Kapitel 1
„Du hast ihn umgebracht!“, sagte ich schockiert und legte eine Hand auf meine Brust.
Erschrocken sah Jonas auf. „Es war ein Versehen. Ich hab ihn nicht gesehen.“
„Das hilft ihm jetzt auch nicht mehr“, stellte ich fest und fiel eilig auf die Knie, um zu sehen, ob ich noch etwas tun konnte. Die Gliedmaßen lagen merkwürdig von seinem Körper abgewinkelt und waren an mehreren Stellen gebrochen. Mein Mund wurde trocken, mein Herz schlug schneller und meine Augen brannten. „Er … er war noch so jung“, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. „Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich.“
„Lou, gib dir keine Mühe“, meinte Florian trocken und stellte sich neben seinen Bruder. „Ich glaub, du kannst ihn nicht retten. Er sieht wirklich ziemlich tot aus.“
„Etwas kann nicht ziemlich tot aussehen“, sagte ich und sah verärgert zu ihm hoch. „Entweder etwas ist tot – oder es lebt.“ Ich wusste das, ich hatte in meinem Leben schon drei Leichen gesehen und dort hatte nie zur Debatte gestanden, ob sie ihren letzten Tanz getanzt hatten oder nicht.
„Nee.“ Jonas schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Flo hat recht. Wenn Joshi achtundvierzig Stunden gearbeitet hat, sieht er etwas tot aus. Wenn du uns so böse anguckst wie jetzt, sehen wir fast tot aus … dieser Kaktus hier sieht ziemlich tot aus.“
Mit den Füßen stupste er die Überreste der Sukkulente an, die soeben den Stachel abgegeben hatte. Ich schlug ihm gegen den Knöchel und betrachtete besorgt den Kaktus, dessen Wurzeln sich vom Körper getrennt hatten. Die Pflanze sah aus, als hätte sie einen schrecklichen Frisörbesuch hinter sich – und widerwillig musste ich Jonas recht geben. Sie war ziemlich tot.
„Ihr seid allesamt Pflanzenmörder. Eure ganze Familie!“, stellte ich missbilligend fest, sammelte die Tonscherben des kleinen Blumentopfs ein, der ihn nicht hatte schützen können, und rappelte mich auf. Der beige Teppich war nun mit brauner Erde verschmiert. Das erhöhte sicherlich seinen Coolnessfaktor vor anderen Teppichen, weil es wirkte, als hätte er sich mit einer Erd-Gang angelegt, doch höchstwahrscheinlich würde er in den Müll wandern.
Rispo würde entzückt sein. Eine Pflanze und ein totes Gewebegemisch weniger in der Wohnung. Seit ich hier vor ein paar Monaten eingezogen war, hatte sich einiges geändert und Josh gab mir immer wieder subtil zu verstehen, dass ich zu viel Kram hatte und die Wohnung mehr einem Gewächshaus als einem wünschenswerten Lebensraum glich.
Da mein wünschenswerter Lebensraum allerdings ein Gewächshaus war, hatte ich Schwierigkeiten, seine Kritik nachzuvollziehen.
„Sorry“, sagte Jonas schuldbewusst. „Ich bin in letzter Zeit so schnell gewachsen, ich habe mein Körpergefühl verloren.“
„Du bist einundzwanzig und gehst einmal die Woche bouldern!“, erinnerte ich ihn grimmig, lief in die Küche, in der sich das dreckige Geschirr vom eben beendeten Abendessen stapelte, und suchte nach einem Kehrblech, um dem Kaktus ein anständiges Begräbnis im Biomüll zu ermöglichen.
Er grinste. „Ach ja. Dann muss es ein anderer, nachvollziehbarer Grund sein. Aber tut mir wirklich leid. Der Kaktus war … ähm … sehr stachelig. Klasse Pflanze.“
Seufzend winkte ich ab. „Schon okay. Halb so wild.“ Ich besaß eine Menge bewundernswerter Fähigkeiten. Zum Beispiel konnte ich in unter einer Minute ein annehmbares Blumengesteck basteln. Oder einen hübschen Dinosaurier zeichnen. Außerdem war ich dazu in der Lage, zwölf Kekse gleichzeitig in meinen Mund zu stopfen.
