Leseprobe Mordsmäßig verstrickt

Kapitel 1

Ein spitzer Schrei ließ mich zusammenfahren. Ich fiel so eilig von meinem Schreibtischstuhl auf den Boden, damit ich unter dem massiven Holztisch hindurchkrabbeln konnte, dass ich einige Blätter und meinen Taschenrechner mitriss.

Hastig rappelte ich mich wieder hoch und stieß die Tür zum Verkaufsraum auf. Mit einem lauten Krachen knallte sie gegen die dahinterliegenden Kühlschränke, in denen ich fertige Blumensträuße aufbewahrte.

„Was ist passiert? Ich bin bewaffnet!“ Meine leeren Hände straften mich Lügen, aber falls jemand Trudi, meine siebzigjährige Verkaufshilfe, angriff, wurde er zumindest abgelenkt.

Doch als ich in den Raum sah, stand da kein Mann mit schwarzer Skimaske über dem Kopf und auch kein Skinhead mit einem Klappmesser. Stattdessen beäugte mich ein junger, leicht verwirrter Paketbote, während meine kleine Schwester die Augen in meine Richtung verdrehte.

„Herrgott, Lou! Du hast uns vielleicht erschreckt.“

Ich hatte sie erschreckt? Wenn jetzt noch ein Vogel gegen die Fensterscheibe klatschte, würde ich an einem Herzinfarkt verrecken! „Emily Manu, du kannst hier nicht herumschreien, als ob der Typ aus Psycho auf dich losgehen würde!“, fuhr ich sie an. „Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen.“

Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht einmal eine Zehntelsekunde daran gedacht, die Polizei anzurufen. Was vielleicht nicht für meinen gesunden Menschenverstand sprach, da ich gegen einen Einbrecher oder Räuber in etwa so viel hätte ausrichten können wie eine Fliege gegen eine Spinne. Eine Fruchtfliege.

Emily, körperlich zwei, seelisch zehn Jahre jünger als ich, sah mich mitleidig an. „Du bist eine solche Spielverderberin, seitdem du den Finger gefunden hast.“

„Es war ein Menschenfinger. Da habe ich wohl das Recht ...“

Meine Schwester ahmte mit ihrer Hand einen plappernden Mund nach. „Willst du das jetzt ewig als Grund dafür nehmen, dass du ein Angsthase bist?“

Ewig? „Es ist drei Monate her.“

„Du sagst es. Drei lange Monate. Wir haben ein neues Jahr. Und dieses Jahr hast du noch keinen Finger gefunden, also beruhige dich und lass dir ein paar Eierstöcke wachsen.“

Sie wandte sich von mir ab und riss dem Boten das Paket aus der Hand, der sich etwas peinlich berührt die Falten seiner ungebügelten, schwarz-gelben Uniform glatt strich. Erfolglos.

„Wo muss ich unterschreiben?“, fragte Emily und reichte das Paket an Trudi weiter, die hinter der Theke stand. Sie zog es enthusiastisch an sich und wurde vor Aufregung ganz rot.

Der junge Mann warf mir einen ängstlichen Blick zu, zeigte Emily jedoch trotz meines düsteren Blickes, wo sie die Paketannahme bestätigen sollte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, ließ sie aber nach einigen Momenten wieder sinken. Vielleicht hatte sie ja recht. Seitdem ich vor knapp drei Monaten einen abgehackten Finger im Sperrmüll gefunden hatte und eine Woche später beinahe von einer durchgeknallten Irren mit einem Messer erstochen worden war, war ich etwas empfindlich, wenn Menschen anfingen zu schreien. Aber ... Moment.

Ich starrte auf meine Schwester und dann auf den Paketboten.

Wieso war Emilys Paket hierher geschickt worden? Pakete wurden nicht zu meinem Laden geschickt. Nur die Blumenbestellungen und ...

„Emmi, hast du wieder meinen Amazon-Account gehackt?“

Meine kleine Schwester hob eine Schulter an und gab dem Mann den Stift zurück. „Wenn du nicht willst, dass man ihn benutzt, solltest du dein Passwort in etwas anderes als 123Schokolade ändern.“

„Du bist kriminell! Darf ich dich daran erinnern, dass du im Moment überhaupt nur hier bist, weil du deine Schulden bei mir abarbeiten musst?“

„Ja – und wieso habe ich diese Schulden wohl?“

„Weil du nicht mit Geld umgehen kannst?“, schlug ich vor.

Sie verdrehte die Augen. „Nein. Weil du mir meine Bildung verwehren wolltest.“

Ich schnaubte. „Anziehsachen sind keine Bildung.“

„Da würde Karl Lagerfeld etwas anderes sagen.“

„Du bist aber nicht Karl Lagerfeld!“

„Vielleicht will ich ja Karl Lagerfeld werden! Das weißt du doch gar nicht.“

Ich warf die Hände in die Luft. „Nach drei Minuten mit einer Nähmaschine hättest du wahrscheinlich dein Ohr an einen Rock getackert!“

„Darf ich gehen?“

Abrupt sahen wir beide auf.

Der Paketbote stand immer noch in der Mitte des Raumes, das blasse Gesicht angespannt, die Schultern nach oben gezogen, sodass sein aschblondes Haar sie streifte.

Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, was ihn dazu veranlasste, aus der Tür zu fliehen. Irgendwie hatte ich diesen Effekt auf Männer.

Emily ging um den Verkaufstresen herum und holte ein Cuttermesser aus einer der Schubladen hervor, um sich an das Paket zu machen.

„Emily“, seufzte ich und rieb mir mit der flachen Hand über die Stirn, „du kannst mich nicht dauernd bestehlen.“

„Dann ruf doch deinen Polizisten an und lass mich verhaften.“

Das würde ich ja gerne, nur … redete ich im Moment nicht mit ihm.

Ich öffnete den Mund und schloss ihn Sekunden später wieder, um ihn dann verkniffen zusammenzupressen.

Emily schnaubte. „Ich sag es dir ja nur ungern, aber gerade erinnerst du mich sehr an Mama. Wenn jetzt noch die Ader auf deiner Stirn anfängt zu pochen …“

„Ich habe dir frische Kekse auf den Schreibtisch gestellt!“, warf Trudi ein, die genau wusste, dass das Gespräch nur noch bergab gehen konnte, wenn Emily mich mit unserer Mutter verglich. „Du siehst aus, als könntest du Zucker gebrauchen. Mein Günter hat immer gesagt, dass ein Keks in jeder Lebenslage hilft.“

Und schon lief sie in mein Büro, um Hilfe zu holen.

Trudi war Witwe, unglaubliche Bäckerin und die unfähigste Angestellte, die man sich vorstellen konnte. Sie konnte Pflanzen mit nur einem Blick zum Verwelken bringen, was angesichts der Tatsache, dass ich einen Blumenladen führte, nicht immer von Vorteil war.

Sie war siebzig, vergesslich, hatte stahlgraue Locken, die bei jedem ihrer Schritte wippten, und war grundsätzlich der Meinung, dass alte Leute sagen durften, was sie wollten. Ganz einfach aus dem Grund, dass das Leben zu kurz war, um es nicht zu tun. Ich hätte sie eigentlich nie einstellen dürfen, aber … hatte ich erwähnt, dass sie eine unglaubliche Bäckerin war?

Es war wirtschaftlich gesehen vielleicht nicht ganz ratsam, Backkünste über berufliche Kompetenz zu stellen, aber falsch konnte es auch nicht sein. Nicht, wenn es bedeutete, dass ich jeden Tag die Kekse essen konnte, von denen Trudi mir gerade einen in den Mund schob.

Karamell-Nuss. Ich konnte es nicht beweisen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass diese Kekse den Weltfrieden herbeiführen könnten.

