Leseprobe More than Roommates

Kapitel 1

Das Kapitel, in dem ein Fremder meine Unterwäsche sieht.

Die Abschiedsparty geriet in dem Moment außer Kontrolle, als ein semibekanntes Rap-Duo zwei Fässer Bier in meine Wohnung schleppte.

„Scheiße, Anni! Sind das nicht PowWow?!“, brüllt mir eine mehr als betrunkene Kira ins Ohr, während die zwei Gestalten mit riesigen Goldketten um den Hälsen an uns vorbeimarschieren. Zum vierten Mal seit sie da sind, um genau zu sein. Sie checken eindeutig Kira ab.

Der kleinere der beiden zieht mit halb hochgezogenen Lippen cool-verspielt die Augenbrauen nach oben, was einfach nur dümmlich wirkt und meine Vermutung bestätigt.

Na, sieh mal einer an. Ein wandelndes Klischee.

Und das Klischee sind tatsächlich die Rapper von PowWow.

Eine Kommilitonin war vor kurzer Zeit mit den beiden Newcomern in Münchens Rap-Szene aufgetreten, vielleicht hat sie die Proleten mitgebracht.

Mich interessieren die zwei gleich null. Aber Kira ist viel zu betrunken, um noch vernünftige Entscheidungen in Puncto Flirt zu treffen. Also schiebe ich meine verschwitzte beste Freundin vor mich, um sie genau zu mustern. Sie wankt ordentlich, obwohl ich meine Hände auf ihre Schultern lege, um sie ruhig zu halten. Ihre Stirn glänzt, wahrscheinlich von der ausgelassenen Tanzerei. Die dunkle Lockenpracht klebt in ihrem Gesicht, das normalerweise einen beneidenswert sonnengebräunten Teint hat, jetzt aber doch recht blass wirkt.

„Wie viel hast du getrunken?“, frage ich sie ernst, was sie mit einem hysterischen Lachen beantwortet.

Dabei streckt sie mir vier Finger entgegen.

„Du hast nicht nur vier Bier getrunken“, murmele ich mehr zu mir selbst als zu ihr. Über den dröhnenden Bass eines Remix von BTS‘ Dynamite hätte sie mich sowieso nicht verstehen können. Ich führe sie stützend durch die tobende Menge an mittlerweile viel zu vielen Unbekannten vorbei.

Die Mischung aus Schweiß und Alkoholausdünstungen von allen Seiten abzubekommen, nimmt mir auch das letzte Fünkchen Spaß. Spaß, den ich nie zugeben werde, zumindest für eine kleine Weile gehabt zu haben.

Immer noch Kira im Arm, stolpere ich über irgendjemandes Fuß, werde aber zum Glück am Handgelenk festgehalten, sodass wir beide nicht vornüberkippen, um den Boden zu küssen. Erschrocken hebe ich meinen Blick und blinzle einen Typ mit schwarzer Baseball-Cap an, der schnell den Kopf senkt, meine Hand jedoch nicht loslässt. Unter der Kappe mit Metallringen an der Seite des Schirms kann ich kaum erkennen, wer mich da festhält, aber ich stufe ihn als einen der unzähligen Fremden hier ein.

„Alles okay bei dir?“, fragt er.

Gott, ist seine Stimme tief. Der Bass in ihr wummert über den der Musik. Diese wenigen Worte dringen mit einer gewaltigen Intensität direkt in meinen ganzen Körper.

Ich schüttele mich, um mich aus der Trance seiner Stimme zu befreien.

Dabei merkt er wohl, dass er immer noch seine Finger um mein Handgelenk geschlungen hat, denn im nächsten Moment zieht er sie weg. Und mit ihnen verlässt mich auch das seltsam elektrisierende Gefühl.

Dann kann ich ihm nur noch hinterherstarren, während er weggeht. Und das nicht in einer betrunken-feiernden Art. Wie in einem Film scheint sich die Menge für ihn zu teilen. Sein langer, sandfarbener Mantel schwingt ganz leicht mit seinem selbstbewussten Gang.

Ein Mantel? Hier, wo es mittlerweile aufgeheizt und schweißtreibend ist wie in einer Sauna?

„Anni“, säuselt Kira und holt mich in das Chaos der Party zurück. Ist die Musik wirklich zwischendurch etwas leiser gewesen? Denn jetzt kommt sie mir ohrenbetäubend laut vor.

Kira versucht, selbständig einen Schritt weiter zu gehen, knickt dabei aber ein.

Ich richte ihren Arm um meine Schulter und wir bahnen uns weiter unseren Weg, als wäre unser Wohnzimmer ein Schlachtfeld aus dem alten Rom – nur weniger staubig, weil ich heute Früh den Staubsauger geschwungen habe.

Endlich öffne ich die Tür zu meinem Schlafzimmer, das ich in aller Eile als Sperrzone gekennzeichnet habe. Mehr als einen mit Paketband befestigten Flyer von dem Imbiss um die Ecke, auf dem mit Edding „Geh da rein und du bist tot. Ich meine es ernst“ gekritzelt steht, hatte ich nicht zu bieten. Aber er erfüllt seinen Zweck, denn mein Zimmer blieb bisher unangetastet.

Mehr oder weniger unsanft fällt Kira auf die Matratze, die abgesehen von den gefühlt hundert aufeinandergestapelten Umzugskartons das Einzige ist, das noch als Einrichtung in dem Zimmer zählt. Der Rest ist gut verpackt und wartet ungeduldig auf meine Abreise.

„Anni?“, murmelt Kira, die auf dem Rücken liegt und die bunt geschminkten Augenlider kaum mehr offenhalten kann. Sie wischt sich über den türkisfarbenen Lippenstift und bleibt dabei an ihrem Septum hängen.

Autsch.

Ich hole einen Putzeimer aus der Ecke und stelle ihn neben ihr ab. „Roll dich auf die Seite und bleib so“, meine ich genervt und helfe ihr beim Umlegen. „Kotz da rein und wage es nicht, dich wieder auf den Rücken zu drehen. Ich werde morgen vermutlich genug damit beschäftig sein, im Rest der Wohnung Schadensbegrenzung zu betreiben. Da will ich mich nicht auch noch um eine Alkoholleiche kümmern.“

„Anni?“, fragt sie erneut schläfrig.

„Was?“, seufze ich, setze mich ebenfalls auf die weiche Matratze und vergrabe meinen Kopf in den Händen, da auch ich die drei Bier merke, die ich über den Abend verteilt getrunken habe.

Kira würgt, schluckt aber herunter, was auch immer da wieder heraus will. „Ups.“ Sie kichert. „Es tut mir leid.“

Ich drehe den Kopf zu ihr und runzle die Stirn.

„Es tut mir leid, dass ich aus dem Mädelsabend eine Party gemacht habe.“ Schlagartig verändert sich ihre gerade noch belustigte Miene. „Ich will nicht, dass du gehst. Ich will auch nicht, dass du dein Studium abbrichst. Ich will nicht, dass wir dann keine besten Freunde mehr sein können.“ Sie quetscht sogar eine Träne aus dem Augenwinkel. Vielleicht kommt das aber auch von der Übelkeit.

