Kapitel 1
Die Musik dröhnte durch die Lautsprecher und hinterließ ein penetrantes Summen in meinen Ohren. Aber das war gut so, denn dann konnte ich die Worte meines Nebenmannes wenigstens nicht verstehen.
Ich hatte in meinem Leben schon eine Menge Mist gehört, das meiste davon aus meinem eigenen Mund, doch das, was mein Date hier gerade von sich gab, schoss den Vogel wirklich ab.
Ich schielte zur Seite und sah, dass die Lippen des braunhaarigen Typens sich immer noch bewegten, deswegen nickte ich weiterhin, während ich einen Schluck von meiner Cola nahm und über die Köpfe der vor uns sitzenden Menschen hinweg auf das Eis sah.
Er hatte so vielversprechend gut ausgesehen! Süße Grübchen, noch alle Haare auf dem Kopf, hochgewachsene Statur. Und dann hatte er den Mund aufgemacht und alles zerstört. Ohne Vorwarnung. Wie sollte eine Frau bitte mit so viel Dummheit auf einmal umgehen?
„… oder?“, hörte ich ihn über die Musik hinweg schreien.
Ich stellte mir vor, dass er gerade „Ich bin langweilig, oder?“ gesagt hatte und konnte daher mit einiger Inbrunst: „Ja, total!“, zurückrufen.
Ariane schuldete mir etwas! Sie hatte mich mit diesem testosteronlosen Koch verkuppeln wollen.
Na gut, wenn ich ehrlich war, hatte ich nicht ganz zugehört, als sie ihn mir beschrieben hatte. Sie hatte damit angefangen, dass seine Lasagne himmlisch war, und ein weiteres Kaufargument hatte ich nicht gebraucht. Beim nächsten Mal würde ich es besser wissen – bevor ich noch einen meiner Freitagabende verschwendete.
„… immer wieder Basmatireis mit Jasminreis verwechselt wird, und ich finde es einfach nur frech, wie teuer der Sadrireis geworden ist! Ja, er mag der Beste sein, aber …“
Oh Gott.
Konnte das Eishockeyspiel nicht endlich losgehen? Dann könnte mir jemand einen Puck zwischen die Augen schießen und ich hätte ein edles, dramatisches und innovatives Ende für diesen Abend gefunden.
Die guten Plätze, auf denen wir saßen, waren das Einzige, was mich hier noch hielt. Ich war relativ talentiert darin, nervige Stimmen auszublenden – ich hatte eine jüngere Schwester, die die faszinierend blödesten Dinge von sich gab, wenn sie einen Joint zu viel geraucht hatte – und irgendwann würde die Stimme meines Dates schon zu einem angenehmen Plätschern werden und mit den Umgebungsgeräuschen verschmelzen. Kostenlos den Kölner Haien dabei zuzusehen, wie sie die Düsseldorfer EG hoffentlich in Grund und Boden stampften, war die Begleitung wenigstens wert. Die Cola hatte ich auch ausgegeben bekommen, ich würde mich also auf die guten Seiten konzentrieren.
„… machen Sie so beruflich?“
Oh. Das war keine Ja-Nein-Frage. Auf diese würde ich tatsächlich antworten müssen. Was frau nicht alles für eine Cola und ein Eishockeyspiel tat.
„Ich bin Blumenladeninhaberin und freie Journalistin.“
Das Letzte war ein wenig gelogen, ich hatte bis jetzt nur einen einzigen Artikel für das Kölner Blatt verfasst und der war von der Redaktion eigentlich auch grundlegend verändert worden. Theoretisch hatte ich mehr Erfahrung damit, mich fälschlich als Journalistin auszugeben, als tatsächlich eine zu sein. Was sollte es. Es machte mich interessanter.
Nur, Moment: Ich wollte für Prince Cooking ja gar nicht interessant sein.
„Na ja, die journalistische Seite lasse ich gerade etwas schleifen“, fügte ich deswegen hastig hinzu. „Ich bin nämlich wirklich faul, müssen Sie wissen.“
„Blumenladeninhaberin? Das hört sich aber interessant an. Vor allem, da …“
Er fing an, einen Monolog darüber zu führen, warum ich mich glücklich schätzen konnte, den faszinierenden Beruf einer Floristin angenommen zu haben, und ich konzentrierte mich wieder auf das Geschehen vor mir.
Ich wusste, dass mein Job fantastisch war. Das brauchte mir niemand mehr zu erklären. Was mir jemand erklären sollte, war, warum das Spiel immer noch nicht losging.
Als hätte der Stadionsprecher meine Gedanken gehört, rief er in dem Moment durch die Lautsprecher: „Und nun, meine Damen und Herren, begrüßen sie Shaaarkyyy, das Maskottchen der Kölner Haie!“
Sofort setzte ich mich aufrechter in meinen Sitz hin. Sharky war der beste Teil des Abends! Der Hip‑Hop und Breakdance tanzende Haifisch war seit Kindheitstagen meine Ikone. Für kurze Zeit hatte ich sogar den Berufswunsch geäußert, ihn zu ersetzen.
Da ich in Tierkostümen jedoch fürchterlich schwitzte und meine Breakdance-Künste sich darauf beschränkten, dass ich mich exzellent auf den Boden werfen konnte, hatte ich diesen Traum schnell wieder aufgegeben.
„Albern, oder?“, rief mein Date. „Ein Haifisch, der tanzt?“
Also, wenn ich ihn nicht bereits abgeschrieben gehabt hätte, dann spätestens jetzt.
Ich verengte die Augen in seine Richtung und sagte trocken: „Das ist Kunst.“
Ich konnte nur nicht ganz benennen, welche Art von Kunst. Moderne wahrscheinlich.
Ich wandte meinen Kopf ruckartig nach vorne, während Beyoncé durch die Lautsprecher anfing, den Single-Ladies zu empfehlen, ihre Hände in die Luft zu werfen – und wer war ich, den Rat der RnB-Queen zu missachten?
Mit den Armen schwenkend sah ich dabei zu, wie Sharky aufs Eis stürmte. Offenbar war er auch Single, denn er warf seine Arme ebenfalls in die Luft und vollführte kunstvolle Schwenker, bevor er mit der Breakdance-Einlage fortfuhr.
Mein Date konnte mir erzählen, was es wollte – der Hai war genial. Wie er die Flossen in die Luft hob, sich kurz auf dem Plüschkopf drehte, mehrfach um die eigene Achse wirbelte, auf die Knie fiel, sich den Plüschkopf vom Haupt riss … oh, Moment.
Das sah nicht mehr normal aus.
Das Maskottchen kniete nun auf allen Vieren, der Menschenkopf guckte aus dem massigen grauen Körper heraus, bevor es schließlich mit der Stirn zuerst aufs Eis fiel, zuckte und reglos liegen blieb.
Ich schlug die Hand vor den Mund und zehntausend Zuschauer taten es mir gleich.
Entweder das gehörte zur dramatischen Vorstellung oder … irgendetwas war da gehörig schiefgelaufen. Ich tendierte zu Letzerem, denn der Haifisch lag immer noch bewegungslos am Boden, während mehrere Menschen nun auf das Eis rannten und ihn auf den Rücken drehten.
Die Musik hörte auf zu spielen, die Halle wurde nur noch von lautem Stimmgewirr durchzogen, und wie gebannt starrte ich auf das Geschehen vor mir. Taktvoll wäre es gewesen, den Blick abzuwenden.
Gut, dass ich Taktgefühl nicht besonders viel abgewinnen konnte.
„Ich glaube … er ist tot“, stellte ich überrascht fest.
„Was?“ Mein Date lachte nervös auf, während die umherstehenden Leute weiter nach vorne drängten, um eine bessere Sicht zu haben.
„Er ist tot“, wiederholte ich und verrenkte meinen Hals, um neben einem zwei Meter breiten Mann hersehen zu können.
„Das können Sie doch nicht wissen“, schnaubte der Koch. „Er könnte ohnmächtig geworden sein … von der Hitze im Kostüm. Oder er könnte Epileptiker sein und er ist nur zu weit weg, als dass wir seine Zuckungen sehen …“
„Ja, könnte er …“ Doch wenn man sich mein Leben genauer ansah, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass der Stoffhaifisch so tot wie dieses Date war, unverhältnismäßig hoch. Es passte einfach zu mir, dass ich zu einem Eishockeyspiel ging und das Maskottchen vor meinen Augen starb. Ein abgetrennter Finger im Sperrmüll, eine Leiche, die von Stricknadeln durchbohrt worden war … und ein Maskottchen, das soeben seinen letzten Tanz getanzt hatte.
Ja, reihte sich doch wunderbar ein.
Außerdem zog sich eine Gänsehaut meinen Nacken hinunter – die ich nicht der Kälte des Eisstadions zuschreiben konnte.
Ich schämte mich dafür, aber ich war kurz davor, zu lachen.
