Eine spezielle Herausforderung
Claire klappte den kleinen Handspiegel zu, mit dem sie im Viertelstundentakt ihr Make-up prüfte. Sie ließ ihn in der kleinen Schublade unterhalb ihres weißen Schreibtisches verschwinden. Kurz darauf betrat ihre Chefin Olivia Barns das Büro. Mit einem Lächeln kam sie auf sie zu.
„Hier ist es“, verkündete sie mit bedeutungsschwangerem Unterton und legte Claire ein paar Seiten auf den Tisch. Dann stützte sie sich mit beiden Händen an der Kante des Tisches ab. Claire blickte zu ihr auf. Ihre Chefin verzog die schmalen Lippen, die so kupferfarben waren wie ihr kurzes Haar, zu einem breiten Grinsen und nickte ihr zu. Der stechende Ausdruck in ihren aschblauen Augen gefiel Claire nicht.
„Das Skript ist sensationell. Was auch sonst. Er hat also auf meinen kleinen Rat gehört“, sinnierte Olivia laut.
„Welches Skript, welcher Rat?“, fragte Claire.
Ohne darauf einzugehen, redete ihre Chefin weiter: „Den Stick zum Skript bekommen Sie auch gleich.“ Sie tippte auf den kleinen Blätterstapel. „Das sind nur die ersten Seiten. Das erste Kapitel. Lesen Sie einmal den ersten Absatz. Den müssen Sie einfach schwarz auf weiß inhalieren.“
Das klang vielversprechend, dachte Claire. Olivia ließ die Tischkante los und straffte die Schultern. Claire bemerkte neidvoll, dass ihre Chefin schon wieder schlanker geworden war. Das grau-rosa Businesskostüm passte ihr wie angegossen. Dazu trug sie eine Seidenstrumpfhose und schwarze Pumps. Genau die Art Outfit, die Claires Verlobter Ray mochte. Sie selbst hatte sich diesen Stil inzwischen angeeignet wie eine zweite Haut. Früher bevorzugte sie hipp und lässig. Jeans, Shirt, Sneakers – fertig. Nein. Nicht nur wegen Ray habe ich meinen Stil geändert, protestierte Claire gegen ihre innere Stimme. „Claire?“, fragte Olivia Barns.
„Was?“ Sie räusperte sich und kämpfte sich aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
Ihre Chefin tippte noch einmal auf die erste Seite des Skriptes. „Es ist das neueste Werk unseres Bestsellerautors Samu Boheme.“ Ehrlich gesagt hatte Claire keinen einzigen Thriller von ihm gelesen. Und das, obwohl Boheme schon jahrelanger Stammautor des Hauses war, in dem sie seit Abschluss ihres geisteswissenschaftlichen Studiums als kleine Lektorin arbeitete, aber das würde sie der Barns sicher nicht auf die Nase binden.
„Wir sind die Ersten, neben seinem windigen, zuweilen wortbissigen Agenten Bob, die es lesen dürfen. Also fühlen Sie sich geehrt!“, verkündete Olivia.
„Wir?“
„Ja, Sie und ich.“
„Wow!“, entfuhr es Claire. Sie hatte bis dato immer die Skripte von Debütautoren begleiten dürfen. Konnte sie doch bald auf die ersehnte Beförderung hoffen? Claire schob die Seiten näher an sich heran und schreckte auf. Einer ihrer Fingernägel, die sie erst kürzlich in Rays Lieblingsfarbe – Blutrot – hatte lackieren lassen, war dabei gebrochen.
„Katastrophe“, murmelte sie und schluckte.
„Konzentration, Miss Winston! Ich will Ihre Meinung. Das kleine Malheur können Sie später wieder richten lassen. Sehen Sie es als gutes Omen. Die kürzeren Nägel früher standen Ihnen sowieso besser.“
„Früher?“, fragte Claire.
„Vor Ray“, betonte Olivia.
Claire fragte sich, ob Olivia etwas gegen Ray hatte. Dabei waren sich die beiden doch erst ein paar Mal flüchtig begegnet.
Kopfschüttelnd blickte sie ihre Verlagschefin an. „Später ist zu spät, Mrs. Barns, und klein ist untertrieben. Ray wird verärgert sein. Wir sind mit seinen Eltern zum Essen verabredet. Er holt mich gleich nach der Arbeit ab. Ich kann heute also auch keine Minute länger bleiben. Tut mir wirklich leid!“ Das musste sie doch verstehen.
Ihre Chefin hob eine Braue. „Einen Mann lässt man immer warten. Meiner hat sich daran gewöhnt. Sie müssen sich gegenüber dem anderen Geschlecht Respekt bewahren, meine Liebe. Privat wie auch in der Geschäftswelt. Es kann nicht angehen, dass Ihr Schätzchen schon wegen solch einer Lappalie austickt. Und jetzt lesen Sie schon! Ich habe gleich noch ein Meeting. Ich dachte, Sie fallen vor Begeisterung vom Stuhl. Was ist denn los? Wo ist Ihr sonstiger Gefühlsüberschwang, wenn es ein neues Projekt gibt?“
Claire versuchte ein Lächeln. „Es ist die Ehrfurcht und ja, ich bin auch überrascht“, gab sie zurück.
Olivia zeigte sich zufrieden. „Sehr gut. Dann strengen Sie sich an. Ich will Sie auch hierbei in Höchstform erleben. Und denken Sie an das, was ich gesagt habe. Männer muss man ab und zu schmoren lassen. Das macht uns Frauen für sie nur interessanter.“
Olivia Barns, die Männerversteherin.
Ihre Worte hallten in Claire nach. Ray würde das, was ihre Chefin da eben gesagt hatte, niemals mit sich machen lassen. Claire dachte an letzte Nacht. Ray war ein Hengst im Bett. Zärtlich und wild zugleich. Das machte seinen Kontrollwahn wieder wett. Zumindest redete sie sich das täglich ein und erstickte jeden Zweifel im Keim. Claire liebte Ray und freute sich auf eine Zukunft mit ihm – Kinder, Haus, einen Baum pflanzen, vielleicht sogar einen Hund. Zudem sah Ray fantastisch aus und war ein erfolgreicher Geschäftsmann, zu dem viele aufsahen. Und sie fühlte sich sicher an seiner Seite. Claire seufzte innerlich, wenn sie an seine Küsse dachte. Kein Zweifel, sie war diesem Mann verfallen. Und bald würde sie einen Ehering am Finger tragen. Außerdem hatte er eine Schokoladenseite in seiner Seele. Sie war sicher, wenn sie erst einmal verheiratet waren, würde diese Seite richtig zum Vorschein kommen. Ihr Blick richtete sich wieder auf das erste Kapitel von Boheme.
