Kapitel 1
„Es riecht irgendwie … tot hier unten, findest du nicht?“
„Nichts da, Lou!“, sagte Josh düster und schob mich an den Schultern in den rechten Gang. „Vor der Hochzeit keine Leiche mehr.“
Dramatisch sog ich die Luft ein – was ich sofort bereute, da ich eine Nase voll Moder, Schimmel und anderer Kölner-Keller-Kunst einatmete. „Bist du verrückt? Sag so was doch nicht so laut. Es sind nur noch zwei ganze Tage, bevor wir heiraten, und wenn du nicht aufpasst, forderst du mit deinem unachtsamen Gerede den Leichengott heraus.“
Josh lachte leise, ließ die Hände von meinen Schultern sinken und blieb vor Abteil drei stehen. Die nackte Glühbirne über unseren Köpfen flackerte und warf verzerrte Schatten an die Betonwände, die Auffangstation für Wasserflecken in Not zu sein schien.
„Ich huldige dem Leichengott täglich mit meiner Arbeit bei der Kripo. Ich hab was gut bei ihm“, murmelte Josh, während er einen Schlüssel aus seiner Jeanstasche zog und das Kellerabteil der Familie Rispo öffnete.
Joshs Vater wohnte mit seinen Söhnen – mittlerweile nur noch mit zwei von fünf plus meiner sehr schwangeren Schwester Emily – seit Ewigkeiten in diesem Mehrfamilienhaus in Köln-Zollstock. Das schien auch der ungefähre Zeitraum zu sein, vor dem jemand das letzte Mal ihrem Kellerabteil einen Besuch abgestattet hatte.
„Oh mein Gott.“ Ich quietschte erschrocken auf und klammerte mich an Joshs Arm fest, als etwas Schwarzes mit viel zu vielen Beinen vor dem Lichtkegel meines Handys weglief, mitten in den Berg an Gerümpel vor uns, der aus einem kaputten Fahrrad, einer verstaubten Campingausrüstung und einem Haufen Pappkartons bestand, die über und über mit, wie es schien, buntem Müll gefüllt waren.
„Ernsthaft, Lou?“ Josh schälte meine Nägel aus seinem Unterarm. „Du schaust Mördern ins Gesicht und traust dich, Trudi zu sagen, dass ihr Kleid ‚zu wenig Stoff‘ hat und ‚unpassend‘ für unsere Hochzeit ist, aber vor Spinnen hast du immer noch Angst?“, fragte er kopfschüttelnd.
Ich zog eine Grimasse. Trudi war meine ehemalige Angestellte, die ich schließlich hatte feuern müssen, weil in ihrer Anwesenheit die Brandgefahr in meinem Blumenladen einfach zu groß geworden war. Doch sie war noch immer eine gute Freundin, hatte das Herz eines Elefanten, das Stilgefühl eines Paradiesvogels auf Crack und war in etwa so alt wie die pissgelben Wasserflecken an den Wänden dieses Kellers. Also Äonen.
„Trudi und Mörder haben etwas Wichtiges gemeinsam, Josh“, erklärte ich und zog beim Anblick der Spinnenweben, die sich über die Decke fächerten, die Schultern höher.
„Beide machen mir das Leben schwer und sollten definitiv keine Waffe in die Hand gedrückt bekommen?“, fragte Josh trocken.
Ich schnaubte. „Nein. Sie haben nur zwei Augen und zwei Beine. Sind also harmlos.“
Abgesehen davon hätte ich Trudi nicht in dem Hauch von Nichts und eigenen Hautfalten bei unserer Hochzeit auftauchen lassen können. Denn wenn es etwas gab, vor dem ich noch mehr Angst als vor Spinnen, Trudis Trotzanfällen und Mördern hatte, dann war es die steile Falte zwischen den Augenbrauen meiner Mutter. Sie bedeutete Schlimmeres als den Tod. Nutella-Verbot beim Sonntagsbrunch, Hunde mit zerrissenen Trommelfellen und Sätze wie: „Ich bin sehr enttäuscht von dir, Louisa Josephine Manu!“. Das Risiko war schlichtweg zu groß und Trudis Kleid schlichtweg zu hässlich gewesen.