Wer hätte das gedacht? Mit einem möglichen Toten nahm dieses Date doch noch eine skandalös gute Wendung. Eins war klar: Ich musste da runter aufs Eis.
Dort tummelten sich mittlerweile so viele Leute um den Toten, dass ich nichts mehr erkennen konnte, und seit ein paar Monaten war es quasi meine Aufgabe, auf mögliche Kriminalfälle zu achten …
Ich musste mir selbst auf die Schulter klopfen. Ich war ungemein talentiert darin, Dinge schönzureden. Dennoch: Es ging hier schließlich um meine Karriere und die Zukunft des Blumenladens, der, seit mein Gesicht mehrfach in der Zeitung gewesen war, solide schwarze Zahlen schrieb.
„Wir bitten alle Zuschauer, die Tribüne zu verlassen und nach draußen zu gehen“, schallte plötzlich eine emotionslose Stimme über die Ränge. „Das Spiel muss aus … Gründen verschoben werden.“
Aus Gründen! Dass ich nicht lachte. Als ob nicht allen hier klar war, warum das Spiel ausfiel.
Die Masse setzte sich in Bewegung, und immer wieder stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um noch einen Blick auf das Geschehen auf dem Eis zu erhaschen.
„Was tun Sie da?“, wollte der Koch schließlich wissen, als er mich beinahe umrannte, während ich gedankenverloren stehengeblieben war, um die aufs Eis schlitternden Sanitäter zu beobachten.
„Ich stille meine Neugierde“, sagte ich langsam und legte den Kopf schief.
„Laufen Sie weiter! Wir wollen hier alle raus“, blaffte ein bulliger Mann mit Schweinsaugen, der versuchte, sich an meiner Seite vorbeizudrängen. Ich verdrehte die Augen, setzte mich jedoch wieder in Bewegung. Die anderen wollten das Gebäude vielleicht verlassen, für mich galt das nicht.
Als wir gefühlte Stunden später die Tribüne endlich hinter uns gelassen hatten, stellte ich genervt fest, dass mein Date mir immer noch hinterherlief. Ich hatte gehofft, den Typen vielleicht in der Menge zu verlieren.
„Louisa!“, rief er über das stetig ansteigende Gemurmel hinweg. „Wo wollen Sie denn hin? Dort drüben ist der Ausgang!“
„Ja, ich weiß. Ich will aber nicht zum Ausgang.“
Ich kämpfte gegen den Strom der Masse an, der mich in Richtung Ausgang trieb. Auf den Zehenspitzen versuchte ich einen Überblick über das Geschehen zu behalten und nach den Türen zu suchen, die in den Servicebereich und somit in das Innere des Stadions führten. Jeder in diesem Raum schien jedoch größer zu sein als ich.
Ich schob mich seitwärts durch die Menschenkörper und versuchte nicht allzu viel von der verschwitzten Luft einzuatmen, bis ich endlich an einer der Wände ankam, an der ich mich zu einer Tür entlanghangeln konnte.
„Was haben Sie vor?“
Ich zuckte angesichts der Stimme an meinem Ohr zusammen. Der Koch war mir gefolgt. Ich dachte darüber nach, mir eine Ausrede zu überlegen, damit er mich allein ließ, war aber zu sehr in Eile, als dass ich mir die Mühe gemacht hätte. Wenn die Polizei erst eintraf und unten alles absperrte, hätte ich keine Chance mehr, mir ein Bild von der Leiche zu machen. Adrenalin pumpte durch meine Adern und da war wieder diese unbestimmte Aufregung, die ich jedes Mal verspürte, wenn ein Rätsel anfing, sich vor meinen Augen zu entfalten. Seit ich das indirekte Angebot des Kölner Blatts für kostenlose Publicity erhalten hatte, hatte ich auf eine Chance wie diese gewartet. Alles, was ich tun sollte, war, mich wieder in einen Kriminalfall einzumischen und danach über meine Erfahrungen zu berichten. Auch wenn man bei meiner Vergangenheit das Gegenteil hätte behaupten können, fielen mir Tote nicht tagtäglich vor die Füße. Meine letzte Leiche hatte ich vor Monaten entdeckt und ich konnte diese hier nicht einfach unbeachtet an mir vorbeiziehen lassen. Ich brauchte die Werbung. Ich wollte die Werbung! Sie war das letzte Körnchen, das mir zum sicheren Erfolg als florierende Floristin fehlte.
„Kommen Sie einfach mit“, seufzte ich schließlich und öffnete die Tür vor mir.
„Aber wohin?“
„Den toten Fisch sezieren.“
Als ich endlich, mein Date im Schlepptau, den Eingang zum Eis gefunden hatte, war die Fläche gerappelt voll. Spieler, Männer in Anzügen, Sanitäter und Polizeibeamte tummelten sich, sodass es niemanden interessierte, dass ich mich ebenfalls über die rutschige Fläche hinweg zu dem Haifisch drängte, dessen bewegungslose Flosse ich zwischen mehreren Paar Füßen und Schlittschuhen erkennen konnte. Ich hoffte inständig, dass kein Blut zu sehen war. Blut und mein Magen waren keine erfolgreiche Kombination, und wäre ich ein Vampir gewesen, hätte ich ein ernsthaftes Problem gehabt.
Ich rutschte über das Eis und fiel des Öfteren über meine Füße, sodass ich mich an fremden Armen und Schultern festhalten musste, aber die Menge schien zu schockiert, als dass mir jemand Beachtung schenkte. Vielmehr schien sich die allgemeine Aufmerksamkeit jetzt auf eine laute Stimme zu richten, die mir die Nackenhaare aufstellte.
„Allesamt runter vom Eis! Jeder, der keine Marke hat, verschwindet. Das hier ist kein verdammter Kindergeburtstag.“
Welch ein Glück, dass ich zwei Briefmarken in meiner Handtasche herumtrug – und als ob der Eigentümer der Stimme wüsste, wie ein Kindergeburtstag aussah.
„Marvin, machen Sie verdammt nochmal Ihren Job und bringen Sie die Leute vom Eis. Sie zertrampeln mir meinen Tatort.“
Die Gänsehaut zog sich von meinem Nacken aus nun auch über den Rest meines Körpers, und das hatte rein gar nichts mit der niedrigen Temperatur des Raumes zu tun. Es war Rispos Stimme. Die Stimme, die mir das letzte Mal, als wir miteinander gesprochen hatten, gesagt hatte, ich sei zu viel. Kompliziert. Arbeit.
Mir sprang mein Herz in den Hals, doch ich ignorierte das drückende Gefühl, das sich auf meinen Magen presste. Ich war darüber hinweg. Ja, er hatte mich verletzt, als er mich abgesägt hatte. Aber das war nun schon mehrere Monate her, und alles, was übrig geblieben war, war eine gesunde Wut.
Na ja, fast. Es schwebten möglicherweise noch ein paar andere, nichtige Gefühle durch meinen Körper, aber die beachtete ich nicht.
Mein Laden war wichtiger als meine dummen Emotionen, die sowieso nur andauernd Ärger machten. Ich reckte mein Kinn und schob mich weiter vor, auf eine schlaksige Gestalt mit blonden, wirren Haaren zu. Der Mann trug einen Anzug, der ihn zu verschlucken schien, und ich erkannte ihn als Marvin, den selbsternannten Recherchisten der Kölner Wache. Ich mochte Marvin. Er hatte mir bei den letzten zwei Fällen mehrfach, wenn auch nicht immer ganz absichtlich, geholfen. Wie es aussah, war er tatsächlich von seinem Schreibtischjob zu Rispos Partner befördert worden. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Er verehrte Rispo wie die Inder die Kuh – und deren Ego war nun wahrlich schon groß genug. Außerdem fiel es mir schwer, mir vorzustellen, wie es wohl aussehen mochte, wenn der Mann, dessen Statur mich immer ein wenig an ein abgenagtes Brathähnchen erinnerte, eine Pistole zog.
Marvin drehte sich jetzt um und sah etwas hilflos in die Menge von Gaffern. Mindestens zehn davon waren Spieler der Kölner Haie, die dreimal so breit und doppelt so hoch wie er schienen.
„Ähm, ihr habt den Kommissar gehört. Ihr müsst gehen“, stellte er lahm fest.
Er tat mir so leid, dass ich tatsächlich beinahe freiwillig wieder gegangen wäre, nur um ihm die Illusion zu lassen, dass er ein gewisses Maß an Autorität ausstrahlte. Leider hatte ich einen Job zu erledigen. Ich rutschte weiter nach rechts, um einen besseren Blick zu erhalten, während einige Uniformierte sich erbarmten und Marvin dabei halfen, den Großteil der Menge vom Spielfeld zu verbannen.
Ich hielt meinen Kopf gesenkt und ignorierte die Polizisten, meine Augen immer noch aufs Ziel gerichtet.