Erster Absatz, rief sie sich in Erinnerung und las:
Casanova war Schnee von gestern. Sie hatte keine Ahnung, was ich heute Nacht alles mit ihr anstellen würde. Ich war sicher, dass sie mich danach nie wieder vergaß. Schon allein mein neues Baby, eine schneeweiße Corvette, ließ ihr Herz höherschlagen. Selbst wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, konnte ich es an ihrem tiefen, von champagnerfarbenen Perlen gesäumten Ausschnitt erkennen. Ihre Brüste hoben und senkten sich vor offensichtlicher Aufregung. Sie fraß mir schon jetzt aus der Hand, war eine leichte Beute, die zu erlegen ich mir dennoch nicht entgehen lassen würde. Naives Ding.
Claire rümpfte die Nase. Sie wusste nicht recht, was sie von diesen Zeilen halten sollte. Begeisterung fühlte sich anders an. Olivia lachte. „Da bekommt man gleich Gänsehaut. Nicht wahr? Es ist eine Romance. Sie werden beim Lesen gehörig ins Schwitzen geraten, meine Liebe“, versprach sie.
Mal sehen, dachte Claire. „Ich habe bisher angenommen, Mr. Boheme schreibt ausschließlich Thriller ‒ wenig Romantik, aber dafür umso mehr Spannung. Obwohl, von Romantik scheint sein Protagonist, den ersten Sätzen nach, nicht viel zu verstehen.“
Olivia winkte ab. „Er will dieses Mal etwas Neues ausprobieren. Ein wahrer Künstler eben. Bleibt nie auf einer Stufe stehen. Also mir gefällt es. Ich bin sicher, das Buch wird ebenso erfolgreich wie seine Thriller. Ich glaube sogar noch mehr. Laut einer Umfrage stellen ihn sich viele Frauen und auch Männer als äußerst attraktiv und lässig vor.“
„Er will aber nicht ins Porno-Genre wechseln, oder?“, fragte Claire.
Mrs. Barns runzelte die Stirn. „Was? Nein! Es ist eine prickelnde bittersüße Romance. Sehr prickelnd halt. Kommen Sie. Seit gewissen bekannten pikanten Romanen gibt es doch keine Tabus mehr. Knöpfen Sie sich mal ein wenig auf, Miss Winston. Das Skript wird Ihnen dabei helfen und guttun.“
Ihre Chefin hielt sie also für bieder.
Ehrlich gesagt waren übertrieben romantische Geschichten weniger Claires Fall. Am liebsten las sie Liebeskomödien. Diese konnten Erotik enthalten, wenn es stilvoll und nicht zu übertrieben war. Aber das … Sie war nicht sicher, wohin das führen sollte. Ihr Gefühl sagte ihr nichts Gutes. Der Protagonist schien auf den ersten Blick recht oberflächlich und luxusbesessen. Für Claire war er eindeutig nicht die Art Held, in die sich Frauen verlieben sollten. Oder, fragte sie sich, bin ich vielleicht nicht normal? Es gab kein Zurück. Claire hoffte, dass das Skript besser werden würde. Eines war sicher. Sie wollte wissen, warum der Protagonist so tickte. Wenn Boheme es darauf anlegte, dass der Leser sich das lange fragte und damit Spannung erzeugen wollte, war es ein geschickter Schachzug, den er aber nicht offenlassen sollte. Zudem gab man Olivia Barns keinen Korb. Schon gar nicht, wenn man wie Claire die Betriebsjüngste im Verlag war und nur eine kleine Lektorin. Für sie war es ein Glücksfall gewesen, dass Olivia sie damals eingestellt hatte. Das durfte sie nicht vergessen.
„Du hast tolle Praktikumsplätze vorweisen können und einen klasse Abschluss“, hielt Jenny, Claires beste Freundin, dagegen. „Also mach dich nicht kleiner, als du bist.“
Ein halbes Jahr später hatte Claire Ray kennengelernt. Er war der Sohn einer großen Familiendynastie, die seit 1959 Markenstifte herstellte. GereStar-Pens verkaufte seine Ware erfolgreich auf der ganzen Welt. Ray hatte die Firma vor ein paar Monaten überschrieben bekommen. Seine Eltern unterstützten ihn bei den Geschäften. Es machte ihm nichts aus, denn er vergötterte sie.
„Oder gibt es ein Problem?“, riss sie Olivias Stimme aus ihren Gedanken.
„Problem? Nein, ich …“
„Kathleen verlässt sich auf Sie, Claire. Es sollte eigentlich ihr Baby sein. Und es ist eine große Chance für Sie.“
Claire nickte.
„Das mit ihrem Unfall tut mir echt leid. Es ist schrecklich, dass sie durch den Sturz dazu zwei blaue Augen hat.“
Olivia kräuselte die Stirn. „Das hört sich so an, als wären Sie schuld, dass sie die letzten zwei Stufen der Treppe auf dem Weg zur U-Bahn übersehen hat. Meine Güte! Augen auf, sage ich immer. Nun ist es nicht zu ändern. Sie wird für mehrere Wochen ausfallen. Die Krankmeldung ist schon da. Und die anderen Lektoren stecken bis über beide Ohren in anderen Projekten. Enttäuschen Sie mich nicht. Ihre letzten Lektorate waren wirklich hervorragend.“
Der Ausdruck in ihren Augen wurde stechender. Claire wusste, was das bedeutete. Gleich würde Olivia Barns ungehalten reagieren.
„Danke für das Lob“, entgegnete Claire schnell, die sich ehrlich darüber freute.
„Gewöhnen Sie sich nicht daran. Der Stick kommt wie gesagt gleich. Geben Sie mir den Ausdruck wieder. Ich habe mir auch den Rest ausgedruckt. So lese ich lieber.“ Sie zwinkerte in Claires Richtung. „Viel Spaß.“ Danach stolzierte sie zur Tür, öffnete sie schwungvoll, hielt dann inne und drehte sich um. „Ach, bevor ich es vergesse: Boheme möchte wissen, was Sie von dem ersten Kapitel halten. Das ist normal bei ihm. Vergessen Sie nicht, es ihm zu schreiben. Noch heute. Sein Skript hat Priorität. Die Mailadresse finden Sie auch auf dem Stick. Boheme ist unser …“ Sie zeigte auf Claire.
Diese nickte. „… bester Autor und sehr wichtig für den Verlag. Aber er kann auch dankbar sein. Barns-Books hat ihn von Anfang an gehypt und …“
„Dankbarkeit verliert sich schnell und kann rasch zum Nächsten wandern, wenn jemand Erfolg hat. Daher muss man immer achtsam sein, dass man diese Menschen bei Laune hält. Denn letztendlich hat man auch etwas davon. Ein Geben und Nehmen“, erwiderte Olivia.