Doch lange auf einen der Rispo-Jungs wütend zu sein, hatte ich nie gemeistert. Josh war da vielleicht eine Ausnahme, aber mit ihm schlief ich auch und er wusste genau, welchen Knopf er drücken musste, damit ich in die Luft ging. Das war etwas anderes.
„Sagt mal, wo ist eigentlich Finn?“, wollte ich wissen und gab Jonas das Kehrblech.
Ich hatte Josh dazu überredet, seine Brüder einmal im Monat zu uns einzuladen und sicherzustellen, dass sie etwas anderes als Pizza, Bier und Aspirin zu sich nahmen. Er hatte gemeint, wenn ich ihm unbedingt regelmäßig Kopfschmerzen bereiten wolle, könnte ich ihm genauso gut alle vier Wochen seine Waffe stehlen und einem Mörder nachstellen, so wie ich es sonst immer tat.
Das hatte ich als großzügige Zustimmung meines Vorschlags betrachtet.
„Er will dich nicht sehen“, sagte Jonas lapidar, reichte Florian das Kehrblech weiter und wedelte zu den Pflanzenresten hinüber. „Er ist der Meinung, dass die Manu-Frauen die Ausgeburt der Hölle sind, die ihn von seinem rechten Pfad abbringen wollen.“
„Rechten Pfad?“, sagte ich ungläubig. „Finn saß schon öfter in einer Gewahrsamszelle als Buddha im Schneidersitz.“
Abwehrend hob Jonas die Hände. „Es waren seine Worte. Ich bin natürlich der Meinung, dass die Manu-Frauen engelsgleiche Wesen sind, die unsere Welt mit Licht und Lachen erfüllen.“
Ich schnaubte und presste die Lippen zusammen. Es war nicht fair, dass Finn seine Wut an mir ausließ! Ich war es nicht gewesen, die ihn drei Tage vor der Hochzeit hatte sitzen lassen. Diese Ehre gebührte meiner Schwester Emily, die etwas zu spät bemerkt hatte, dass eine ernste, erwachsene Beziehung keinen Spaß machte und Kompromisse nicht in ihren Lebensplan passten.
Und überhaupt: Es war vier Monate her! Ich hatte gehofft, dass er sich mittlerweile etwas beruhigt hatte.
„Geht es ihm denn sonst … gut?“, wollte ich zögerlich wissen, nahm dem verdatterten Flo den Handfeger aus der Hand und verfrachtete ihn zurück in Jonas’ Arme.
Der seufzte schwer, sank jedoch auf die Knie, um den Dreck wegzumachen. „Flo, geht es Finn gut?“, gab er die Frage an seinen Bruder weiter.
„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“
„Ja, ich weiß es sicherlich auch nicht“, beschwerte sich Jonas.
„Aber ihr seht ihn doch andauernd“, stellte ich verwirrt fest. Die fünf Rispo-Brüder mochten oft miteinander streiten, aber sie standen sich dennoch näher, als sie zugeben wollten. Sie hatten in jungen Jahren ihre Mutter verloren und das hatte sie eng zusammengeschweißt.
„Ja, klar“, meinte Flo leichthin, „aber wir reden nicht über so einen Blödsinn, wie zum Beispiel, wie sich der andere fühlt oder ob er Probleme hat!“
Ich verdrehte die Augen. „Worüber redet ihr denn sonst?“
Flo runzelte die Stirn und kratzte sich an der Schläfe. „Keine Ahnung. Welches Tier im Zoo gerade was Witziges gemacht hat. Ab wann Kinder im Uterus etwas hören können. Wo man das beste Gras herbekommt. Normale Dinge eben.“
Ja. Das klang logisch. „Ihr seid nutzlos“, stellte ich das Offensichtliche fest, und beide Brüder nickten. So als würden sie nicht eine Sekunde an diesem Fakt zweifeln.