„Du hast auch zwei Augen und zwei Beine – und ich würde niemals auf die Idee kommen, dich harmlos zu nennen“, murmelte Josh und scannte mit dem Blick die Unordnung vor ihm. „Was genau suchen wir?“
„Etwas Blaues oder Geliehenes“, erklärte ich und leuchtete die verschiedenen Kisten ab, in denen sich neben dem Papiermüll auch altes Spielzeug, Videokassetten, Skischuhe und andere Sperrmüllberge befanden. „Wann hat hier unten das letzte Mal jemand aufgeräumt?“
„Keine Ahnung. Als meine Mutter noch gelebt hat?“, mutmaßte Josh und neigte den Kopf. „Also vor knapp siebzehn Jahren.“
„Mann. Erinnere mich daran, dass wir unseren Keller mal aufräumen. Bevor er so aussieht.“
Josh legte mir eine Hand in den Nacken und strich mit dem Daumen darüber. Als ich den Blick hob, sah ich, dass seine dunklen Augen amüsiert funkelten. „Was?“
„Wen genau umfasst dieses Wir?“, wollte er interessiert wissen.
Ich lächelte breit und drückte seine Hand. „Dich und deine Muskeln?“
Er seufzte gespielt schwer. „Ich wusste, dass du mich nur wegen meiner Muskeln und meiner Fähigkeit, Spinnen zu entfernen, heiratest.“
Ich grinste. „Das ist nicht wahr. Du vergisst deine Lasagne und die Tatsache, dass ich hier draußen vor eurem Abteil stehen bleiben darf, bis du jede einzelne Kiste angehoben hast und sichergegangen bist, dass dort drunter nichts lebt. Ach, und dein Geld natürlich.“
„Welches Geld?“
„Wie, du hast kein Geld?“, rief ich ungläubig. „Aber schön, wenn es sein muss, heirate ich dich eben auch ein wenig wegen deines Charakters.“
Seine Mundwinkel zuckten und die altbekannte Wärme flutete meinen Körper, die sich auch nach etlichen Jahren Beziehung noch immer in meiner Brust ausbreitete, sobald er mich ansah und lächelte.
Viele glaubten, dass Joshua Rispo seine Mundwinkel nicht oft benutzte und seine Fähigkeiten sich darauf beschränkten, Mörder zu fangen, Liegestütz und seine vier jüngeren Brüder zur Sau zu machen. Ach ja, außerdem brillierte er natürlich noch darin, mich mit düsterem Blick und einer Menge Fantasie daran zu hindern, ihm dabei zu … ähm … nannten wir es mal helfen, Kriminelle hinter Gitter zu bringen. Doch die meisten seiner Bekannten würden behaupten, dass er nicht gut darin war, zu lachen, Spaß im Leben zu haben und den Moment zu genießen.
Und sie hatten absolut recht. Außer, er war mit mir zusammen.
Das waren nicht meine Worte! Es waren seine. Ich hatte möglicherweise aus Versehen sein Ehegelübde gelesen – und dabei die ein oder andere Träne vergossen. Josh war nicht dafür bekannt, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, von Wut mal abgesehen, und hatte trotzdem genau die richtigen Worte gefunden. Ich bereute es fast, sie schon zu kennen und auf meiner Hochzeit nicht das erste Mal zu hören. Aber wenn er mich davon hätte abhalten wollen, das Gelübde zu lesen, hätte er es wirklich besser verstecken sollen. Natürlich hatte ich es im Ofen gefunden, ich bewahrte dort schließlich manchmal meine Chipstüten auf.
Egal, bald war er vertraglich dazu verpflichtet, mir meine Neugierde zu verzeihen. Denn wenn nichts schiefging – was mein Plan war! –, würden wir übermorgen einmal laut „Ja“ sagen und endlich Steuern sparen. Außerdem natürlich für immer zusammen und glücklich sein und … was auch immer ich in mein Ehegelübde schreiben würde. Das ich ganz sicher heute in Angriff nehmen würde. Es war acht Uhr morgens, ich hatte eine Menge Zeit und … Ich zuckte zusammen, als sich eine Spinne von der Decke auf einen alten Schlafsack abseilte, auf den jemand mit Edding
Josh und Mo stinken. Sehr!
geschrieben hatte. Ach, Geschwisterliebe.