Zwischen zwei bulligen Oberkörpern hindurch konnte ich einen Blick auf das Gesicht des Opfers erhaschen. Die Haut war schneeweiß und hätte mit dem Eis verschmelzen können, wäre sie nicht von hellrosa Flecken unterbrochen worden. Der Tote sah aus wie eine Wachsfigur. Dunkle Haare, spitze Nase. Der Junge, der da lag, konnte keine fünfundzwanzig sein, und eine leichte Übelkeit sammelte sich in meinem Magen. Wieso hatte er sterben müssen?
Mein Blick glitt tiefer und die Kälte des Eises schien durch meine Schuhsohlen in meinen Körper zu wandern, während mein Atem in weißen Kondenswölkchen vor mir in der Luft hängen blieb. Das Kostüm war in der Mitte zerschnitten worden, sodass die Arme des Opfers nun auf dem frostigen Eis lagen und das blaue schlichte T-Shirt, das es trug, offenbarte. Ich hatte das Verlangen, seine Arme auf etwas Wärmeres zu betten, was absurd war, denn der Junge würde die Kälte ohnehin nicht mehr spüren. Das rot-schwarz-weiße Logo der Kölner Haie war direkt über einer goldenen, klobigen Uhr auf seinen rechten Unterarm tätowiert worden. Eine dünne Goldkette mit einem weißen Yang-Zeichen zierte seinen Hals und die rosa Flecken zogen sich über jedes sichtbare Stück Haut.
Ein breiter Rücken schob sich plötzlich in mein Blickfeld und ließ mich blinzeln. Die Kälte in meinen Gliedern wurde von einer Hitze vertrieben, die ich keiner bestimmten Emotion zuordnen konnte.
Gut. Es war Wut.
Und etwas anderes.
Ich erkannte Rispo sofort. Die Art, wie er über dem Opfer hockte, die sich langsam lichtende Menschenmasse um ihn herum vollkommen ausblendend, den Rücken gerade, die großen Hände auf seine Knie gestützt.
Ich schluckte.
Ich hatte ihn in den vergangenen Monaten des Öfteren durch die Fensterfront meines Ladens gesehen, wenn er einen seiner Brüder abholte, die Louisa’s Flower Power neuerdings zu ihrem Coolentreff gemacht hatten. Aber ein Rispo zum Anfassen war so viel gefährlicher als einer, den ich verstohlen durchs Glas beobachten konnte.
„Siehst du das?“, sagte einer der vor mir stehenden Spieler. Auf seinem Rücken standen eine große 22 und der Name Brüllig. Sein Nebenmann trug die 11, war hellblond und hieß Weidemann. Ich kannte sie beide von den Durchsagen des Stadionsprechers. „Er benutzt einen Block. Hat die Polizei kein Geld für Elektronik oder glaubt der Kommissar nicht an Technik?“
„Vielleicht verbietet es ihm seine Religion“, antwortete sein Nebenmann.
Ich musste unfreiwillig lachen und augenblicklich fuhr Rispos Kopf in die Höhe.
Ich schloss hastig meinen Mund. Er konnte mich unmöglich am Lachen erkannt haben.
„Marvin. Sagen Sie mir, dass das nicht Louisa Manu ist, die ich gerade unangemessen laut habe lachen hören.“
Oh. Vielleicht ja doch.
Die beiden Eishockeyspieler vor mir drehten sich zu mir um und gaben dadurch dem nun wieder neben Rispo stehenden Marvin eine wunderbare Sicht auf meine Wenigkeit frei.
Ich hob die Hand zum Gruß und lächelte breit.
Marvin sah unsicher zwischen mir und Rispos Rücken hin und her.
„Ähm … Und wenn sie es doch ist?“
„Dann wird es hier gleich sehr ungemütlich.“
„Ungemütlicher als mit der Leiche hier vor uns, meinen Sie?“
„Sehr viel ungemütlicher.“
„Oh …“ Der Recherchist lief tomatenrot an, sein Blick starr auf mein Gesicht gerichtet. „Vielleicht solltest du besser gehen, Louisa.“
Als ob.
Schnaubend schob ich mich zwischen den Kölner Haien hindurch, die mir bereitwillig Platz machten. Der gute Herr Grumpig könnte wenigstens den Anstand haben, mich anzusehen!
„Marvin, habe ich dir nicht das letzte Mal gesagt, dass du dich nicht von Rispo herumschubsen lassen sollst? Er braucht jemanden, der ihm ab und zu sagt, dass er ein Arschloch ist. Sonst vergisst er das immer.“
„Öhm, das hast du. Doch, aber … also Arschloch ist ein sehr negativ geladenes Wort und …“ In seinem Blick spiegelte sich die blanke Überforderung.
„Marvin, Sie sind Polizist“, sagte Rispo bemüht ruhig, der nun seinen Block zurück in seine Jeanstasche steckte. „Ist eine Blumenverkäuferin eine Autoritätsperson, die dazu befugt ist, Ihnen irgendetwas vorzuschreiben?“
„Blumenladeninhaberin“, korrigierte ich automatisch.
Rispo richtete sich auf und strich seine Hosenbeine glatt, bevor er sich ganz langsam und scheinbar gelassen zu mir umdrehte. Aber alles, von seinen fast schwarzen Augen bis zu seinem verhärteten Kiefer, ließ mich wissen, dass das ein Trugbild war.
Kommissar Joshua Rispo war eine fast ein Meter neunzig große, dunkelhaarige schlechte Laune auf zwei Beinen, und dennoch war er … wie war noch gleich der Fachterminus? Ach ja. Heiß.
Egal, auf wie dickem Eis er sich befand, egal, wie sehr ich ihn hassen wollte. Dieser Umstand war einfach nicht zu leugnen, und den Versuch, das zu tun, hatte mein Körper schon vor Ewigkeiten aufgegeben. Selbst in schwarzem T-Shirt und Jeans machte er eine bessere Figur als so manches nackte Unterwäschemodel. Er brauchte mich nur anzusehen und mein Magen fing an zu flattern, aber ich würde einen Teufel tun, ihm das zu zeigen. Deswegen lächelte ich nur, die Arme vor meinem Körper verschränkt. Ich hatte das Gefühl, dass ich demnächst in die Defensive würde gehen müssen. Unsere Beziehung, wenn man sie so nennen durfte, war nicht auf dem besten Nenner geendet.
„Louisa“, sagte er trocken. „Welch eine Überraschung, dich hier zu sehen. Man sollte dich als Leichenspürhund einsetzen.“
„Meine Bewerbung ist gestern raus.“
„Ich werde zusehen, dass du eine nette Anstellung in der Arktis bekommst. Aber so schön es auch ist, mit dir zu plaudern: Du hast hier verdammt nochmal nichts verloren. Schade, dass du jetzt also wieder gehen musst.“
„Schade, dass du immer noch denkst, ich würde mich für deine Anordnungen interessieren. Du könntest dir so viel Leid ersparen, wenn du dich nicht mehr diesem Irrglauben hingeben würdest“, sagte ich leicht abwesend, während ich den Kopf schräg hielt, um noch einen Blick auf die wieder freigelegte Leiche zu erhaschen. Die Haare klatschten dem toten Mann am Kopf. So als hätte er unnatürlich viel geschwitzt.
„Puh, ich bin ja echt froh“, murmelte ich.
Ich konnte Rispo mit seinen Zähnen knirschen hören. „Du bist froh, dass dieser Mann tot ist? Soll ich dich auf die Verdächtigenliste setzen?“
„Verschwende deine Zeit, wie du willst. Ich meinte eigentlich nur, dass ich froh bin, dass er offensichtlich vergiftet wurde. Ich kann Blut wirklich nicht ausstehen. Das hier ist viel … hygienischer.“
„Wir haben noch kein Urteil über die Todesursache gefällt“, warf Marvin ein. „Es könnte immer noch ein natürlicher Tod gewesen sein.“
Ich blickte zu Rispo und war mir sicher, dass er nicht so dachte. Ich ebenso wenig.
„Marvin, es wäre nett, wenn Sie keine vertraulichen Informationen an diese bestimmte Zivilistin geben würden“, sagte Rispo und an mich gewandt fügte er hinzu: „Aber schön, dass das Mordopfer wenigstens dir eine Freude machen konnte – soll ich das so an die Verwandten weitergeben?“
„Nein, das wäre wirklich sehr taktlos von dir“, bemerkte ich unschuldig. „Wie stündest du denn dann da?“
„Na, die Taktlosigkeit überlasse ich dann lieber dir – und jetzt raus aus meinem Tatort! Ihr alle!“
Sein zweiter Blick galt den zwei Spielern, die nun hinter mir standen, meinem Date, das ich vollkommen vergessen hatte, aber das immer noch da war, und einem rothaarigen Anzugträger mit dick umrandeter Brille, den ich bis eben nicht bemerkt hatte. Er starrte wie versteinert auf den Toten, die Faust auf seinen Mund gepresst.
