Kapitel 1
Es ist eigentlich ganz einfach, jemanden zu töten. Man muss nur die Nerven dafür haben. Na gut, in einer perfekten Welt auch noch einen Plan. In einer perfekten Welt würde man sich von Hitchcock inspirieren lassen und einen Fremden umbringen – vielleicht den Mann, der einem im Zug gegenübersitzt, oder die Frau, die im Park mit ihrem Hund spazieren geht. Aber dann müsste man schon Robert Walker sein – und der ist trotz all seiner Planung nicht davongekommen.
Aber dies ist auch keine perfekte Welt, nicht wahr? Und es heißt, jeder Mann tötet die Person, die er am meisten liebt – keinen Fremden. Das ist Filmen und Serienmördern vorbehalten. Die meisten von uns, wenn wir denn überhaupt töten – und das Potenzial steckt in jedem von uns – dann jemanden, den wir kennen. Und wir tun es aus einem Grund.
Da war ein Opfer, an diesem düsteren Dienstag im Mai. Die Frau schlenderte durch die dunklen Gänge, die sich über die gesamte Breite des Gebäudes zogen, und suchte nach dem Kopierraum. Wären Sie dort gewesen – und vielleicht ist es besser, dass dem nicht so war – wäre Ihnen aufgefallen, dass sie klein war, recht pummelig, und glatte, dunkle Haare hatte. Es waren diese glatten, dunklen Haare, auf die es ihr Mörder abgesehen hatte. Sie bog nach links um die Ecke. Schade eigentlich, denn zum Kopierraum wäre sie durch den rechten Flur gelangt. Wie auch immer. Hier hatte ihr Mörder gerade genug Licht aus dem Treppenhaus, um zu sehen, was er tat. Sie sah ihn nicht und hörte ihn nicht, bis es schon zu spät war. Sie konnte nicht einmal den verdammten Lichtschalter finden.
Er hatte sie erwischt, kurz vor der Mittagszeit, mit einem vernichtenden Schlag, horizontal gegen den Kopf. Unter dem langen, dunklen Haar war ihr Scheitelbein geborsten und der größte Splitter hatte sich in ihr Hirn gebohrt. Sie war zusammengesunken und auf die Knie gegangen, und dabei hatte er noch einmal auf sie eingeschlagen. Beim dritten Mal hatte ihre Schädeldecke nachgegeben und Blut war ihr wie eine schaurige, scharlachrote Maske übers Gesicht geronnen.
Für einen kurzen Moment stockte ihm der Atem. Sie starrte ihn an, mit offenem Mund und ausgestreckten Armen. Er fragte sich regelmäßig, ob sie ihn hatte sehen können, mit all dem Blut und dem Hirntrauma. Vermutlich ja, denn sie hatte versucht zu sprechen. Vielleicht hatten die kehligen, erstickten Laute, die ihr über die Lippen kamen, für sie einen Sinn ergeben. Sie hatte mittlerweile aus der Nase geblutet und ihr ganzer Körper hatte gebebt, wie bei einer Wespe, die man im Sommer tötet.
Er hatte also noch einmal zugeschlagen. Er hätte sie ja nicht so dort zurücklassen können, oder? Was hätte sie sich noch erhoffen können, wenn er gegangen wäre? Ein paar Wochen oder Monate, während der sie in irgendeinem grauweißen Krankenhauszimmer an einer Maschine hing? Mit Krankenschwestern, die sie aufsuchten, aber als Teil der Einrichtung betrachteten, bis jemand entschied, die Maschine abzuschalten? Das war doch kein Leben. Dieses Mal hatte er beide Hände benutzt und ihre Stirn demoliert, bis ihr lebloser Körper nach hinten gesunken und die Arme nutzlos an ihre Seiten gefallen waren.
Und dann war die Sache mit der Planung zur Geltung gekommen. Beziehungsweise der Mangel derselben. Wie entledigte man sich eines knapp sechzig Kilo schweren Menschen, dessen Blut sich wie eine Pfütze auf den Fliesen des Flurs ausbreitete? Und wenn man dafür einen Ort gefunden hatte, eine kleine Nische, ein Versteck vor dem Rest der Welt, was dann? Wischte man einfach den Boden, die Wände und den schweren Gegenstand sauber und machte weiter, als wäre nichts passiert? Konnte es wirklich so einfach sein?
