebäuden der Pension hindurch nehmen und sparen ein ordentliches Stück Weg.“
„Klingt gut“, willigte Babette ein, während es wieder blitzte und donnerte. „Los geht’s.“ Sie lief vor, Jenny war dicht hinter ihr.
Sie überquerten die Straße, die um diese Uhrzeit so verwaist war wie jede andere in Zuiderdijk, und liefen zwischen der ehemaligen Kirche zur Rechten und dem einstigen Marktplatz des Dorfs hindurch. Den hatte man mit Wohn- und Geschäftshäusern u-förmig bebaut.
Der nächste Blitz zuckte über den Himmel, und wieder war die Umgebung für einen Moment in gleißendes Licht gehüllt. Der Moment dauerte nicht lange genug, um den Kopf in die Richtung zu drehen, in der Jenny etwas bemerkt hatte – oder zumindest glaubte, etwas bemerkt zu haben. Denn als sie nach rechts sah, war dort alles wieder stockfinster. Hatte sie sich das nur eingebildet? War da überhaupt etwas gewesen? Oder hatte sie etwas wahrgenommen, das etwas ganz anderes war und nur zufällig so aussah, wie …?
„Warte mal“, rief Jenny, gerade als der nächste Donner die Luft beben ließ. Damit Babette ihr nicht davonlief, die sie ganz offensichtlich nicht gehört hatte, fasste sie nach ihrem Arm und zog sie zurück.
Ihre Freundin sah sie über die Schulter an. „Was ist los?“, fragte sie.
„Ich habe da irgendwas gesehen, glaube ich“, sagte Jenny unschlüssig.
„Was denn? Und wo?“
„Ich weiß nicht genau, aber es kam mir so vor, als würde dahinten an der Kirche jemand auf der Bank sitzen“, sagte sie und deutete in Richtung des großen dunklen Gebäudes.
„Da ist doch alles stockfinster“, meinte Babette und kniff die Augen zusammen. Die wenigen Straßenlampen, die über den Platz verteilt standen, reichten gerade aus, um den Verbindungsweg zwischen der Grote Straat und dem Parallelweg erkennen zu können. Abends sorgten die Leuchtreklamen der Geschäfte auf dem Platz gegenüber der ehemaligen Kirche für genügend Licht, aber die waren seit Stunden ausgeschaltet, und der Regen trug seinen Teil dazu bei, die schlechten Lichtverhältnisse noch miserabler zu machen.
„Als es eben geblitzt hat, war da alles taghell“, erklärte Jenny und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. „Aber ich habe das nur aus dem Augenwinkel bemerkt, und als ich hinsah, war der Blitz schon vorbei.“
„Okay, aber warum sollte bei dem Wetter jemand da auf der Bank sitzen?“, überlegte ihre Freundin, die nicht von dem Gedanken begeistert zu sein schien, hinzugehen und nachzusehen.
Jenny konnte das gut verstehen, denn sollte dort tatsächlich jemand sitzen, dann sprach alles dafür, dass mit demjenigen etwas nicht stimmte. „Vielleicht war demjenigen schlecht und er musste sich irgendwo hinsetzen“, gab sie zu bedenken.
Babette zog eine Augenbraue hoch. „Um sich da hinsetzen zu können, muss man doch sehen können, dass da eine Bank steht“, wandte sie ein. „Soweit ich weiß, geht die Beleuchtung rund um die Kirche abends um zehn oder elf Uhr aus. Wenn dein Unbekannter sich um die Zeit da hingesetzt hat und jetzt immer noch da sitzt, dann …“ Sie verzog den Mund. „Dann dürfte er inzwischen sehr unterkühlt sein, wenn nicht sogar …“
„Richtig“, bestätigte Jenny. „Und genau deshalb müssen wir nachsehen.“
„Müssen wir das?“, fragte Babette zögerlich. „Ich meine, wenn er doch sowieso schon … Du weißt, was ich meine.“
„Wir wissen aber nicht, ob er das ist“, wandte Jenny ein. „Falls nicht, können wir ihm vielleicht noch helfen.“
„Können wir nicht die Polizei oder den Rettungsdienst anrufen, damit die nachsehen?“, schlug ihre Freundin vor.
„Babette, da drüben kann genauso gut ein Stapel Altkleider liegen, der nur nach einer Person aussieht. Erstens wird weder die Polizei noch ein Rettungswagen herkommen, wenn ich anrufe und sage, dass da jemand auf der Bank sitzen könnte. Die werden mir sagen, dass ich erst mal hingehen und mich vergewissern soll. Zweitens wäre es unverantwortlich, bei diesem Wetter einen Rettungswagen herkommen zu lassen, der dann vielleicht woanders zu spät eintrifft, nur weil die Sanitäter hier einen Berg Altkleider wiederbeleben sollen.“
Babette seufzte frustriert. „Kann es nicht wenigstens noch mal blitzen, damit wir von hier aus nachsehen können?“
Tatsächlich blitzte es fast wie auf Befehl, allerdings so weit entfernt, dass es rund um die Kirche stockfinster blieb. „Warte du hier“, sagte Jenny zu ihr, holte das Handy aus der Jacke, schaltete die Taschenlampe ein und ging los.