„Was redest du da für einen Quatsch?“ Jetzt bin ich es, die laut losprustet.

Kira trinkt gern mal einen über den Durst. Dann kommt immer ihre sentimentale Seite zum Vorschein.

Und genau das werde ich vermissen.

„Ich wohne doch nur drei Stunden entfernt. Zweieinhalb, wenn ich das Gaspedal durchdrücke.“ Auch in mir macht sich für einen Moment ein Gefühl der Wehmut breit.

Ich habe vor zwei Jahren hier in München ein neues Leben angefangen. So sehr ich mein Zuhause auch liebe, München ist das, worauf ich immer gewartet habe. Hier konnte ich mich austoben. Ich fand die erste große Liebe und mit ihr meine Passion für Musik. Aber ich verlor sie auch beide.

Und jetzt kehre ich mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurück – als gescheitertes Möchtegernsternchen. Zurück in das Dorf, das meine kurze, kaum redenswerte Karriere belächeln wird. Das Dorf, das gegen alles Ausgefallene ist.

Was mich an die öde braune Haartönung erinnert, die in meinem Bad auf mich wartet. Eigentlich sollte mir Kira heute Abend die pinken Haare färben, damit ich zu Hause wieder zu meinem alten, unauffälligen Ich werden kann.

Gerade bin ich stinksauer auf meine beste Freundin, weil das ein gemütlicher Abend zu zweit werden sollte. Jogginghose, oversized Hoodie, Gesichtsmasken, Wein und ein paar Folgen K-Drama mit Park Seo-joon. Ein abwechselnder Rewatch von Itaewon Class, Hwarang und Fight for My Way, das war der Plan und zwar ein ziemlich genauer. Dann klingelte es überraschend an der Tür und aus war es mit der Ruhe. Mindestens zehn Kommilitonen haben mich überrannt. Ich, immer noch in Jogginghose und dreckigem Pulli, habe eine Weile gebraucht, um zu realisieren, was da vor sich ging. Lange konnte ich den uneingeladenen-aber-anscheinend-doch-eingeladenen Leuten jedoch nicht perplex hinterhersehen, da hat die Klingel wieder geschellt. Der nächste Haufen Menschen, diesmal mir komplett unbekannt, stolzierte mir nichts, dir nichts, herein. Sie hatten eine kleine DJ-Station dabei und ein nett anzusehender Typ legt seitdem zugegebenermaßen gute Musik auf. Es ist erstaunlich, wie viele Leute in eine leere Wohnung in Münchens Innenstadt passen. Die Hoffnung, einer meiner Nachbarn würde die Ruhestörung melden, zerplatzte, als sogar diese sich selbst einluden. Als dann auch noch die Rapper PowWow hier auftauchten und Freibier ausschenkten, ist gefühlt halb München versammelt. Kein Wunder, dass Kira die Rapper erst zwei Stunden später entdeckt hat.

Ein klirrendes Scheppern reißt mich aus meinen Gedanken und ich atme tief durch. Ich lehne mich zurück, um das Handy aus der Tasche meiner gemütlichen Jogginghose zu fischen und wähle die 110. Zeit, die Party zu beenden.

***

Mein Handywecker ist unerbittlich. Ich bereue es zwar jedes verdammte Mal aufs Neue, Helene Fischer als Weckton eingestellt zu haben, aber nur Schlager können mich früh aus dem Bett prügeln, seitdem Zane gegangen ist.

Je schneller ich mit Atemlos kurzen Prozess mache, desto wacher bin ich. Kurz erwäge ich, mich einfach noch einmal umzudrehen, aber ich bekomme jetzt schon Kopfschmerzen von der Melodie. Also ergebe ich mich, schalte den Wecker aus und versuche, wach zu bleiben.

Ich schiebe mir meine elektrisch aufgeladenen rosa Strähnen aus dem Gesicht und reibe die Augen. Draußen dämmert es erst, sodass ich noch vom grellen Sonnenschein verschont werde.

Neben mir schnarcht es weiterhin gemütlich. Ich gebe Kira, die gerade ganze Wälder absägt, einen unsanften Stupser mit dem Ellenbogen und ziehe die Decke von uns beiden. Sie protestiert und strampelt mit den Beinen, aber sie hat keine Chance mehr, die Bettdecke festzuhalten.

„Raus jetzt“, befehle ich ihr mürrisch, weil auch mir vier Stunden Schlaf deutlich zu wenig sind. Aber dann erinnere ich mich, dass ich mich allein um den Rauswurf der Meute kümmern musste, während Kira bereits tief und fest geschlummert hat.

Dadurch hat sie das gellende Gelächter der Polizisten verpasst, als diese erfahren haben, dass ich meine eigene Party gecrasht habe. Sie fanden es überaus amüsant, haben sich mit einer Tasse Kaffee zufriedengegeben und waren kaum angesäuert von dem Einsatz um drei Uhr früh. Alles verlief friedlich und geordnet. Einzig die Rapper haben einen kleinen Aufstand gemacht. PowWow waren so enttäuscht über das jähe Ende, dass sie ihr Fass Bier – wohl gemerkt bereits leer – trotzig wieder mitgenommen haben. Zumindest eine Sache weniger, die ich heute aufzuräumen habe, obwohl ich das Pfandgeld gut hätte gebrauchen können.

Da Kira wieder zu Schnarchen anfängt, stelle ich auf Spotify Helenes 2017er Album ein und lege das Handy ans andere Ende des Zimmers. Ich gebe Kira zehn Minuten, mehr wird auch sie davon nicht ertragen, dann sollte sie wach sein.

Ich schnüffle an meinem Pulli und rümpfe die Nase. Eigentlich wollte ich den heute für den Umzug anbehalten, aber der Partygeruch steckt viel zu tief in jeder Faser. Vielleicht hätte ich faule Socke ihn auch nicht zum Schlafen anbehalten sollen …

Ich ziehe mir das miefige Ding über den Kopf und werfe es auf Kiras Kopf, die zwar murrend protestiert, es jedoch an Ort und Stelle lässt.

Nachdem ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen mustere, schnaube ich belustigt. Dann senke ich den Kopf und wage es, an meinem BH zu schnuppern. Okay, der geht zum Glück noch. An einen frischen wäre ich nämlich nicht ganz so einfach herangekommen wie an den grauen Strickpullover, den ich aus einer der Kisten ganz oben hervorkrame.

Bevor ich ihn mir überwerfe, tapse ich ins Bad, wo ich gleich das Fenster öffne, um frische Luft hereinzulassen. Der Spiegel bestätigt mir, dass ich genauso aussehe, wie ich mich fühle.