„Lou“, sagte Josh sanft. „Wir können auch wieder hochgehen. Du wolltest hier runter!“
„Nein, nein, schon gut.“ Ich streckte die Schultern durch. Das hier war mir wichtig. „Ich bin … stark.“
Josh pikste in meinen nicht vorhandenen Bizeps.
„Mental!“, erwiderte ich verärgert und schlug seine Hand weg. „Finn meinte, dein Vater hätte all die Bastelarbeiten deiner Mutter nicht weggeschmissen, sondern hier unten in eine Kiste gepackt. Also: die suche ich.“
Josh seufzte. „Lou, meine Mutter in allen Ehren: Sie war keine großartige Künstlerin. Sie hat Müll zu neuem Müll verarbeitet. Willst du dir ernsthaft eine alte Blume aus Zeitungspapier und Büroklammern an dein schönes Hochzeitskleid pinnen? Oder ein Kastanienmännchen mit zerquetschen Kronkorkenbeinen ins Haar stecken?“
„Ja“, erwiderte ich und lächelte. „Ich habe deine Mutter nie kennengelernt, aber ich fände es schön, wenn sie trotzdem bei unserer Hochzeit dabei ist, weißt du? Zumindest symbolisch. Finn meinte, sie hätte ganz viele kleine Figuren gebastelt, so wie seinen Schlüsselanhänger, und an Haarspangen geklebt. Vielleicht finden wir so was Ähnliches? Das kann ich zur Not unter meinen Haaren verstecken. Oder mich doch noch für einen Schleier entscheiden.“
„Okay“, murmelte Josh, schloss den Arm um meine Schultern und zog mich fest an sich, bevor er sacht meine Schläfe küsste. „Ich mag die Idee. Dass sie … symbolisch dabei ist. Danke also, dass du dein Modebewusstsein für sie aufs Spiel setzt.“
Ich sank in seine Berührung und lachte. „Von welchem Modebewusstsein redest du?“ Ich trug heute eine Jeans mit einem Loch an der Stelle, wo meine Oberschenkel aneinanderrieben, einen Schnürsenkel als überhaupt nicht funktionellen Gürtel und mein Louisa’s Flower Power-Poloshirt, das Emmi sich weigerte, zu tragen, weil es mit seiner Hässlichkeit gegen ihre religiösen Überzeugungen verstieß. Sie war feste Anhängerin des Schwachsinntums.
„Na, du weißt, wie du Jeans und T‑Shirt erfolgreich kombinierst“, sagte Josh leichthin und gab mir noch einen Kuss auf den Scheitel, woraufhin ich warm seine Hand drückte.
Man hätte es ihm nicht am Gesicht angesehen, aber über seine Mutter zu sprechen, machte ihn immer emotional. Das erkannte ich allein an seinem Extrakuss.
Seine Mutter war vor fast siebzehn Jahren ermordet worden, ihr Täter nie gefasst, was der Grund war, aus dem er Kriminalkommissar geworden war. Josh meinte immer, dass es okay war. Dass es nicht mehr so wehtat. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte. Dass es ihn noch immer bis in seine Träume verfolgte, dass der Mörder auf freiem Fuß war. Letztes Jahr hatte er einmal kurz die Hoffnung gehabt, dem Täter auf die Spur zu kommen. Sie hatten herausgefunden, dass ein Auftragskiller verantwortlich für den Tod seiner Mutter gewesen war. Doch die Recherche nach dem Schuldigen hatte Josh fast seinen Verstand, sein Leben, nicht zu vergessen unsere Beziehung gekostet. Weshalb er mir hatte versprechen müssen, dass er den Fall aufgab, bevor ich ihm versprach, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen. Aber das war mittlerweile ferne Vergangenheit und nie wieder Thema gewesen. Wir waren drüber hinweg.