Vor sich hin pfeifend verließ sie das kleine Büro im Südflügel des riesigen Verlagsgebäudes. Claire war froh, als die Tür ins Schloss fiel. Gregor Barns hatte Olivia ‒ seiner einzigen Tochter ‒ den Verlag vererbt. Er war vor zehn Jahren gestorben. Olivia hatte definitiv sein geschäftliches Erfolgs-Gen geerbt. Barns-Books war einer der erfolgreichsten Verlage Englands und hatte seinen Sitz in Brighton. Claire rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. Jetzt brauchte sie erst einmal einen Kaffee. Ihr Blick wanderte zur Fensterfront ihres Büros, das im obersten Stockwerk lag. Sie stand auf und ging hinüber, schaute hinaus auf den perfekt gemähten Rasen mit der Buchshecke, der das weiße Gebäude mit den vielen Spiegelfenstern umgab. Von hier aus konnte sie das Brighton Palace Pier sehen. Ein Anblick, der sie immer beruhigte. Sie liebte die englische Stadt an der Küste des Ärmelkanals der Grafschaft East Sussex, die liebevoll die Badewanne Londons genannt wurde. Der Vergleich ließ Claire, die zuvor im Haus ihrer Eltern in einem kleinen Ort in der Nähe gewohnt hatte, immer schmunzeln. Olivias Sekretärin Andrea Whiler reichte Claire den Stick herein und zog sich sofort wieder zurück. Sie sah abgehetzt aus. Kein Wunder bei all den kleinen und großen Wünschen, die Olivia Barns an einem Tag äußerte.
„Dann machen wir uns mal an die Arbeit, Mr. Boheme“, flüsterte Claire, rieb sich die Hände und hoffte inständig, dass sie der Rest des Skriptes flashen würde. Es kribbelte ihr in den Fingern.
Im Grunde hat Olivia recht. Ausgedruckt liest es sich angenehmer, dachte Claire. Man konnte sich damit zurücklehnen oder durch den Raum schlendern oder das Fenster öffnen und es hinauswerfen. Das wäre bei dem Autor ein gefundenes Fressen für die Presse, wenn sie es mitbekommen würde. Letztendlich entschied sie sich dafür, das erste Kapitel in Druckform zu lesen. Bemerkungen, von denen auch ein Mr. Boheme nicht verschont blieb, würde sie danach über den Laptop einfügen. Sie stand auf, öffnete das Fenster und genoss den Wind, der sanft ins Zimmer wehte. Dann nahm sie das erste Kapitel und ging lesend im Zimmer auf und ab. Mr. Boheme ließ seinen Protagonisten aufs Ganze gehen, leider jedoch auf eine billige und machohafte Weise. Schrieb er immer so gewollt? Wo blieb das Gefühl?, fragte sich Claire. Nachdem der Protagonist seine neue Partnerin entblättert hatte und auf dem Rücksitz seiner Corvette wie eine hungrige Raubkatze über sie hergefallen war, reichte es ihr. Nicht, dass sie bieder oder frigide war, wie ihre Chefin meinte, aber das schoss weit über das Ziel einer leidenschaftlichen Romance hinaus. Sie brauchte eine Pause. Ihr Blick fiel auf ihren Laptop, da kam ihr eine Idee. Sie brauchte einen Vergleich und lud eine Leseprobe aus einem von Bohemes Thrillern herunter. Shadow Hunter fesselte sie sogleich. War Olivia sicher, dass das der gleiche Autor geschrieben hatte? Oder hatte Boheme beim Schreiben unter Einfluss von Drogen gestanden? Schön und gut, dass er sich in einem neuen Genre ausprobieren wollte, aber das würde zumindest dieses Mal gehörig nach hinten losgehen, wenn er so weiterschrieb ‒ da war sich Claire absolut sicher. Die ersten Seiten entschieden oft schon, ob ein Leser weiterlesen oder das Buch schließen würde und dann oft für immer. Es fehlte das Elementare – Gefühl. Vielleicht besaß er davon nicht viel. Bei seinen Thrillern brauchte er doch ebenso Einfühlungsvermögen ‒ wenn auch auf andere Art. Ihre Gedanken überschlugen sich. Claire führte den Stick in den Laptop ein und öffnete das Skript, um sich den Rest des ersten Kapitels anzutun. Wie befürchtet, wurde es nicht besser. Dank Boheme kannte sie nun Stellungen, die ihr absolut neu waren und bei denen sich sogar Jennifer, die biegsamer war als eine Schlange, verrenken würde. Das war harte Kost. Ihre Anmerkungen würde sie Boheme, wie gewünscht, per Mail zukommen lassen. Und zwar sofort. Ihrem angestauten Unmut wollte sie Luft machen.
Sehr geehrter Mr. Boheme,
Mit großer Erwartung habe ich das erste Kapitel Ihres Skriptes gelesen, gleich nachdem ich es von Mrs. Olivia Barns erhalten hatte. Ich freue mich, dass ich eins Ihrer Werke bearbeiten darf. Leider muss ich Ihnen sagen, dass es mich …
Claire stoppte, vergrub das Gesicht in den Händen und atmete ein paarmal hinein. Sie musste und wollte ehrlich bleiben. Nur wie genau sollte sie ihm auf die nette Art beibringen, dass sie bisher gedacht hatte, einen reinen billigen Porno zu lesen, dessen Protagonist ein gefühlskalter Macho war? Langsam nahm sie die Hände herunter und klickte in das Skript, dessen zweites Kapitel sie überflog. Es brauchte nur ein paar Zeilen, um zu sehen, dass es darin ebenfalls zur Sache ging. In den folgenden Kapiteln nahm die Geschichte keine Wendung oder ging näher auf die Vergangenheit des Protagonisten ein. Wenigstens die Frauen schienen Mr. Macho toll zu finden. Sie schüttelte den Kopf. Nachdem sie den letzten begonnenen Satz wieder gelöscht hatte, flossen die Worte nur so aus ihrem Kopf durch die Finger in die Mail. Sie dachte an ihre Chefin und schaltete einen Gang zurück.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich mir mehr Gefühl in Ihrem Roman wünsche. Und damit meine ich ein anderes, als das, das Sie vermittelt haben. Ihre Zeilen erinnern mich leider an einen Hardcore-Porno. Ich bin sicher, dass Sie ein hervorragender Schriftsteller sind. Dafür spricht allein die Größe Ihrer Fangemeinde. Ihr Schreibstil gefällt mir. Doch das bisher Gelesene klingt nach Machogehabe. Ich weiß nicht, ob sich die Leserinnen so in Ihren Protagonisten verlieben könnten, da es ihm offensichtlich an emotionaler Tiefe fehlt. Ich habe schon über das erste Kapitel hinaus geblättert, insofern bezieht sich meine Einschätzung nicht nur auf die ersten paar Seiten. Ich hoffe, dass ich von dem Protagonisten selbst, seinem früheren Leben, bald etwas erfahre, um ihn besser verstehen zu können. Ansonsten sollte man dringend darüber nachdenken, dies nachzuholen. Ich möchte nur vermeiden, dass Leser, die Herz und nicht nur Sex erwarten, zu früh abspringen. Ich selbst will die Geschichte im Herzen spüren können. Ich bin sicher, wir finden einen Kompromiss.