Trudi bot auch Emily ein Plätzchen an, doch die schüttelte nur den Kopf. „Nein, danke. Ich sollte auf meine Linie achten. Ich sehe ja, was sonst in zwei Jahren aus mir wird.“

Mit den Wimpern klimpernd warf sie mir einen Blick zu.

Weltfrieden vorbei.

Ich schnappte nach Luft, hatte aber leider noch Keksstückchen im Mund. Ich verschluckte mich und musste mich röchelnd über den Verkaufstresen legen, um wieder zu Atem zu kommen. Emily störte sich nicht daran, sondern schlüpfte aus ihren Winterstiefeln, um die High Heels, die aus dem Paket zum Vorschein gekommen waren, anzuprobieren. Sie waren orange – passend zu ihrer derzeitigen Haarfarbe.

„Da habe ich eine gute Investition getätigt“, sagte sie selbstzufrieden und bewunderte ihre Füße.

„Meinst du nicht eher, dass ich eine gute Investition getätigt habe?“, hustete ich.

„Oh ja. Stimmt. Danke dafür! Trudi, was sagst du? Kann ich mir so einen reichen Ehemann angeln?“

Ich stöhnte und hielt es für besser, wieder zurück in mein Büro zu gehen. Ich liebte Emily, wirklich, aber das hielt mich nicht davon ab, ihr regelmäßig mit dem Griff einer Gartenschere etwas Verantwortungsbewusstsein in den Kopf klopfen zu wollen. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war ihr Berufswunsch immer noch Prinzessin. Wenn das mit der Prinzessin nicht klappte, hielt sie sich eine Option als It-Girl offen. Eigentlich studierte sie Ethnologie – oder tat so, als würde sie Ethnologie studieren, die Uni besuchte sie zumindest fast nie. Wirklich begabt schien sie allerdings nur darin, mich zur Weißglut zu bringen. Aber hey! Wenigstens diese Fähigkeit verfolgte sie mit regem Interesse.

Kopfschüttelnd drehte ich ihr und Trudi den Rücken zu. Meine Angestellte war gerade dabei, Emily zu erzählen, welche reichen Junggesellen Köln zu bieten hatte und das nahm ich als Anlass dazu, die Tür hinter mir zu schließen.

Mein Handy vibrierte, ich zog es aus der Hosentasche und lugte auf das Display. Eine SMS von Rispo.

Plötzlich wollte ich die Gartenschere gerne für meinen Kopf benutzen. Eine andere Lösung dafür, wie ich ihn aus meinem Kopf bekommen sollte, sah ich zurzeit nicht.

Joshua Rispo. Wenn ich seinen Namen nur las, wollte ich laut aufstöhnen. Vor Lust und vor Verärgerung.

Rispo war wie eine Schokotorte. Ich wollte ihn, wusste aber gleichzeitig, dass er schlecht für mich war und große Veränderungen meines Körpers herbeiführen könnte.

Er arbeitete bei der Kripo, hatte dunkle Augen, die nach Sünde schrien, ebenso dunkle Haare, die meine Hand in ihre Richtung zucken ließen – und ein Mundwerk, das meine Hand ebenfalls in seine Richtung lockte. Allerdings in Form einer Faust.

Seitdem ich mich vor drei Monaten in die Polizeiarbeit eingemischt hatte, beinahe von einer Verrückten getötet und von ihm mit einer Ohrfeige aus meiner Ohnmacht geweckt worden war, hatte er einen nicht unerheblichen Teil meiner Gedanken eingenommen.

Im Moment war ich auf diesen Teil jedoch ziemlich wütend.

Ich öffnete die Nachricht.

Du gehst nicht ans Telefon. Bist du sauer?

Jetzt wusste ich auch, warum er ein so guter Kommissar war. Seine Spürnase war unschlagbar.

Ich rede nicht mit dir, tippte ich zurück und drückte auf „Senden“.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis die Rücknachricht kam.

Warum nicht?

Aus offensichtlichen Gründen!

Frau-offensichtlich?

Offensichtlich-offensichtlich!

Aha. Und wann redest du dann wieder mit mir?

Sobald ich drüber hinweg gekommen bin, dass du ein Blödmann bist.

Kurze Stille.

Ich habe keine Ahnung, was los ist.

Ich schob das Handy in die Tasche.

Er hatte keine Ahnung, was los war! Im Duden hinter dem Wort ‚Mann’ sollte Geschöpfe, die keine Ahnung haben, leider aber zur Erhaltung der menschlichen Rasse benötigt werden stehen.

Ich ließ mich auf die Knie sinken, krabbelte unter dem Schreibtisch durch, der zu beiden Seiten die Wand berührte, und hob meinen Taschenrechner auf. Ich würde Emilys Schulden berechnen. Wenn das so weiterging, hatte ich für den Rest meines Lebens eine kostenlose Angestellte.

Eine Stunde und tausend Keks-Kalorien später war es kurz nach eins und Emilys Schuhe schienen sich selbst abbezahlt zu haben. Wie gut, dass das Geld in meine Kasse ging.

Ihre Verkaufsstrategie war simpel: Brust raus, Hüfte geneigt, viel kichern und sehr viel mit den Wimpern klimpern. Die Männer kauften wie verrückt – solange ihre Freundin nicht neben ihnen stand. Mann, wieso hatte ich noch nie versucht, mich für meine Blumen zu prostituieren?

Aber andererseits hatte ich auch keine 90-60-90-Maße. Ich war zufrieden mit meinem Körper, obwohl Emily schon recht hatte … Trudis Kekse taten mir nicht unbedingt gut.

Ich sollte Sport machen. Morgen. Oder nächste Woche.

Sollte man mit Sport nicht immer an einem Montag anfangen? Heute war Mittwoch, das konnte nicht gut sein. Außerdem hatte ich gelesen, dass man mit drastischen lebendverändernden Maßnahmen nicht bei Vollmond anfangen sollte. Sport wäre eine drastische Veränderung und ich war mir ziemlich sicher, dass der Mond heute Abend zumindest fast voll sein würde.

Alles sprach gegen Sport und für Kekse.

Es war nicht meine Schuld! Ich hatte es wirklich versucht.

Ich nahm mir noch einen und beobachtete Emily dabei, wie sie einem Mann gerade erklärte, dass eine einzelne Rose keine Frau beeindrucken würde, sondern dass er schon mindestens ein Dutzend nehmen müsse, um nicht geizig zu wirken.

„Sie wäre erstklassig darin, einen reichen Ehemann zu finden“, bemerkte Trudi fachmännisch und ließ etwas in den Eimer Wasser mit Schnittblumen fallen.

„Sie soll aber keinen reichen Ehemann finden“, erinnerte ich sie. „Sie soll ihren Ehrgeiz und dann einen Job finden.“

„Also, für mich hat das mit dem Ehemann wunderbar funktioniert“, widersprach sie, während ich wieder hörte, wie etwas auf den Grund der Vase fiel. „Aber das Arbeitsleben ist auch ganz spannend. Obwohl mir die Beerdigungen nicht mehr so gefallen. Am Anfang war es ja noch aufregend, aber seit du mir verboten hast, darauf zu wetten, wer als erstes anfängt zu weinen, hat es seinen Reiz verloren.“

Für mich war der Reiz, Trudi auf Beerdigungen mitzunehmen, auch verloren gegangen. Zumindest seitdem sie den katholischen Pastor gefragt hatte, ob er Sex sehr vermisse oder ob er einfach nie welchen gehabt hätte. Ich war überrascht gewesen, dass sie nicht auf der Stelle von einem Blitz getroffen worden war. Wenn es einen Gott gab, dann hatte er offensichtlich Humor.