Ach, na gut. Ich würde Finn die Woche mal anrufen und selbst nachfragen. Ich mochte ihn. Ich wollte nicht, dass er mich nicht mehr ansehen konnte, weil er dachte, ich würde ihm ebenso das Herz brechen, wie Emily es getan hatte. Obwohl ich mir da nicht sicher sein konnte. Ihre Beziehung war immer etwas speziell gewesen.
Jonas kehrte pflichtbewusst die Überreste der Sukkulente auf und rieb dabei die Erde weiter in den Teppich. Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass es das Ziel war, den Dreck zu entfernen, nicht, ihn zu verewigen, als eine laute Männerstimme die Stille durchbrach.
„Was zur Hölle soll das denn heißen?!“ Das Geschrei drang so schrill durch die Schlafzimmertür, dass wir alle drei zusammenzuckten. „Ich bin hier, weil du es so wolltest – und jetzt bist du wütend, weil ich meine Füße nicht stillhalten, sondern Sachen in die eigene Hand nehmen will?“
„Du bist kein verdammter Polizist, Mo! Du hast nicht das Recht, irgendetwas zu tun!“ Das war Josh. Sein Brüllen würde ich unter hunderten wiedererkennen. Größtenteils, weil ich so oft der Grund dafür war.
„Louisa ist auch keine Polizistin und mischt sich überall ein – sie hast du auch noch nicht verknackt“, schrie Mo zurück. „Nur, weil ich keine Brüste habe und nicht mit dir ins Bett steige, habe ich nicht dieselben Rechte?“
Ich öffnete automatisch den Mund, um zurückzuschreien, dass Josh mich sehr wohl schon einmal verknackt hatte, doch ich kam nicht dazu.
„Es ist egal, was Lou getan hat!“, fuhr Josh ihn an. „Es geht hier um deine Dummheiten, nicht ihre.“
Moritz, der zweitälteste Rispo-Sohn, erwiderte etwas Hitziges, das ich nicht verstand, doch wahrscheinlich endete es nicht mit verzwicktes Marschdocht.
„Es muss ungewohnt sein, nicht diejenige zu sein, die Josh anschreit“, überlegte Jonas leise und nickte mir zu.
Düster sah ich ihn an. „Josh schreit gar nicht so häufig“, log ich. „Er hat einfach einen … großen Drang, sich deutlich auszudrücken.“
Die Tür vom Schlafzimmer flog auf und Mo stapfte daraus hervor, sein Kopf so rot wie eine schüchterne Tomate.
„Oh, zwick dich doch selbst, Mo!“, drückte Josh sich deutlich aus und lief ihm ins Wohnzimmer nach – auch wenn er nicht zwick sagte. „Du warst im Amazonas unterwegs, hast mit Mädchen im Bikini geflirtet und Steine fotografiert, während ich die Drecksarbeit gemacht hab! Willst du mir dafür jetzt allen Ernstes Vorwürfe machen?“
Wütend fuhr Mo herum. „Menschen machen Fehler, Josh! Das ist alles, was ich sagen möchte.“
„Ich nicht. Nicht dabei!“, erwiderte Rispo kalt, seine sonst hellbraunen Augen schwarz.
„Jaja“, sagte Mo verächtlich und schlüpfte in seine Schuhe, die bei der Tür standen. „Du bist ein beschissener Heiliger ohne Fehler und dein Gehirn ist so groß wie eine verdammte Bowlingkugel, genauso wie dein Ego!“ Er reckte den Mittelfinger in die Höhe. „Danke für nichts, Josh! Wenn ich mich das nächste Mal vernünftig mit jemandem unterhalten will, rede ich mit meinem Rasierer! Der hat genauso viele überzeugende Argumente.“ Im nächsten Moment riss er die Wohnungstür auf und verschwand im Flur.
Jonas und Florian sahen mich an, sahen einander an … und stürzten ihm hinterher. Er war ihre Mitfahrgelegenheit. „Danke fürs Essen! War sehr harmonisch“, rief Florian noch, dann fiel die Tür ins Schloss.