Die Mascara macht aus mir einen Pandabären. Na ja, das könnte auch an meinen tiefen Augenringen liegen. Ja … nein. Es ist die Kombi aus beidem. Verzweifelt suche ich in allen Schränkchen und Schubladen des Waschtischs nach Make-up-Entferner, werde aber nicht fündig. Kira hat ihn wohl gestern schon in eine Kiste gepackt. Dann muss eben einfaches Wasser seinen Dienst tun. Tut es auch. Aber auch nur den nötigsten. Nachdem ich die Zähne geputzt habe, halte ich den Kopf unter den Wasserstrahl am Waschbecken und bedanke mich bei meinem Ich von gestern, welches das Shampoo im Bad hat stehen lassen. Hinter der Heizung fische ich ein Handtuch hervor und binde mir einen Turban.

So ein Mist.

Mir fällt die Haartönung wieder ein. Meine Mutter wird bei dem Anblick meines kurzen Bobs umkippen. Soll ich ihr da auch noch das Rosa zumuten? Gerade bereue ich die Radikalveränderung nach der Trennung von Zane.

Grübelnd setze ich mich auf den Badewannenrand und starre in den Spiegel.

Meine Eltern wissen noch gar nicht, wie tief ich gefallen bin. Sie haben meine YouTube-Karriere nie ernst genommen, auch nicht, als ein Label auf Zanes und meine Musikcover aufmerksam wurde und wir als A2Z unter Vertrag genommen wurden. Auch nicht, als wir Millionen von Klicks und hunderttausende Abonnenten bekommen haben. Auch nicht, als A2Z Sponsorenverträge erhalten hat und wir uns ein tolles Leben leisten konnten. Selbst die Besuche auf kleinen roten Teppichen haben sie eher belächelt.

Aber Zane hat das A in A2Z ausgetauscht und ist mit einem neuen A durchgebrannt – mit all unseren Ersparnissen. Er hat unser gemeinsames Konto aufgelöst. Das Label hat den Vertrag aufgelöst. Die Sponsoren haben ihre Deals aufgelöst. Und von einem auf den anderen Tag hat sich mein Leben, wie ich es kannte, ebenfalls vor meinen Augen aufgelöst. Die Enttäuschung über all das hat mir letztendlich die Freude an der Musik vermiest. Damit hat Zane das geschafft, was meine Eltern lange vor ihm versucht haben. Und ohne Leidenschaft zur Musik war es nur logisch, das Musikstudium zu schmeißen. Eine Sängerin, die keinen Ton mehr herausbekommt, ohne zu kotzen, weil sie an ihren betrügerischen Ex denkt, hat in der Branche keine Zukunft.

Meine Eltern werden mich ganz sicher umbringen.

Als würde sich ein Korsett aus Vorwürfen immer enger um mich schnüren, verengt sich mein Brustkorb schmerzhaft.

Ich atme tief ein und aus, verbanne alle Misserfolge in die hinterste Ecke meiner Gedanken. Durch das immer noch geöffnete Fenster schleicht sich ein eisiger Luftzug herein und bläst mir den Duschvorhang an den Rücken.

Wer hat den eigentlich vor die Badewanne gezogen? Gewisse Dinge mag ich nicht. Und ein Duschvorhang gehört schlichtweg nur zugezogen, wenn einer duscht.

Ich schüttle den Kopf, stehe auf und schiebe ihn beiseite.

Dann schreie ich überrascht und schockiert zugleich.

Mein Herz rast wie wild.

Was zur …?

Die Badtür schwingt auf und Kira steht im Türrahmen.

„Was ist los?!“, fragt sie nach Luft ringend. Ha! Wenigstens ist sie jetzt wach.

Ich zeige auf das, was sich in der Badewanne befindet.

Mittlerweile hat der Kerl den Kopf gehoben.

Wir starren uns abwechselnd an.

So lange, bis ich meine Stimme wiederfinde. „Was zur Hölle machst du hier drin?“, verlange ich zu wissen. „Die Party ist schon lange vorbei!“

Die Cap. Der Mantel …

„Ich … also. Ich muss wohl eingeschlafen sein.“ Diese Stimme. Niemals würde ich diesen durch und durch gehenden Ton vergessen können.

In meiner Badewanne liegt der Typ, der mich gestern davor bewahrt hat, mit Kira im Arm hinzufallen.

Er nimmt die Kappe ab, steht auf und verbeugt sich in einem dreißig Grad Winkel vor mir.

Er tut … was?

Verdutzt starre ich ihn weiterhin an.

Als er wieder geradesteht, klappt mir ohne mein Zutun die Kinnlade herunter. Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben solch ein schönes Gesicht gesehen – weiche Wangen, kleiner Mund, aber volle Lippen. Dazu der Blick aus den verschwörerisch dunklen, mandelförmigen Augen. Die dunkelblauen Haare, die über seinen Augenbrauen liegen. Und das dünne schwarze Rollkragenshirt unter dem hellen Parker, das seine weichgezeichnete Kinnpartie betont.

Heilige Schei– Der Typ kann doch nicht echt sein.

„Hey, Spanner!“, schnauzt Kira, bevor sie die Arme von hinten um mich schlingt und das beiseitegelegte Oberteil vor meinen BH hält. Dann drängt sie mich ins Schlafzimmer, wo immer noch Helene vor sich hin schluchzt.

„Erde an Anni!“ Sie steht vor mir und gibt mir einen kleinen Klaps auf die Wange.

Ich brauche einen Moment, um das Geschehene zu verarbeiten.

Da ist ein mega heißer Typ in meiner Badewanne. Und ich habe keine Sekunde an Zane gedacht.

Na toll, jetzt doch.

Sie drückt mir den Pulli in die Hand. „Der hat dir voll auf die Brüste gestarrt.“

O mein Gott. Nein.

Ich sehe an mir herab. Natürlich. Der Pullover. Schnell ziehe ich ihn mir über und halte beschämt die Hände vor das panik-warme Gesicht. „Kira. Sag mir bitte, dass das gerade nicht echt passiert ist.“ Wann war mir das letzte Mal etwas so peinlich?

Sie hebt einen Finger und legt den Kopf schief. „Was genau? Dass ein Typ vom Modell K-Drama in deiner Badewanne übernachtet hat, oder dass ihr euch gegenseitig mit Blicken fast aufgefressen habt?“

Ich lasse mich rückwärts auf die Matratze fallen. „Oh, verdammt.“ Dann ziehe ich die Bettdecke komplett über mich.

„Soll ich ihn rausschmeißen?“, höre ich Kira gedämpft durch mein Versteck fragen.

Ebenfalls gedämpft höre ich es an der Zimmertür klopfen.

Ich halte ganz still. Der Pu-Der-Bär-Honigtopf-Effekt. Wenn ich die bösen Heffalumps nicht sehe, können sie auch mich nicht sehen.

„Ich wollte mich aufrichtig entschuldigen. Das gerade tut mir leid und war ganz und gar nicht meine Absicht.“

Gefiltert durch den Stoff über mir klingt die Melodie in seiner tiefen Stimme noch mehr nach Gänsehaut.

„Das sollte es auch“, meckert Kira. „Aber sag das nicht mir, sondern ihr.“

Das hat sie jetzt nicht wirklich gesagt, oder?

Ich schließe die Augen, atme durch, richte mich auf und gebe mein Versteck preis, das nicht mehr länger eines ist. Wie befürchtet hat Kira den Zeigefinger auf mich gerichtet.