„Also was Blaues oder Geliehenes“, murmelte er, trat ins Abteil und hob die ersten Kisten an. „Nicht einfach was Altes?“
„Nee …“ Ich lächelte breit. „Trudi ist mein was Altes.“
Josh lachte leise. „Ernsthaft?“
„Na, sie wollte unbedingt Teil der Hochzeit sein! Ich erfülle ihr den Wunsch. Und können wir uns ein wenig beeilen, bitte? Mir ist kalt.“
„Immer dieses Wir“, murmelte er amüsiert und fing an, systematisch die Kisten zu durchsuchen.
Wir, also größtenteils Josh und seine Muskeln, beeilten uns, hoben jede Kiste an, durchstöberten altes Spielzeug und Drei Fragezeichen-Kassetten – und fanden trotzdem nichts außer einer Reihe alter, selbst gebastelter Handtaschen, zusammengenäht aus verschlissenen Einkaufstüten, die weder mir noch der Falte zwischen den Augenbrauen meiner Mutter jemals gefallen würden.
Nach einer Dreiviertelstunde gaben wir schließlich auf. Josh musste zur Arbeit und ich hatte Trudi versprochen, heute Vormittag ein neues Kleid mit ihr zu kaufen. Meine Mitarbeiterin Sonja und meine Azubine Leonie würden sich um den Laden kümmern. Emily war zu schwanger, um zu arbeiten, und Sonja und Leonie sehr froh darum. Meine Schwester war schon ohne Schwangerschaftshormone des Teufels, geschwollene Füße und tretendem Baby in ihrem Körper keine freundliche, zuvorkommende Person. Doch ihr letztes Trimester wirkte sich definitiv nicht positiv auf ihr Gemüt aus. Was man jetzt deutlich durch die Wohnungstür von Rispo Senior hören konnte.
„Ich hab dir gesagt: Nur über Lous Leiche nennen wir unser Baby Mandalorian!“, drang Emmis liebliches Gebrüll durch das Holz, das jeden König der Löwen-Fan wohlig hätte aufseufzen lassen. „Und was hast du gegen Persephone für ein Mädchen?“
„Persephone hört sich an wie der Markenname eines persischen Handyanbieters“, rief Finn zurück, Joshs jüngerer Bruder und der Vater des ungeborenen Kindes.
„Sie ist die Göttin der Unterwelt!“
„Kann nicht sein. Denn ich bin mir scheiße sicher, dass du den Job gerade hast!“, feuerte Finn zurück.
„Warum muss es über meine Leiche sein?“, fragte ich ungläubig. „Warum kann es nicht deine oder ihre eigene sein?“
„Kein Leichengerede, Lou!“, sagte Josh warnend. „Wir fordern es nicht heraus, schon vergessen?“
Ich seufzte, nickte jedoch, bevor ich unglücklich auf die Tür sah, durch die Emily Finn gerade zu verstehen gab, dass er Liebe mit seinem Knie machen sollte. „Meine Handtasche ist noch da drin.“
„Mhm. Hartes Leben.“ Josh schlug mir auf die Schulter und trat einen Schritt zurück. „Ich geh zur Arbeit.“
Ungläubig sah ich ihn an. „Du kommst nicht noch mit rein?“
„Nope. Aber ich frag meinen Vater, ob er weiß, wo die Kiste mit Mamas Kram ist, ja?“
Mit verengten Augen sah ich zu ihm auf. „Es wäre sehr unhöflich von dir, mich da jetzt allein reingehen zu lassen.“
Seine Mundwinkel zuckten, bevor er mich sacht küsste. „Wie gut, dass niemand uns beide jemals als höflich beschimpft hat. Außerdem: du bist schon mit diversen Mördern fertig geworden, du wirst auch Emmi und Finn bezwingen.“
„Aber Sie haben im Gegensatz zu Mördern keine Manieren und kennen keine Zurückhaltung!“
„Ja, hast recht. Mörder sind für ihren menschenfreundlichen Umgang bekannt“, bemerkte er trocken, als sein Handy klingelte. „Rispo?“, meldete er sich im nächsten Moment, und der Tatsache, dass sein Gesicht sich innerhalb von Sekunden in Marmor verwandelte, entnahm ich, dass es die Arbeit war. „Schon wieder?“, sagte er genervt und rieb sich den Nacken. „Wo? Ja. Ja. Ich bin in zwanzig Minuten da. Bis dann.“
„Ein Mord?“, wollte ich wissen, sobald er aufgelegt hatte.