„Von wegen, ich lasse dich doch nicht allein da hingehen“, rief Babette und lief ihr hinterher.
„So mutig?“, fragte Jenny erstaunt.
„Ich wollte auch nicht allein da hinten stehen bleiben“, gestand sie, da Jennys forschender Blick zu wachsam. „Zufrieden?“
Jenny grinste sie nur an, dann wurde sie wieder ernst und ging weiter. Wegen des Regens reichte der Lichtstrahl der Taschenlampe nicht weit, aber da Babette ihrem Beispiel folgte und sie mit ihrem Handy unterstützte, konnte sie mehr erkennen.
Es handelte sich tatsächlich um eine Person, die im strömenden Regen auf der Bank saß. Ob Frau oder Mann, war auf diese Entfernung nicht zu erkennen. „Hallo?“, rief Jenny. „Hallo? Ist alles in Ordnung? Sagen Sie doch was.“
Sie gingen noch näher heran, woraufhin Babette ihr zuflüsterte: „Vielleicht schläft er ja. Oder sie. Schlafende Leute soll man nicht wecken, weil man nicht weiß, wie sie reagieren.“
„Ich werde ihn erst mal am Knie packen“, gab Jenny zurück. „Vielleicht reicht das ja, um ihn zu wecken. Falls er schläft.“
„Mhm“, machte Babette in einem Tonfall, als würde sie längst ihre Entscheidung verfluchen, ausgerechnet an diesem Morgen auf einer Joggingrunde durch Zuiderdijk zu bestehen.
Im Schein der Taschenlampe war einfach nicht genug zu erkennen, um sich ein Bild von der reglosen Person zu machen, also ging Jenny näher heran und streckte eine Hand aus.
Das Timing des Unwetters hätte nicht unpassender sein können, denn Jennys Finger waren nur noch Zentimeter vom Knie entfernte, als ein weiterer Blitz den Platz neben der Kirche in ein so grelles Licht tauchte, dass es Jenny so erschien, als würde sie alles in Schwarz-Weiß sehen.
Sie konnte nicht sagen, was sie mehr erschreckte: Babettes gellender Schrei oder der Anblick des Messers, das in der Brust der offensichtlich toten Frau steckte, die da vor ihr auf der Bank saß.
2. Kapitel
„Oh, mein Gott!“, rief Babette entsetzt, womit für Jenny klar war, dass der Aufschrei ihrer Freundin sie mehr erschreckt hatte als die tote Frau auf der Bank.
Im Schein der Taschenlampe war der Anblick zwar auch nicht angenehmer, aber sie hatte durch den Blitz sehr detailliert gesehen, wie der Griff des Messers aus dem Körper der Frau ragte. Es war nicht nötig, das Bild noch einmal so drastisch vor Augen geführt zu bekommen.
Als Jenny die Hand in Richtung Hals ausstreckte, fragte Babette irritiert: „Was hast du vor?“
„Ich will ihren Puls fühlen“, sagte sie.
„Du willst eine Leiche anfassen?“, rief Babette entsetzt.
„Ich will herausfinden, ob wir eine Leiche vor uns haben oder eine Schwerverletzte“, erklärte sie und legte Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader der reglosen Frau. Die saß zurückgelehnt auf der Bank, die Arme hingen schlaff herab, die Beine waren ein wenig angewinkelt. Dass sie in dieser Position nicht längst von der Bank gerutscht war, lag nur daran, dass die Sitzfläche stark nach hinten geneigt war. Auf der Bank hatte man daher eine Sitzposition, die mehr an einen Liegestuhl als an eine Parkbank erinnerte. Der Kopf war nach vorn gesunken, das Kinn lag auf der Brust, und durch den Regen, der vor einer Weile eingesetzt hatte, fielen ihr die langen schwarzen Haare ins Gesicht, sodass man von diesem Gesicht momentan wenig erkennen konnte. Der Regen hatte auch dafür gesorgt, dass das aus der Stichwunde ausgetretene Blut sich noch weiter auf ihrer Kleidung verteilt hatte und sich auch jetzt noch verteilte.
„Kein Puls“, sagte Jenny.
„Das hätte mich auch gewundert“, merkte Babette an, die nach wie vor auf Abstand zu der Toten blieb, als könnte die sie plötzlich anspringen. „Bei dem Griff muss das ja eine riesige Klinge sein, die ihr jemand ins Herz gerammt hat. Wie soll das jemand überleben?“
„Es hätte ja sein können, dass das erst vor zehn Minuten passiert ist“, sagte Jenny. „Dann wäre ihr vielleicht noch zu helfen gewesen.“
„Oh“, machte ihre Freundin.