Absolut niemand bewegte sich, bis eine Stimme von meiner Rechten kam: „Sie kennen den Kommissar, Louisa?“
Der Koch hatte gesprochen, und abrupt wandten sich alle ihm zu.
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nein, nicht wirklich. Er ist mir ab und zu mal in die Quere gekommen. Ich hab seinen Namen aber auch schon wieder vergessen. Wie war der noch gleich? Risotto?“
„Kommissar Risotto, wenn ich bitten darf“, sagte Rispo knapp und sah sich nach zwei Uniformierten um. „Würden Sie Frau Manu bitte vom Eis begleiten. Ich möchte nicht, dass sie wieder falsche Ideen bekommt und diesen Fall plötzlich zur persönlichen Angelegenheit erklärt. Und könnten Sie den Schönling neben ihr gleich mitnehmen?“
„Was denn? Eifersüchtig, dass mein Partner hübscher ist als deiner, Risotto? Nichts für ungut, Marvin“, setzte ich in Richtung des Recherchisten hinzu. „Sie sind auch sehr attraktiv.“
Rispo hob eine abschätzige Augenbraue, die ich ihm gerne aus dem Gesicht geschlagen hätte. „Ich kann mich vor Eifersucht kaum halten, aber geweint wird in meiner Freizeit.“
Ich biss mir auf die Unterlippe und hasste es, dass er wirklich vollkommen ungerührt aussah, als die zwei Uniformierten mich erreichten und eine ausladende Handbewegung zum Ausgang hin machten. Schnaubend trat ich einen Schritt zurück, und möglicherweise hätte ich etwas gesagt, das als Beamtenbeleidigung hätte bezeichnet werden können, wäre mir Rispo nicht zuvorgekommen.
„Was zum Teufel denken Sie, das Sie da tun? Treten Sie von der Leiche weg!“
Abrupt wandten sich alle wieder um. Die Nummer 22, Brüllig, hatte sich neben den Toten gekniet und sich interessiert über die Leiche gebeugt.
Hastig hob er beide Hände und richte sich wieder auf. „Oh, Entschuldigung. Ich war neugierig. Ich habe noch nie einen Toten gesehen.“
„Warten Sie noch ein paar Minuten. Wenn Frau Manu hier nicht verschwunden ist, sehen sie gleich zwei.“
Frau Manu. War das sein Ernst? Nach all den Dingen, die er mit mir angestellt hatte?
Ich presste meine Lippen schmerzhaft fest aufeinander. „Kommissar Risotto wurde heute offenbar mit zu heißem Wasser gekocht, nehmen Sie ihn nicht ernst.“
Brüllig starrte mich an und legte schließlich den Kopf schief. „Habe ich richtig gehört? Sie sind Louisa Manu? Die Detektivin?“
Rispo stieß einen scheinbar schmerzerfüllten Seufzer aus. „Um Gottes willen …“
„Ja, bin ich“, stellte ich fest, Rispo ignorierend. Damit fuhr man bei ihm ohnehin am besten. „Sie haben von mir gehört?“
„Ja, natürlich!“ Der Spieler schien beeindruckt. „Das Kölner Blatt war ja voll von Ihnen. Sie sind eine sehr interessante Persönlichkeit.“
Ich warf Rispo ein zuckersüßes Lächeln zu. Der hatte derweil Daumen und Zeigefinger auf seine Augenlider gepresst, offenbar auf der Suche nach Geduld. Er sollte einfach aufgeben. Er war seit Jahren auf der Suche und würde sie ja doch nicht finden.
„Schön, wenn das Leute wertzuschätzen wissen“, sagte ich freundlich an den Spieler gewandt, der wirklich süß war. Er hatte dunkelblaue Augen, hellbraune Haare und eine Narbe zierte seine Augenbraue. „Wissen Sie, manchen Leuten ist meine interessante Persönlichkeit einfach zu viel.“
„Aber warum denn?“, fragte Brüllig perplex, bevor er mit einem Augenzwinkern hinzufügte: „Ist doch nur eine Herausforderung.“
„Ja, nicht jeder ist der Herausforderung gewachsen.“
Der Spieler nickte, so als verstünde er. „Manche sind einfach nicht Manns genug.“
„Ich bin wirklich sehr froh, dass Sie das so ausgedrückt haben.“
Er grinste und reichte mir die Hand. „Ich bin Felix – und Sie haben nicht zufällig Lust, morgen mit mir essen zu gehen?“
Überrascht blinzelte ich ihn an, während ich Rispo leise: „Das kann doch nicht wahr sein“, murmeln hörte.
„Ähm … okay?“
Er war süß. Und Sportler. Wie viel verdienten Eishockeyspieler eigentlich in Deutschland? Reines Interesse.
„Was ist denn jetzt los?“, wollte der Koch neben mir wissen. „Sind wir nicht gerade auf einem Date?“
Oh, richtig. Das war schon etwas unangenehm. Aber wenn ich genauer darüber nachdachte …
„Ach, kommen Sie schon“, sagte ich an den Reisliebhaber gewandt. „Es wäre ohnehin nicht zu einem zweiten gekommen. Sie finden mich zu laut und ich Sie zu langweilig. Sie hätten versucht, mir aus Höflichkeit einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, ich hätte mein Gesicht abgewandt, es wäre äußerst peinlich geworden und Sie hätten sich nie wieder gemeldet. In zwanzig Jahren hätten Sie dann auf genau diesen Abend zurückgesehen und Ihnen wäre immer noch die Schamesröte ins Gesicht gestiegen, obwohl Sie sich längst nicht mehr an meinen Namen erinnern würden. Ist es nicht einfacher, diese Schritte einfach zu überspringen?“
„Oh mein Gott, das hier ist ein Tatort und keine Louisa-Manu-Privatparty! Könntest du dein desaströses Privatleben womöglich woanders sortieren!?“
Es schien, als habe Rispo nun doch aufgegeben, seine Stimme auf eine normale Lautstärke zu reduzieren.
„Wenigstens habe ich ein Privatleben“, fauchte ich zurück. „Felix, Sie finden mich im Telefonbuch, rufen Sie mich morgen früh einfach an, um Genaueres abzusprechen.“
„Frau Manu, Sie sollten jetzt wirklich besser gehen“, sagte Marvin, der aus ungeahnten Tiefen den Mut dazu hervorgezaubert hatte, mich leicht am Arm zu packen und mich Richtung Ausgang zu dirigieren.
Aber er hatte sich genau den falschen Moment dazu ausgesucht, denn jetzt war ich ernsthaft wütend. Rispo hatte nicht das Recht, mein Privatleben als desaströs zu bezeichnen – denn bevor er auf der Bildfläche aufgetaucht war, war es mehr als in Ordnung gewesen! Überhaupt war es nicht fair, dass ich ihn nur ansehen musste und mein Herz mir in den Magen fiel, während er mich betrachtete, als wäre nie etwas zwischen uns geschehen. Und verdammt nochmal, wenn mein Privatleben schon desaströs war, dann konnte ich wenigstens meine Karriere auf Vordermann bringen. Und das würde ich tun, indem ich mich wieder Hals über Kopf in einen Mordfall stürzte, der mich absolut nichts anging, mir aber die beste Publicity einbringen würde, die es gab.
All diese Gedanken führten dazu, dass ich mich etwas zu enthusiastisch von Marvin losriss. Meine profillosen Turnschuhe verloren ihren Halt auf dem Eis, ich fuchtelte wild mit meinen Armen herum, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren – aber das hatte mich noch nie davor bewahrt, hinzufallen. Dieses Mal war keine Ausnahme.
Ich stürzte nach vorne, fiel auf die Knie und schlug mit dem Kopf auf der Schulter des Toten auf. Ich quietschte laut und richtete mich hastig auf alle Viere auf, sodass meine Nase nun direkt über dem Gesicht des Opfers hing. So nah stand ich dem Maskottchen dann auch wieder nicht.
Ich starrte in die leeren Augen des jungen Mannes und sog erschrocken Luft ein. Mir schlug ein merkwürdiger Geruch entgegen. Nach Mandeln. Bitteren Mandeln.
Mein Mund öffnete sich leicht, ich sah auf die rosa Flecke, sah auf den Mund … „Oh mein Gott, ich weiß, was ihn getötet hat!“
„Nein.“ Zwei Arme packten mich und zogen mich unsanft wieder auf die Füße. „Ganz sicher nicht.“
Ich hob meinen Blick und starrte in Rispos dunkle Schokoaugen. Seine Fußspitzen berührten meine.
„Du weißt überhaupt nichts, Louisa. Du hast nichts zu wissen.“ Sein Blick war nun beinahe flehentlich geworden, denn er wusste genau, was auf eine solche Ankündigung meinerseits folgte.
„Doch. Weiß ich. Aber ich werde es dir nicht sagen. Die Information behalte ich für meine eigenen Ermittlungen.“
Rispo schloss seine Augen und als er sie wieder öffnete, stand eine Warnung darin, die mich zurückweichen lassen wollte. Doch seine Hände hatten sich fest um meine Schultern gelegt.