Mit freundlichen Grüßen
Ms. Claire Winston
Lektorin
Claire spitzte die Lippen und nickte für sich. Das war schon besser. Die Zeilen drückten überaus nett aus, was sie dachte. Sie konnte nur auf sein Verständnis hoffen und schickte die Mail ab, bevor sie es sich anders überlegte. Man konnte über alles reden. Das war immer das Beste, um am Ende zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen. Sie schloss den Laptop, räumte schleunigst zusammen und freute sich auf den Feierabend. Mit Sicherheit wartete Ray schon auf sie.
„Und haben Sie’s gelesen?“, rief ihr ihre Chefin hinterher. Olivia kam ihr auf dem Weg zum Ausgang in dem großzügigen hellen Flur entgegen.
„Natürlich. Aber noch nicht alles“, gab Claire sofort zurück.
Olivias Augen glänzten. „Schon klar. Haben Sie ihm das Resümee des Beginns bereits mitgeteilt?“
„Allerdings habe ich das.“
„Er ist so gut. Das wird vielen Damen heiße Gedanken bescheren. Ich sehe schon die Schlangen vor den Buchläden. Boheme ist nicht nur spannend, sondern auch heiß.“ Olivia knurrte und eilte weiter in ihr Büro. Claire sah ihr nach. Was sollte denn das?, fragte sie sich.
„Schönen Feierabend. Und brav bleiben, Claire!“, rief die Barns lachend, bevor sie hinter ihrer Bürotür verschwand. Allmählich machte ihr Olivia Barns Angst.
Gewagte Erkenntnisse
Ray, der später im Restaurant in Brighton neben ihr saß, nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Kuss darauf. „Du siehst bezaubernd aus, Darling. Dank meiner Beratung. Das schwarze Cocktailkleid und die Perlenkette stehen dir. Ausgezeichnete Wahl“, flüsterte er und zwinkerte ihr zu. Claire gefiel auch, was sie sah, sehr sogar.
„Danke, lieb, dass du das sagst. Besonders nach diesem Tag“, flüsterte sie zurück. Sein lasziver Blick erinnerte sie wieder an die Nächte, in denen sie sich geliebt hatten, als gäbe es kein Morgen. Von wegen bieder, dachte sie sich und katapultierte Olivia Barns mit einem Kick aus ihrem Kopf. Sie konzentrierte sich wieder auf Ray. Er trug ein weißes Hemd, Krawatte und einen marineblauen Anzug. Obwohl sie zugeben musste, dass sie ihn leger gekleidet einen Tick unwiderstehlicher fand. Sein schwarzes Haar hatte er für ihren Geschmack etwas zu glatt gegelt. Doch wenn es ihm so gefiel, wollte es auch ihr gefallen. Sie sog den Duft seines Aftershaves ein, das herrlich frisch nach Zitronengras roch. „Was war denn los? Stress mit dem neuen Skript?“, fragte er leise.
Sie winkte ab. Schon kroch Olivia Barns zurück in ihren Kopf und dirigierte dort die Gedanken. „Ach, dieser Bestsellerautor, von dem ich dir erzählt habe, ist …“, sagte Claire auf Rays Frage hin.
„Bestsellerautor? Welchen meinst du?“, fragte Rays Mutter. Claire überraschte es nicht, dass sie das sofort hellhörig werden ließ. Sie reckte den Hals und sah über den gläsernen Tisch des Rooftop-Restaurants hinweg. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass sie Claire ansah. Wieder einmal stellte sie fest, dass ihre zukünftige Schwiegermutter Ohren wie ein Luchs hatte. Das konnte man von Elton, ihrem Mann, nicht behaupten.
„Was?“, fragte der. Claire warf einen Blick durch die gläserne Front des Restaurants, von der aus man einen großen Teil der Stadt überblicken konnte. Mit einem Mal wünschte sie sich weit weg.
„Träumst du?“, fragte Rays Mutter.
Das tat sie allerdings. Von fernen Ländern, die weit weg waren.
Claire richtete ihre Aufmerksamkeit gezwungenermaßen wieder auf sie. Abermals bemerkte sie, dass Ray seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und erschrak wie jedes Mal darüber. Zudem hatte er die gleichen graublauen kleinen Augen. Von Elton hatte er im Grunde nur seine Größe und die leicht hügelige, sonst aber perfekt geformte Nase geerbt. Zum Glück nicht die Glatze, die er schon früh bekommen hatte. Katherine Gere wartete ungeduldig auf eine Antwort, was Claire an ihrer linken gezupften Braue erkennen konnte, die leicht zuckte. Ray zeigte das gleiche Zucken, wenn ihm etwas zu langsam ging ‒ nur war es bei ihm die rechte Braue.
„Sie arbeitet mit einem literarischen Weltstar zusammen“, kam Ray Claire zuvor.
„Ach wirklich?“ Katherine machte große Augen und faltete ihre grazilen Finger. An fast jedem trug sie einen ihrer echt goldenen Ringe. Elton runzelte die Stirn, wobei sich sein mandelgroßer Leberfleck, der fast in der Mitte prangte, zu einem liegenden Halbmond verzog. Der Fleck war, wie er selbst einmal gesagt hatte, sein Markenzeichen. Claire mochte Elton. In seiner Brust schlug eindeutig ein wärmeres und größeres Herz als in der von Rays Mutter. Zwischen ihr und Katherine war das Eis noch immer nicht gebrochen. „Ja, ich bin seine Lektorin“, stillte Claire Katherines Wissbegierde.
Sie sah, dass Ray stolz nickte. „Sie wird selbst noch berühmt werden. Sagte ich doch.“
Moment!, dachte Claire und stockte. Was hatte er da eben gesagt? Das hatte sogar Elton verstanden. „Wir mögen sie so oder so“, sagte dieser schnell darauf. Claire fand das nett und knuddelte Rays Vater in Gedanken.
„Danke, Elton!“, flüsterte sie und lächelte ihm dankbar zu, was er erwiderte. Dann rief er nach der Kellnerin und bestellte neuen Wein.
„Was weißt du schon, Elton“, winkte Katherine ab und fragte dann zu Claire gewandt: „Wer ist es denn, und vor allem wie ist er so? Ich lese auch sehr gerne wie du weißt. Kenne ich ihn? Wenn er Bestseller schreibt bestimmt. Ich lese ausschließlich Bestseller. Alles andere taugt nichts.“
Das sah Katherine ähnlich.