„Aber das da sieht sowieso schon nach getrocknetem Blut aus“, stellte Jenny fest. „Also wurde sie schon vor einer Weile umgebracht.“ Sie griff nach ihrem Smartphone und rief das Telefonregister auf. Sie tippte auf einen Namen und hielt das Gerät ans Ohr. „Guten Morgen“, meldete sie sich. „Mein Name ist Jenny van Oosterburg, ich möchte gern Commissaris Ruijters sprechen … Sie hat heute frei? Oh, dann melde ich mich gleich noch mal“, sagte sie, bedankte sich und legte auf. Sie wählte eine andere Nummer. „Jenny van Oosterburg hier, guten Morgen, Ilse … Ja, ich habe einen guten Grund, Sie am Sonntagmorgen um sieben Uhr aus dem Schlaf zu reißen … oder besser gesagt: einen unerfreulichen Grund. Auf einer Bank hier an der Kirche sitzt eine tote Frau mit einem Fleischermesser in der Brust … Ja, genau … Ja, ich werde hier auf Sie warten, danke. Ach ja, bringen Sie irgendwelche Scheinwerfer mit, hier ist alles stockfinster. … Ja, bis gleich.“
Als sie das Telefon wegsteckte, bemerkte sie Babettes ratlosen Blick.
„Du rufst die Polizei an, sagst nichts von der toten Frau, und dann rufst du eine Frau namens Ilse an, die sich sofort auf den Weg macht?“
Jenny nickte. „Ilse ist der Vorname von Commissaris Ruijters. Ich hatte schon einmal mit ihr zu tun, und es ist in diesem Fall sinnvoller, ihr von unserer Entdeckung zu erzählen. Wenn ich der Notrufzentrale Bescheid gebe, schicken die irgendwen her. Aber ich will nicht, dass irgendwer herkommt. Ich werde dir nachher die ganze Geschichte erzählen, jetzt habe ich erst mal zu tun.“ Sie drückte Babette ihr Telefon in die Hand. „Halt das Licht auf meine Hände“, sagte sie und zog ein Paar Einweghandschuhe aus der Tasche, in der sie auch ihr Telefon verstaut hatte.
„Warum trägst du Einweghandschuhe in deiner Jogginghose mit dir herum?“, wunderte sich ihre Freundin.
„Weil ich nie weiß, wann ich sie mal gebrauchen kann.“
„Du meinst, weil du nie weißt, wann du mal eine erstochene Frau auf einer Parkbank findest?“, fragte Babette ungläubig.
„Nein“, widersprach Jenny ihr. „Weil ich nie weiß, ob ich mal an einen Tatort gerate, an dem ich keine Spuren verwischen oder Fingerabdrücke hinterlassen möchte. Das bereitet der Polizei nur unnötige Mehrarbeit.“
„Klingt so, als würde so was alle zwei Wochen vorkommen“, meinte Babette irritiert.
„Mehr zweieinhalb Monate“, antwortete Jenny, nahm ihr Handy wieder an sich und beugte sich vor, um die Tote genauer zu betrachten. „Hmm, andere Verletzungen wurden ihr anscheinend nicht zugefügt.“ Vorsichtig drehte sie die Hände der Frau ein wenig zur Seite, damit sie die Handflächen sehen konnte. „Keine Schnittverletzungen an den Händen. Also hat sie sich nicht gewehrt, und der Angreifer hat nur diesen einen Versuch gebraucht, um sie töten“, murmelte sie.
„Zweieinhalb Monate? Was soll das bedeuten?“, wollte Babette wissen. „Du sprichst in Rätseln.“
„Na ja, ungefähr so lange ist es her, dass ich am Deich zum ersten Mal auf ein Mordopfer gestoßen bin“, sagte Jenny. „Und dass ich den Fall aufgeklärt habe, zusammen mit Rainer natürlich.“
„Davon weiß ich ja gar nichts.“
„Da warst du auch noch wieder zurück in deiner alten Heimat“, betonte sie. „In den letzten Wochen hattest du mit dem Umzug und mit Weihnachten genug zu tun gehabt, da war keine Zeit, um dir zwischendurch auch die Sache mit dem toten Hotelgast zu erzählen. Die Weihnachtszeit ist nicht so ganz der passende Rahmen, um von Mord und Totschlag vor der eigenen Haustür zu erzählen.“
„Stimmt auch wieder“, musste Babette ihr beipflichten. „Und dein Toter war auch noch Hotelgast? Also Hotelgast gewesen, bevor er umgebracht wurde, meine ich“, fügte Babette rasch an, da der Satz in ihren eigenen Ohren irgendwie missverständlich klang. „In welchem Zimmer hat er denn sein Leben ausgehaucht? Kannst du das noch vermieten? Oder kannst du es jetzt erst recht vermieten? Als das Mordzimmer?“
Jenny verdrehte die Augen. „Ich sagte doch, dass ich den Toten am Deich entdeckt hatte.“
Babette dachte kurz nach. „Oh, stimmt ja. Also, was war da los?“
„Das erzähle ich dir später“, sagte Jenny, „wenn jede von uns ihre Tasse heißen Tee mit Rum vor sich hat.“
„Das will ich hoffen. Nicht dass ich warten muss, bis der Roman zum Mord erscheint“, gab Babette zurück
„Keine Sorge, du bist bald auf dem Laufenden“, sagte Jenny beiläufig, dann hielt sie ihr Smartphone auf Höhe der Knie der Toten. „Der Blitz geht gleich los“, warnte sie ihre Freundin. „Mach lieber die Augen zu oder dreh dich weg.“
„Ich werde die Augen zumachen und mich wegdrehen“, sagte sie. „Aber anschließend verrätst du mir, wieso um alles in der Welt du ein Foto von einer Toten machen musst. Oder will ich das vielleicht gar nicht wissen?“
„Schon erledigt, du kannst dich wieder zu mir umdrehen, Babette.“ Sie rief das soeben geschossene Foto auf und betrachtete es. „Ich habe das Foto gemacht, weil ich wissen will, ob mir die Tote bekannt vorkommt. Ich wollte aber nicht ihren Kopf dafür anheben, um möglichst nichts zu verändern.“ Sie verzog den Mund und schüttelte den Kopf. „Das Gesicht sagt mir nichts. Sie kann nicht hier aus Zuiderdijk sein. Und Gast in der Pension ist sie auch nicht. Also weitersuchen.“ Wieder gab sie ihr Telefon an Babette weiter, weil sie beide Hände frei haben musste. Dann begann sie die Taschen der dicken karierten Jacke zu durchsuchen, soweit das möglich war, ohne die Position des Opfers zu verändern. Daher konnte sie auch nicht auf der rechten Innenseite der Jacke nach einer Tasche tasten, da das Messer ihr dabei im Weg war. Von außen schien es so, als würde sich in dieser Innentasche ein Smartphone befinden, an das sie aber nicht herankam. In der rechten Seitentasche fand sie einen Wagenschlüssel, den sie gleich zurücksteckte, in der linken stieß sie auf eine Brieftasche.
„Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir erfahren, wer du bist“, murmelte sie, klappte im Schein der Taschenlampe die Brieftasche auf, warf einen Blick ins Geldfach und zählte die Scheine. „Vierhundertdreißig Euro“, murmelte sie. „Also kein Raubmord.“ Dann entdeckte sie den Personalausweis, bei dessen Anblick sie verdutzt die Augenbrauen hochzog.
„Was ist los? Hast du einen Geist gesehen?“, fragte Babette, als sie diese Reaktion ihrer Freundin bemerkte.
„Keinen Geist, aber etwas … Seltsames“, antwortete Jenny leise. „Diese Frau heißt Marie Velsinga, und Velsinga heißt auch ein Gast in der Pension. Victor Velsinga.“
„Sie heißt Velsinga und du hast einen Velsinga in deiner Pension? Da kann doch was nicht stimmen“, erklärte Babette.
„Das Gefühl habe ich auch“, murmelte Jenny, fotografierte den Ausweis von beiden Seiten und schob ihn zurück in die Brieftasche, die sie dann wieder in die Jackentasche steckte. Als sie sich ein weiteres Mal den Regen aus dem Gesicht wischen musste, sagte sie zu ihrer Freundin: „Komm, wir stellen uns an der Seitentür zur Kirche unter, da sind wir vor dem Regen geschützt.“
„Das wird diese Commissaris sicher freuen, wenn sie hier eintrifft und von dir erfährt, wo sie den Mann der Toten finden kann“, meinte Babette, nachdem sie die Kapuze nach hinten gezogen und ihre Haare ausgeschüttelt hatte. Jenny tat es ihr nach und fuhr sich durch ihre Locken. „Vielleicht legt er ja auch sofort ein Geständnis ab, und sie kann ihn gleich mit auf die Wache nehmen. Dann bist du die große Heldin, weil du einen Mörder überführt hast.“
Jenny seufzte leise. „Und genau deshalb werde ich der Polizei nichts davon sagen, jedenfalls nicht sofort.“
„Waaas? Aber das ist doch wichtig. Sonst entkommt ihr Mörder und …“
„Woher willst du wissen, dass er ihr Mörder ist?“, unterbrach Jenny sie. „Und woher willst du wissen, dass er überhaupt ihr Ehemann ist?“
„Das liegt ja nun nahe“, beharrte ihre Freundin. „Zwei Velsingas in einem Ort, das muss ein Ehepaar sein.“
Jenny hob eine Hand, um Babettes Redefluss zu stoppen. „Das sind Vermutungen, Babette. Ich kann nicht einfach behaupten, dass ihr Ehemann der Mörder ist und dass er bei mir in der Pension einquartiert ist, wo die Polizei ihn sofort abholen kann. Vielleicht kennen sich die beiden gar nicht und …“
„Aber sie heißen doch gleich“, versuchte Babette die Diskussion für sich zu entscheiden.
„Ich gebe zu, ich weiß nicht, wie viele Einwohner in den Niederlanden Velsinga heißen“, hielt Jenny dagegen. „Bestimmt nicht Hunderte, aber ein paar Dutzend genügen doch schon, um sagen zu können, dass die beiden nicht zwangsläufig Ehepartner sein müssen.“
Babette verzog ein wenig missmutig den Mund.
„Angenommen, sie sind gar nicht verwandt und sie sind sich auch noch nie begegnet“, fuhr Jenny fort. „Hast du eine Vorstellung davon, wie sich mein Hotelgast fühlen muss, wenn die Polizei ihn einfach mitnimmt und ihm den Mord an dieser Frau anhängt, nur weil ich etwas behauptet habe, was gar nicht stimmt? Wenn er diese Nacht durchgeschlafen hat, dann kann er kein Alibi vorweisen, weil ihn niemand die ganze Zeit beobachtet hat. Dann kann man ihm unterstellen, dass er diese Frau umgebracht hat, und er kann das Gegenteil nicht beweisen.“ Wieder schüttelte sie den Kopf und schaute ernst drein. „Und wir wissen nicht, wie mein Gast auf so etwas reagiert. Unter Umständen regt er sich so auf, dass er einen Schlag bekommt und tot umfällt. Ich will kein Leben auf dem Gewissen haben, nur weil ich eine voreilige Vermutung geäußert habe.“
„Oh Mann, an so was würde ich nie im Leben denken“, murmelte Babette erschrocken.