Langsam wandte ich mich zu Josh um. Seine schwarzen Haare standen zu allen Seiten ab, als wäre er etliche Male mit den Händen hindurchgefahren, und sein markanter Kiefer knackte. Sein Blick flackerte zu mir herüber und über seine Lippen drang ein einziges Wort: „Nein.“
Unschuldig hob ich die Augenbrauen, bevor ich vorsichtig fragte: „Na … habt ihr euch über die neue Sommerkollektion unterhalten?“
Rispo sah mich düster an, bevor er mir ruckartig den Rücken zuwandte und anfing, die restlichen Sachen vom Tisch zu räumen.
Okay. Das Gespräch hatte sich offensichtlich nicht um luftige Kleidchen und Heidi Klums Meinung dazu gedreht.
„Josh …“, fing ich an, doch er unterbrach mich, bevor ich zum zweiten Wort ansetzen konnte.
„Nein, Lou!“
Ich verdrehte die Augen. „Denkst du nicht, dass das Gespräch gerade etwas aus dem Ruder gelaufen ist? Wenn man bedenkt, dass Mo dich mit den freundlichen Worten ‚Kann ich kurz mit dir reden, bitte? Ich habe tolle Neuigkeiten‘ zu einem privaten Gespräch in unserem Schlafzimmer eingeladen hat?“
Wütend fuhr er zu mir herum. „Es war deine Idee, Lou. Deine blöde Idee, sie schon wieder einzuladen – und letztendlich bin ich es, der am Herd steht und mir Scheiße anhören muss!“
Abwehrend hob ich die Hände. „Wir beide wissen, dass niemand essen möchte, was ich koche – und von was für einer Scheiße redest du?“
Josh presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und fing an, die Essensreste in eine Tupperdose zu kratzen.
Ich seufzte schwer. Mit Rispo über seine Gefühle zu reden, war wie eine offene Herz-OP an einer Wespe. Es benötigte eine Menge Fingerspitzengefühl, Geduld – und war eigentlich eine idiotische Idee. „Josh, du hast versprochen, dass du mir mehr über deine Gefühle erzählen willst“, erinnerte ich ihn.
„Okay. Ich fühle mich … nicht danach, dir meine Gefühle mitzuteilen.“
Düster sah ich ihn an. „Neuer Versuch.“
„Na gut, ich will ehrlich sein“, sagte er schroff. „Ich fühle mich sehr unzufrieden.“
„Weil?“
„Ich unzufrieden bin.“
„Warum?“
„Weil mir meine Zufriedenheit fehlt.“
„Josh!“ Ungeduldig nahm ich ihm die Dose aus der Hand, damit er nicht auf die Idee kam, herauszufinden, wie fest er sie gegen die Wand werfen musste, um ein hübsches Loch zu erzeugen.
„Schön, ich sag dir, wie ich mich fühle“, meinte er ernst und beugte sich zu mir herunter. „Ich fühle mich von meiner Freundin im Stich gelassen, weil sie nicht akzeptieren kann, dass ich nicht über meine Gefühle reden will.“
Ich hob eine Augenbraue. „Diese Freundin, von der du redest, hat mir gerade mitgeteilt, dass sie überlegt, ihren Beziehungsstatus auf Facebook in kompliziert zu ändern.“
„Das ist kein Problem“, meinte er. „Niemand benutzt heutzutage noch Facebook.“
Ich schnaubte. „Sag mir nur, worüber ihr euch gestritten habt, dann halte ich die Klappe.“
Rispo verengte die Augen und musterte mich nachdenklich. „Erinnere mich kurz: Warum liebe ich dich noch gleich?“
„Weil ich süß bin und niemand lateinische Pflanzennamen so sexy ausspricht wie ich.“
„Ach ja, richtig“, sagte er trocken, bevor er tief durchatmete und die Arme verschränkte. „Es ging um Mamas Fall. Er will ihn wieder aufnehmen. Er hat ihre Akte durchgearbeitet und ist der Meinung, dass die Polizisten damals schlampig recherchiert haben.“
„Aber da stimmst du ihm doch zu“, sagte ich verwirrt. Joshs Mutter war Journalistin gewesen, hatte sich zu tief in die Hintergründe eines Enthüllungsberichts verstrickt und war vor mehr als fünfzehn Jahren in einer dunklen Gasse erschossen worden.