„Von wegen. Da täuschst du dich gewaltig. Manchmal steckt nur ein großes Marketing dahinter, das eben nicht jeder Autor bekommt“, musste Claire erwidern. Katherine staunte. „Ach wirklich?“
In Gedanken verdrehte Claire die Augen.
Ray nahm Claire die Vorfahrt, indem er ihr das nächste Wort abschnitt. Seine vorherige Bemerkung ließ sie nicht los. Sie fragte sich, was genau er damit hatte sagen wollen. „Sie arbeitet mit Samu Boheme zusammen“, verriet Ray schließlich seiner Mutter. Dieser Name entlockte Katherine ein ehrfurchtsvolles Juchzen. „Mein Gott, tatsächlich? Das ist unfassbar. Du und Boheme.“
Warum war das so unfassbar?, fragte sich Claire. Boheme war schließlich auch nur ein Mensch wie jeder andere.
„Wie schön. Laden wir diesen begnadeten und erfolgreichen Schriftsteller doch zu unserer Benefiz-Gala ein. Ich will wissen, wie er aussieht, ihn fragen, woher er all seine Ideen nimmt“, schlug Katherine vor. „Er wird sich nicht langweilen und du kannst dich unseren Freunden und Verwandten auch gleich als seine Lektorin vorstellen, Claire. Endlich einmal etwas, womit …“ Sie hielt inne und räusperte sich.
Claire schluckte schwer. Das fehlte ihr noch. „Er hat keine Zeit, er schreibt gerade an einem neuen Roman und er tritt nie in der Öffentlichkeit auf. Jedenfalls nicht als Samu Boheme. Keiner weiß, wer hinter diesem Namen wirklich steckt und ich glaube nicht, dass er das für eine Gala ändern wird. Tut mir leid!“, antwortete Claire schnell. Sie war überrascht, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen kam. Ihrer Meinung nach sprach auch ein Funken Wahrheit daraus. Sie war sicher, dass Boheme ohnehin nicht erscheinen würde.
„Das ist deine Meinung. Man wird sehen. Auf jeden Fall möchte ich ihm eine Einladung schicken. Übernimmst du das für uns?“, erwiderte Katherine.
Claire seufzte innerlich. „Natürlich!“, log sie ein weiteres Mal, auch wenn es ihr widerstrebte. Katherine würde sonst nie Ruhe geben. Nach dem Motto: Katherines Wille geschehe.
„Was hat er sich denn Neues ausgedacht für seinen neuen Roman?“, wollte Rays Mutter wissen.
Fieberhaft überlegte Claire, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Dann verwarf sie den Gedanken jedoch sofort wieder.
„Dieses Mal probiert er sich an einer Romance.“
Katherine lächelte und staunte. „Ah, wie schön! Ich mag beide Genres.“
Elton begann kräftig zu husten.
„Hast du dich verschluckt, mein Lieber? Warte! Hier ist ein Taschentuch“, beeilte sich seine Frau und beugte sich zu ihm hinüber.
Claire blickte erschrocken zu den beiden.
„Geht schon wieder“, keuchte Elton.
Ray nutzte die kleine Auszeit, um Näheres von Claire zu erfahren. „Was war denn los im Verlag?“, flüsterte er ihr direkt ins Ohr. Seine Lippen streiften ihre Wange. Das Kribbeln blieb aus. Normalerweise überkam sie das, wenn er ihr derart nahekam. Sie wandte sich ihm zu, ihre Blicke trafen sich.
„Es gab etwas Ärger mit Olivia Barns. Aber das ist nicht wichtig. Wichtiger ist, warum du mich vorhin nicht hast antworten lassen?“, flüsterte Claire zurück.
Ray nickte. „Genau das habe ich gespürt. Du kommst mit der neuen Aufgabe doch nicht zurecht. Bist überfordert. Oder ist der Autor so attraktiv? Sag nicht, dass deine Chefin nicht weiß, wer Boheme wirklich ist.“
Claire betete, dass Ray nicht schon wieder von Eifersucht heimgesucht wurde.
„Du weichst meiner Frage aus. Und nein. Ich glaube ihr, wenn sie sagt, sie hat ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Und ich bin ganz und gar nicht überfordert, Ray“, entgegnete Claire.
„Pst! Deshalb habe ich für dich geantwortet. Ich kenn dich besser als du dich. Dass du überfordert bist, brauchen meine Eltern nicht zu wissen. Sie freuen sich so für dich über deinen Erfolg. Das wusste ich und daher …“
Seine Worte donnerten wie Steine gegen ihr Herz. Claire holte Luft. „Verstehe. Dann hattest du also Angst, ich blamiere mich ‒ nein, eher dich. Sie akzeptieren mich doch nur richtig, wenn ich Erfolg habe. Ich vergesse das schon nicht, Ray. Ich hab gehört, wie du deiner Mutter einmal gesagt hast, du wirst mich zu einem Diamanten schleifen, damit sie stolz sein kann. Du würdest Potenzial in mir sehen.“
Seine Worte hatten Claire verdammt wehgetan.
„So ein Unsinn. Das hab ich so nie gesagt. Sie mögen dich wie du bist.“
„Dein Vater ja.“
„Hey, Claire, ich meinte es doch nur gut. Entschuldige!“ Zu gern hätte sie das geglaubt. Wie zufällig berührte er ihren Hals mit seinen Lippen und stöhnte leise auf. Dieses Mal bekam er sie damit herum. Das Kribbeln war eindeutig. Ray wusste genau, wie er sie letztendlich wieder weichkochen konnte.
„Ich liebe dich und ich liebe dich auch ungeschliffen. Das ist die ganze Wahrheit“, hauchte er ihr zu. Sie schloss die Augen und lächelte. Claire wollte ihm glauben. Sie wusste, er hatte den Drang seinen Eltern zu gefallen. Wie er oft sagte, hatte er ihnen eine Menge zu verdanken. Claire wollte keine Haarspalterei betreiben. Die paar Dinge, die Ray gelegentlich an ihr bemängelte und verändern wollte, waren im Grunde nicht der Rede wert. Jeder fand an einem anderen etwas, das ihm nicht in den Kram passte. Trotzdem kamen ihr unweigerlich die Bedenken, die ihre beste Freundin Jenny geäußert hatte, in den Sinn. Sie wurde nicht müde, Claire darauf hinzuweisen, dass Ray sie oft nicht würdig behandelte. Sofort verfrachtete sie diese Gedanken aber wieder in die hintersten Windungen ihres Gehirns. Er liebte sie und sie liebte ihn, sagte sie sich. Außerdem, wer konnte schon behaupten die perfekte Beziehung zu haben? Überall gab es mal Probleme. Das hatte sie unlängst auch zu ihren Eltern gesagt, als diese bei ihrem letzten Besuch seine manchmal ein wenig abgehobene Art rügten.