Wieder ertönte ein Ploppen und verwirrt sah ich Trudi dabei zu, wie sie erneut etwas in die Vase warf. „Trudi, was lässt du da in die Vase fallen?“

„Geld!“

Ich blinzelte. „Trudi … das ist eine Blumenvase und kein Wunschbrunnen.“

Ihre Hand hielt inne und sie sah auf. Ihr Gesicht hatte so viele Falten, dass es mich in den Fingern juckte, mit dem Bügeleisen darüberzugehen.

„Kai hat mir gezeigt, wie ich mit dem Internetz umgehen muss und Herr Google hat mir gesagt, dass Kupfermünzen dafür sorgen, dass Schnittblumen länger leben.“

Kai war ihr Sohn und Herr Google ihr neuer bester Freund. Es lohnte sich nicht, ihr zu erklären, dass Google keine Person, sondern nur eine Suchmaschine war.

„Herr Google hat keine Ahnung“, stellte ich fest, nahm die Schnittblumen aus dem Wasser und griff in die Vase, um die Münzen wieder herauszufischen. „Das ist ein Mythos. Die Münzen können gar nicht genug Kupferionen abgeben, um auch nur die geringste Wirkung zu erzielen.“ Ich selbst hatte in der dritten Klasse ein zweiwöchiges Experiment durchgeführt, das diese These bestätigte. Ich legte die Cent-Stücke wieder vor Trudi auf den Tresen. „Behalt dein hart verdientes Geld.“

Empört schüttelte Trudi den Kopf. Ihre grauen Locken wippten mit. „Ich werde eine Beschwerde bei Herrn Google einreichen, dafür, dass er falsche Informationen abgibt. Ich will Schadensersatz.“

Ich schmunzelte. Wenn das Internet Schadensersatz für falsche Informationen leisten müsste, dann wäre es längst bankrott. „Das brauchst du nicht“, erklärte ich Trudi und tätschelte ihre Schulter. „Ich bin sicher, seine Scham darüber, dass er dich verwirrt hat, ist Strafe genug.“

Sie nickte, wenn auch ein wenig nachdenklich. Doch als Sekunden später das Telefon klingelte, hatte sie ihren Enthusiasmus schon wiedergefunden.

„Ich mach das“, sagte sie stolz und hob ab. „Hallo, hier bei Louisa’s …“ Sie hielt inne.

„… Flower Power“, half ich ihr nach und deutete auf den Schriftzug über meiner Brust.

Sie nickte. „Das wusste ich. Hier bei Louisa’s Flower Power, was kann ich für Sie tun? Oh, Kai! Ich habe gerade über dich geredet.“

Ich sollte sie wirklich dazu zwingen, das T-Shirt mit dem Logo und dem Schriftzug zu tragen. Wenn sie schon den Namen immer vergaß.

Bis jetzt schien ich allerdings die Einzige zu sein, die die Arbeitsuniform trug. Trudi „verlegte“ sie andauernd oder „wusch sie zu heiß“, während Emily mir ins Gesicht gesagt hatte, dass sie nichts tragen würde, dessen Ausschnitt bis zum Hals ging und hellgrün war. Mir war schleierhaft, wie sie Orange in ihren Haaren okay, aber Hellgrün auf der Brust verwerflich finden konnte.

Mein Handy vibrierte und als ich das Display anschaltete, war da wieder eine Nachricht von Rispo.

Weiß immer noch nicht, was los ist. Bist du jetzt absichtlich kompliziert?

Ich verdrehte die Augen, schrieb aber nicht zurück. Ich war nicht seine Freundin, somit also keineswegs dazu verpflichtet, ihm aufzuschreiben, was genau er falsch gemacht hatte.

Meine Güte, wie konnte er das nicht wissen? Er war Polizist, verdammt! Sollte er da Hinweise nicht vernünftig deuten können?

Trudi hatte aufgelegt und wischte die nassen Cent-Stücke an ihrer Kleidung ab, bevor sie mich anlächelte. „Lou, tust du einer alten Frau einen Gefallen?“

„Ich würde auch einer jungen Frau einen Gefallen tun.“
„Nun, ich sehe vielleicht noch so aus, bin aber keine junge Frau mehr.“

Ich betrachtete Trudis Haut, die schon vor sehr langer Zeit aufgehört hatte, gegen die Erdanziehungskraft anzukämpfen. Vielleicht sollte ich diese Aussage einfach unkommentiert lassen.

„Um was geht es, Trudi?“

„Würdest du zu Kai rüber in den Laden gehen und mir meine Medikamente holen?“

Verdutzt sah ich sie an. „Ich wusste nicht, dass du Medikamente nimmst.“

„Ach“, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, „es sind nur ganz kleine Pillen für Herz, Blutdruck, Schilddrüse und Nieren. Ich würde sie ja gar nicht nehmen, wenn der Arzt nicht darauf bestehen würde. Ich brauch sie auch nur dreimal am Tag. Also kein Grund zur Sorge.“

„Trudi!“

„Also, holst du sie? Es sind nur zwanzig Minuten Fußweg. Wenn du zurückkommst, kann ich die Erdnussbutterplätzchen servieren!“

Ich sah mich im Ladenraum um und rang die Hände. Der Kontrollfreak in mir hatte ein großes Problem mit Trudis Vorschlag. „Ah, ich weiß nicht, vielleicht sollte ich lieber Emily schicken …“

Ich liebte sie beide, Trudi und Emily, war mir jedoch bewusst, dass keine von ihnen wissen würde, wie man ein Feuer löschte, aber beide sehr wohl dazu in der Lage waren, eines zu verursachen.

Trudi rümpfte die Nase und sah zur Tür, zu der gerade ein weiterer – männlicher – Kunde hereinkam.

„Hmh“, machte sie und zog die Arme in die weiten Ärmel ihrer grellgelben Tunika zurück. „Also, es ist dein Laden und du bist das Finanzgenie, aber … mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass du dir einen Batzen Geld durch die Lappen gehen lässt, wenn du Emily wegschickst.“

Leider gab mir mein gesunder Menschenverstand dieselbe Auskunft. Die Entscheidung zwischen Geld und Kontrolle war komplex, aber dennoch leicht gefällt.

„Schön“, seufzte ich und griff unter die Verkaufstheke, um meinen Wintermantel überzuwerfen. „Aber ihr zwei solltet wirklich eure T-Shirts tragen. Wenn ich gehe, sieht es nämlich so aus, als würde niemand hier arbeiten.“

„Danke! Und natürlich!“, flötete Trudi. „Ich ziehe es morgen an.“

Mhm, genau.

Es war eisig kalt draußen. In Köln schneite es nicht. Nie. Ab und an kam eine Mischung aus Smog, Eis und Regen vom Himmel und immer, wenn das passierte, brach das komplette Verkehrssystem zusammen. Heute strahlte die Sonne und ließ die Kondenswölkchen, die ich ausatmete, im Licht glitzern. Ich zog die Jacke enger um meine Schultern und lief die Prinzstraße hinunter, in Richtung des Doms.

Kai, Trudis Sohn, hatte eine Zoohandlung in der Innenstadt. Ich hatte bis jetzt nur zweimal die Ehre gehabt, ihn zu treffen, aber dabei immer denselben Eindruck bekommen: Er war der liebenswerteste Mann, den es gab. Er war Anfang vierzig, hatte bereits angegrautes Haar, also das, was davon übrig war, und trug sein Herz auf der Handfläche. Das schien er von Trudi geerbt zu haben. Ich war noch nie in seiner Zoohandlung gewesen, aber schon öfters an ihr vorbeigegangen. Ich war stolze Eigentümerin eines Katers, aber Twinkys Bedürfnisse ließen sich nicht in einer Zoohandlung stillen. Er hielt sich für einen Hund, liebte Kaffee und bräuchte eigentlich dringend einen Tierpsychologen. Aber wer hatte das Geld für so etwas? Und wer war so bescheuert?