„Beim nächsten Mal schon“, versicherte ihr Jenny.
„Beim nächsten Mal?“ Ihre Freundin riss ungläubig die Augen auf. „Wird in diesem Dorf etwa ständig gemordet? Ich hatte gedacht, dass Zuiderdijk ein friedliches, verschlafenes Dorf ist, in dem ich die Haustür offen stehen lassen kann, wenn ich morgens zum Bäcker gehe.“ Als Jenny eine Augenbraue hochzog, um zu verstehen zu geben, dass sie ihr die Äußerung nicht abkaufte, hob Babette flüchtig die Hände. „Ja, schon gut, so war das nicht gemeint. Mir würde meine Hausratversicherung ja schon was anderes erzählen, wenn ich so leichtsinnig wäre. Aber ich dachte, Mord und Totschlag wären hier kein Thema.“
„Solche Vorfälle wie vor zwei oder drei Monaten und so was wie das hier sind ja nicht an der Tagesordnung“, beschwichtigte Jenny sie. „Hier geschieht nicht zweimal pro Woche ein Mord. Dass jetzt wieder etwas vorgefallen ist, ist ein unglücklicher Zufall, besonders für diese Frau. Deshalb gibt es nicht zwangsläufig in zwei oder drei Monaten schon wieder ein Mordopfer zu beklagen.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Das nächste Verbrechen darf noch sehr lange auf sich warten lassen.“
„Ich wette, das Gleiche hast du nach dem ersten Mord auch schon gesagt, wie?“
Jenny nickte. „Ja, habe ich. Allerdings ist das schon eine … wie soll ich sagen … eine interessante Erfahrung gewesen, wenn man selbst einem Mörder auf die Schliche kommt und wenn es einem dann auch noch gelingt, ihn zu überführen.“
„Nervenkitzel?“, fragte Babette.
„Ein bisschen“, räumte sie ein. „Aber das lag auch daran, dass wir den Täter provozieren mussten und keiner sagen konnte, ob er so reagiert, wie es nötig war, um ihn zu überführen.“
„Aber er hat so reagiert?“
Jenny lächelte zufrieden. „O ja. Er ist sozusagen mit Vollgas in die Falle gefahren und hat viel zu spät gebremst.“ Sie sah auf die Uhr, als ihre Freundin ausgiebig gähnte. „Hör mal, Babette, du kannst ruhig nach Hause gehen und dich noch eine Weile schlafen legen. Ich komme hier allein zurecht. Ich muss ja nur warten, bis Commissaris Ruijters eintrifft, dann übernimmt sie hier sowieso die Regie und ich habe weiter nichts zu tun.“
„Von wegen“, widersprach Babette sofort energisch. „Auf gar keinen Fall werde ich nach Hause gehen. Meinst du, ich lasse dich hier in der Dunkelheit mit einer Leiche zurück?“
„Was soll denn schon passieren? Mevrouw Velsinga wird ganz sicher nicht von den Toten auferstehen.“
„Das vielleicht nicht, Jenny, aber stell dir vor, der Mörder kommt zurück, weil ihm eingefallen ist, dass sein Messer irgendeine Gravur hat und man die Tatwaffe zu ihm zurückverfolgen kann“, argumentierte sie. „Wenn der dich hier entdeckt, bist du geliefert.“
„Aber wenn er mich nicht sieht und ich ihn beobachten und verfolgen kann, kommen wir dahinter, wer der Täter ist“, hielt Jenny dagegen.
„Dann verfolgen wir ihn eben zusammen“, entschied Babette, lehnte sich gegen die massive Holztür und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du musst dir aber um mich keine Sorgen machen“, erklärte sie. „Ich habe nach dem ersten Mordfall einen Selbstverteidigungskurs gemacht, ich kann mich zur Wehr setzen.“
„Das mag ja sein. So einen Kurs habe ich auch mal gemacht, und ich fand den auch gut“, gab Babette zu. „Ich weiß nur nicht, ob ich wirklich noch daran denke, was ich wie tun muss, wenn völlig unvorbereitet der Ernstfall eintritt. Und wenn Mevrouw Velsingas Mörder nicht nur mit dem Messer tötet, sondern auch noch eine Pistole in der Tasche hat, dann hilft dir der beste Selbstverteidigungskurs nichts. Dann musst du schon wie Keanu Reeves in Matrix in der Lage sein, einer abgeschossenen Kugel ganz lässig auszuweichen.“ Sie legte den Kopf schräg und sah Jenny an. „Ich nehme nicht an, dass du das kannst, oder?“
„Ich hab’s noch nie ausprobiert“, gab Jenny mit einem Augenzwinkern zurück, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Okay, wenn du bleiben willst, dann … danke. Es fühlt sich ein Stück sicherer an, das muss ich schon sagen. Allerdings glaube ich nicht, dass der Mörder noch mal herkommt, weil sein Messer ihn verraten könnte. Er hat nicht willkürlich ein Messer gegriffen und auf Mevrouw Velsinga eingestochen, sondern sich wohl mit ihr hier verabredet und sie erstochen, so wie er es geplant hatte.“
„Meinst du, die haben sich verabredet?“
„Ganz sicher haben sie das“, erwiderte Jenny überzeugt. „Sie hätte bestimmt noch irgendwelche anderen Schnittverletzungen, wenn der Killer sie da vorn auf dem Platz gepackt und mit sich hierhergeschleift hätte. Es kann natürlich auch so abgelaufen sein, dass er sie woanders niedergeschlagen und hergebracht hat, um ihr das Messer ins Herz zu jagen, nachdem er sie auf die Bank gesetzt hat. Es kann sich auch komplett anders abgespielt haben, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie sich gegenüberstanden und er zugestochen hat, bevor sie wusste, wie ihr geschah.“
„Wirst du das der Polizei sagen?“, fragte Babette interessiert.