„Hauptsache du bist glücklich“, hatte ihre Mutter letztendlich gesagt, und ihr Vater hatte zugestimmt.
„Ich liebe dich auch!“, flüsterte Claire Ray zu und erhob sich, nachdem sie ihn gebeten hatte, ihr in fünf Minuten zu den Toiletten zu folgen. Er erwiderte nichts, aber sie war sicher, dass er sich das Angebot nicht entgehen lassen würde. Sie beeilte sich. Zudem wurde es längst Zeit, das Make-up und den Sitz ihres Dutts zu überprüfen. Ray liebte es, wenn sie das Haar hochgesteckt trug.
„Es lässt dich wie eine richtige Lady wirken und auch ein wenig streng. Der Kontrast zu deiner Güte und Zartheit macht mich ganz kribbelig“, hatte er einmal geflüstert.
Ray wartete, lässig an der Wand lehnend, im Flur zu den Toiletten. Das gedimmte Licht ließ sein Gesicht weicher erscheinen. Sein Anblick dämpfte Claires Unbehagen, das sich in ihrem Magen ausgebreitet hatte. Sobald sie greifbar für Ray war, zog er sie mit einem Ruck zu sich und wirbelte sie herum.
Rücklings drängte er sie an eine Tür und sich der Länge nach gegen sie. Ihre Blicke trafen sich, ihr Atem ging ruckartig. Doch Claires Leidenschaft wurde jäh von ihren Gedanken unterbrochen. Sie konnte nichts dagegen tun.
„Was, wenn ich kein Diamant werde, Ray?“, fragte sie leise, da presste er seine Lippen auf ihre, fest und ungestüm. Lieber wäre ihr gewesen, er hätte zuvor ihre Frage beantwortet.
Er zog sie ein wenig von der Tür weg. Die Hände suchten ihren Rücken und wanderten zu ihrem Po, während Claire mit ihren Gedanken kämpfte und sie ins Aus schießen wollte. Krampfhaft versuchte sie sich in den Kuss fallen zu lassen, da wich Ray zurück und sah sie mit einem Funkeln in den Augen an. Unweigerlich musste sie an Samu Boheme denken, besser gesagt an seinen Protagonisten, und erschrak.
„Ich will nie als Sexspielzeug enden“, sagte sie. Hatte sie das gerade laut ausgesprochen?
Ray verzog eine Gesichtshälfte und schüttelte den Kopf. „Nicht reden, Claire. Genießen.“ Dann riss er die Tür auf und lugte hinein. „Niemand da“, keuchte er und schob Claire in den Raum und weiter in eine der Toiletten. Für Claire bestand kein Zweifel, dass sein Gehirn im Moment allein von Testosteron beherrscht wurde. Er sperrte die Tür hinter ihnen ab. Seine Lippen pressten sich erneut auf Claires. Sie schnappte nach Luft. Hatte Ray vergessen, dass sie unter Platzangst litt?
„Du siehst zum Anbeißen lecker aus“, knurrte er und knabberte an einem ihrer Ohrläppchen. Sein schneller Atem ließ ihre Haut prickeln. Endlich fühlte sie wieder einen Anflug von Leidenschaft. Sie wollte nicht mehr denken, nur noch genießen. Reden konnten sie auch später. Er ließ seine Zunge ihren Hals entlangwandern, suchte mit den Händen ihre Brüste und knetete sie erst leicht, dann fester. Claire krallte sich an dem Gefühl fest, wollte es am liebsten an sich ketten, damit es nicht wieder verschwand. Ihre Körper drängten sich dem anderen entgegen. Claire wollte mehr fühlen, die Gedanken komplett ausschalten, aber es funktionierte nicht. Die Leidenschaft erlosch wieder. Normalerweise liebte sie den Sex mit Ray. Es musste an dem Raum liegen. Zudem kam jemand. Mädchenhaftes Gekicher drang zu ihnen.
Ray schien es anzutörnen. Er grinste Claire an und küsste sie dann erneut. Der Gedanke erwischt zu werden gefiel ihm offenbar. Das war eine neue Facette, die sie gerade an Ray entdeckte. Katherine wäre mit Sicherheit entsetzt, würde sie hiervon wissen. Claire schüttelte den Kopf und drückte Ray sanft von sich. Seine Brauen schoben sich zusammen. „Was ist?“, formte er wortlos mit den Lippen.
„Ich kann nicht. Verschieben wir es auf später, wenn wir daheim sind“, sagte sie leise.
Die jungen Frauen lachten, als hätten sie sie gehört. Ray blickte enttäuscht drein.
Als die Frauen weg waren, fragte er: „Hat es vielleicht doch mit dem super tollen Autor zu tun? Du musst lernen, die Arbeit im Büro zu lassen. Ich weiß, ich mach das auch nicht immer. Aber es ist besser. Und ich dachte, du wärst lockerer geworden.“
„Ich bin locker, Ray. Völlig, absolut. Ich fühl mich hier nur nicht wohl. Obwohl mich der Gedanke, es hier zu tun, anfangs durchaus gereizt hat. Das hat auch nichts mit Samu Boheme zu tun.“
„Aha!“, sagte Ray und richtete seine Krawatte, die er vorhin gelockert hatte. Seine Eifersucht nervte Claire zunehmend. Dennoch wollte sie nun nicht streiten. Er wich ihrem Kuss aus, was sie irritierte.
„Lass uns zurückgehen. Und besorg die verdammte Einladung. Ich will ihn auch kennenlernen. Außer du hast etwas dagegen?“, sagte Ray.
Seine Mimik duldete keinen Widerspruch. Um nicht Öl ins Feuer zu gießen, entgegnete Claire: „Ja doch, er bekommt eine ver… Einladung. Und nein, warum sollte ich etwas dagegen haben, dass ihr euch kennenlernt?“ Sie spitzte die Lippen. „Obwohl!“
Ray hob die rechte Braue.
Claire seufzte. „Ich schwöre, ich kenne ihn nur von seinen Zeilen her. Weiter nicht. Und jetzt werde ich über das Thema nicht mehr reden.“
Sie öffnete die Toilettentür. Davor stand eine alte grauhaarige Dame, die sie mit großen Augen musterte.
„Alles in Ordnung, Kindchen?“, fragte sie.
Claire wurde rot, nickte, räusperte sich und ging schnell weiter, gefolgt von Ray.
„Ich hoffe ihr habt verhütet, Kinder!“, rief die Dame ihnen hinterher, was Claire und Ray, wieder im Flur angekommen, leise lachen ließ. „Lass uns nicht streiten, Ray“, bat Claire danach inständig. Rays Mimik erweichte sich. „Okay“, sagte er dann und verkeilte die Finger einer Hand mit ihren.