„Nein. Noch ein Feuer in der Kanalisation.“
„Ernsthaft?“
Seit mehreren Wochen fand es eine Gruppe Jugendlicher äußerst witzig, in Gullys zu steigen und unter der Erde Dinge anzuzünden. Und da die Polizei zurzeit durch eine Krankheitswelle unterbesetzt war, hatte Josh die Freude gehabt, sich die immer größer werdenden Brandstellen anzusehen – und doppelt so oft zu duschen wie sonst.
„Ja. Diesmal war es in der Nähe einer Schule. Sie fangen an, sich Sorgen zu machen, also … Ich muss wirklich los.“ Er drehte sich um und nahm die erste Treppenstufe. „Viel Spaß mit Finn und Emily. Bis heute Abend, Lou!“
„Josh! Es ist dein Bruder!“, rief ich ihm hinterher.
„Was mein ist, ist auch dein – und Emmi deine Schwester“, hallte seine Stimme durch den Flur und im nächsten Moment fiel die Haustür ins Schloss.
Klasse.
Genervt stieß ich die Wohnungstür auf, die wir vor unserem Kellerbesuch nur angelehnt hatten. Die letzten Wochen waren mehr als anstrengend gewesen. Ich war immer davon ausgegangen, dass die Organisation einer Hochzeit zwar stressig sein, aber die Aussicht auf eine riesige Torte – und zweitrangig, aber fast ebenso wichtig: die Ehe – als Belohnung es am Ende schon erträglich machen würde. Leider hatte ich in meiner Rechnung vergessen, meine Mutter hinzuzuaddieren, die mir erklärte, dass eierschalenfarbene Servietten eine Zumutung waren, und ein DJ, der Lieder mit Schimpfwörtern darin spielte, einer satanistischen Huldigung glich. Dementsprechend hatte ich in den letzten Monaten schon eine Menge Geschrei ertragen müssen und konnte auf weiteres von meiner Schwester und ihrem Freund verzichten. Am besten machte ich mich also unsichtbar – so gut das als Frau mit einer Vorliebe für Schokolade eben ging.
Ich stahl mich auf Zehenspitzen durch den schmalen Flur, an drei Türen vorbei und lugte ins Wohnzimmer, auf dessen Esstisch meine Handtasche lag.
Emily und Finn standen mit dem Rücken zu mir und blätterten geräuschvoll in einem Buch namens Besonders absurde Babynamen, die kein Kind tragen sollte herum. Der Titel war reine Spekulation meinerseits, aber die Vorschläge, die sie laut vorlasen, die von Horst-Horton über Yogurette bis zu Fantalina reichten, sprachen für sich. Sie waren dementsprechend so beschäftigt damit, den hässlichsten Namen der Welt zu finden, dass ich Hoffnung schöpfte. Vielleicht bemerkten sie mich gar nicht, wenn ich mich ganz vorsichtig –
„Lou! Hilf mir! Erklär Finn, warum man ein Kind nicht Horst-Horton nennen kann!“
Seufzend blieb ich stehen. „Alle Namen, die ich in den letzten sechs Monaten gehört habe, waren nicht … menschenfreundlich, Emmi“, gab ich zögerlich zu. Denn ich würde nicht den Fehler machen, mich auf eine Seite zu schlagen. „Deine Ideen ebenso wenig wie die von Finn.“
Schockiert schnappte Emmi nach Luft. „Ich hab Marie vorgeschlagen.“
„Mit Zweitnamen Juana!“, erinnerte ich sie.
Pikiert hob sie das Kinn. „Nun, sie wurde unter Einfluss von Marihuana gezeugt. Es wäre symbolträchtig.“
Finn schnaubte. „Mit dem Namen kann unser Kind niemals in die USA einreisen. Und was, wenn es superintelligent wird und die Energiekrise nur in New York lösen oder Krebs nur in Toronto heilen kann?“
„Toronto ist in Kanada!“, rief Emmi.