Verräterin.

Erneut deutet er eine Verbeugung an. „Es tut mir wirklich sehr leid.“ Es dauert einen Moment, bis er sich aufrichtet. „Ich wollte nicht … Ich habe nicht auf deine … du weißt schon.“

Ja, ich weiß ganz genau, was du meinst, mein Lieber.

Während Kira ein Das-Glaubst-Du-Doch-Selbst-Nicht murmelt, wiegele ich das Thema mit einer flüchtigen Handbewegung ab.

„Lass uns da nicht weiter drüber sprechen.“ Ein Flehen hat sich in meine einfache Bitte geschlichen.

Er lässt geräuschvoll den offensichtlich angehaltenen Atem aus, fasst sich an den Hinterkopf und sieht verlegen zwischen mir und dem Stapel an Kisten hin und her. „Kann ich es irgendwie wiedergutmachen? Immerhin habe ich kostenfrei bei euch übernachten dürfen.“

„Ohne Erlaubnis“, schiebt Kira prompt hinterher. „Aber ja. Anni braucht bestimmt Hilfe beim Tragen und Einräumen der Kartons in den Transporter.“

„Anni also.“ Ein Schmunzeln schleicht sich auf seine Mundpartie. „Schöner Name.“

Wenn ich nicht schon vorher ein knallrotes Gesicht vor Scham hatte, dann bestimmt jetzt. Zu einhundert Prozent.

Ich suche meine Beherrschung und finde sie geradeso hinter dem aufgescheuchten Schmetterlingswirrwarr in mir. „Du musst mir wirklich nicht helfen. Am besten, du –“

„Nein, bitte“, unterbricht er mich. „Ich habe heute sowieso nichts vor und möchte es gerne tun. Bitte?“

Seinem aufrichtigen Grinsen kann ich nicht widerstehen. „Gut. Wie du willst.“

„Na, also. Ich bin Kira.“ Meine anscheinend verrückt gewordene Freundin hält ihm ihre Hand hin. „Und ich behalte dich im Auge.“

Sein Grinsen wird breit und ein bisschen verzweifelt, als er ihren Gruß erwidert. „Das verstehe ich. Ich bin Park Moon …“ Er räuspert sich. „Moon. Mein Name ist Moon.“ Dann will er mir seine Hand reichen, die er nach asiatischer Manier mit der anderen stützt, aber ein plötzliches Rumpeln schreckt uns auseinander.

Ich drehe mich um und sehe, dass Kira gegen einen Kartonstapel gestolpert ist. Sie starrt entschuldigend eine umgestoßene Kiste an. Welch Ironie, dass es die Überbleibsel von Zane sind. Mehr als ein paar Boxershorts, Shirts und vier Funko-Pops hat er nicht zurückgelassen.

Nun liegen Iron Man, Black Widow, Thor und Loki inmitten eins Schlachtfeldes von Klamotten.

Gut, dass ich kein Fan der Avengers bin. Aber auch nur, weil Zane Scarlett Johansson etwas zu sehr angesabbert hat.

Ich schnaube. „Ich räum das auf, Kira macht dir einen Kaffee.“

„Aye, Aye, Captain“, sagt meine beste Freundin, murmelt mir noch ein Sorry zu und nimmt Moon mit nach draußen.

Ich wische mir die Tränen der nervigen Erinnerung aus dem Gesicht, bevor ich das Schlafzimmer verlasse. Zanes Sachen in den Händen zu halten, hat eine Lawine an bitteren Emotionen ausgelöst, die ich jetzt inbrünstig mit aller Gewalt herunterschlucke und dabei bestimmt eine seltsame Fratze ziehe.

In der Küche finde ich nur Kira, die mir gleich eine Tasse Kaffee in die Hand drückt.

„Wo ist unser Umzugshelfer?“

Sie lacht laut. „Meinst du Mister Asia‘s Sexiest Man 2024? Vermisst du ihn jetzt schon so sehnsüchtig?“

Ich presse die Lippen aufeinander und funkle sie an. „Du spinnst, ich habe gerade ganz andere Probleme. Und könntest du vielleicht etwas leiser reden?“

Sie hebt belustigt eine Augenbraue. „Oh, Mooohooon, du menschliches Gemälde. Wo hast du dich bloß versteckt?“

Perplex schaue ich ihr hinterher, wie sie jede einzelne Tür in meinem Flur öffnet, in das jeweilige Zimmer geht und mit ernster Miene wieder herauskommt. „Bist du vielleicht wieder in der Dusche, Moon?“, fragt sie in das Badezimmer hinein. „Nein, da ist er auch nicht.“ Sie tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn und lacht. „Ach ja, vielleicht liegt das daran, dass er gerade zum Bäcker geht, um uns Frühstück zu holen.“

Ich könnte sie erwürgen. „Du … du …“ Am liebsten würde ich sie beschimpfen, doch das würde sie noch mehr amüsieren. Der heiße Kaffee in meiner Hand bebt zusammen mit meiner Wut über ihren schlechten Scherz. „Das ist nicht witzig.“

Ihr Lachen verstummt. „Du weißt, dass ich dich nicht verkuppeln möchte. Wenn, dann mit jemandem, den ich kenne. Und nicht mit einem, der in deiner Badewanne gepennt hat.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Vielleicht kommt er sowieso nicht zurück. Helene Fischer hat ihn bestimmt abgeschreckt. Obwohl …“, sie stutzt, „ist das doof, wenn ich das sage? Nur weil er Asiate ist, kann er ja auch Schlagerfan sein. Oh, ich denke wieder zu engstirnig.“

„Klär das mal mit dir selbst.“ Ich lehne mich an die Küchenzeile und nehme endlich einen Schluck der schwarzen, erquickenden Flüssigkeit. Ich genieße den bitteren Geschmack und seufze.

Die Klingel dröhnt in die eingekehrte Stille.

Ich öffne Moon die Tür und der Geruch nach frischen Croissants strömt mit ihm in die Wohnung.

Er packt die süßen Teilchen aus und befördert ein Gläschen Marmelade aus seiner Jackentasche. „Du hattest recht, Kira. Die Verkäuferin um die Ecke ist wirklich nett.“ Er öffnet das Glas und augenblicklich riecht es wie in einer Pariser Patisserie. „Die hat sie mir unbedingt umsonst geben wollen.“

Kira schnappt sich die Marmelade und tunkt ihr Croissant ein. Laut stöhnend, als hätte sie den besten Sex ihres Lebens, beißt sie Stück um Stück ab. „Gott, tut das gut. Kaffee und Süßes. Meine Geheimwaffe gegen einen Kater.“

Moon ignoriert ihr Gestöhne und fixiert mich, bis ich merke, dass ich es bin, die ihn die ganze Zeit über angestarrt hat.

„Hier. Die sind noch lauwarm.“ Er reicht mir ein Hörnchen.

Ich nehme es entgegen, kann aber nicht von seinen dunklen Augen ablassen. „Danke“, flüstere ich, als wäre meine Stimme vor Scham auf den Boden gefallen und würde sich vor weiteren Blamagen verkriechen.