„Lou.“ Rispos Stimme war eindringlich und angespannt. Wie ein Bogen, der sich spannte. Bereit zum Schuss. „Ich weiß, du wirst das hier jetzt persönlich nehmen, wegen dem, was zwischen uns passiert ist.“
„Was soll denn schon zwischen uns passiert sein?“
Rispos Mundwinkel zuckten kurz, bevor er die Augen verengte. „Ich habe da drei wunderbare Voice-Nachrichten auf meiner Mailbox, die das genauer erläutern …“
Blut schoss in meine Wangen. Oh mein Gott. Die Nachrichten hatte ich komplett verdrängt.
„Ich weiß nicht, wovon du redest“, hustete ich.
„Natürlich nicht. Du warst anscheinend so betrunken, dass es mich wundern würde, wenn du dich auch nur an ein Wort erinnerst.“
„Ich war überhaupt nicht-“
„Darum geht es jetzt auch gar nicht, Lou.“
„Du warst es, der es zur Sprache gebracht hat!“
„Ja und ich bin es, der wieder zum wichtigen Teil zurückkehrt: Wir werden das letzte Mal nicht wiederholen. Du wirst nicht wieder dein Leben riskieren, nur weil du deine scheiß Neugier nicht kontrolliert bekommst. Du hast hier verdammt nochmal nichts verloren, und ich schwöre dir, Lou, wenn du nicht sofort verschwindest und die Sache fallen lässt, lass ich dich wegen Behinderung der Justiz verhaften.“
Ich schnaubte und verdrehte die Augen. „Als ob du mich verhaften würdest!“
„Fordere es nicht heraus, Lou.“
„Ich bitte dich, Josh. Weißt du, wie oft du mir schon damit gedroht hast, mich festzunehmen?“
„Ich meine es ernst, Lou.“
Ich musste lachen. „Okay. Dann mach doch. Steck mich ins Gefängnis.“
***
„Jannis?“
„Schwesterherz, was kann ich für dich tun?“
Ich lehnte meinen Kopf gegen die Steinwand neben mir. „Du musst mir einen Gefallen tun und mich abholen.“
„Von wo?“
„… aus dem Gefängnis.“ Ich seufzte. „Rispo hat mich verhaftet.“
Kapitel 2
Es dauerte geschlagene zwei Minuten, bis mein Bruder aufhörte zu lachen. Ich hätte diese ganze Situation ja auch sehr amüsant gefunden, hätte ich nicht selbst in ihr gesteckt und dringend aufs Klo gemusst. Die Gewahrsamszellen-Toilette war eine Zumutung und erinnerte an ein Dixi-Klo, dem schlecht geworden war.
„Jannis!“, ermahnte ich ihn schließlich laut. „Reiß dich zusammen, das ist nicht lustig.“
„Doch, ist es Loubalou“, japste er. „Wirklich: Ich ziehe den Hut vor dem Kerl.“
„Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?“
„Tu nicht so unschuldig. Ich bin mir sicher, du hast es herausgefordert.“
Dazu wollte ich mich ehrlich gesagt lieber nicht äußern.
Ich seufzte schwer und ließ auch meinen Rücken gegen die kalte Steinwand sacken. „Kannst du mich bitte einfach abholen?“
„Natürlich. Lass mich nur eben noch meine Kamera suchen.“
„Jannis!“
„Ach, ich freu mich auf Mamas Gesicht. Bin in zwanzig Minuten bei dir! Soll ich dir einen orangenen Overall mitbringen?“
„Mir wäre eine Flasche Wodka lieber.“
„Aber Schwesterherz, ich kann dein falsches Verhalten doch nicht auch noch belohnen.“
Ich schnappte automatisch nach Luft. „Ich hab mich nicht falsch verhalten! Ich habe lediglich … Interesse an dem Tod einer mir sehr wichtigen kölschen Ikone bekundet und schon steckt er mich in eine Gewahrsamszelle.“
„Kölsche Ikone? Ist Lukas Podolski umgebracht worden?“
Na ja. Fast. „Es geht um Sharky! Poldi hat uns verlassen, deswegen ist Sharky noch wichtiger für Köln geworden.“
„Das Maskottchen der Kölner Haie ist umgebracht worden?“
„Ja, aber der ausschlaggebende Punkt ist eigentlich, dass Rispo total überreagiert hat, nur weil ich den Toten zu lang angesehen habe.“
„Schon klar, Lou. Er ist heute Morgen wahrscheinlich aufgewacht und dachte sich: Hey, verhafte ich doch meine Ex-Freundin. Das wird lustig, da sie ja so ein liebevoll ruhiges Temperament hat.“
Das Wort Ex-Freundin ließ mich bitter aufstoßen, und es wurde Zeit, härtere Geschütze aufzufahren. „Jannis, weißt du eigentlich, wie viele Dinge ich über dich weiß, die wirklich niemand anderes wissen sollte?“
Er lachte leise. „Frauen werden immer so grumpig, wenn sie im Gefängnis sitzen.“
„Hol mich endlich hier raus.“
„Bin unterwegs.“
Zwanzig Minuten später stand ich vor dem grauen Betonklotz, der sich Polizeipräsidium nannte, meiner Meinung nach aber eher als trostloses Denkmal der Trostlosigkeit geschimpft hätte werden sollen. Es war bereits dunkel, doch die Frühlingstemperaturen waren immer noch warm genug, um mich in meinem knielangen Rock und dem Kölner–Haie-Trikot nicht zittern zu lassen. Die großen Laternen, die den Parkplatz erleuchteten, schienen allesamt wie Scheinwerferlichtkegel auf mich gerichtet zu sein.
Seht sie an, sie hat sich eines desaströsen Privatlebens schuldig gemacht.
Bis auf den Mord war dieser Abend wirklich eine herbe Enttäuschung gewesen. Angefangen bei dem Koch, der sich als totaler Reinfall entpuppt hatte, bis zu dem Wiedersehen mit Josh. Ich hatte mir mehrfach ausgemalt, unter welchen Umständen ich Rispo wieder begegnen wollte – komischerweise war ich in keinem dieser Szenarien mit dem Kopf auf eine Leiche gefallen. Vielmehr hatte ich mich am Arm eines etablierten Schauspielers gesehen, mit meinen perfekten neugeborenen Zwillingen auf dem Arm, während Rispo mir sehnsuchtsvoll nachstarrte und bereute, dass er mich je aufgegeben hatte. Aber wie immer hatte er keinerlei Emotionen preisgegeben, und ich verachtete mich selbst dafür, dass mich das so wurmte. Bestimmt hatte er schon eine neue Freundin, die nicht zu viel für ihn war – und in der Lage dazu, für mehr als eine halbe Stunde ihr Gleichgewicht zu halten. Das war ja anscheinend, was er sich wünschte.
„Hast du mich gerade Mistkerl genannt?“
Mein Kopf schreckte hoch und ich sah Jannis an.
Mein Bruder war, bis auf eine leicht diabolische Ader, eine bessere, sieben Jahre ältere Version meiner selbst. Wir hatten dieselben grünen Augen und dieselbe Ambition, nicht den Zorn unserer Mutter auf uns zu ziehen. Wobei er dabei sehr viel bessere Karten hatte. Er war verheiratet und hatte ihr bereits zwei wunderschöne Enkeltöchter geschenkt, während ich bisher nur unterhaltsame Geschichten über Leichen und einen leeren Uterus vorzuweisen hatte. Das waren enttäuschenderweise keine Eigenschaften, die meine Mutter wertzuschätzen wusste.
„Ich habe mich nur gefragt, ob ich jetzt im System bin und wegen Behinderung der Justiz angeklagt werde“, sagte ich düster, während ich auf seinen Wagen zulief.
„Behinderung der Justiz gibt es im deutschen Strafrecht nicht, Lou“, bemerkte mein Bruder grinsend und hielt mir die Tür auf. „Ich schätze, dir dürfte nichts weiter passieren. Rispo wollte dich wohl einfach nur aus dem Weg haben.“
Na großartig. Jetzt fühlte ich mich noch dümmer als ohnehin schon. Rispo hatte mich nicht nur eingebuchtet – er hatte mich für etwas eingebuchtet, für das man sich in diesem Land gar nicht strafbar machen konnte!
„Was genau hast du eigentlich getan, um ihn so aufzuregen? Dich auf die Leiche geschmissen?“
„Zu laut geatmet“, bemerkte ich und ließ mich auf dem warmen Beifahrersitz nieder. Ich würde Jannis nicht wissen lassen, wie nah seine Vermutung der Wahrheit kam.
Nachdem mein Bruder mich vor meiner Haustür abgesetzt und ich ihm das Versprechen abgenommen hatte, dass er unserer Mutter nichts von den heutigen Vorkommnissen erzählen würde, war es kurz nach zehn. Ich war so erschöpft, dass ich einfach nur noch ins Bett wollte. Wut war sehr anstrengend – und von der hatte ich in den letzten zwei Stunden mehr als genug angestaut.