Mein Handy klingelte und ich rechnete schon fast damit, dass es Rispo war, der wissen wollte, was los sei, doch ein Bild meiner Mutter zierte das Display.

Ich seufzte. Ich brachte meiner Mutter gemischte Gefühle entgegen. Ich bewunderte sie für ihre Direktheit und liebte sie dafür, dass sie … meine Mutter war. Es fiel mir jedoch manchmal schwer, ihre Sichtweise nachzuvollziehen. Noch schwerer fiel es mir, sie nicht täglich daran zu erinnern, dass sie mein Leben nichts anging und ich mit siebenundzwanzig noch längst keine Angst davor haben musste, mein Uterus würde in Rente gehen.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie dachte, ich sei wie eine Backmischung. Ganz hübsch und praktisch, aber man musste mir noch ein paar Zutaten hinzufügen, bevor man mich in den Ofen – also in ein Hochzeitskleid – stecken konnte. Was genau das für Zutaten waren, hatte sie mir noch nicht erläutert. Ich fürchtete aber, dass eine davon Disziplin und eine andere Vernunft war. Beides Eigenschaften, die ich – stolz – nicht mein Eigen nannte.

Das Telefon klingelte weiter und weil ich keine Ausrede hatte, nicht dranzugehen, hob ich ab.

„Ja?“

„Wieso meldest du dich nicht mit deinem Namen, Louisa? Woher soll ich wissen, wer am anderen Ende abhebt?“

Ich stöhnte. Da hatte ich meinen Grund. „Du hast mich doch angerufen, oder nicht? Wer sollte sonst abheben?“

„Aber ich hätte sonst wer sein können.“

„Mama, kennst du das Prinzip der Anruferkennung?“

„Du wusstest also, dass ich es bin?“

„Ja.“

Stille. Dann: „Warum hast du dich dann nicht höflicher gemeldet? Findest du nicht, dass man seiner Mutter mit ein wenig mehr Respekt begegnen sollte?“

Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wieder wäre mir eine Gartenschere von Nutzen gewesen. Ich sollte anfangen, sie in meiner Handtasche mitzuführen. So viel effektiver als zum Beispiel Pfefferspray. Wobei es ein Hammer wahrscheinlich auch tun würde.

„Entschuldigt, Eure Mutterheit. Das nächste Mal werde ich mit meinen goldenen Handschuhen und einem abgespreizten kleinen Finger abheben und Euch mit ‚Ein herzliches Hallo, Euer Hochwohlgeboren’ begrüßen.“

Ich hörte, wie meine Mutter pikiert hustete. „Jetzt machst du dich über mich lustig. Ich weiß auch nicht, woher du diese schlechte Angewohnheit hast, immer so sarkastisch zu sein. Das muss Franks Einfluss gewesen sein. Sarkasmus ist die unterste Schublade des Humors.“

Ja, aber ich war klein und konnte diese Schublade am einfachsten erreichen!

„Mama“, sagte ich, mich zur Ruhe zwingend, „gibt es einen Grund für deinen Anruf oder wolltest du einfach nur deine allgemeine Unzufriedenheit mit mir zum Ausdruck bringen?“

„Es gibt einen Grund. Und jetzt sei nicht so dramatisch – ich bin sogar sehr zufrieden mit dir. Du führst ein tolles Leben. Ich wünschte nur, du würdest dieses Leben endlich mit einem angemessenen Mann teilen …“

Dieser ‚angemessene Mann’ war bis vor kurzem noch ein Zahnarzt namens Malte gewesen. Ich hätte es allerdings nicht übers Herz gebracht, meine Kinder Karius und Baktus zu nennen und hatte deswegen leider Schluss machen müssen.

„Ich teile eben nicht gerne“, stellte ich trocken fest. „Ich will den Keks namens Leben ganz für mich allein – und jetzt den Grund, bitte?“

„Schön.“ Meine Mutter seufzte schwer und im Hintergrund konnte ich ein schabendes Geräusch hören. So als würde jemand Stein über den Boden schleifen. Wo war meine Mutter? In einer Bergbaumine? „Ich wollte dir einen Job vermitteln. Die Tochter einer engen Freundin aus meinem Club heiratet am Samstag und ihr ist im letzten Moment die Floristin abgesprungen. Sie ist völlig aufgelöst und da habe ich dich empfohlen.“

„Oh, danke.“

Das war nett. Samstag war etwas kurzfristig und ich könnte auf keine Lieferung warten, sondern müsste selbst zum Blumenmarkt fahren, aber … Moment. Meine Überraschung darüber, dass meine Mutter mich empfohlen hatte, wurde von einer Portion Misstrauen gedämpft.

„Ich würde den Auftrag übernehmen“, erklärte ich, „wenn du mir den Haken nennst.“

„Was für einen Haken?“

„Das frage ich dich.“

Meine Mutter liebte mich, keine Frage, aber man konnte davon ausgehen, dass sie bei jeder ihrer Nettigkeiten einen kleinen Hintergedanken hatte.

Irgendetwas schepperte im Hintergrund und man konnte jemanden lachen und dann fluchen hören. Die Geräusche wurden leiser, als würde meine Mutter sich von ihnen wegbewegen, schließlich sagte sie: „Schön. Dafür, dass ich dir den Auftrag besorgt habe, hätte ich gerne, dass du mich dorthin begleitest.“

Ich runzelte die Stirn. „Das ist alles? Du willst, dass ich mit dir auf eine Hochzeit gehe?“ Das würde ich hinbekommen. Ich war andauernd auf Hochzeiten. Die Frau, die die Blumen brachte, war zwar meistens nicht eingeladen, aber das hielt mich nicht davon ab, trotzdem der Zeremonie beizuwohnen. Es war romantisch und wenn ich schon keine Zeit hatte, um Liebesromane zu lesen, dann brauchte ich wenigstens das.

„Das ist alles. Ich kenne dort kaum jemanden und möchte nicht alleine gehen.“

„Okay. Kein Problem, ich komme mit. Hast du der Braut meine Telefonnummer gegeben?“

„Nein, ich sagte, du meldest dich. Ich schicke dir ihre Nummer als SMS.“ Erneut krachte etwas. „Ich muss Schluss machen, melde dich bei ihr.“

Verwirrt blieb ich stehen. „Wo bist du, Mama?“

„Ach, nirgendwo! Wir sehen uns Samstag.“

Und schon hatte sie aufgelegt.

Äußerst ominös. Meine Mutter war eine Lady – wenn Papa es erlaubt hätte, hätte sie es auf ihr Klingelschild gedruckt – und verbrachte ihre Zeit nicht an Orten, an denen laute, dreckige Dinge geschahen.

Schön, ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass der Ort, an dem sie sich aufgehalten hatte, dreckig gewesen war, aber es hatte sich so angehört.

Egal – ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Trudis Medikamente warteten. Ich steckte das Handy weg, versuchte meine halbgefrorene Hand in meiner Tasche aufzuwärmen, und nach wenigen Minuten tauchte Kais Laden vor mir auf.

Zoo&Kunz befand sich in einer unbefahrenen Seitenstraße und lag zwischen einem Lotto-Toto-Geschäft und dem Café L’Amour, dessen Fassade ein Fuck-Cops-Graffiti zierte.

Ja, das würde ich ja gerne! Aber mein Cop war im Moment ein Blödmann. Und ich hatte es mir zur Regel gemacht, nicht mit Blödmännern zu schlafen!

Na gut: Kein zweites Mal mit Blödmännern zu schlafen.

Ich beschleunigte meinen Schritt, öffnete die Tür und trat erleichtert in die Wärme des Geschäftes.

Der Geruch von Tier, Chlor, Mist und Parfüm schlug mir entgegen. Keine angenehme Mischung. Eher der Geruch, gegen den Aspirin erfunden wurde. Das Parfüm kam bestimmt von dem jungen Mädchen mit den blondierten Haaren, das an der Kasse saß – eine riesige rosa Kaugummiblase vor ihrem Mund. Die anderen Gerüche konnte man keinem bestimmten Ursprung mehr zuordnen.