Er wendet sich an Kira. „Darf ich?“ Dabei deutet er auf das Marmeladenglas, das sie ihm nach einem weiteren Eintunken widerwillig zurückgibt. Dann hält er es mir vor die Nase. „Bitteschön.“

„Schau ihr jetzt besser nicht zu“, warnt ihn meine beste Freundin.

„Waru–“

Er spricht seine Frage nicht einmal aus, da drücke ich das Croissant auf den Tisch und mache es platt wie eine Flunder.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Kira ihn in die Seite stupst. „Es wird noch besser.“

„Hey“, gifte ich ihr schmollend entgegen. Sie zieht mich immer damit auf, wie ich meine Croissants esse. Dabei ist da gar nichts Seltsames dran. Ich drehe lediglich das zerdrückte Ding um und bestreiche die Unterseite dick mit Marmelade.

Moon steht mit offenem Mund und hocherhobenen Augenbrauen da.

„Ich sag doch, schau da besser nicht hin.“ Kopfschüttelnd geht Kira an uns vorbei.

„Sorry“, murmele ich. Mit fünf schnellen Bissen schlinge ich das Gebäck herunter, lächele ihn mit vollgestopftem Mund an und eile von der Küche in mein Schlafzimmer. „Viel zu tun, fangen wir an“, rufe ich, woraufhin Kira lustlos schnaubt.

Ich schnappe mir die erste Umzugskiste, die gar nicht mal so leicht ist, und trage sie wackelig an den beiden anderen vorbei. „Kann mal jemand die Tür aufmachen?“

Kira eilt mir zu Hilfe.

„Danke. Am besten, wir stellen alle Kisten auf den Gehsteig und beladen dann von dort aus den Transporter.“

Sie nickt, lotst Moon hinter sich her Richtung Schlafzimmer und verschwindet mit ihm.

Draußen begrüßt mich ein kühler Märzmorgen. Die lästige Winterluft scheint uns einfach nicht verlassen zu wollen. Gänsehaut verteilt sich auf meinen Armen und ich stelle schnell den Karton ab. Als ich mich zu hastig umdrehe, damit ich wieder in die Wärme komme, pralle ich gegen etwas. Das Etwas sind Moon und eine Kiste. Um genau zu sein: Die Kiste mit meiner Unterwäsche. Um noch genauer zu sein: Die Kiste, in der sich jetzt keine Unterwäsche mehr befindet, da durch meinen Aufprall der verräterische Kartonboden gerissen ist.

Moon hält den leeren Karton zwar weiter fest, dreht sich aber so, dass er den verteilten Inhalt auf dem Gehweg bestaunen kann. Ist ja klar, dass auf der Spitze des Stoffhaufens ein aufreizendes Korsett mit dazugehörendem Höschen – ein Hauch von Nichts – gelandet ist.

Moon schluckt hörbar und seine Wangen färben sich zartrosa.

„Das ist nicht meine“, wiegele ich hastig ab. „Also, ja, das ist offensichtlich meine, aber was ich damit sagen will … Das war ein blödes Geburtstagsgeschenk. Ich … bin eigentlich nicht so Eine. Das ist nicht mein Geschmack.“

Er räuspert sich. „Du musst dich nicht rechtfertigen.“ Dann ringt er sich ein missglücktes Lächeln ins Gesicht und schielt zwischen mir und der Unterwäsche hin und her. „Ich würde das gerne für dich aufheben, aber ich bin mir nicht sicher, ob dir wohl dabei wäre.“

„Bloß nicht“, rutscht es mir heraus. Abwehrend hebe ich die Hände und gehe neben dem Haufen Peinlichkeit in die Hocke. „Ich meine, nein, danke. Das mach ich lieber selbst.“

Immer noch den kaputten Karton in den Armen wendet er sich ab, dreht sich dann aber noch einmal um. Dabei schaut er nicht auf den Gehsteig, sondern geradeaus auf den Transporter. „Sicher, dass ich –“

„Sicher“, schieße ich hervor, schneller als Chuck Norris in diesem einen Western.

Kira taucht plötzlich hinter Moon auf. „Was ist denn hier los?“

„Steh nicht einfach da, sondern hilf mir bitte.“ Flehend deute ich mit dem Kopf nach unten.

Moon stellt seine Kiste auf die von Kira und kniet sich plötzlich neben mich. Als er nach einer Unterhose mit verspieltem Blümchenmuster greift, haue ich ihm ganz automatisch auf die Finger.

„Entschuldige. Aber ich habe nicht dich gemeint, sondern Kira.“

Rasch schnellt er in die Höhe und kratzt sich verlegen am Nacken. „Klar. Natürlich. Selbstverständlich.“ Dann nimmt er Kira beide Kartons ab und will mit ihnen wieder in die Wohnung.

„Hey, Spanner.“ Sie legt den Kopf schief. „Wo willst du damit hin?“

Ohne ein weiteres Wort macht er erneut kehrt, legt Kiras Fracht neben uns ab und geht mit hochgezogenen Schultern, dafür aber mit leeren Händen, diesmal wirklich nach drinnen.

„Ich glaub’s ja nicht.“ Eilig schnappt sie sich die ersten Stoffteile. „Erst die Aktion in deinem Bad und dann das. Das können doch alles keine Zufälle sein.“

Mir ist übel vor Scham, die mir wohl heute nicht zu enden vergönnt ist. „Das war meine Schuld. Ich bin in ihn reingelaufen.“ Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast an Karma glauben. War der gesamte letzte Monat nicht schon Strafe genug?

Weißt du was, Karma? Leck mich.

Während sich Kira weiter über das männliche Geschlecht aufregt, das ihrer Meinung nach stets den Hang zum Stalken hat, schleicht sich Moon mit einem leeren Karton hinter ihr an.

„Den habe ich in der Küche gefunden.“

Kira erschrickt und stolpert hüpfend nach hinten. Ich hätte schwören können, einen Katzenbuckel und aufgestellte Haare zu erkennen. Vielleicht hat sie sogar schrill gemaunzt. „Mann, willst du mich umbringen? Wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt.“

Er reicht ihr seine Hand und lächelt sie schief an. „Das war nicht meine Absicht, entschuldige.“

Wie kann er immer noch höflich zu ihr sein?

Meine Freundin reißt ihm die Kiste förmlich aus den Händen und legt die ersten Höschen hinein. Mir ist es unangenehm, wie abweisend sie mit ihm umspringt.

„Danke.“ Ich bemühe mich, ihn aufmunternd anzuschauen, da er ziemlich geknickt wirkt. Ich springe über meinen Schatten aus Pein und gehe zu ihm. „Alles okay. Am besten, wir vergessen auch das?“

„Du musst mir bitte sagen, wenn ich verschwinden soll.“

„Ach, Quatsch. Wir brauchen ein paar Muskeln zum Schleppen.“

Er zwinkert mir zu. „Die bekommst du.“ Dabei winkelt er seinen Arm an, obwohl der Parka Muskeln lediglich erahnen lässt. „Ich passe einfach in Zukunft besser auf.“

„Auf was? Auf meine Tollpatschigkeit?“

Na, endlich. Ein richtiges Grinsen schafft es auf seine Lippen. Dabei bohrt es sich tief unter seine Wangen und hebt sie ordentlich in die Höhe.