Ich wollte Rispo wehtun. Dabei war ich sonst ein sehr sanfter Mensch. Na gut, sanft war vielleicht doch etwas zu viel des Guten, aber ich hatte noch nie jemandem absichtlich Schmerzen zufügen wollen. Abgesehen von Lord Voldemort.
Gott, ich war so wütend auf Rispo, dass ich meine Hände eine Stunde lang in Blumenerde würde stecken müssen, um mich wieder zu beruhigen.
Die Wahrheit war, dass er recht hatte. Was vielleicht auch der Grund meiner Wut war.
Mein Privatleben war desaströs.
Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und es gab nur zwei Männer, die es mir je wirklich angetan hatten. Der erste war Chris – der verheiratet gewesen war und mich ausgelacht hatte, als ich ihm meine Gefühle gestanden hatte. Der zweite Mann war Rispo, der mich mehr wahnsinnig als glücklich gemacht hatte – und dem ich dennoch drei betrunkene Voice Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen hatte, nachdem er mich abgesägt hatte.
Beide Männer waren emotional kompliziert und nicht offen für eine Beziehung gewesen. Der erste, weil er bereits in einer steckte, der zweite, weil er ein sehr enges Verhältnis mit seiner Arbeit führte und Frauen ohnehin nicht sehr vertrauensvoll zugeneigt war, seit seine Verlobte ihn betrogen hatte.
Es blieb also die Frage: Warum suchte ich mir nicht einen Mann, der keine Probleme hatte? Oder holte mir noch eine zweite Katze?
Ich musste endlich aufhören, mir vorzumachen, dass ich emotional unerreichbare Männer schon mit ein bisschen Liebe für eine ernste Beziehung öffnen konnte. Ich konnte sie nicht vor sich selbst retten. So viel Macht hatte ich nicht – und Geduld schon gar nicht.
Nein, das hörte jetzt auf. Der Eishockeyspieler, den ich morgen treffen würde, war ein guter Anfang. Er hatte nett gewirkt und fiel sicherlich nicht in Ohnmacht, wenn ich ihm erzählte, dass ich keine Lust mehr auf lockere Beziehungen und One-Night-Stands hatte.
Wenigstens lief in meinem Job alles bestens, sonst wäre ich wahrscheinlich mehr als deprimiert gewesen. Der Blumenladen schrieb beständig schwarze Zahlen, und in ein paar Monaten würde ich endlich anfangen, Gewinn zu machen, da meine Schulden getilgt worden wären. Ich hatte letzte Woche sogar angefangen, mit einem größeren Van zu liebäugeln, der meinen Passat als Lieferwagen ersetzen könnte. Alles, was mein Laden noch brauchte, war ein kleiner Schubs in die richtige Richtung. Und den würde er bekommen.
Ich öffnete die Haustür des Mehrfamilienhauses, in dem ich wohnte, und zog mein Handy aus der Tasche. Mit der einen Hand tippte ich eine Nachricht an meinen Kontakt des Kölner Blatts, um ihm zu erzählen, dass ich bald einen neuen Artikel für die Zeitung hätte, während ich mit der anderen meinen Briefkasten öffnete.
Ich griff mir den entgegenstürzenden Schwall an Papier und überwand die letzten Stufen bis zu meiner Wohnungstür.
Das Miauen von Twinky, meines verhaltensgestörten Katers, dessen größter Wunsch es war, endlich der Hund sein zu dürfen, als der er geboren worden war, begrüßte mich.
„Hey Süßer“, murmelte ich, ließ mein Handy und den Schlüssel auf die Küchenanrichte gleiten und legte die Post daneben.
Twinky umkreiste zweimal meine Beine, gab ein kurzes zufriedenes Schnurren von sich und verzog sich dann zurück auf die Couch. Zu tieferen Liebesbekundungen war er nicht imstande. Er war keinen Deut besser als die emotional unerreichbaren Männer, in die ich mich verliebte. Aber zumindest ihn konnte ich einsperren und mit Kaffee dazu zwingen, mich zurückzulieben. Bis jetzt funktionierte diese Art von Beziehung besser als jede zuvor.
Ich blickte meine Post durch, legte die Rechnungen auf einen Stapel, pinnte die Pizza-Flyer an meinen Kühlschrank und runzelte die Stirn über die zwei übrig gebliebenen Werbezettel. Der eine versprach mir dreißig Prozent Rabatt auf eine Thai-Massage, die mein Leben verändern und mich zu den Pforten einer neuen Dimension von Entspannung bringen würde. Eine andere Dimension – möglichst eine ohne Rispo – klang vielversprechend, deswegen legte ich den Coupon zu meinen Schlüsseln auf die Anrichte. Das zweite Blatt Papier wies auf einen am Dienstag stattfindenden Selbstverteidigungskurs für Frauen hin, der von der hiesigen Polizei angeboten wurde. Mhm. Wenn ich mich schon wieder in einen Mordfall stürzte, dann sollte ich mich dieses Mal vielleicht besser vorbereiten. Auch diesen Zettel ließ ich auf der Anrichte liegen. Ich würde meine beste Freundin Ariane fragen, ob sie nicht Lust hätte, mitzukommen. Seit sie mit ihrem Gärtner zusammen war, sahen wir uns nicht mehr ganz so oft wie früher. Ich machte ihr keinen Vorwurf, sie war so glücklich wie schon lange nicht mehr, und ich gönnte es ihr. Dennoch hatte ich das Gefühl, in den letzten Monaten etwas einsamer als sonst gewesen zu sein. Ich sollte mich nicht beschweren, ich hatte ein tolles Leben. Eine liebevolle, wenn auch verrückte Familie, loyale Freunde und einen Beruf, der mir Spaß machte. Nicht zu vergessen eine frische Leiche, die meine Aufmerksamkeit verlangte. Mehr brauchte ich nicht. Nur noch eine Sache.
Grimmig griff ich nach meinem Handy und wählte die Nummer, die ich aus meinen Kontakten gelöscht hatte, aber immer noch auswendig kannte.
„Hier ist Joshua Rispo, hinterlasst mir eine Nachricht, vielleicht rufe ich zurück.“
„Es war eine Blausäurevergiftung, Mistkerl. Das Maskottchen ist an einer Blausäurevergiftung gestorben. Oder von mir aus auch Cyanidvergiftung, wenn du mehr wie James Bond klingen willst. Und rate mal, wer genau weiß, wie man an Blausäure rankommt? Das bin ich. Also pass auf, was du demnächst trinkst.“
Ich legte auf und starrte auf das Telefon in meinen Händen. War es eine Straftat, einem Polizisten damit zu drohen, ihn umzubringen?
Ach, egal. So schlimm war das Gefängnis jetzt auch nicht gewesen.
„Was meinst du damit, er war ein dummer Reiskopf?“
„Genau das, was ich sage, Ari! Er war dumm und hatte nur Reis im Kopf.“ Ich schloss mein Auto ab und erklomm die Stufen zu Louisa’s Flower Power, während ich das Handy zwischen Ohr und Schulter klemmte, um die Tür öffnen zu können. „Ich fasse es nicht, dass du mich mit ihm verkuppeln wolltest. Du weißt doch, was ich für Männer mag.“
„Ja, dieser Problematik bin ich mir vollkommen bewusst. Ich dachte, es wäre vielleicht gut, wenn du mal etwas über den Tellerrand sehen würdest“, beharrte meine beste Freundin. „Der Koch ist selbstständig, wünscht sich eine Familie und …“
„… besitzt keinerlei Humor“, schloss ich für sie.
„Nun, man darf halt nicht zu wählerisch sein.“
„Er hat seiner Lieblingspfanne einen Namen gegeben, Ari. Sie heißt Annabelle und ist seine engste Vertraute.“
Ein unterdrücktes Kichern war zu hören, bevor sie sagte: „Ich weiß gar nicht, was du hast. Für mich hört es sich so an, als wäre er ein sehr lustiger Typ.“
Ja, leider nur unabsichtlich. „Es war auf jeden Fall ein Reinfall“, seufzte ich und ließ die Glastür fallen, die das mir vertraute Klingeln von sich gab.
„Du ziehst aber auch immer die merkwürdigsten Gestalten an.“
„Du hast ihn mir angedreht!“
„Ja, weil ich wollte, dass du mal wieder ausgehst. Was du ja auch getan hast. Ich war also erfolgreich.“
Darüber konnte man streiten, aber ich hatte keine Lust, dieses deprimierende Thema fortzuführen. „Ist auch egal“, stellte ich fest und fing an, die Stielrosen aus den Kühlfächern zu holen und im Verkaufsraum zu platzieren. „Wie geht es dir und Alejandro?“
„Besser als meinem Garten, seitdem er aufgehört hat, sich um ihn zu kümmern“, sagte sie lachend. „Lou, er ist fast perfekt. Er hat mich wirklich und wahrhaftig gern. Und das, obwohl ich jeden Abend mit zwei Kilo Schokolade an meiner Kleidung zurückkomme.“
Ich musste lächeln. „Vielleicht hat er dich auch gerade deswegen gern. Weil er so auf Schokolade steht.“
Ariane gehörte die Maisonette du Chocolat, in der sie Pralinen und andere schokoladige Köstlichkeiten verkaufte. Das wäre mir als Mann zumindest Grund genug, sie auf der Stelle zu heiraten.