Der Ladenraum war von Tierschreien, dem elektrischen Brummen, das die Aquarien von sich gaben, und dem Surren der Neonlampen über meinem Kopf erfüllt. Überall stapelten sich Terrarien, Aquarien und Käfige. Neben dem Eingang waren Glasvitrinen aufgebaut, in denen zehntausend Zwerghamster zu schlafen schienen.

Ich drückte mich an den Glaskästen vorbei, quietschte einmal kurz auf, als mein Blick auf eine riesige weiße Schlange fiel, und lief dann zur Kasse.

Die Kassiererin ließ ihre Blase platzen und hob eine dünne nachgemalte Augenbraue. „Ja?“

Was meine Mutter wohl zu einer derartigen Begrüßung gesagt hätte?

„Hallo“, sagte ich lächelnd, denn ich war nicht meine Mutter. „Ist Kai hier irgendwo?“

Sie sah sich im Ladenraum um. „Keine Ahnung. Muss wohl.“

Was für eine nette, hilfreiche junge Dame. „Würdest du ihn vielleicht für mich ausrufen lassen?“

„Nee“, sie schüttelte den Kopf, „sowas wie eine Freisprechanlage haben wir hier nicht. Aber jetzt, wo Sie’s sagen: Ich hab ihn schon länger nicht mehr gesehen. Er wird wohl hinten bei den Ladeflächen sein. Gehen Sie einfach mal geradeaus hier durch.“ Sie deutete in eine vage Richtung. „Die Tür ist nie abgeschlossen.“

Ich nickte, bedankte mich und lief dann durch den engen Gang, den sie mir angedeutet hatte.

Bartagamen, Spinnen, Schlangen – lauter Reptilien und Krabbelvieh. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich war wirklich kein Fan von Geschöpfen mit weniger als zwei und mehr als vier Beinen. Ich war dazu in der Lage, Spinnen zu töten, aber das auch nur, wenn ich die ganze Zeit „Oh Gott, oh Gott, oh Gott“ kiekste und danach zehnmal meine Hände wusch. Ich verstand, dass die Welt Spinnen brauchte, um sich von Mücken und anderen Plagegeistern zu säubern, begriff aber nicht, warum sie acht Augen und acht Beine haben mussten. Mir doch egal, dass das die Glückszahl in China war. Acht war einfach zu viel.

Ich erreichte die graue Tür, auf der Nur für Personal stand, ignorierte den Schriftzug und trat hindurch. Kälte schlug mir entgegen und wider Erwarten befand sich kein Zimmer hinter der Tür. Ich war in eine offene Lagerhalle, eine Art halb überdachten Hof, getreten, die an die Straße hinter den Geschäften grenzte. Straße und Halle wurden nur von einem schmiedeeisernen Tor getrennt.

Ein Laster stand vor der Rampe auf der ich mich befand und Kisten reihten sich zu meinen Seiten auf, es war jedoch kein menschliches Lebenszeichen zu entdecken.

„Hallo?“, rief ich. „Kai?“

Jemand japste und fluchte und ich folgte dem Geräusch. Es schien hinter dem Laster hervorzukommen.

„Kai?“, fragte ich unsicher und bog um die Ecke.

Nur der Umstand, dass ich zu schockiert war und meine Füße durch die Kälte am Boden festgefroren zu sein schienen, hielt mich davon ab, auf der Stelle hintenüberzukippen und in Ohnmacht zu fallen.

Ein Mann in gelb-schwarzer Uniform lag bewegungslos auf dem Boden. Er war barfuß, seine Augen starrten leer in den Himmel und sein Haar, das sicherlich mal blond gewesen war, klebte in roten verklumpten Strähnen zusammen. Eine dicke, lange pinke Nadel steckte in seinem Hals, aus dem kontinuierlich Blut pulsierte und den Boden benetzte. Doch das war nicht die einzige Nadel. Es gab noch eine zweite – und die hatte Kai in der Hand. Er hockte neben dem Mann und war weiß wie eine Wand. Seine Hände und sein helles Hemd waren blutverschmiert.

Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals und ich musste würgen. Die Übelkeit, die in meinen Magen floss, ließ mich taumeln.

Kai musste mich gehört haben, denn er sah augenblicklich auf, ließ die Nadel fallen und hob beide Hände in die Höhe.

„Ich schwör, ich war’s nicht.“

Kapitel 2

Atmen.

Ich musste atmen. Hilfe holen. Vielleicht wegrennen?

„Ich habe nichts getan“, stotterte Kai, richtete sich auf und wich vor dem Körper zurück.

Der Leiche. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Leiche. Magensäure stieg mir in den Hals, konnte sich jedoch nicht an dem Kloß dort vorbeikämpfen, und hastig wandte ich mein Gesicht ab, um mir den Mann nicht länger ansehen zu müssen. Diese schwarz-gelbe Uniform und die aschblonden Haare … ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem Mann um den Paketboten von heute Morgen handelte.

„Verdammt, verdammt, verdammt …“, murmelte ich, gegen die Ohnmacht ankämpfend.

„Ich habe nichts getan!“, wiederholte Kai. „Ich habe ihn gefunden und wollte die Blutung stoppen, habe aber glaub ich alles nur noch schlimmer gemacht, als ich die Nadel herausgezogen habe!“

Seine Worte waren so nah aneinandergedrängt, dass es mir schwerfiel, ihn zu verstehen. Aber ich verspürte auch nicht das Bedürfnis, vor ihm wegzulaufen. Abgesehen davon, dass meine Beine Wackelpudding waren und ich mich wunderte, dass ich noch stand: Kai war kein Mörder.

„Ist er … ist er tot?“, würgte ich hervor, eine Hand vor meine Augen schlagend. Je weniger ich sah, desto niedriger war die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich doch noch übergab.

„Er hat keinen Puls mehr.“

Das hieß dann wohl Ja. Kein Grund jetzt noch einen Krankenwagen zu rufen.

Ich tat es trotzdem.

Meine Hände zitterten so heftig, dass ich mehrere Anläufe brauchte, doch schließlich war der Wagen auf dem Weg. Ich stand immer noch mit dem Rücken zur Leiche, denn wenn ich mich jetzt noch einmal umdrehte, hätte ich den Kampf gegen meinen Magen sicher innerhalb der nächsten Sekunden verloren und würde in Ohnmacht gefallen – wahrscheinlich mitten in mein Erbrochenes. Eigentlich sollte ich stolz auf mich sein, wenn man bedachte, wie oft ich gebrochen hatte, als ich den abgetrennten Finger gefunden hatte!

„Louisa, glaubst du mir? Du musst mir glauben!“

Was ich tun musste, war die Polizei rufen.

Ich holte zitternd Luft und beugte mich nach vorne, den Kopf auf meine Knie pressend. Eigentlich war ich Fan davon, die Verantwortung zu übernehmen. Aber doch nicht bei so was! Mich schüttelnd öffnete ich die Augen, richtete mich wieder auf und wählte die nächste Nummer.

„Lou?“

„Rispo“, keuchte ich außer Atem, während kleine weiße Punkte vor meinen Augen tanzten. „Du musst kommen! Wir haben hier ... eine Situation.“

„Ich dachte, du redest nicht mehr mit mir.“

Ich gab ein hohes hysterisches Lachen von mir. „Im Moment rede ich ja auch nicht mit Josh, dem Menschen, sondern mit Rispo, dem Cop!“

„Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, dass du soeben impliziert hast, dass ich als Polizist kein Mensch bin.“

„Josh!“, schrie ich, die Panik war jetzt deutlich in meiner Stimme zu hören. „Ich stehe neben einer beschissenen Leiche, hier ist überall Blut, mein Kreislauf winkt mir zu und möchte sich verabschieden, und wenn ich Pech habe, dann hockt neben mir ein Mörder …“

„Ich habe nichts getan!“, schrie Kai.