„Ganz sicher nicht“, antwortete Jenny kopfschüttelnd. „Auch wenn ich mich mit Commissaris Ruijters mittlerweile gut verstehe … Ich meine, sie ist bei meinem ersten Fall tatsächlich auf meinen Plan eingegangen, wie wir den Täter aus der Reserve locken können. Das hätte sie ein paar Tage davor ganz sicher nicht gemacht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Du musst dir vorstellen, dass mir diese Polizistin bei meinem ersten Toten Vorhaltungen gemacht hat, weil ich einfach die Lage des Opfers verändert hatte, obwohl ich nur feststellen wollte, ob der Mann vielleicht noch lebt. Wäre es nach ihr gegangen, hätten wir eine Stunde lang neben dem Opfer stehen sollen, um auf die Polizei zu warten, obwohl man ihm unter Umständen noch das Leben hätte retten können.“
„Das ist ja unmöglich“, entgegnete Babette empört. „Hätte der Mann noch gelebt, dann wäre das doch unterlassene Hilfeleistung gewesen!“
„So in etwa habe ich ihr das auch gesagt, und sie hat später eingeräumt, dass wir uns eigentlich nicht verkehrt verhalten haben. Es hatte ihr nur nicht gefallen, dass jemand Polizei gespielt hatte, weil Amateure wohl dazu neigen, wichtige Spuren zu verwischen oder bestimmte Beweise unbrauchbar zu machen.“
„Ah, deshalb deine Einweghandschuhe“, sagte Babette und nickte verstehend.
Jennys Telefon klingelte, auf dem Display war der Name der Polizistin zu sehen. „Ja, Ilse?“, meldete sie sich und lauschte. „Okay, danke, bis gleich“, sagte sie und steckte das Handy weg. „In ungefähr einer halben Stunde wird unsere liebe Commissaris zusammen mit der Spurensicherung und der Rechtsmedizinerin hier eintreffen.“
„Halbe Stunde?“, wiederholte Babette. „Das geht ja noch.“
„Zeit genug, um dir zu erzählen, was bei meinem ersten Mordfall alles passiert ist“, schlug Jenny vor.
„Die Abenteuer der Miss Marple von Zeeland, Teil eins“, sagte ihre Freundin. „Ich bin ganz Ohr …“
Um Punkt Viertel vor acht hörte es so plötzlich auf zu regnen, als hätte jemand einen Wasserhahn zugedreht. Jenny und Babette schlenderten daraufhin zurück zu der Stelle, wo Jenny durch den Blitz auf die Tote aufmerksam geworden war. Wie auf ein geheimes Zeichen bogen im nächsten Augenblick von der Grote Straat kommend drei Fahrzeuge in die Fußgängerzone ein. Im ersten Wagen, einem BMW Coupé, saß Commissaris Ilse Ruijters, die offenbar mit ihrem Privatwagen hergekommen war. Ihr folgten zwei Transporter, von denen einer der Spurensicherung gehören musste, während der zweite sehr wahrscheinlich der Leichenwagen war.
„Guten Morgen, Ilse“, begrüßte Jenny die Polizistin, als die neben ihr anhielt, und zeigte auf den Weg neben der Kirche. „Die Tote sitzt hinten auf der letzten Bank.“
„Morgen, Jenny“, erwiderte sie und warf einen Blick in den immer noch in Dunkelheit getauchten Bereich. „Können wir da reinfahren?“
„Bis zum mutmaßlichen Tatort“, bestätigte Jenny. „Da ist Platz genug für alle Wagen. Fahren Sie durch, wir kommen hinterher.“
Die Polizistin nickte, gab den zwei Transportern hinter ihr ein Zeichen und bog in den Weg ein. Nachdem alle drei Wagen an ihnen vorbeigefahren waren, folgten Jenny und Babette der Kolonne, blieben aber auf Höhe des Leichenwagens stehen. Die Männer und Frauen, die mit der Commissaris hergekommen waren, bauten routiniert mehrere Scheinwerfer auf, um die Tote und ihre Umgebung umfassend auszuleuchten. Zudem wurde ein Sichtschutz aufgebaut, um Schaulustige davon abzuhalten, sich dem Tatort zu nähern und womöglich auch noch Fotos zu machen.