„Natürlich stimme ich ihm zu“, knurrte er. „Deswegen bin ich, sobald ich es zum Kommissar gebracht hatte, jeder einzelnen Spur selbst noch einmal nachgegangen. Ich habe jeden Zeugen noch einmal befragt, die Tatortbilder bis zum Erbrechen studiert und jede Aussage doppelt und dreifach überprüft. Doch es gab nichts zu finden! Alle Spuren sind seit Jahren kalt. Wenn der Mörder irgendeinen Hinweis hinterlassen hat, den die Polizei damals übersehen hat, dann hätte ich ihn gefunden.“
Ich nickte, denn ich glaubte ihm. Rispo war unglaublich präzise und genau, wenn es um Mordfälle ging. Den Fall seiner Mutter würde er aus jeder möglichen Perspektive betrachtet haben.
„Hast du Mo das gesagt?“
„Natürlich habe ich das – und mein wundervoller Bruder hat bemerkt, dass jeder Mensch Fehler macht und ich von dieser Regel nicht ausgeschlossen bin.“
Ah. Der Groschen fiel. Mo hatte Joshs Fähigkeiten als Kommissar kritisiert und somit den Finger in die offene Wunde gedrückt. Die Wunde, die die Tatsache hinterlassen hatte, dass er den Mord, der ihm am meisten am Herzen lag, nicht hatte lösen können.
Mitfühlend sah ich ihn an, bevor ich die Tupperdose auf den Tisch stellte und sanft die Hände um sein Gesicht legte. „Mo hat es nicht so gemeint, Josh“, flüsterte ich. „Er hat lediglich eine Hoffnung ausgesprochen. Ich glaube nicht, dass er wirklich denkt, dass du was übersehen hast. Er ist frustriert und verletzt, weil er ebenso wenig wie du akzeptieren kann, dass der Mörder da draußen noch immer frei herumläuft.“
Josh kniff die Augen zusammen und nickte. „Ich verstehe es, okay? Mein Empathievermögen ist scheiße, aber so weit reicht es noch. Das Ding ist … es wird ihn nicht glücklich machen. Sich die Bilder immer wieder anzusehen, bis sie ihn in seinen Träumen verfolgen. Von einer Wand gegen die nächste zu rennen, während er nicht mehr herausfindet, als dass Menschen grausam sind. Mich hat es damals wahnsinnig gemacht“, murmelte er und öffnete die Augen, die mittlerweile wieder ihren warmen Hellbraunton angenommen hatten. „Der Fall hat mich so unglaublich lang verfolgt und mich so viel Geduld und Energie und Leid gekostet … ich will den Scheiß nicht noch mal durchmachen und Mo sollte es auch nicht müssen.“
Ich nickte und fuhr mit dem Daumen über seine Wange. „Auch wenn ich mir sicher bin, dass du diesen Standpunkt mit deinem Gebrüll nicht effektiv verdeutlicht hast … es wird ihm egal sein. Er muss selbst herausfinden, dass der Mord nicht lösbar ist, damit er es akzeptieren kann.“
„Ja“, sagte er düster. „Und genau das wird er tun.“
Ich nickte. „Okay, ich … ich verstehe nur nicht, warum dich das so aufgeregt?“, fragte ich sanft und ließ meine Hände zu seinen Schultern sinken. „Soll er doch Zeugen befragen und seine Zeit verschwenden. Das ist doch nicht schlimm.“
„Aber dabei wird es nicht bleiben“, sagte er scharf. „Mo weiß nicht, wann er aufhören muss. Er wird sich Zugang zu Orten verschaffen, an denen er nichts verloren hat. Gesetze brechen, wie sie ihm in den Weg fallen. Mich wieder und wieder um Hilfe bitten, wenn er nicht weiterkommt … Und seien wir ehrlich: Für dumme Kamikazeaktionen und illegale, hirnrissige Mörderjagden habe ich doch schon dich, nicht wahr?“
Ich lief rot an, räusperte mich und strich mir die Haare hinter die Ohren. „Ich habe seit Monaten keiner Leiche mehr nachgestellt.“
Josh schnaubte. „Ja, aber wahrscheinlich hast du gerade allein mithilfe dieser Worte eine neue heraufbeschworen.“
Das konnte ich leider nicht ausschließen, meine Erfahrungswerte unterstützten Joshs These.