Ich holte zitternd Luft und versuchte mich zu beruhigen.

„Josh, kannst du bitte sofort kommen?“

Der Krankenwagen erreichte uns noch vor der Polizei, doch wie ich bereits vermutet hatte, gab es nichts mehr, was man für den Paketboten hätte tun können. Kai saß auf dem Boden, starrte apathisch auf die Leiche und hatte die blutigen Hände auf seine Beine gelegt.

Mir ging es nicht viel besser, doch hingesetzt hatte ich mich nicht – aus Angst, ich könnte dann womöglich nicht mehr aufstehen. Zwei Minuten nachdem die Sanitäter uns erreicht hatten, bog ein Streifenwagen in die Einfahrt, von der ich das Tor geöffnet hatte, dicht gefolgt von einem schwarzen Audi. Rispos Wagen.

Zwei Uniformierte stiegen aus, Josh kam in Zivil. Ich war so erleichtert, ihn zu sehen, dass ich das erste Mal seit den vergangenen zehn Minuten das Gefühl hatte, mein Körper nähme tatsächlich Sauerstoff auf. Jetzt würde alles gut werden.

Er warf kurz einen Blick auf die Leiche, nickte zu dem auf dem Boden kauernden Kai, dem sich die zwei Uniformierten sofort annahmen, und schlenderte dann zu mir. Er legte mir sanft die Hände auf die Schultern, strich mit seinen Fingern über meine Wangen, über meinen Kopf, so als wolle er sichergehen, dass ich keine Beule oder sonstige Verletzungen davongetragen hatte. Schließlich seufzte er lang und leise, bevor er mir in die Augen sah. „Geht es dir gut?“

Ich sah ihn an, blinzelte – und brach in Tränen aus.

„Ah, Mist“, murmelte er und im nächsten Moment hatte er mich in seine Arme gezogen. „Alles gut, Louisa. Nichts passiert.“

Alles gut? Wie konnte er das sagen? Dem Paketboten ging es offenbar nicht gut!

„Da war so viel Blut“, flüsterte ich durch meine Tränen hindurch, die nach und nach sein Hemd durchnässten, das er unter einem offenen Parka trug. „Ich … hasse Blut.“

„Ich weiß“, murmelte er und strich mir beruhigend mit der Hand über den Rücken, meine Nase an seinem Schlüsselbein. Er roch gut. Nach Wald und Vanille und Rispo.

Was mich daran erinnerte, dass ich verdammt noch mal sauer auf ihn war – und das zu Recht.

Außerdem waren wir nicht zusammen, und überhaupt sollte ich mich mal zusammenreißen. Ich war eine starke Frau! Ich hatte mich nicht übergeben! Ich brauchte keinen Mann, der mich festhielt! Was ich wollte, stand in diesem Moment jedoch auf einer ganz anderen Karte geschrieben.

Ich schniefte ein letztes Mal, entwand mich seinem Griff und wischte mir die Tränen mit meinem Jackenärmel weg. Dann streckte ich meinen Rücken durch. „Okay. Es geht wieder. Ich hatte heute einfach noch nicht genug Kekse, um einen toten Mann zu finden.“

Ein Mundwinkel von Rispo hob sich. „Das wird es sein. Jetzt weiß ich auch, warum auf der Wache immer Kekse herumstehen.“

Ich hickste und nickte. „Ja. Die sind für die Polizisten mit schwachem Magen.“

„Rispo, willst du dir das mal ansehen?“, rief jemand hinter mir und Josh warf einen Blick über meine Schulter.

Er nahm mich bei der Hand, zog mich zu seinem Auto, setzte mich auf den Beifahrersitz und strich mir sacht mit einem Finger über die Stirn.

„Ich muss mir das kurz angucken. Bleib hier sitzen und mach die Augen zu“, sagte er vorsichtig, bevor er die Tür schloss.

Ich blieb sitzen, aber die Augen machte ich nicht zu. Es war warm im Wagen, und wenn ich mich im Sitz zurücklehnte, konnte ich die Leiche nicht sehen, aber immer noch die Uniformierten und Rispo dabei beobachten, wie sie um den Paketboten herum standen, sich hinhockten und sich unterhielten. Rispo hatte einen Block aus seiner hinteren Hosentasche gekramt und schrieb irgendetwas auf.

Ich blickte nach rechts und sah zu Kai, der auf der Rückbank des Polizeiwagens saß, die Augen aufgerissen, immer noch in Schockstarre.

Oh Gott, was würde Trudi sagen?

Ich glaubte nicht, dass Kai irgendetwas getan hatte, aber dennoch: Es gab da einige Dinge, die gegen ihn sprachen. Die Tatwaffe in seiner Hand zum Beispiel.

Fünf Minuten später fuhr der Streifenwagen ab und wurde von einem neuen Auto ersetzt. Vielleicht die Spurensicherung. Ich wusste es nicht. Ich hielt mein Handy immer noch umklammert und starrte aus der Windschutzscheibe zu Rispo, der mit den Neuankömmlingen sprach, in meine Richtung gestikulierte und schließlich auf mich zu kam, den Block zurück in seine Tasche steckend.

Jetzt musste ich doch etwas über das Armaturenbrett hinweg gucken, nur um zu sehen, was genau die Spurensicherung da tat. Doch es gab nur wenig zu erkennen. Die Leiche war zugedeckt worden, nur die nackten Füße schauten noch darunter hervor, während die Männer um sie herumhockten und … irgendetwas machten. Da waren Pinsel und Besteck und Zeug, das ich glaubte, schon einmal beim Zahnarzt gesehen zu haben …

Rispo öffnete die Fahrertür und sank hinters Steuer. Ich lehnte mich wieder zurück und schnallte mich an, doch Josh machte keine Anstalten, den Motor zu starten. Stattdessen sah er stur geradeaus, und an seinem Hals konnte ich eine Ader pochen sehen. Es sah aus, als müsse er sich zusammenreißen. Doch weswegen? Und um was genau nicht zu tun?

Nach ein paar weiteren schweigsamen Momenten schloss er die Augen, atmete tief durch und wandte sich mir zu. Wieder ganz der rationale, distanzierte Polizist.

„Was genau hast du gesehen, Lou?“, fragte er. „Als du hier angekommen bist.“

Ich erzählte es ihm, jedes Detail, an das ich mich erinnern konnte, während er aufmerksam zuhörte und nickte. Immer noch mit seinem Cop-Face.

Kühler Blick, sachliches Gesicht.

Ich hasste sein Cop-Face, denn es war größtenteils der Grund dafür, warum ich nie wusste, wie er sich fühlte.

Als ich geendet hatte, nickte er noch ein letztes Mal.

„Okay. Das wirst du gleich auf der Wache noch einmal wiederholen müssen.“

Natürlich würde ich das. Ich kannte das Prozedere vom letzten Mal.

Rispo betrachtete mein Gesicht, streckte kurz seine Hand aus, um mir eine Haarsträhne hinters Ohr zu schieben und lächelte dann grimmig. „Du musst der Mensch mit dem größten Pech sein, den ich je getroffen habe.“

Das glaubte ich so langsam auch. Ein abgeschnittener Finger und eine Leiche in ein bisschen weniger als drei Monaten. Das war kein schlechter Schnitt.

„Noch so einen Anruf von dir möchte ich definitiv nicht bekommen“, lachte er trocken und fuhr sich mit der flachen Hand über Nase und Mund. Er sah erschöpft aus. „Was soll’s“, seufzte er. „Fahren wir zur Wache. Je eher du deine Geschichte zu Protokoll gibst, desto eher kannst du nach Hause.“

Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Motor.