Blitze zuckten, als eine Frau in einem Schutzanzug mit einer Kamera um die Tote herumging und sie von allen Seiten und aus allen erdenklichen Winkeln fotografierte. Nach ein paar Minuten kam die Polizistin zu ihnen, wobei Jenny sie fast nicht wiedererkannt hätte. Ihre dunkelbraunen Haare trug sie jetzt offen, aber nicht zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, und anstelle eines Jacketts und einer Anzughose trug sie Jeans, Stiefel und eine gefütterte Stoffjacke.
„Hatte ich Ihnen nicht verboten, Mordopfer zu finden?“, fragte Ilse ironisch, als sie erst Jenny und dann Babette die Hand gab.
„Nein, daran könnte ich mich erinnern“, gab Jenny zurück und machte sie mit ihrer Freundin bekannt.
„Haben Sie irgendetwas beobachtet?“, wollte die Polizistin wissen. „Irgendwelche Personen, die schnell weggelaufen sind?“
Jenny schüttelte den Kopf. „Nein, aber dafür waren wir sehr wahrscheinlich auch zu spät dran. Wenn ich mich nicht irre, ist das Blut zumindest an einigen Stellen schon getrocknet gewesen, als wir sie gefunden haben. Wer immer das getan hat, ist bestimmt schon seit Stunden irgendwo, wo man ihn nicht mit der Tat in Verbindung bringen kann.“
Ilse zog eine Augenbraue hoch und nickte. „An Ihrer Beobachtungsgabe gibt es wieder mal nichts auszusetzen. Sie haben die Tote so gefunden, wie sie da sitzt?“
„Glücklicherweise konnte ich in der Position, in der sie da sitzt, nach ihrem Puls tasten“, sagte Jenny und bestätigte: „Wir haben sie exakt so vorgefunden.“ Sie beschrieb ihr auch noch, wie sie durch den Blitz auf das Mordopfer aufmerksam geworden war, da sie der Polizistin ansehen konnte, dass die in Anbetracht des stockfinsteren Abschnitts genau danach als Nächstes fragen würde. „Damit Sie nicht denken, ich jogge mit Nachtsichtgerät oder so“, fügte sie mit dem Anflug eines Grinsens hinzu, da mehr der Situation nicht angemessen gewesen wäre.
„Okay, dann erst mal danke, dass Sie mich direkt angerufen haben“, sagte Ilse und musste gähnen. „Auch wenn ich lieber noch ein oder zwei Stunden länger im Bett geblieben wäre.“
„Wird sich der diensthabende Kollege nicht beschweren, dass Sie ihm einfach einen Fall abgenommen haben?“, wollte Babette wissen.
Ilse winkte ab. „Der muss sich gerade um einen Kunstraub im großen Stil kümmern und ist froh, dass ich eingesprungen bin“, erklärte sie. „Außerdem wissen auch meine Vorgesetzten Bescheid, dass Jenny in meine Zuständigkeit fällt. Ich wäre also in jedem Fall angerufen worden.“
„Dann muss ich ja kein ganz so schlechtes Gewissen haben“, meinte Jenny.
„Ich melde mich später noch bei Ihnen wegen der Aussage zum Fund der Toten“, sagte die Polizistin an Jenny gewandt, dann sah sie Babette an. „Ich nehme an, Sie kann ich über Jenny erreichen?“
„Ja, ich laufe auch nicht weg“, antwortete Babette. „Ich bin ja erst im Dezember nach Zuiderdijk gezogen und habe vor zu bleiben.“
Ilse nickte zufrieden und verabschiedete sich, da sie sich um den offensichtlichen Mordfall kümmern musste. Jenny und Babette machten sich auf den Weg zurück zur Pension, weil Letztere keine Lust hatte, in der Dunkelheit zu sich nach Hause zu gehen. Am östlichen Horizont regten sich zwar erste Anzeichen für den beginnenden neuen Tag, aber es war immer noch düster genug, um von dem Messerstecher angefallen zu werden, der die Frau an der Kirche auf dem Gewissen hatte.
„Ich habe euch doch gewarnt, dass Joggen gefährlich ist“, sagte Rainer, nachdem Jenny und ihre Freundin in die Pension zurückgekehrt waren. Als Erstes hatte Jenny heiß geduscht, weil es ihr vom Herumstehen an der Kirche letztlich doch zu kalt geworden war. Anschließend hatte auch Babette von dem Angebot Gebrauch gemacht und sich von Jenny eine Jeans und ein Sweatshirt geborgt, die beide angesichts ihrer zierlichen Statur natürlich viel zu groß waren. Jenny war danach zielstrebig in die Küche gegangen und einige Minuten später mit zwei Tassen kochend heißem Tee zurückgekehrt, den sie zu ihrem Privattisch in die hinterste Ecke des Speisesaals gebracht hatte. Der war um diese Zeit noch verwaist, da aktuell nur etwas mehr als die Hälfte aller Zimmer vermietet war, und davon nur drei an Touristen, die am Sonntag offenbar noch ausschlafen wollten. Die übrigen belegten Zimmer waren von einem Bauunternehmen gemietet worden, das in der Nähe auf einer Großbaustelle tätig war und Arbeiter aus aller Welt beschäftigte, die alle zwei bis drei Wochen an ihrem einzigen arbeitsfreien Tag auf andere Großbaustellen „umgesiedelt“ wurden. Jenny hatte ein paar Mal versucht, hinter den Sinn dieser ständigen Wechsel zu kommen, war aber bei den Arbeitern regelmäßig an der Sprachbarriere gescheitert. Sie vermutete, dass die Arbeitgeber damit irgendwelche arbeitsrechtlichen Vorschriften umgehen konnten, die erst bei längerer Beschäftigung gegriffen hätten. Illegal konnte das Ganze aber wohl nicht sein, da sie Ilse gebeten hatte, ihre Kollegen vom Fach zu fragen, ob sie selbst sich Ärger einhandelte, wenn sie nur zusah und nichts unternahm. Immerhin hatte sie schwarz auf weiß in einer E-Mail die Mitteilung erhalten, dass sie sich in keiner Weise schuldig machte.