Ich seufzte schwer und legte die Arme um ihn. „Danke, dass du deine Gedanken mit mir geteilt hast.“
„Mhm.“
Ich lächelte zu ihm auf. „War das so schwer? Oder soll ich dir das nächste Mal lieber eine Puppe besorgen, damit du an ihr zeigen kannst, wo es dir wehtut?“
Er schnaubte, doch seine Mundwinkel zuckten und seine Hände glitten in meinen Nacken. „Ich teile mir dich schon mit deinem verhaltensgestörten Kater, deiner wahnsinnigen Familie und einer Armee aus Pflanzen. Ich will keine Plastikfigur zu dieser Liste hinzufügen.“
„Twinky hat schon zur Lösung von zwei Mordfällen beigetragen“, sagte ich stolz. „Er ist nicht verhaltensgestört, er ist ein exzentrischer Meisterdetektiv.“
„Er hat Blut getrunken, Lou. Wenn du mir erzählen willst, dass das normal ist, haben wir ganz andere Probleme.“
Ich musste lachen. „Da mir im Angesicht von Blut schwindelig wird, hast du nichts von mir zu befürchten.“
„Schön zu hören“, stellte Rispo fest, bevor er mein Kinn mit dem Daumen anhob und mich küsste.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn besser zu erreichen, und murmelte: „Weißt du, irgendwie macht es mich immer ein wenig an, wenn du deine Gefühle mit mir teilst.“
Josh lachte leise und glitt mit den Händen in meine Haare. „Tatsächlich?“
„Ja. Denn es bedeutet, dass du mir vertraust.“
„Mhm“, machte er. „Das ist wohl wahr. Ich vertraue dir überall außer in der Küche.“
Ich zog eine Grimasse. „Ich kann Nudeln kochen und die Mikrowelle bedienen.“
„Und ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt. Apropos Kochen: Hast du Samstagabend Zeit?“, murmelte er, küsste meine Wange, meinen Hals …
„Ja“, wisperte ich und schloss die Augen. „Wieso? Willst du, dass ich meine Kochkünste demonstriere?“
„Nein, ich will, dass du deine Esskünste demonstrierst“, korrigierte er mich und wickelte eine Haarsträhne von mir um den Finger. „Ich dachte, wir könnten uns mal zur Abwechslung wieder einen Abend zu zweit machen. Ohne meine oder deine schwachsinnige Familie. Ich würde was kochen und habe bereits deinen Lieblingswein besorgt.“
Ich wanderte mit den Händen zurück zu seinem Nacken und lächelte breit. „Sehr gerne. Gibt es was zu feiern?“
Josh hob die Schultern. „Ein Abend ohne Familie ist immer ein Grund zum Feiern.“
Ich lachte und küsste ihn erneut, während Joshs Hände an fragwürdige Gegenden vordrangen.
Sobald er sich wieder von mir löste, räusperte ich mich. „Vielleicht sollten wir das Aufräumen einfach verschieben?“, schlug ich vor, doch Josh war mir schon einen Schritt voraus und schob mich aus der offenen Küche.
„Brillanter Vorschlag“, flüsterte er an meinen Lippen. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass deine letzte Idee war, meine Brüder zum Essen einzuladen.“
Ich grinste, zog ihn an seinem Hemdkragen zu mir herunter, um mit dem Küssen weiterzumachen … und wurde von meinem Handyklingeln unterbrochen.
Ich hielt inne, wollte schon in meine Tasche greifen, als Josh meine Hand abfing. „Ignorier es.“
„Es könnte wichtig sein …“
„Das hier ist wichtig“, murmelte er, küsste meinen Nacken, meine Schulter … und ich vergaß, was ein Handy überhaupt war.
Wohlig seufzte ich auf, ließ die Mailbox drangehen … und keine Sekunde später klingelte Joshs Handy.