Das war es schon von ihm?

„Willst du mich gar nicht fragen, ob mir sonst noch was aufgefallen ist?“

Er schaltete den Motor wieder aus und blickte mich ernst an. So, als hätte ich vorgeschlagen, selbst einmal eine Nadel in meinen Hals zu stecken.

„Nein“, sagte er schlicht.

„Als ich den Finger gefunden habe, hast du mich gefragt, ob mir etwas aufgefallen ist.“

„Das war eine andere Situation.“

„Inwiefern anders?“

„Damals wusste ich noch nicht, dass du diese Frage mit der Aufforderung gleichsetzt, dich in polizeiliche Angelegenheiten einzumischen.“ Seine Augen verengten sich und waren jetzt schwarz wie Kohle. „Also, nein: Ich werde dich nicht fragen, ob dir etwas aufgefallen ist – damit du erst gar nicht auf die Idee kommst, dass der Fall in deiner Verantwortung liegen könnte..“

Ich räusperte mich. „Ich will ja nichts sagen, …“

„Dann lass es.“

„… aber das letzte Mal habe ich den Fall gelöst.“

Entnervt ließ Rispo die Hand vom Lenkrad sinken, und obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, verfinsterte sich seine Miene noch ein wenig mehr. „Das letzte Mal wärst du auch beinahe von einer Verrückten umgelegt worden – Wunsch, das zu wiederholen?“

Also, wenn er jetzt so fragte – nein. Aber das ganze Drumherum war irgendwie schon witzig gewesen. Das Befragen, die Rätsel ...

„Lou, mach, dass dein Gesicht sofort aufhört, so auszusehen.“

Ich zuckte zusammen und kräuselte die Nase. „Vielen Dank auch.“

„Tu nicht so.“ Sein Zeigefinger war auf besagtes Gesicht gerichtet. „Du hast gerade diesen Blick bekommen. Den, den du schon hattest, als du damals in das Haus der Pfennings gekommen bist.“

Unschuldig legte ich eine Hand auf meine Brust. „Ich habe überhaupt keinen Blick“, … war aber geschmeichelt, dass Rispo dachte, er wisse noch, wie ich vor drei Monaten geguckt hatte.

„Dann sieh zu, dass das so bleibt!“, knurrte er. „Du mischst dich nicht nochmal in Polizeiarbeit ein. Ist das klar?“

Ich hielt meine Lippen geschlossen.

„Lou?“ Warnend beugte Rispo sich zu mir herunter, sein Atem warm auf meiner Haut. „Sag: Ich verspreche es.“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schüttelte dann den Kopf. „Josh, das ist nicht so einfach, die Sache ist ...“

„Wenn du jetzt ‚persönlich’ sagst, lass ich dich sofort in eine Zelle sperren.“

Das konnte er nicht. Oder? „Nun ja, aber es ist persönlich. Er ist Trudis Sohn, und ich glaube, dass er unschuldig ist, und …“

Rispo sank mit dem Kopf gegen das Lenkrad. „Ich diskutier das jetzt nicht mit dir. Du hältst dich raus, fertig. Trudis Sohn wird einen guten Anwalt bekommen und …“

„Du glaubst also, dass er schuldig ist?“

Ungläubig sah er mich an. „Du hast gesehen, wie er mit der Stricknadel über der Leiche hing!“

„Es waren Stricknadeln? Woher hatte er die Stricknadeln? Das macht keinen Sinn. Nein. Er ist unschuldig!“

Davon war ich überzeugt. Und das trotz Mordwaffe in seiner Hand. Das musste doch etwas Gutes bedeuten, oder?

„Lieber Gott im Himmel, gib mir Geduld …“

„Was denn?“, verteidigte ich mich. „Du kannst nicht einfach davon ausgehen, dass er schuldig ist.“

„Doch, das kann ich. Um genau zu sein, gibt meine Jobbeschreibung an, dass ich genau das kann. Ich bin offiziell der leitende Ermittler – du hingegen bist nicht der leitende Ermittler. Du bist eine Passantin, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Schon wieder. Du solltest zuhause bleiben und über Blumenarrangements nachdenken und dir nicht dein hübsches Köpfchen darüber zerbrechen, warum Menschen böse sind und böse Dinge tun. Und jetzt fahren wir.“

Wieder wurde der Motor angeschmissen und Rispo fuhr rückwärts die Einfahrt hinunter. Ich kaute auf meiner Unterlippe.

„Das Opfer … es hatte keine Schuhe an.“

„Gut beobachtet.“

„Also, als ich es das letzte Mal gesehen habe, trug es noch welche.“

Rispo trat auf die Bremse und ich wurde nach hinten in meinen Sitz gepresst. Wie gut, dass wir immer noch nicht aus der Einfahrt waren und uns niemand drauffahren konnte.

„Du hast das Opfer noch lebendig gesehen?“

Überrascht hob ich die Augenbrauen. „Hatte ich das nicht erwähnt?“

„Nein.“

„Ups.“ Ich zuckte die Achseln. „Der Typ war heute Morgen bei mir im Laden. Er hat Emily ein Paket gebracht. Und da hatte er noch Schuhe an.“

„Was für Schuhe waren das?“

Puh. Das war schon zwei Stunden her. Ich kratze mich am Kopf. „Sie hatten Schnürsenkel ...“

Rispo stöhnte auf.

„Na ja, es waren keine mit Klettverschluss!“, fügte ich hinzu.

„Super, er war also kein achtjähriger Junge, danke.“

Ich verschränkte die Arme. „Ich habe das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst.“

„Ich nehme dich sehr wohl ernst. Deine Auffassungsgabe allerdings nicht so wirklich.“

Ich verdrehte die Augen. „Er war eben die Art Mann, die man sieht und direkt wieder vergisst ... ein bisschen so wie du eben“, fügte ich mit zuckersüßer Stimme hinzu.

Rispo hob eine Augenbraue, Cop-Face wieder am angestammten Platz. „Willst du mir irgendetwas sagen, Lou?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, ich rede ja auch eigentlich gar nicht mit dir. Es ist nur, ich versteh nicht, wie jemand ihn umbringen konnte. Ich meine, er war Post- und Paketbote. Welche Feinde kann man sich da machen?“

„Vielleicht hat er ja eine schlechte Nachricht überbracht“, bemerkte Rispo und startete den Wagen erneut.

Meine Mundwinkel zuckten, und ich spürte wie ein Teil der Anspannung der letzten halben Stunde von mir abfiel. „Wahrscheinlich.“

Wir schwiegen eine Weile, Rispo rollte die Einfahrt hinunter, fuhr die kleine Straße hinab und fädelte sich dann in den Verkehr der Hauptstraße ein. Schließlich fragte er: „Willst du mir eigentlich noch erzählen, warum du nicht mit mir redest?“

„Nö.“

Das Polizeipräsidium war mir allzu vertraut. Vertrauter als so manchem Kleinkriminellen, könnte man meinen. Es war ein grauer Betonklotz, der deprimierender war als mein Privatleben.

Ich stieg aus dem Wagen und Rispo folgte meinem Beispiel. Er lief um die Motorhaube herum, und erst dann sah ich ihn zum ersten Mal an diesem Tag wirklich an. Ohne eine Leiche neben mir, ohne Panik, ohne Würgreflex.

Joshua Rispo. Verdammt.

Ich hatte ihn seit zwei Wochen nicht gesehen, und in der Zeit war er leider weder fett noch hässlich geworden. Zum Anbeißen wäre vielleicht der richtige Ausdruck.