Ohne weitere Zwischenfälle bringen wir mein restliches Hab und Gut nach draußen.

Kira runzelt die Stirn, als sie den letzten Karton in den Transporter hievt. „Sicher, dass du Zanes Sachen mitnehmen willst?“

Ich nicke, denke gar nicht weiter drüber nach.

Als sie wieder nach drinnen geht, stehe ich verlassen vor meinem Leben, gut verpackt in wenige Pappschachteln. Ich seufze und nage an meiner Unterlippe, weil mich langsam das Gefühl von Abschiednehmen übermannt.

„Es geht mich ja nichts an“, meint eine tiefe Stimme, „aber darf ich dich fragen, wieso du umziehst? Du wirkst nicht so begeistert.“

Ich blicke über meine Schulter und Moon schlendert lässig mit den Händen in den Jackentaschen auf mich zu.

„Du musst mir natürlich nicht antworten, wenn du nicht möchtest.“

„Mein Ex hat mich sitzen lassen“, antworte ich knapp.

„Aber musst du deswegen gleich die Stadt verlassen?“ Mit durchdringendem Blick nähert er sich mir weiter. Er hält erst an, als er direkt vor mir steht. Dann zieht er seinen Parka aus und legt ihn mir um die Schultern. „Es ist kalt, du musst frieren.“

Was für ein abgedroschenes Klischee.

Doch der Geruch seines Mantels verwirrt mich und ich finde die Geste plötzlich gar nicht mehr abgedroschen. Denn dort, wo eigentlich Partygeruch oder Schweiß vom Kartonschleppen stecken soll, riecht es lediglich zimtig.

Ungläubig blinzele ich ihn an. Das hautenge Rollkragenoberteil unterstreicht die ausgeprägte Muskulatur seines schmalen Körpers.

Mein Herzschlag beschleunigt sich und mein Hals wird ganz trocken. „D… Danke?“ Na, super. Jetzt bin ich das stotternde Filmklischee.

„Gerne.“

Dieses aufrichtige Lächeln … Zane hat mich lange nicht mehr auf diese neugierige Weise angesehen.

„Also, warum flüchtest du? Hast du Angst, ihm noch mal über den Weg zu laufen?“

Ich schnaube abschätzig. „Die Chance ist gering. Er ist nach Berlin verschwunden. Es ist … Ich bin pleite, werde das Studium schmeißen und habe weder Job noch Bleibe.“

„Hey“, ruft Kira von der Haustür aus. „Ich habe dir gesagt, du kannst erst mal bei mir und meinem Bruder wohnen!“ Sie drückt Moon meine Gibson Westerngitarre in die Hand. „Unser Mitbewohner ist nämlich vor einer Woche ausgezogen.“

„Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich mir die Miete nicht leisten kann“, brumme ich und habe es satt, immer wieder zu wiederholen, wie sehr am Arsch ich bin.

„Und ich habe dir gesagt, dass wir die erstmal für dich übernehmen.“

Moon summt nachdenklich. „Wo willst du stattdessen hin?“

Ich rolle mit den Augen. „In ein Kaff, das niemand kennt oder überhaupt kennen will und drei Stunden von hier entfernt ist.“ Weit genug, um hoffentlich mit dem Kapitel A2Z abzuschließen.

„Du wirkst nicht sonderlich begeistert“, stellt er nüchtern fest.

„Natürlich nicht. Meine Eltern waren mit dem Leben in München nicht einverstanden. Ich habe keine Lust, mir anzuhören, wie recht sie hatten. Und soll ich dir was Witziges verraten? Sie wissen noch nicht mal, dass ich mich wieder bei ihnen einquartiere, so viel Angst habe ich vor ihnen.“

„Du wirst also bei ihnen mit deinem ganzen Kram aufschlagen und Überraschung rufen?“

Ich schnaube belustigt. Weil das genau mein Plan war … „Ich wollte ihnen partout keinen Grund geben, weshalb sie mir bereits Wochen vor meinem Umzug ein schlechtes Gewissen einreden. Es reicht, was ich mir anhören darf, wenn ich zurück bin.“ Und womöglich habe ich die ganze Zeit über gehofft, eine andere Lösung zu finden.

„Versteh das bitte nicht falsch, ich möchte mir nichts anmaßen, aber das klingt schrecklich. Sicher, dass der Umzug eine gute Idee ist?“

„Absolut gar nicht.“

Hier in München habe ich zwar auch nichts und niemanden außer Kira, denn die Leute von der Party gestern kann man nicht als Freunde beschreiben. Aber wenn ich einen Neuanfang starte, dann soll es dort sein, wo mich zumindest irgendjemand unterstützt, und in einer Stadt, die mich willkommen heißt. Warum will ich dorthin zurück, wo ich höchstwahrscheinlich ein langweiliges Leben führen werde? Wo ich auf engstem Raum mit meinen Eltern zusammenwohne. Wo ich den lieben langen Tag Vorwürfe über falsche Entscheidungen zu hören bekomme. Wo ich mich schlichtweg nicht wohlfühlen würde …

„Dann tu es nicht“, sagt er trocken, als hätte er mein Gedankenkarussell rattern, quietschen und schreien gehört.

Tu es nicht … Tu. Es. Nicht. So einfach könnte es sein. So einfach wie das Schlussmachen mit Zane. So einfach wie die Pause vom Studium. So einfach wie die Heimlichtuerei vor meinen Eltern. Okay, nichts davon war einfach. Aber was, wenn es das einmal wäre?

So einfach wie … atmen.

Stumm mustere ich die Gitarre in Moons Hand. Dann fasse ich einen Entschluss. „Lass die in der Wohnung.“ Ich hole Zanes Kiste wieder aus dem Transporter und gehe mit ihr nach drinnen.

Im Schlafzimmer stelle ich den Karton lieblos mit einem dumpfen Aufprall hin. „Leg die Gitarre daneben. Vielleicht können die neuen Mieter was damit anfangen.“

„Bist du dir …?“, fragen Kira und Moon synchron.

„Ja. So einfach bin ich mir sicher.“ Ich wende mich meiner besten Freundin zu und lege meine Hände auf ihre Schultern. „Du sagst, das Angebot steht noch?“

Verdutzt blinzelt sie mich an.

„Dass ich erst mal bei dir und Hannes unterkommen kann?“

Kapitel 2

Das Kapitel, in dem ich mit meiner besten Freundin im Bett lande.

Während Kira aufgekratzt wie ein wildes Katzenjunges durch ihre Wohnung springt und hier und dort als Stolperfalle eine meiner Kisten abstellt, bin ich tief in Gedanken versunken.

Ich gebe mir einen Monat, um alles auf die Reihe zu bringen. Einen festen Job zu ergattern, eine neue eigene Bleibe zu finden, keine weitere Ablenkung durch die Musik oder Erinnerungen an Zane zuzulassen. Punkt.