***
Es heißt, dass sich jeder noch daran erinnern kann, wo er oder sie an diesem Tag war. Es war eines dieser folgenschweren Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts – ein Anblick des Grauens, der sich jedem ins Gedächtnis brannte, der ihn miterlebt hatte. Als wäre die Zeit für diese neun Sekunden stehengeblieben. Und die Kreise, die das zog – die Wellen im dunklen Wasser des Lebens – breiteten sich unaufhaltsam aus.
Eine der Ersten, die es mitbekam, war Margaret Vincent, die auf den grünen Bildschirm ihres Textverarbeitungsprogrammes schaute und zum x-ten Mal auf das Memo des Schulleiters blickte, um es zu entziffern. Sie schwor hinterher, dass die Begonien auf dem Regalbrett über ihr gezittert und gebebt hatten und der Mauszeiger in seiner Panik vom Bildschirm gesprungen sei. Wahrscheinlich hörte und spürte Heather Robotham dasselbe Beben. Sie war auf einem dieser Botengänge, die man Schülersprecherinnen manchmal anhängte, nur um sie daran zu erinnern, dass ihr Posten, der ganz ohne Privilegien daherkam, auch Pflichten mit sich brachte. Und ihr Botengang führte sie gerade am Büro des Schuldirektors vorbei, als es ernst wurde und die Welt stillstand. Sie hielt es für sinnvoll, zügig weiterzulaufen.
‚Doc‘ Martin, der Hausmeister der Schule, war ebenfalls auf einem Botengang. Erstaunlich, wie leicht es war, beschäftigt auszusehen, wenn man ein Klemmbrett in der einen Hand und einen Schraubenzieher in der anderen hielt. Er hatte gerade daran gedacht, auf seine Uhr zu schauen, nur wenige Sekunden bevor er es hörte. Neun Uhr achtundzwanzig. Bald war es zehn – dann stand eine willkommene Teepause an. Wo hatte er nur seinen Wasserkocher gelassen? Er hatte Heather gesehen, ein straffer, kleiner Po, der vor ihm den Flur entlangschaukelte. Es hatte nicht viele Vorteile, in den Neunzigern Hausmeister an einer Schule zu sein, doch Oberstufenschülerinnen zu begaffen war einer davon, und wenn man bedachte, dass Mrs. Martin dieser Tage so verlockend war wie eine Schulpizza, würde er sich damit zufriedengeben.
Anders als Heather Robotham jedoch, war er unverschämt genug – und hatte die Zeit –, um an der Tür des Schuldirektors zu lauschen. Falls jemand vorbeikäme, könnte er einfach schnell den Türrahmen inspizieren, um nach diesen verdammten Ameisen zu suchen. Die Türen in der Leighford High School waren nicht allzu solide – Furnier und Pappe, um Geld zu sparen, jetzt da die Schule für ihre Finanzen selbst verantwortlich war –, daher konnte er das meiste mithören.
„GNV was, Direktor?“ Martin erkannte die laute Stimme von Peter Maxwell, Leighfords Leiter der Oberstufe, ein mürrischer, alter Mistkerl, der aussah, als würde er schon seit hundert Jahren unterrichten.