Er hatte sich die letzten zwei Tage nicht rasiert und seine Haare waren wohl geschnitten worden. Jedenfalls hingen sie ihm nicht mehr in die Augen. Er hatte dieselben Muskeln, dieselben starken Arme und geschrumpft war er auch nicht. Oh Mann. Rispo brachte mich auf Ideen. Ideen, von denen ich wusste, dass er sie skandalös gut umsetzen konnte. Dieser Mistkerl.

„Willst du deine Gedanken mit mir teilen oder mich einfach nur noch ein bisschen anstarren?“

Ruckartig wandte ich ihm den Rücken zu und steuerte die breite Eingangstür der Hauptwache an. Ich sollte mich auf seine Fehler, nicht auf seine körperliche Perfektion konzentrieren. Wer wollte schon Perfektion? Langweilig.

Ich stieß die Tür zum Empfangsraum der Station auf und hob überrascht die Augenbrauen, als ich meinen Bruder erkannte, den Rücken gegen die Rezeption gelehnt.

Jannis hatte meine Augen – oder ich wohl eher seine –, war aber ansonsten sieben Jahre älter, zehn Zentimeter größer und eine Hochzeit und zwei Kinder weiter als ich im Leben. Im Moment lächelte er so breit, dass er mich an eine seiner Töchter erinnerte, und nicht an meinen großen Bruder, der mir mit sechszehn Jahren verbot, Alkohol zu trinken.

„Na, Loubalou? Bist du mal wieder in einen Mord gestolpert? Mama wird begeistert sein. Durch dich findet sie noch zur Religion.“

Ich stöhnte. An meine Mutter hatte ich bis eben noch gar nicht gedacht. Jetzt war sie in ihrem Club-der-gelangweilten-Frauen nicht nur die Mutter der Frau, die einen Finger im Sperrmüll gefunden hatte, sondern auch die Mutter der Frau, die einen Mann gesehen hatte, aus dessen Hals eine Stricknadel ragte.

„Was tust du hier, Jannis?“

Er hob eine Schulter. „Kais erster Anruf ging an Trudi, Trudis erster Anruf ging an mich. Sie hat mich engagiert. Sie wollte eben den Besten haben.“

Jannis war Anwalt für Strafrecht und seinem Ego und dem, was man hörte, nach zu urteilen, gut in dem, was er tat. Nicht, dass ich die Qualifikation gehabt hätte, das vernünftig zu beurteilen. Für mich waren Anwälte nichts anderes als Männer im Anzug, die mit Paragraphen um sich warfen. Entschuldigung: Männer und Frauen im Anzug.

„Hey, Manu.“ Rispo war hinter mir durch die Tür getreten und reichte Jannis die Hand.

„Rispo.“ Mein Bruder erwiderte den Handschlag mit einem Lächeln.

Verblüfft blickte ich von einem zum anderen. Kannten sie sich? Waren sie sich beim letzten Mord begegnet? Ich meinte, mich daran erinnern zu können, dass sie sich jedes Mal verpasst hatten.

„Ihr kennt euch?“, fragte ich deshalb.

„Er hat letztens für mich ausgesagt“, erklärte Jannis.

„Oh.“ Ich wusste nicht, ob mir das gefiel.

Rispo schien meine Gefühlslage nicht zu interessieren.

„Du übernimmst also die Verteidigung für Kai Freimann?“, fragte er.

„Jap.“ Jannis nickte.

„Viel Spaß dabei. Die Beweislage ist eind…“

„Er ist unschuldig“, schnitt ich Rispo das Wort ab, jetzt mehr überzeugt davon denn je.

Natürlich, er hatte über der Leiche gehockt, aber er hatte panisch gewirkt, und das Blut an seiner Kleidung musste davon kommen, dass er versucht hatte, die Blutung des Paketboten zu stoppen. Kai war kein Mörder. Muttersöhnchen waren keine Mörder. Das wusste doch jeder!

„Jannis, er ist unschuldig“, wiederholte ich noch einmal, für den Fall, dass ich nicht deutlich genug gewesen war. „Du musst …“

Mein Bruder legte einen Arm um meine Schultern und presste dann von der anderen Seite die Hand auf meinem Mund.

„Du redest mir schon wieder zu viel, Loubalou. Dich befrage ich nachher noch, vielleicht solltest du dir also lieber ein paar Worte sparen. Außerdem, als ich das letzte Mal nachgeguckt habe, warst du keine Anwältin – hast also keine Ahnung davon, was ich muss.

Rispo grinste breit. „Ich mag deinen Bruder.“

Ich leckte Jannis’ Hand an, wie in alten Zeiten, und er ließ sie fallen. Rispo ignorierte ich. Damit fuhr man bei ihm sowieso besser.

„Jannis, ich weiß ja, dass alle sagen, dass du gut bist“, seufzte ich, die Arme verschränkt. „Aber … bist du gut genug, um jemanden herauszuhauen, der wegen Mordes angeklagt wird?“

„Ach“, Jannis machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kaum jemand wird wegen Mordes angeklagt. Das denken nur immer alle. Meistens wird auf Totschlag plädiert.“

„Wow“, sagte ich tonlos. „Das macht es ja viel besser.“

„Tut es“, bestätigte Jannis lächelnd. „Und jetzt reg dich ab. Das ist mein Beruf, Lou. Ich hab’s drauf, und wenn Kai tatsächlich unschuldig ist, dann hat er nichts zu befürchten. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss mit meinem Klienten reden – bevor Rispo dazukommt und anfängt ihn auseinanderzunehmen.“

„Ich gebe dir fünf Minuten“, warnte Rispo ihn vor.

Jannis winkte ab und verschwand dann in einem der Gänge, von denen ich nie wusste, wo sie endeten. Einer führte sicherlich nach Narnia oder in Charlies Schokoladenfabrik. Rispo folgte ihm mit seinem Blick, und ich stieß mit der Hand gegen seine Schulter, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

„Er ist unschuldig, Josh“, wiederholte ich fest.

Josh schnaubte. „Das kannst du nicht wissen.

„Er hatte kein Motiv!“

„Auch das kannst du nicht wissen.“

„Na ja …“ Mist. Er hatte recht. Ich konnte nichts von alledem wissen. „Ich habe das einfach im Gefühl.“

Interessiert verschränkte Rispo die Arme und lehnte sich auf seine Fersen zurück. „Lass mich raten: Er hatte eine Affäre! Ein Verbrechen aus Leidenschaft.“

Ich verdrehte die Augen. „Nein.“

„Was? Keine neue Affären-Theorie?“

„Nein. Es ist eben nur dieses Gefühl, dass …“

„Gott im Himmel! Ich habe das Gefühl, dass du mir gerade Kopfschmerzen bereitest.“

„Du arbeitest zu viel, daher müssen deine Kopfschmerzen kommen. Außerdem runzelst du zu oft die Stirn. Das kann nicht gut für den Druck sein, der auf dein Gehirn ausgeübt wird. Also, wegen der Unschuldssache …“

Rispo legte sich eine Hand über die Augen. „Was denn, hat etwas am Tatort komisch gerochen? Hat der Geruch dich an deine Schwester erinnert?“

„Nun ja, es hat komisch gerochen … aber ich meine, es ist eine Zoohandlung, natürlich …“

„Hattest du vielleicht deinen Kater dabei, der dir sagen konnte, ob der Mörder sympathisch war?“

Ich lief rosa an. Rispo spielte auf meine nicht allzu traditionelle Beweisführung vom letzten Mal an, und ich konnte ihm da leider wenig entgegensetzen. „Er ist unschuldig!“

Er schnaubte. „Jaja, komm“, dann zog er mich am Ellenbogen mit in einen der mysteriösen Gänge. „Ich bring dich erst mal zu deinem Protokollanten.“

„Aber …“

„Kein Aber. Nicht dein Job, Lou. Du hast deine Blumen, ich meine Mörder. Krieg das endlich in deinen Kopf!“

Ja, nur … warum konnte ich nicht Blumen und Mörder haben?