„Hilfst du mir mal?“, presst Kira hervor, die Karton Nummer acht in mein Übergangszimmer schleppt.

Wem mach ich was vor? In diesem Raum möchte ich leben, bis ich alt und schrumpelig werde und darin sterbe. Danach dürfen sie mich meinetwegen gern liegenlassen, ist bestimmt hübscher als die Hölle, die mich erwartet, weil ich meinen Eltern bisher nichts von meiner misslichen Lage gebeichtet habe.

Aber das WG-Zimmer lässt mich die Tatsache verdrängen. Ein Erker mit einer kleinen Sitzecke, ein Boxspringbett, ein hoher Schreibtisch und hier und da Vorhänge, Zierkissen in Mintgrün und weiß – einladend hell, ohne Schnickschnack. Irgendwie spüre ich, wie mein Herz hier heilen könnte.

Puh. Wenn ich nicht aufpasse, bereitet mir der zuckersüße Gedanke noch Karies.

„Anni, bitte“, keucht Kira und ich schüttle mich aus der aufkeimenden Angst vor schmerzhaften Zahnarztbesuchen.

Schnell nehme ich ihr den schweren Karton ab, in den ich scheinbar Ziegelsteine gepackt habe. „Sorry.“

Sie stemmt die Hände in die Seiten und drückt den Rücken durch. „Geschafft! Und das ganz ohne Hilfe von deinem Badewannen-Stalker. Selbst ist die Frau.“

„Wir sollten froh sein, dass er uns beim Einladen geholfen hat. Das hast du vorhin selbst gesagt, nachdem er sich aus dem Staub gemacht hat.“

Moon hat sich hastig von uns verabschiedet, weil sein Handy sturmgeklingelt hat. Ich hätte ihn wirklich gern zumindest einen Kaffee als Dank für die Schlepperei ausgegeben, doch da war er bereits über alle Berge – oder eher über die Theresienwiese verschwunden. Nicht einmal Nummern oder Social-Media-Accounts haben wir ausgetauscht. Innerlich schmolle ich wie ein Kleinkind. Aus rein platonischen Beweggründen versteht sich.

Und als wolle mich erneut eine höhere Kraft strafen, kippt schon wieder ein Karton scheppernd um.

„Echt jetzt?“, frage ich genervt das Universum und starre auf den Haufen Lehrbücher, die auf dem Boden verteilt liegen.

Kira zischt verächtlich. „Wo hast du die dummen Kisten her?“

„Kleinanzeigen.“ Synchron mit ihr verdrehe ich die Augen.

Noch bevor ich die Bücher, die ich vermutlich nie wieder in meinem Leben brauche, zur Seite legen kann, klappert Metall gegen das Schloss an der Wohnungstür.

„Das ist bestimmt Hannes.“

„Wäre komisch, wenn sonst noch jemand einen Schlüssel hätte, oder?“

„Guter Punkt.“

„Ich hoffe, er fällt nicht aus allen Wolken.“ Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Natürlich hat auch er mir vor ein paar Wochen angeboten, bei ihnen einzuziehen, aber ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen …

Obwohl, seine Schuld, wenn er nicht auf die Nachrichten seiner Schwester antwortet.

„Kira?“, höre ich ihn rufen. Verwundert? Sauer? Kaum einzuordnen.

Zusammen mit meiner besten Freundin trete ich aus meiner neuen Herberge in das riesige Wohnzimmer der beiden.

„Hey, Hannes“, grüße ich ihn kleinlaut mit einem schüchternen Lächeln, was Schwachsinn ist, weil wir uns ewig kennen. „Kira meinte …“ Ich deute mit dem Kinn auf einen Haufen Kartons, die vor dem Zimmer stapeln.

„Oh“, haucht er statt einer Begrüßung. Er streicht sich das schulterlange braune Haar aus dem Gesicht und lächelt schief.

Kira ignoriert seine Reaktion und springt ihm an den Hals. „Bruderherz! Wir haben eine neue Mitbewohnerin. Anni bleibt doch in München und lässt mich nicht alleine. Wie toll ist das?“

Hannes nickt langsam und seine grüngrauen Iriden blitzen kurz auf.

Oh, oh. Unangenehm.

„Mist, wir haben dich also tatsächlich überrumpelt“, spreche ich meine Befürchtung aus. „Ich kann auch gleich wieder verschwi–“

„Nein, nein. Es ist nur …“ Schnell schiebt er Kira von sich, die ihn daraufhin mit einem Todesblick mustert.

„Was?“ Kiras Ton ist scharf, als könne er Stein wie Papier schneiden. „Was, Bruderherz?“

„Die Sache ist die … Ich habe bereits jemandem das Zimmer versprochen.“

„Du hast was?! Dann mach das eben rückgängig.“

In Hannes’ Blick erkenne ich, dass das wohl nicht so einfach ist. Gerade, als er den Mund öffnet, um etwas zu sagen, klopft es an der Tür, die er umgehend öffnet. „Zu spät.“

Zuerst kommt ein recht kleiner Reisekoffer zum Vorschein. Dann, als mein Blick weiter nach oben wandert, kann ich nicht glauben, wer dort mit angespannten Schultern von einem Fuß auf den anderen tritt.

„Moon?“, frage ich überrascht.

„Spanner?!“, ruft Kira zeitgleich.

Hannes sieht zwischen uns hin und her. „Ihr kennt euch?“ Dann schüttelt er den Kopf. „Moment, Spanner?“

„Ja.“ Kira verschränkt die Arme vor der Brust. „Er hat Anni in ihrer Badewanne aufgelauert, sie angeglotzt, als sie nur einen BH trug, und ihre Höschen wollte er auch betatschen.“

Moon läuft knallrot an und Hannes klappt der Mund auf.

Beschwichtigend hebe ich die Hände. „Stopp, stopp. Das klingt alles ganz falsch. Das war komplett anders.“ Ich nehme Hannes zur Seite und erkläre ihm unseren chaotischen Morgen. Vor allem betone ich, dass das alles unglückliche Zufälle waren und Moon uns tatkräftig beim Einladen meines Hab und Gutes unterstützt hat. Sogar um den Partymüll hat er sich penibel gekümmert.

Hannes wirft einen Blick über die Schulter und mustert seinen Gast eindringlich, abschätzend.

Dieser verbeugt sich dreimal schnell hintereinander und schielt mich mit Welpenaugen an.

Kira neben ihm schnalzt mit der Zunge.

„Alles gut, Moon. Wirklich“, versichere ich ihm, während ich auf ihn zugehe und den fiesen Blick meiner besten Freundin ignoriere.

„Trotzdem haben wir jetzt ein Problem“, kläfft sie. Fehlt nur noch, dass sie den Fuß trotzig wie ein kleines Kind auf den Boden stampft.