Rainer saß bereits da und frühstückte, gleich neben dem Teller lag sein Tablet, auf dem er sich irgendwelche Filmausschnitte ansah.
„Wir leben aber doch noch“, wandte Jenny ein.
„Ihr ja“, erwiderte er. „Aber der Spruch sagt auch nichts darüber aus, für wen das Joggen gefährlich ist. Das können auch Radfahrer und Autofahrer sein, die einem tollwütigen Jogger ausweichen müssen und im Graben oder an einem Baum enden.“
„Okay, das kann ich ja noch verstehen“, sagte Jenny. „Aber diese Frau ist ja nicht erstochen worden, nur weil wir gejoggt haben.“
Rainer verzog das Gesicht auf eine Weise, die „Möglich ist alles“ zu sagen schien. „Vielleicht geht es ja nicht mal darum, dass ihr joggen wart. Vielleicht hat diese Frau das gemacht, und der Mann hatte die Nase voll und hat ihrem Treiben ein Ende gesetzt.“
Jenny verdrehte die Augen. „Man merkt, dass du jahrelang in der Traumfabrik gearbeitet hast“, sagte sie kopfschüttelnd. „Was siehst du dir da eigentlich an?“
„Testaufnahmen für ein neues Projekt“, sagte er. „Meine Söhne wollen wissen, ob ich damit einverstanden bin oder ob ich Verbesserungsvorschläge habe.“
„Und? Bist du? Hast du?“, fragte sie.
„Ja und ja. Sie haben bei mir gut aufgepasst und verstehen ihr Handwerk, und Verbesserungsvorschläge gibt es immer. Die Frage ist nur, ob das Budget eine Umsetzung solcher Vorschläge erlaubt.“ Wieder sah er auf das Tablet und nickte zufrieden. „Aber jetzt mal zu euch und eurem netten Fund. Hat die Polizei schon eine Ahnung, wer das Opfer ist?“
„Ach, verdammt!“, rief Jenny, anstatt zu antworten, griff nach ihrem Smartphone und stand auf.
„Was hat sie denn?“, wunderte sich Rainer, der ihr hinterhersah, wie sie zum Empfang ging und dort am Computer etwas eingab.
„Sie will wissen, ob sich ein Mörder bei ihr einquartiert hat“, sagte Babette in verschwörerischem Tonfall.
„Nein!“, schallte im nächsten Moment Jennys Stimme durch den Speisesaal.
Als Rainer fragend eine Augenbraue hochzog, meinte Babette: „Sieht so aus, als wäre ein Mörder im Haus.“
Jenny schaute finster drein, als sie vom Empfang an den Tisch zurückkehrte.
„Und?“, fragte ihre Freundin.
„Die Adresse ist identisch“, murmelte Jenny mürrisch. „Das muss seine Frau sein.“
„Wer muss wessen Frau sein?“, wollte Rainer wissen. „Ich kann dir nicht folgen.“
„Oh, tut mir leid“, sagte Jenny. „Die Tote heißt Marie Velsinga, und einer meiner Gäste heißt Victor Velsinga. Die Adresse ist identisch, also kann man wohl davon ausgehen, dass es sich um seine Frau handelt.“
„Und er ist der Mörder?“
Jenny sah ihn entgeistert an. „Was? Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Babette hat gesagt, dass …“
„Babette!“, fauchte sie ihre Freundin an. „Du kannst doch so was nicht erzählen, wenn du überhaupt nicht weißt, ob das stimmt!“
„So ernst habe ich das ja gar nicht gemeint“, versuchte Babette sich zu verteidigen.
„Immerhin klang es ernst genug, dass Rainer es für bare Münze genommen hat“, betonte Jenny. „Hör unbedingt auf, solche Bemerkungen oder Andeutungen zu machen. Das führt nur zu noch mehr Problemen, und ich weiß nicht mal, wie ich das vorrangigste Problem lösen soll.“
„Welches Problem ist das?“, erkundigte sich Rainer. „Vielleicht kann ich dir ja dabei helfen oder dir wenigstens einen Tipp geben.“
„Dann gib mir mal einen Tipp“, entgegnete sie frustriert seufzend, „wie ich Velsinga beibringen soll, dass seine Frau tot ist.“
„Meine Frau ist tot?“, ertönte in der nächsten Sekunde eine entsetzte Stimme hinter Jenny.