Frustriert ließ ich von ihm ab und schob ihn weg. „Es ist anscheinend doch wichtig. Wir gehen besser ran.“
Josh atmete tief ein und aus, als würde ich ihn zwingen, vor dem gesamten Präsidium zuzugeben, dass er ein bestimmtes Lied von Taylor Swift gern mochte, bevor er sein Handy aus der Tasche zog.
Er warf einen Blick auf das Display, bevor er das Telefon an mich weiterreichte. „Es ist Trudi. Wie auch immer sie sich in meine Telefonliste verirrt hat. Hatte ich dir nicht verboten, ihr meine Nummer zu geben?“
Ich zog eine Grimasse und nahm das Handy entgegen. Ja, hatte er. Doch ich war nicht besonders empfänglich für Verbote. Außerdem sagte er das so leicht. Sollte er doch mal versuchen, meiner ehemaligen, fast fünfundsiebzigjährigen Angestellten einen Wunsch abzuschlagen, während sie einen Teller warmer, duftender Chocolate-Chip-Cookies in den Händen trug. Das war eine Sache der körperlichen Unmöglichkeit.
„Hey, Trudi“, hob ich ab. „Alles klar?“
„Louisa“, zischte die alte Dame mit gedämpfter Stimme. „Gott sei Dank erreiche ich dich.“ Ihre Stimme war so aufgeregt, dass sie an die eines Eichhörnchens erinnerte, das zu viel Helium inhaliert hatte.
Alarmiert richtete ich mich auf. „Trudi? Was ist los?“
„Ich … ich habe eine Leiche gefunden!“, stieß sie aus und klang dabei genauso verängstigt wie stolz. „Ich weiß, normalerweise ist das deine Sache, aber … ich habe es nicht absichtlich getan, also werde nicht eifersüchtig.“
Schockiert klappte mein Mund auf, bevor ich fragte: „Was? Wo? Was ist passiert?“
Josh hob derweil besorgt die Augenbrauen.
Ich schluckte und formte das Wort „Leiche“ mit den Lippen.
Sofort fiel die Sorge von seinem Gesicht und schnaubend schüttelte er den Kopf. „Manfred mag tot aussehen, aber er ist nur alt, Lou. Sag ihr das.“
Manfred war Trudis „besonderer Freund“, wie sie ihn nannte, und älter als die Wörter knorke und fesch zusammen.
„Es ist nicht Manni!“, sagte Trudi sofort, sie schien Josh gehört zu haben. „Er steht neben mir und ist quietschfidel.“
„Manni ist es nicht“, gab ich an Rispo weiter.
Er seufzte schwer und rieb sich widerwillig über die Stirn. „Um wen geht es dann?“
Gute Frage. „Um wen geht es, Trudi?“
Kurze Stille entstand, bevor sie nachdenklich sagte: „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau … Es ist zu neblig.“
Ich runzelte die Stirn, sah aus dem Fenster in die sternenklare Nacht und wieder zu Josh. Zugegeben, Trudis Augen waren nicht mehr die besten, erst letztens hatte sie geglaubt, die Taube auf dem Dach ihres Nachbarn sei der Weihnachtsmann, aber dennoch … Nebel hatte sie sich noch nie eingebildet. „Wo genau seid ihr, Trudi? Bei einem Trockeneisfachhandel?“
„Kokolores!“, sagte Trudi aufgebracht. „Wir stehen vor der Dampfsauna, in der ich die Leiche gefunden habe!“
Ich blinzelte verwirrt. „Ihr steht … was?“
„Vor der Dampfsauna, Lou! Meine Güte, du bist heute langsam.“
„Ähm, okay, klar. Ihr steht vor einer Dampfsauna, wo auch sonst? Habt ihr dem Personal Bescheid gesagt? Die Polizei gerufen?“
Wieder entstand eine unangenehme Stille, bevor Trudi langsam sagte: „Nun, das beides ist etwas problematisch.“
„Warum?“, wollte ich wissen und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. „Trudi, was genau ist passiert? Fang bitte am Anfang an, okay?“
„Also, ich und Manni wollten ein paar gemeinsame Stunden verbringen und er kannte zufällig dieses bestimmte Altenheim, in dem die Bewohner eine Dampfsauna haben …“
„Also seid ihr dort eingebrochen, um sie zu benutzen?“, half ich ihr säuerlich auf die Sprünge.