Schwiegermütter
„Bist du noch dran?“, fragte Jenny, mit der Claire am nächsten Tag nach Feierabend telefonierte. Jennifer Garner-Jackson war nicht nur Claires beste Freundin, sondern ein weiblicher Fitness-Guru mit eigenem Studio in Brighton. Claire und Jenny kannten sich seit der Schulzeit. Auch ihre Eltern verstanden sich blendend mit denen von Claire. Jennys Eltern waren wie ihre Tochter sportbegeistert. Seit einem Jahr verbrachten sie ihren „Feierabend“, wie sie ihren „wilden Ruhestand“ nannten, auf einer spanischen Insel. Sie liebten es, abends zu tanzen und fast jeden Tag am Strand joggen zu gehen oder im Meer zu schwimmen. Claires Eltern hingegen bevorzugten die Ruhe.
Claire starrte auf den weißen Umschlag mit goldener Schrift, der die Einladung zur baldigen Benefiz-Gala enthielt, die Rays Eltern ihr gaben. Ihre zukünftige Schwiegermutter hatte ihn ihr gleich nach dem letzten gemeinsamen Abend zukommen lassen, um ihn an Samu Boheme weiterzuleiten. Claire war heilfroh, dass Ray den Autor nicht mehr erwähnt hatte.
„Erde an Claire!“, rief Jenny.
Schnell nahm sie den Umschlag und verstaute ihn in der untersten Schublade ihres Nachttischchens.
„Es war ein anstrengender Tag heute, was nicht nur an der Sommerhitze lag. Olivia fragte mich dauernd nach meiner Meinung zu dem Skript, die sie mir zeitgleich aber in den Mund legte. Ich kam nicht einmal zu Wort. Sie ist nach wie vor hin und weg. Ich könnte es langsam Besessenheit nennen.“
Wie so oft hatte Claire Jenny in die Erlebnisse ihres Lebens eingeweiht. Im Grunde waren sie Schwestern. Als Kinder hatten sie sogar einen Bluteid auf ihre Freundschaft geschworen.
„Und dieser Autor? Hat er sich nun schon gemeldet auf deine letzte Mail hin?“, wollte Jenny wissen.
Claires Magen grummelte, wenn sie daran dachte. „Nein. Ich hoffe, er ist nicht sauer, sondern denkt darüber nach.“
Jenny lachte. „Das kann bei Männern bekanntlich schon mal ein wenig länger dauern.“
Ihre Worte brachten Claire zum Schmunzeln. Ray wusste immer sofort, was er wollte. Zudem war er durch und durch Geschäftsmann. Erst gestern hatte er wieder einen großen Deal mit amerikanischen Großkunden abgeschlossen, wie er ihr und seinen Eltern überaus ausladend mitgeteilt hatte.
„Also Süße. Ich will noch eine Runde joggen und dann schlafen. Und wir beide treffen uns morgen in der Mittagspause zu einem Kaffee in Jerrys Café-Lounge. In Ordnung? Ist Ray noch unterwegs?“
„Ja, er macht mal wieder Überstunden. Zusammen mit seinem Vater. Du weißt doch, der kann auch nie ganz loslassen. Das mit dem Kaffee geht klar. Schlaf gut.“ Claire spitzte die Lippen zu einem Abschiedskuss.
„Scheint gegenüber seiner Frau anders zu sein“, bemerkte Jenny spitz. Claire verdrehte die Augen. „Ray liebt mich, wie ich bin.“ Bestimmt war es so. Nein, sicher ist es so.
„Ist schon gut, Süße. Ich wünsch es dir.“
„Ich weiß. Kann nicht jeder einen Volltreffer landen wie du mit Val.“
„Ah, dann höre ich doch Bedenken?“
„Nein!“, erwiderte Claire, wurde aber wieder nachdenklich und beendete das Gespräch mit einem „Gute Nacht!“.
Jenny sagte immer offen, was sie dachte. Sie war Claires Fels in der Brandung, der schon so manche heranschwappende Sturmwelle aufgehalten hatte. Sie erdete sie. Claire wollte gerade das Handy weglegen, da rief ihre Mutter an.
„Wie geht es dir und Ray?“, fragte sie. „Gut, alles bestens“, gab Claire zurück und unterdrückte ein Gähnen. Das Lektorat der ersten Kapitel von Bohemes Werk, bei dem sie bei fast jedem Satz einen Kommentar einfügen musste, dazu Olivias Nachfragerei, hatten sie geschlaucht.
„Schön“, gab Eva Winston zurück und fügte „liebe Grüße von Dad“ an.
„Danke! Sag ihm auch liebe Grüße.“
„Wir sind so stolz auf dich. Ray hat uns schon erzählt, dass du nun Lektorin eines Bestsellers und auf dem besten Weg zur Beförderung bist. Aber nicht nur deswegen sind wir stolz. Das weißt du.“
Claire staunte. „Er war bei euch?“
„Ja, Ray hatte vormittags einen Termin in der Nähe. Er brachte auch Kuchen mit. Adam hat sich gleich darauf gestürzt. Du kennst deinen Vater doch. Im Alter wird das mit der Naschsucht bei ihm immer schlimmer. Sein Bäuchlein formt sich langsam zu einer Kugel.“
Claire lachte leise. Ray fand es lustig, dass ihre Eltern Adam und Eva hießen. Ihrer Meinung nach hatten sie daher von ihren Eltern gleich den Segen für die Heirat bekommen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das erzählten sie zu gern. Claire fand es beneidenswert. „Ich glaube“, sagte Eva dann, „Ray ist sogar ein wenig eifersüchtig auf deinen Autor.“
„Das ist Unsinn. Ich kenne den Autor nicht mal persönlich.“
„Ein bisschen Eifersucht schadet nie. Wenn sie nicht übertrieben ist. Du kennst den Autor also nicht persönlich? Ich lese ja keine Thriller. Aber wenn er nun eine Romance schreibt, wie Ray erzählt hat, dann möchte ich diese schon lesen. Du weißt, ich liebe alle Bücher, bei denen du mitgewirkt hast. Die gute liebe Katherine ist auch schon so gespannt auf das Buch.“
Wenn die Eifersucht nicht übertrieben war, wiederholte Claire für sich.
Da konnte sie nicht widersprechen.
„Ray wollte wissen, ob wir mehr wissen. So kam es uns vor.“
Claire schluckte trocken.
„Du meinst, er wollte euch mit Kuchen und seinem Charme bestechen?“, fragte sie dann.
„Ich sagte nur, es kam uns so vor.“
Im Hintergrund hörte sie ihren Vater. „Gib mal her, Eva … Claire, hör mal, Ray war nett. Er macht sich halt Gedanken um dich. Nicht mehr und nicht weniger. Alles gut also.“
Ihr Vater hielt also zu Ray, hörte sich aber dennoch unsicher an.
„Gedanken darf ich mir als Mutter auch machen, Adam“, erwiderte Eva und nahm den Hörer des Telefons wieder an sich.