„Jetzt kommen Sie schon, Max.“ Der Hausmeister hörte, wie sein Schuldirektor den anderen Mann zu überreden versuchte. Es war ein Freitag und das Schuljahr war sechs Wochen alt. Für James Diamond war dies die schlimmste Kombination. Die Schonzeit war vorüber. Die Leute waren aber auch noch nicht in der nachsichtigen, goldenen Stimmung zum Ende des Halbjahres angekommen, und freitags wurde die allgemeine Reizbarkeit stets zur Kunstform erhoben. „Roger hat Sie im vergangenen Schuljahr schon darüber unterrichtet.“
Peter Maxwell hatte einen recht sonderbaren Violettton angenommen, der in starkem Kontrast zu seinem eisengrauen Backenbart stand. Er hob fragend eine Augenbraue. „Ich fasse mich kurz, Schuldirektor. Falls Ihr glorreicher zweiter Stellvertreter das erwähnt hat, dann bin ich, um Trevor Howard in der Attacke der leichten Brigade zu zitieren, ein türkischer Esel. Glauben Sie mir – es werden Stellvertreterköpfe rollen.“
Jim Diamond schaute seinen Leiter der Oberstufe an. Es war ein wenig, als würde man die Medusa anschauen – Maxwells drahtiges Haar sah ein wenig nach zusammengerollten Schlangen aus. Nicht, dass dieser Gedanke Diamonds klassischer Ausbildung entspränge, da er das Pech hatte, Biologe zu sein. Nein, er hatte einmal Kampf der Titanen gesehen, und das Bild von Ray Harryhausens abstoßendem Monster war ihm in Erinnerung geblieben.
„Roger kümmert sich um sämtliche INSET-Vorschriften“, sagte der Schuldirektor geduldig, „und GNVQ steht uns bevor, Max, ob es uns gefällt oder nicht.“
Maxwell musterte die Gestalt auf der anderen Seite des Schreibtisches, wie er es in den vergangenen Jahren schon so oft getan hatte. Der Schreibtisch selbst war wie immer leer – ein Zeichen für einen Mann, der delegierte. Und wie immer grinsten die entsetzlich blonden Kinder mit ihren Hasenzähnen ihren Vater aus billigen Bilderrahmen an, als müsste die Welt so daran erinnert werden, dass der anonyme Mistkerl an der Spitze in seinem grauen Anzug auch ein Mensch war.
„Und wer leitet in meiner Abwesenheit die Oberstufe?“, fragte Maxwell.
„Nun, ich weiß, dass es schwierig wird, da Alison im Mutterschutz ist, aber ich dachte … vielleicht … Deirdre?“
Jim Diamond hatte Maxwells Knöchel noch nie derart weiß werden sehen; nicht einmal, als ihn die Schulinspektion als Dinosaurier bezeichnet hatte. Noch bizarrer war nur die Tatsache, dass sich Maxwells Mund öffnete, ohne Geräusche zu produzieren.
„Deirdre?“, rang der Leiter der Oberstufe schließlich seinen Stimmbändern ab. „Sie drohen mir – meiner Oberstufe – mit Deirdre Lessing, der Aussätzigen von West Sussex?“
„Also, Max …“
„Tut mir leid, Direktor“, Maxwell lehnte sich zurück und hielt sich mit beiden Händen an der Vorderseite seines Hemdes fest, „aber das steht außer Frage.“
„Mr. Maxwell …“ Der Wurm Jim Diamond war wieder zurückgekehrt, wie er es einmal pro Schuljahr tat, wenn er bis zur Unerträglichkeit gedrängt wurde. „Weiterbildungen gehören mittlerweile fest zum Leben eines Lehrers. Sie wurde ordnungsgemäß, wenn vielleicht auch etwas verspätet, von Roger Garrett in die Wege geleitet, da das zu seinen Aufgaben gehört. Diese Schule muss im September mehr Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe locken, wenn sie fortbestehen soll. Und dafür müssen wir uns des General-National-Vocational-Qualification-Pakets annehmen. Jemand muss dieses Projekt leiten, und dieser Jemand sind Sie, Mr. Maxwell.“
Dieser ganze Vortrag war in einem Atemzug gehalten worden, beinahe so wie sich Pat O’Brian und Jimmy Cagney in den Dreißigern und Vierzigern miteinander unterhielten – mit zweihundert Wörtern pro Minute. Maxwell ging auf, dass Diamond es nicht gewagt hatte, Luft zu holen, aus Angst davor, dann nicht mehr den Mumm zum Fortfahren zu haben.
„Verstehe“, sagte er, während er seine Finger aneinanderlegte und sich damit gegen die Unterlippe tippte. „Nun, was kann ich schon dagegen einwenden, wenn ich wieder einmal unersetzlich bin, für das Streben der Leighford High nach akademischer Exzellenz?“
„Es ist nur für eine Woche, Max.“ Diamond war in sich zusammengesunken und zitterte innerlich. Er konnte es gar nicht glauben. Er hatte ‚Mad Max‘ in einer direkten Konfrontation gegenübergestanden und der alte Mistkerl hatte ihm nicht die Kehle durchgebissen. Vielleicht gab es doch einen Gott.