„Nun, ja. Als wärst du so unschuldig“, sagte sie pikiert. „Du bist schon öfter irgendwo eingebrochen als Kinder auf einem gefrorenen See.“
Dass Leute mir das immer wieder zum Vorwurf machten! „Okay, Trudi. Was dann? In der Sauna habt ihr die Leiche entdeckt?“
„Entdeckt ist vielleicht nicht das richtige Wort“, sagte sie und räusperte sich. „Wie gesagt, es ist sehr neblig. Es ist vielmehr so, dass ich deutlich etwas Lebloses gespürt habe.“
„Etwas Lebloses?“, hakte ich zweifelnd nach. „Und … gespürt?“ Unsicher kratzte ich mich im Nacken. Es war bereits nach zehn und normalerweise befand sich Trudi zu dieser Uhrzeit im Bett. Ihr Geist befand sich also nicht auf seiner Höhe. Ich konnte nicht ausschließen, dass ihre Hand eingeschlafen war, sie im Nebel nach den Sitzen getastet und eine Eisenstange für einen leblosen Körper gehalten hatte. Eigentlich war das sogar recht wahrscheinlich. Je müder sie wurde, desto fantasievoller wurde sie.
„Lou“, sagte Josh trocken und schüttelte den Kopf. „Leg einfach auf, okay?“
Ich seufzte. „Geht nach Hause, Trudi, ja?“, sagte ich ins Telefon. „Ihr seid offenbar erschöpft und …“
„Louisa Josephine Manu!“, unterbrach sie mich laut. „Ich weiß sehr wohl, wenn ich mich auf eine Leiche setze, vielen Dank. Man hat schließlich nicht alle Tage fremdes Blut am Hintern!“
Ich zog eine Grimasse und blickte zu Rispo. „Sie ist sich ziemlich sicher, Josh.“
Er schnaubte nur. „Trudi kann eine Tomate nicht von einem Bund Spargel unterscheiden und jetzt soll ich glauben, dass sie in einer dunklen Dampfsauna eine Leiche entdeckt hat?“
Meine Wangen liefen rosa an. „Ähm, nein … Sie hat sie mit ihrem Po ertastet.“
Er presste die Lippen aufeinander und nickte. „Ah, ja. Das klingt viel glaubhafter.“
Okay, ich musste zugeben, dass das alles absurd wirkte, aber ich hatte mich schon zu oft in Trudis Situation wiedergefunden, um nicht etwas Mitgefühl mit ihr zu haben. Mir sagten auch immer alle nach, dass ich mir die abgetrennten Körperteile, die ich in meinem Alltag fand, nur einbildete. „Sie hat Blut an ihrem Hintern, Josh.“
„Hat sie es mal probiert? Blut, das nach Ketchup schmeckt, ist meistens Ketchup.“
„Josh …“
„Louisa! Es reicht jetzt“, unterbrach Trudi mich scharf. „Ich weiß, was ich gespürt habe, und Manni denkt auch, dass es Blut ist, also … wenn du und dein Kommissar nicht in einer halben Stunde hier seid, backe ich dir keinen einzigen Keks mehr, haben wir uns verstanden?“
Ich öffnete meinen Mund, um ihr zu sagen, dass mir das egal war … Doch das konnte ich nicht. Die Lüge war zu groß. Mist.
„Wir sind gleich da, Trudi. Schick mir einfach die Adresse“, bemerkte ich seufzend und legte auf.
„Was?“, fragte Josh ungläubig.
Ich sah ihn ernst an. „Es ist ihr nun einmal sehr wichtig, Joshi.“
Kopfschüttelnd musterte er mich. „Hat sie dir damit gedroht, dir ihre Backkünste zu verwehren?“
„Ich will nicht darüber reden“, murmelte ich gereizt und lief zu meinen Schuhen.