Ich atme tief durch und kapituliere. „Am besten nehme ich meine Kartons wieder und verschwinde.“

„Nein.“ Hannes legt eine Hand auf meine Schulter. „Wenn du tatsächlich hier bist, hast du keine andere Möglichkeit, woanders unterzukommen, nehme ich an. Und wir haben es dir oft genug angeboten. Wir werden einen Weg finden, euch beide unterzubringen.“

Kira will gerade erneut protestieren, doch da packt ihr Bruder sie am Arm und zieht sie in die Wohnküche – also ganze fünf Schritte weg von uns.

„Dann waren es nur noch wir zwei“, murmele ich, woraufhin Moon grinsend schnaubt. „Du bist vorhin so schnell weggewesen, ich konnte mich nicht einmal anständig bei dir für deine Hilfe bedanken.“

Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf. „Ich habe ein paar Kisten hin- und hergetragen. Keine große Sache und definitiv das Mindeste für das … Übernachten.“

Ich muss mir ein Lächeln verkneifen, um mich nicht über seine Schüchternheit zu amüsieren. „Wir sollten das alles endlich vergessen, wenn wir uns hier arrangieren wollen.“

„Ist vielleicht besser. Außerdem war ich in Eile, weil sich Hannes mit mir treffen wollte, um alles wegen der Wohnung zu besprechen. Sonst hätte ich euch selbstverständlich auch beim Ausladen geholfen. Aber der WG-Platz ist mir wirklich, wirklich wichtig.“

„Du kannst also sonst auch nirgends bleiben?“

Er schüttelt trübsinnig den Kopf. „Sagen wir’s so, ich stehe gerade auch mit nicht viel da.“

„Deswegen ist dir nur meine Badewanne zum Schlafen geblieben?“

Das entlockt ihm ein Seufzen. „Es ist mir immer noch wahnsinnig peinlich. Ziemlich dumme Geschichte, wie ich da gelandet bin.“

Ich lausche, ob die Geschwister weiter diskutieren, und sage: „Wir haben anscheinend noch ein bisschen Zeit. Also erzähl.“

„Die Wohnung darüber wird als Airbnb vermietet.“ Er macht eine kurze Pause, als würde das bereits alles erklären. „Und die hatte ich gemietet.“

„Oh, sorry, hat dich der Lärm gestört? Du hättest ruhig die Polizei rufen können, dann wäre vielleicht schon eher Schluss damit gewesen.“ Bei mir kickt immer noch der Schlafentzug.

Abwiegelnd hebt er die Hände. „Glaub mir, ich bin Lärm gewöhnt, daran hat es nicht gelegen. Ich hatte mich ausgesperrt und meinen Vermieter wegen eines Ersatzschlüssels nicht erreichen können.“

„Und anstatt im kalten Treppenhaus zu warten, hast du es dir in meiner Badewanne gemütlich gemacht?“

„So in etwa. Ich wollte wirklich nur ganz kurz die Augen zumachen, weil ich hundemüde war, bin dann aber wohl komplett eingenickt.“

Ich muss mir ein Lachen verkneifen, weil er so ein Pechvogel ist. Allerdings bin ich erleichtert, dass es sich bei ihm tatsächlich nicht um einen Spanner handelt. Bevor ich noch etwas dazu sagen kann, kehren die Geschwister zurück.

„Zieh erstmal deinen Mantel aus, da ist die Garderobe.“ Hannes deutet schräg hinter Moon. „Wir haben Kaffee gemacht, kommt mit auf die Couch. Krisengespräch.“

„Ich möchte euch keine Umstände machen“, sagt Moon, doch ich greife wortlos nach seiner Hand und führe ihn zu der großen Wohnlandschaft bestehend aus Polstern, die Wolken gleichen. Wenn die Winters eins haben, dann einen Sinn für Gemütlichkeit – und spendable Eltern.

Als ich mich zwischen Moon und Hannes plumpsen lasse, rutscht Moon ein paar Anstandszentimeter von mir weg.

Ich hoffe zumindest, dass er das aus Höflichkeit macht und nicht, weil ich nach Umzugsschweiß rieche. Unauffällig halte ich meine Nase unter meinen Pulli und – ja. Ich stinke.

„Du kannst gerne gleich duschen, wenn du möchtest“, flüstert Hannes mir ins Ohr.

„So schlimm?“

Er schüttelt lachend den Kopf. „Nur ein winzig kleines Bisschen.“

„Also“, übertönt Kira ihren Bruder. „Moon bekommt das freie Zimmer und Anni wird erst einmal mit mir das Bett teilen.“

Mist. Ein oder zwei Nächte halte ich mit ihr ohne Probleme aus, aber über längere Zeit in ein- und demselben Raum mit ihr …

Moon räuspert sich. „Mir ist auch das Sofa recht oder ich schlafe bei Hannes? Ich brauche kein Zimmer für mich alleine. Eigentlich bin ich es sogar gewohnt –“

Hannes presst die Lippen aufeinander. „Nimm’s mir nicht krumm, Kumpel. Aber ich habe eine Freundin und würde gerne etwas Privatsphäre mit ihr genießen.“

Moon nickt eifrig. „Verstehe. Natürlich.“ Er wendet sich mir zu. „Ist das in Ordnung für dich?“

„Klar.“ Gedanklich verabschiede ich mich von dem wunderschönen, hellen, heilenden Zimmer. Die Trennung fällt mir fast so schwer wie die von Zane. Doch ich reiße mich ganz erwachsen zusammen. „Ich darf mich glücklich schätzen, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Wegen der Miete …“

„… hätte ich ein Angebot. Für euch beide.“ Hannes faltet die Hände im Schoß.

Schon immer fasziniert es mich, wie viel Ruhe ein Mensch ausstrahlen kann.

„Ich weiß nicht, ob Kira es dir erzählt hat, Anni, vor einem halben Jahr habe ich mit einem Kumpel ein Start-up gegründet.“

„Hat sie. In der Veranstaltungsbranche, oder?“

„Richtig“, sagt Hannes. „Moon, wir vermitteln Darsteller für verschiedene Feiern. Prinzessinnen für Kindergeburtstage, Horrorclowns für Halloween oder Artisten, Kellner für Firmenveranstaltungen und so weiter.“

Bisher hatte ich keine Ahnung, was er genau treibt, da Kira schnell das Interesse verliert, über ihren Bruder zu reden, aber das klingt nach der völlig falschen Richtung für mich. Ich habe mit dem Rampenlicht abgeschlossen. A2Z war oder ist in München bekannt. Was, wenn jemand das Internetsternchen als bunte Glitzerfee verkleidet auf seiner Geburtstagsfeier erkennt? Horrorvorstellung.

„Ich weiß, welche Sorgen du dir machst“, schiebt Hannes hinterher. „Aber meistens sind die Verkleidungen so gut, dass man dich nur schwer erkennt.“

„Puh“, stoßen Moon und ich gleichzeitig aus.

Wir tauschen Blicke und runzeln beide die Stirn.

„Gruselig“, murmelt Kira, die uns eindringlich anstarrt.

„Äh … ja.“ Hannes hüstelt. „Also wäre das geklärt?“

Stumm nicken Moon und ich. Wieder gleichzeitig.

„Wie sieht es aus, fangt ihr gleich morgen an?“