Finn winkte ab. „Alles dasselbe. Außerdem wird es ohnehin ein Junge.“
Emmi verdrehte die Augen. „In deinen Träumen. Es wird ein Mädchen. Ich spüre es.“
„Wäre es nicht leichter, sich für einen Namen zu entscheiden, wenn ihr herausfinden würdet, welches Geschlecht das Baby hat?“, schlug ich vor und zog meine Handtasche vom Tisch.
„Bist du bescheuert?“ Irritiert sah Finn mich an. „Überraschungseier machen keinen Spaß mehr, wenn man weiß, was für ein Spielzeug drin ist. Das weiß doch jeder. Und irgendeinen lustigen Nebeneffekt muss Kinderkriegen doch haben, oder nicht? Warum sonst sollte man sich das da antun.“ Er gestikulierte zum dicken Bauch meiner Schwester.
Emily nickte bestätigend. Sie hatte offenbar überhaupt kein Problem damit, sich selbst als Überraschungsei zu definieren.
Ich war froh, als mein Handy klingelte, da es mich davor bewahrte, einen Kommentar abgeben zu müssen. Allerdings hielt meine Glückseligkeit nicht lang an.
„Hast du die Anzeige gesehen, Lou?“
Ich blinzelte und unterdrückte dann ein schweres Seufzen. Wie unvorsichtig von mir, nicht auf die Anruferkennung zu gucken. „Dir auch einen schönen Morgen, Mama! Hast du gut geschlafen?“, erwiderte ich schließlich freundlich.
„Louisa! Hast du die Anzeige gesehen?“
„Du wurdest angezeigt? Wofür?“, fragte ich unschuldig.
„Lou! Eure Hochzeitsanzeige. Emily hat mir gerade das Foto geschickt. Es ist eine Katastrophe!“
Verärgert wandte ich mich zu meiner Schwester um. „Was hat Emily dir geschickt?“
Meine Schwester grinste bei meinen Worten breit und deutete auf die andere Seite des Tisches, auf der eine Zeitung lag.
„Du hast es versäumt, deine eigene Hochzeitsanzeige zu studieren?“, fragte meine Mutter perplex.
„Ja“, erwiderte ich gelassen und umrundete den Tisch. „Wenn ich meinen Namen lesen will, schau ich mir den Schriftzug über meinem Blumenladen oder alte Polizeiberichte an.“ Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es überhaupt keine Ankündigung zu Rispos und meiner Hochzeit gegeben. Aber meine Mutter hatte sich mit Joshs Vater abgesprochen und sie hatten es für eine nette Geste gehalten, ein Foto von Josh und mir sowie unser baldiges Hochzeitsdatum in eine Ausgabe der Rheinländer Rundschau drucken zu lassen. Der Zeitung, bei der Joshs Mutter vor ihrem Tod gearbeitet hatte. Also hatte ich der Rundschau widerwillig einen Text geschickt. Wer wusste schon, was meine Mutter verfasst hätte?
Vermutlich: Undankbare Tochter, 30, endlich unter der Haube, gerade rechtzeitig, bevor ihre Eierstöcke verschrumpeln!
„Schau sie dir einfach an, Louisa!“, sagte meine Mutter unwirsch, also tat ich ihr den Gefallen.
Emily hatte bereits die richtige Seite aufgeschlagen und …
Ich unterdrückte ein Lachen. Leider ohne Erfolg.
„Das ist nicht witzig!“, herrschte Mama.
„Mir gefällt sie“, widersprach ich leichthin. „Ich glaub, diese Louisa Mandu könnte sehr glücklich mit Joshua Risotto werden. Sie sehen süß zusammen aus und werden immer gut genährt sein.“
„Du hast das absichtlich gemacht!“, fuhr sie mich an. „Ihnen eure falschen Namen gegeben.“
„Nein, wirklich nicht“, meinte ich lachend. „Ich hab ihnen den Text per WhatsApp geschickt und die Autokorrektur muss den Rest erledigt haben. Sorry, das war ein Versehen. Aber hey: Mandu und Risotto sind unfassbar lecker.“
Ich war sehr froh, die steile Falte zwischen Mamas Augenbrauen, die sich definitiv gerade bildete, übers Telefon nicht sehen zu können. „Louisa Josephine Manu, du nimmst das nicht ernst.“
„Es ist nur ein Missverständnis, Mama!“
„Das korrigiert gehört. Wir können uns diese Woche keine Fehler leisten.“
„Ach, ich leg immer ein bisschen Geld für meine Fehltritte beiseite.“ Ich machte einfach zu viele und meine Versicherung zahlte für zu wenige.