„Vielleicht auch das.“ Sie kicherte. Ein verliebtes Kichern, das mich eifersüchtig werden ließ. Ich verdrehte über mich selbst die Augen. Ich sollte mich zusammenreißen.
„Sag mal, Ari, hast du Dienstagabend schon was vor?“
Zehn Minuten später hatten wir verabredet, uns Dienstag für den Selbstverteidigungskurs zu treffen. Sobald ich das Handy in meiner Hosentasche verstaut hatte, trat meine Angestellte Trudi durch die Tür. Sie trug ein skandalös kurzes Sommerkleid, das seine grellen Farben aus dem Teletubbie-Land geklaut zu haben schien, hatte eine schwarz-goldene Paillettenjacke um ihre Hüften geschlungen und eine große runde Sonnenbrille auf der Nase, die ihr Gesicht verschluckte. Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass Trudi siebzig Jahre alt war und manche Dinge im gewissen Alter nicht mehr ganz so ansehnlich waren, wie vielleicht vierzig Jahre zuvor. Oberschenkel, zum Beispiel. Dass ihre Stützstrümpfe kurz unter dem Saum des Kleides endeten, half der Ästhetik auch nicht gerade. Aber gutes Aussehen war ja auch nicht, wofür ich sie bezahlte. Geld bekam sie wegen dem frischen Zimtgebäck in ihren Armen.
Trudis Backkünste waren der Grund, warum ich sie nicht längst gefeuert hatte und ich meinen Gürtel eine Lasche weiter hatte stellen müssen. Sie konnte Gänseblümchen nicht von Hyazinthen unterscheiden, aber wenn man ihre Erdnuss-Karamell-Kekse aß, vergaß man sehr schnell, warum diese Fähigkeiten als Blumenverkäuferin überhaupt wichtig sein sollten.
„Guten Morgen, Louisa. Du siehst heute Morgen aber sehr hübsch aus.“
Ich trug Jeans und mein Louisa’s Flower Power T-Shirt. Allerdings hatte ich mir heute Morgen die Haare gewaschen; ich nahm das Kompliment also dankend an.
„Danke, Trudi. Dir würde man heute auf der Straße auch hinterhergucken“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Oh, ich weiß“, bemerkte sie stolz. „Ich habe mich dazu entschlossen, mir ein neues Hobby zuzulegen, und das bedarf aufwendiger Kostümierung.“
Ich konnte nicht umhin, bei dieser Ankündigung einen leisen Schwall von Panik zu verspüren. Seitdem Trudis Mann gestorben war, hatte sie neue Methoden entwickelt, sich die Zeit zu vertreiben. Eine beängstigender als die andere.
„Was für ein Hobby?“, fragte ich vorsichtig und zog mich langsam hinter den Verkaufstresen zurück, falls es mit giftigen Tieren, Wasser oder Feuer zu tun hatte. Trudi stellte die Kekse vor mir ab, bevor sie bedeutungsvoll die Hände in die Luft reckte.
„Ich werde zaubern lernen“, sagte sie und formte mit ihren Händen einen weiten Halbkreis, der womöglich einen unsichtbaren Regenbogen darstellen sollte.
„Zaubern?“, wiederholte ich.
Sie nickte freudig und zog sich plötzlich die Jacke, die sie um ihre Hüften gebunden hatte, vom Körper, um sie überzuwerfen. „Alles, was ich noch brauche, ist ein Name. Und natürlich ein Talent. Aber mein Günter hat immer gesagt, dass ich eine Magierin in der Küche bin. Es sollte doch nicht allzu schwer sein, den Raum meiner Expertise zu erweitern.“
Ich gab einen unbestimmten „Mhm“-Laut von mir. Ich wusste noch nicht, in welche Richtung ihre Zauberkünste gehen sollten, deswegen wollte ich sie weder bestärken noch ihrem Eifer einen Dämpfer versetzen.
„Ich habe mir sogar schon den ersten Trick beigebracht. Ich glaube, gerade dir könnte er gefallen. Möchtest du mal sehen?“
Ich machte einen weiteren Schritt von ihr weg, bevor ich nickte. „Klar, zeig her.“
Sie verbeugte sich kurz – nun, es war vielmehr ein Nicken, denn wir beide wussten, dass sie aus einer Verbeugung so schnell nicht mehr hochkommen würde – und fing dann an, mit ihren Fingern zu wackeln. Ihre grauen Locken folgten ihrem Beispiel und erbebten.
„Ich werde nun aus völlig leerer Luft“, sie fuchtelte durch den Raum, um die Leere zu verdeutlichen, „ein paar Blumen herzaubern.“
Sie ließ ihre eine Hand weitere Schlangenlinien durch die Luft zeichnen, während die andere in einen ihrer schwarzen Ärmel fuhr und sichtlich angestrengt etwas daraus hervorzuzerren versuchte.
„So wunderschöne Blumen“, fuhr sie ächzend fort, „dass die Sonne matt neben ihnen … ihnen …“, es gab einen letzten Ruck und ein Schwall Plastikblumen löste sich endlich aus ihrem Ärmel, „… erscheint!“
Ich besah mir die zerknitterten Rosen in ihrer Hand, deren Plastikblätter nun teilweise auf dem Boden lagen, und dann glitt mein Blick zu den Keksen vor mir. Den wirklich leckeren Keksen.
Ich fing an zu klatschen.
Trudi lächelte und nickte dankbar. „Ich muss noch etwas an den Handbewegungen arbeiten, aber mit ein bisschen Feinschliff kann das was werden, oder?“
„Mit Sicherheit“, sagte ich bestimmt, froh darüber, dass sie das was nicht spezifiziert hatte.
„Danke. Morgen lerne ich Kartentricks. Das wird lustig. Vielleicht kann ich bald eine Show machen und dir damit neue Kunden bescheren.“
„Darüber können wir dann reden, wenn du deine Zauberkünste perfektioniert hast“, versprach ich und nahm mir einen Keks. Allein darüber nachzudenken, stresste mich.
Trudi nickte zufrieden und stellte die Plastikblumen, die sie soeben hervorgezaubert hatte, zu ein paar Rosen in eine mit Wasser gefüllte Vase.
„Und was hast du gestern so getrieben?“, fragte sie dann an mich gewandt, während bei jedem ihrer Schritte Pailletten auf den Boden fielen und sich zu den Plastikblütenblättern gesellten.
„Ich hatte ein Date“, erklärte ich.
„Oh, mit einem reichen Mann?“
Trudis Ehemann war sehr wohlhabend gewesen und deshalb versuchte sie jedem einzureden, dass die einzig richtige Wahl einer Frau, die auch nur ein wenig Verstand besaß, ein Mann mit Schotter war. Grundsätzlich hatte ich dagegen nichts einzuwenden. Nur kannte ich leider keine reichen Männer.
„Nein, mit einem Koch. Aber er war nichts für mich. Nicht mein Typ.“
Trudi nickte nachdenklich. „Ich mochte den Polizisten. Was ist nochmal mit dem passiert?“
Ich öffnete den Mund, um ihr genau zu sagen, was noch mit ihm passieren würde, sollte er mich jemals wieder in den Knast stecken, doch ich kam nicht dazu. Die Tür ging auf und drei Gestalten traten herein. Zwei davon hochgewachsen, dunkelhaarig, mit einem charmanten Lächeln auf den Zügen, die dritte rothaarig und mein zweites, schlampigeres, jüngeres und aufregenderes Ich.
„Guck mal, dein Fanclub ist hier“, sagte Trudi fröhlich und nahm hastig die Kekse vom Tresen, um sie den Neuzugängen anzubieten.
Ich schnaubte, musste aber lächeln. Tatsächlich waren Jonas und Finn Rispo, Joshs jüngere Brüder, verdächtig oft hier. Was einerseits an Trudis Keksen, andererseits an meiner Schwester Emily lag, die eine Gang mit den Rispo-Jungs gegründet hatte.
„Hey, Lou“, grüßte mich Emmi und griff sich zwei Zimtsterne. „Ich bin pünktlich, oder?“
Jonas nickte mir zu, den Mund schon mit Trudis Backkünsten vollgestopft, und Finn fragte: „Wie war’s im Knast, Lou?“
Ich starrte ihn mit offenem Mund an, während Emmi sich an ihrem Keks verschluckte. „Oh mein Gott, du wurdest eingebuchtet? Was hast du getan? Fremde Vorgärten gewässert?“
Ich ignorierte sie. „Woher zum Teufel weißt du das?“, fragte ich perplex an Finn gewandt, der breit grinste.