„Sag Ray nicht, dass wir ihn verpetzt haben, Claire.“
„Du hast ihn verpetzt, Eva“, erinnerte Adam sie.
„Streitet deswegen bloß nicht. Das ist es nicht wert“, erwiderte Claire.
„Keine Sorge. Du kennst uns alte Knochen doch.“
„Ihr seid doch nicht alt, Mum.“
„Fast siebzig immerhin. Ich hab dich lieb, Süße.“
„Ich dich und Dad auch“, sagte Claire. Es kränkte sie langsam, dass Ray ihr so wenig vertraute. Sie fragte sich, warum. Er wurde doch nie betrogen, zumindest soweit sie wusste. Vielmehr hatte er damals zwei Freundinnen sitzen lassen, die sich eine Verlobung mit ihm erhofft hatten. Das hatte er ihr nie erzählt, aber Jenny hatte es herausgefunden. Als Claire ihn einmal danach gefragt hatte, hatte er das Thema mit dem Satz „Es hat eben nicht gepasst.“ abgespeist.
Nachdem Claire aufgelegt hatte, ging sie zur Fensterfront ihres großzügigen Schlafzimmers. Das weiße Flachdach-Haus mit der umlaufenden Veranda, in die ein ovaler Swimmingpool eingelassen war, lag unweit des Brighton Piers. Ray hatte es sich vor fünf Jahren mit einem großzügigen Zuschuss seiner Eltern gekauft. Die Zimmer waren geräumig, modern und hell eingerichtet. Auf Schnickschnack, wie Ray es nannte, wurde verzichtet. Den hatte sich Claire, die genau das früher gerne mochte, abgewöhnt. Nun setzte sie wie er auf schlichte Eleganz. Sie öffnete ihren Dutt und ließ ihr langes blondes Haar über die Schultern fallen. Von draußen ertönte Möwengekreische. Brighton war nicht nur schön, es war auch ein toleranter und freisinniger Ort. Ein Magnet für Prominente, Querdenker und Leute, die voller Lebenslust waren. Kurz überlegte Claire, einen Spaziergang am Strand zu machen, aber es war kalt draußen und es fröstelte sie bereits im Haus. Selbst jetzt im August stiegen die Temperaturen in Brighton meist nicht über 21 Grad. Sie rieb sich die Oberarme und zog sich eine Strickjacke über. Keinesfalls wollte sie nun krank werden.
Sie erinnerte sich an etwas, das Jenny einmal gesagt hatte: „In Brighton kann man Machos sofort an ihrer Kleidung erkennen, weil sie ganzjährig mit T-Shirts am Strand herumlaufen.“
Claires Gedanken tauchten weiter in die Vergangenheit ab. Sie war so aufgeregt gewesen, als Ray sie damals, nachdem sie ein paar Monate zusammen waren, gefragt hatte, ob sie aus ihrer kleinen Wohnung ausziehen wollte, die sie während ihres Studiums bewohnt hatte. Seitdem versuchte Claire, sich hier zu Hause zu fühlen, was ihr mit jedem Tag besser gelang. Sogar an die Sterilität, die schnörkellose und daher eher kühle Eleganz gewöhnte sie sich. Ihre Eltern hatten damals nie verstanden, warum sie sich überhaupt eine eigene Wohnung genommen hatte. Sie wollte selbstständiger sein und freier. Was nicht bedeutete, dass Claire ihre Eltern nicht liebte oder sie ihr auf die Nerven gegangen waren, obwohl das sicher manchmal der Fall war.
Jenny erinnerte sie gerne daran. Claire glaubte, dass Ray ihr dieses erlangte Ziel mehr und mehr enteignen wollte. Gedanken-Stopp! Sie schüttelte den Kopf und ging zu ihrem und Rays Bett zurück. Als sie sich hingelegt und die silbergraue Satindecke bis zum Kinn gezogen hatte, vermeldete ihr Handy eine Kurznachricht von Ray:
Wird sicher nach Mitternacht. Aber die Vorarbeiten lohnen sich. Dad ist auch noch da. Kennst ihn ja. Kuss, Ray. Schlaf gut. Du bist doch schon im Bett?
Sie antwortete ihm sogleich:
Ja. Denke an dich und liege dabei in unseren Federn. Nur du fehlst. Mach nicht mehr so lange. Hdl
Claire hätte Ray viel lieber neben sich gehabt, wollte aber keine Zicken machen. Partnerschaft bedeutete für sie, dem anderen seine Freiheiten zu lassen. Das musste Ray umgekehrt noch lernen. Sie wollte zuversichtlich bleiben. Jenny glaubte nicht daran, dass er dies je schaffen würde. Gut, Ray war speziell in Sachen Kontrolle. Er versäumte es nie, jeden Tag öfters nachzufragen, wo sie war und was sie machte. Selbst dann nicht, wenn er es genau wusste. Claire seufzte und schloss die Augen. In dieser Nacht träumte sie von Mr. Boheme. Er tauchte als dunkle Silhouette auf, die durch einen menschenleeren Park huschte. Claire fröstelte, als sie ihm durch aufziehende Nebelschwaden folgte. Fieberhaft versuchte sie ihn zu erreichen und ihm die weiße Maske, die er trug, vom Gesicht zu reißen.
„Ich mag keine frigiden Frauen“, rief er ihr zu.
„Ich bin nicht frigide. Was bildest du dir ein, du Freak.“
Er lachte dunkel. „Freak? Weißt du, mit wem du redest?! Ich bin ein bedeutender Schriftsteller.“
Claire riss den Mund auf. Was für ein eingebildeter Zeilenmacho, durchfuhr es sie. Sie bemerkte, dass sie nicht von der Stelle kam. Ihre Füße sanken in den Asphalt des Parkweges ein und blieben stecken. „Das kann schneller vorbei sein, als du denkst. Nämlich dann, wenn man seine Fans enttäuscht, gar vor den Kopf stößt. Du weißt, was ich meine, Samu!“, rief sie Boheme nach. Unbeirrt setzte er seinen Weg fort. Die Nebelschwaden folgten ihm. Claire sah ihm nach. Im Schein des Vollmondes sah Mr. Boheme sportlich aus und besaß breite Schultern, zudem war er groß.
„Du wirst dir an mir die Zähne ausbeißen, du kleine Lektorin, deren Namen keiner kennt!“, brüllte er und sein Atem entstieg in die Nacht.
Claire rang nach Luft und begann mit den Armen zu rudern. Da blieb Boheme stehen, wandte sich nach ihr um und begann zu lachen. So laut, dass es ihr in den Ohren schmerzte.
Doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihm ihre Meinung entgegen zu spucken, es gelang ihr nicht. Stattdessen drangen Seifenblasen aus ihrem Mund, die eine nach der anderen vor ihren Augen zerplatzten.