Meine Mutter ignorierte mich. „Ich hab schon angerufen, aber die Zeitungsleute meinen, sie haben gedruckt, was sie bekommen haben, und es kann nur Beschwerde einlegen, wer die Anzeige aufgegeben hat. Also musst du vorbeifahren.“
Ich seufzte schwer. „Ich ruf gern heute Nachmittag an, aber -“
„Nein! Du fährst vorbei“, sagte sie laut. „Der junge Mann am Telefon meinte, dass sie sich keiner Schuld bewusst seien, und das können wir nicht so stehenlassen.“
„Es ist nur eine Zeitungsanzeige, Mama! Niemand liest mehr Zeitung.“
„Alle meine Freundinnen schon, Louisa. Und … und deine Großmutter auch. Sie kommt morgen und wird mir die Schuld für dein Versagen geben.“
Ich rieb mir mit der Hand über die Stirn. Meine Mutter hatte ein eher angespanntes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter. Sie liebte sie genug, um sie über meine Hochzeit bei ihr und Papa wohnen zu lassen, allerdings hatte sie auch angemerkt, dass es schwierig werden würde, auf die Schnelle einen Sarg aufzutreiben, in dem der alte Vampir schlafen konnte.
„Also: Regle das. Sie sollen eine korrigierte Version veröffentlichen, sonst bin ich äußerst enttäuscht.“ Im nächsten Moment legte sie auf.
Stöhnend ließ ich den Kopf in den Nacken fallen.
„Was ist los?“, wollte Emily scheinheilig wissen. „Hat ihr die Anzeige nicht gefallen? Ich persönlich finde sie toll!“
„Es war gemein, ihr das Bild zu schicken“, informierte ich sie verärgert. „Sie will, dass ich hinfahre und sie dazu überrede, eine Korrektur zu drucken.“
„Na, wenigstens hat sie dann keine Zeit mehr, mich zu einer natürlichen Geburt ohne PDA zu überreden. Denn ich will alle Drogen, die ich kriegen kann, wenn ich schon Finns Dickschädel aus mir rauspressen muss.“
Genervt sah ich sie an. Das machte Emily seit achtundzwanzig Jahren. Von sich selbst ablenken, indem sie mit dem Finger auf mich zeigte. „Ich hab keine Zeit, ich muss mit Trudi ein neues Kleid kaufen.“
„Oh, sehr gut, ich komm mit“, verkündete Finn.
Blinzelnd wandte ich mich zu ihm um. „Was? Warum?“
„Ich brauch eine Krawatte. Papa meinte, ich soll bei eurer Hochzeit eine tragen.“
„Nein, nein. Schon okay.“ Ich winkte ab. „Ich finde, ein Hemd reicht, um -“
„Ich komm verdammt noch mal mit! Ich lass mir heute von keiner Mandu-Frau mehr sagen, was ich zu tun und zu lassen habe“, fuhr er mich an und stürmte an mir vorbei.
Seufzend sah ich zu meiner Schwester. „Alles gut bei euch beiden?“
Sie blinzelte perplex. „Ja. Besser denn je. Warst du gerade nicht dabei? Wir kommunizieren voll. Warum fragst du?“
Meine Mundwinkel zuckten. Sie hatte nicht unrecht. Rispos kommunizierten nun einmal mit Gebrüll und bösen Blicken.
„Freut mich, Emmi. Und nur noch anderthalb Wochen, dann ist der Geburtstermin. Du hast es bald geschafft.“ Bevor der richtige Spaß losgehen würde.
„Jaja“, murrte sie. „Es ist ätzend, aber ich überleb es schon.“
Ja. Ich hoffte nur, Finn auch.