„Ich bin allwissend.“
„Hat Josh es dir gesagt?“
„Ich würde lieber dabei bleiben, dass ich allwissend bin.“
„Ich fasse es nicht, dass Josh es dir gesagt hat!“
Finn hob abwehrend beide Hände in die Höhe. „Er hat es nur getan, damit deine Schmach größer ist und du dich diesmal aus seinen Angelegenheiten heraushälst.“
Das machte die Sache natürlich bei weitem besser.
„Lou, ich bekomme neuen Respekt vor dir“, sagte meine Schwester beeindruckt und zog Trudis Plastikblumen aus der Vase neben sich, um sie zwischen ihren Fingern zu zerfriemeln. „Hat dich jemand im Knast zu seiner Bitch gemacht?“
Ich verdrehte die Augen und stützte mich mit den Händen auf die Tischplatte. „Du kannst Josh ausrichten, dass er mich mal kann und das Ganze noch bereuen wird – und was macht ihr beide überhaupt so früh hier?“ Ich fixierte erst Jonas, dann Finn. „Es ist Samstag und kurz nach neun. Solltet ihr nicht schlafen?“
„Ich kann Joshi im Moment leider nicht drohen, weil ich mir demnächst sein Auto leihen will“, sagte Finn entschuldigend, und er sah wirklich aus, als würde es ihm leidtun. „Und wir sind noch gar nicht schlafen gegangen, sondern wollten uns schon mal unser Kater-Frühstück holen.“ Er nickte zu Trudis Keksen, die er angefangen hatte, sich in seine Hosentaschen zu stopfen.
Sie waren noch nicht schlafen gewesen?
Meine Güte. Auf einmal fühlte ich mich alt. Mein Blick wanderte zu meiner Schwester, die genervt die Augen verdrehte. „Guck mich nicht so an! Ich hab geschlafen. Ich weiß doch, dass du es nicht magst, wenn ich bei der Arbeit einpenne.“
Ich verengte meine Augen. „Wie viele Stunden hast du geschlafen?“
Sie dachte kurz darüber nach. „Drei mindestens.“
Na prima.
„Was ist mit dir?“, wollte ich von Jonas wissen. Er war mit neunzehn der jüngste Rispo und steckte gerade in einer Ausbildung zum Bürokaufmann. „Warst du auch mit den beiden feiern? Du schreibst nächste Woche Klausur in technischem Betriebswesen.“
Ich wusste das, weil ich ihm derzeit Nachhilfe in diesem Fach gab. Er war vor ein paar Wochen mit dem süßesten, schüchternsten Gesicht der Weltgeschichte, das mir fast das Herz gebrochen hatte, und mit der Bitte auf mich zugekommen, ihm unter die Arme zu greifen. Mit abgeschlossenem BWL-Studium war ich mehr als qualifiziert dafür, ihm zu helfen – was hätte ich also tun sollen? Nein sagen? Ich hatte schließlich schon mehrfach bewiesen, dass ich eine Schwäche für Rispos hatte.
Jonas zog eine Grimasse und kratzte sich im Nacken. Wenigstens sah er schuldig aus. Das war mehr, als ich bei seinem ältesten Bruder je zu Gesicht bekommen hatte. „Wir lernen doch morgen noch zusammen. Das reicht doch, oder?“
„Ich gebe dir Nachhilfe, kein neues Gehirn“, bemerkte ich kopfschüttelnd.
Er machte eine abwinkende Handbewegung. „Ich lerne heute Nacht noch. Das klappt schon.“ Er nahm sich noch drei weitere Kekse, hob die Hand und verschwand aus der Tür.
„Ich geh mich dann auch mal umziehen“, sagte Emily, die heute zum Arbeiten eingeteilt war. „Siehst du, ich hab sogar dein hässliches T-Shirt mitgebracht.“ Sie wedelte mit dem hellgrünen Stoff, den sie mehr als einmal als „menschenverachtend“ bezeichnet hatte, vor meinem Gesicht herum. „Wenn ich keine Vorzeigemitarbeiterin bin, dann weiß ich auch nicht.“
Ich freute mich über die Uniform. Noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn ihr Atem nicht nach Alkohol gerochen hätte.
Sie drückte Finn kurz an sich, flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ihn grinsen ließ, und verschwand dann in meinem Arbeitszimmer.
Trudi glitt hinter den Tresen, um die restlichen Kekse in eine Schale zu packen, während Finn mich erwartungsvoll ansah.
Misstrauisch hob ich die Augenbrauen. „Was?“
„Louisa …“, begann er langsam. „Du willst doch immer allen Menschen helfen, oder?“
„Bei deinem Gesichtsausdruck würde ich sagen: Nein.“
„Du lügst. Also: Ich habe da ein Anliegen, bei dem nur du mir helfen kannst.“
„Ich werde nichts für dich unterschreiben!“
„Nein, nein. Es geht um etwas anderes. Etwas, wo nur du, dein blendendes Aussehen und dein hoher IQ helfen können.“
Ich verdrehte die Augen. Finn war sehr talentiert darin, auf subtile Art und Weise dick aufzutragen. „Wow, ich fühle mich geehrt.“
„Das solltest du. Also, die Sache ist die: Wie ich ja bereits sagte, würde ich mir gerne Joshis Auto leihen. Aus unerfindlichen Gründen ist er die letzten Wochen aber noch mieser gelaunt als ohnehin schon, und damit mein Wunsch erfüllt wird, muss er erst wieder etwas … fröhlicher werden.“
Mir gefiel der vielsagende Blick nicht, den Finn mir zuwarf. „Und was könnte ich dagegen tun? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Meine Anwesenheit macht deinen Bruder nicht glücklich. Meine Anwesenheit sorgt dafür, dass er unschuldige Frauen in Gewahrsam steckt.“
„Na ja, aber das liegt sicherlich wieder nur an seiner allgemein schlechten Stimmung. Wenn sich das ändern würde …“
„Wie stellst du dir das vor?“
„Ich dachte, wenn du vielleicht mit ihm schlafen würdest … nur ein, zwei Mal …“
Starr sah ich ihn an. „Habe ich das richtig verstanden? Du willst, dass ich mich prostituiere, damit dein Bruder dir gut gesinnt ist?“
„Nicht direkt. Du würdest kein Geld dafür bekommen.“
„Das wird ja immer besser. Ich soll also einfach so mit ihm schlafen, damit du sein Auto haben kannst?“
„Ja, genau! Wie passt dir Montagabend?“
„Raus, Finn.“
„Ist Dienstag besser?“
„Raus! Bevor ich dir in deinen betrunkenen Hintern trete.“
„Eigentlich ist der Wochentag auch wirklich egal, es reicht, wenn du es nächste Woche einrichten könntest …“
Ich nahm die Plastikblume vom Boden, dort wo Emmi sie hatte fallen lassen, und schlug ihm damit mehrfach gegen den Kopf.
Finn grinste weiter. „Ich frag dich Montag nochmal“, versprach er, schnappte sich die Plastikblume aus meiner Hand, roch genüsslich daran und schritt aus der Tür.
Ungläubig starrte ich ihm nach. Egomane müsste man sein.
„Die jungen Leute von heute haben so viel Energie“, sagte Trudi hinter mir bewundernd. „Wenn wir uns betrinken und die Nacht durchmachen würden, könnten wir sicherlich nicht mehr so gerade stehen.“
„Ich bin jung!“, beschwerte ich mich. „Und wenn ich wollte, könnte auch ich die Nacht durchfeiern.“
„Natürlich“, sagte Trudi mit tröstlichem Blick und kam um den Tresen herum, um meinen Rücken zu tätscheln.
Na prima. Meine siebzigjährige Angestellte dachte, dass wir uns körperlich auf einer Ebene befanden.
Mein Handy vibrierte mit einer Nachricht. Froh darum, nicht darüber nachdenken zu müssen, wie langweilig mein Leben offensichtlich von außen aussah, sah ich auf den Bildschirm. Ich hatte eine einfache, aber deutliche SMS von meinem Kontaktmann beim Kölner Blatt bekommen.
Heute um zehn gibt es eine Pressekonferenz bezüglich des Haifischfalls. Der leitende Ermittler erklärt die Sachlage. Schauen Sie als Reporterin vorbei.
Oh, eine Pressekonferenz!
Ein Laut der Begeisterung glitt über meine Lippen. Ich hatte schon immer zu einer Pressekonferenz gehen wollen.
Es sah so aus, als würden sich heute gleich zwei meiner Träume erfüllen. Denn mein zweiter war es, die Chance zu bekommen, Rispo so richtig schön ins Schwitzen zu bringen. Und darin war ich bewiesenermaßen talentiert.
Ach, heute würde ein schöner Tag werden.