„Und Deirdre?“ Maxwell durchbohrte den Schuldirektor mit dem Blick eines Basilisken. So sehr er es auch wollte, Jim Diamond konnte sich nicht regen. Er hatte eine Runde gewonnen, oder glaubte das zumindest. Eine weitere würde er nicht riskieren.
„Oh, ich werde die Sache im Auge behalten“, lenkte er nervös ein, „mit Deirdre, meine ich. Wie viel Schaden kann sie schon in einer Woche anrichten, Max?“
Maxwell lächelte und hob seinen gebrechlichen, alten Körper von Diamonds knorrigem Sitzmöbel. „Entfesselt“, sagte er, „hätte diese Frau an einem Tag das gesamte römische Imperium zerlegen können.“ Er hielt an der Tür inne, als der Rektor sagte: „Ich verspreche Ihnen, Max, dass es keine Veränderungen geben wird.“
Maxwell wandte sich auf seiner hohen Warte in Sachen IQ und Jahrhunderten der Kultur zu ihm um und lächelte erneut. „Ach, Direktor, Geschichte ist immer Veränderung. Aber Deirdre Lessing unterrichtet bloß Betriebswirtschaftslehre, also werden wir schon zurechtkommen, oder?“
***
Lieutenant John, der Viscount Fitzgibbon, drehte sich auf dem Plastiksattel seines Plastikstreitrosses um und betrachtete mit seinem einen guten Plastikauge die halbfertige Linie von Kavalleristen hinter ihm. Unter einem Streich von Maxwells Pinsel nahm das Gesicht des Lieutenants eine menschlichere Hautfarbe an; in starkem Kontrast zu seinem weißen Tschako und der weißen Jacke.
„Was glaubst du, ist dem hier widerfahren, Fürst?“, fragte Maxwell, während er die Augen zusammenkniff, um die Hände zu bemalen. „Augenzeugen berichteten, dass er von zwei Kugeln in die Brust getroffen wurde, kurz nachdem sich die Brigade in Bewegung gesetzt hatte. Allerdings kursiert auch die Geschichte“, er steckte sich den Pinsel zwischen die Zähne und schob die Degenscheide ein wenig nach oben, sodass sie lässig an Fitzgibbons linkem Bein lag, „dass er überlebt habe, von den Russen gefangengenommen wurde und 1870 nach Hause zurückkehrte. Trotz der Aufforderungen in verschiedenen Zeitungen hat er sich jedoch nie zu erkennen gegeben. Was meinst du, Fürst, warum das?“
Fürst Metternich lieferte wie üblich weder Lösung noch Erkenntnis. Als potenziell rolliger Kater, dessen Herrchen einen aber von einem sadistischen Mistkerl im weißen Kittel kastrieren ließ, ließ man besagtes Herrchen dann gerne links liegen. Der Zucken des rechten Ohres war alles, was Maxwell verdient hatte, und mehr bekam er auch nicht.
„Vielleicht konnte er seine Ehefrau nicht leiden.“ Maxwell malte den Plastikhelden weiter an. „Vielleicht hat es ihn sogar zutiefst verärgert, als die Russen ihn freiließen. Was meinst du?“
Nichts.
Maxwell schaute zu dem temperamentvollen Kater, der sich auf dem Wäschekorb zusammengerollt hatte und träge den Schwanz schwenkte, als wäre er von Maxwells ständigen Fragen genervt.
„Na ja“, Maxwell verfiel in seine Mandy-Rice-Routine aus den Sechzigern, „natürlich sagst du das. Oh, Scheiße!“
Die Türklingel riss ihn aus seinen Träumereien. Und Christine Keelers Sidekick, die sechzehnjährige, blonde, üppige Tänzerin, lächelte ihn wieder aus den verblassten Zeitungen seiner Erinnerung an, während er Fitzgibbon vorsichtig im hinteren Teil der linken Schwadron der 8th Hussars abstellte. Während er sich den Pinsel hinters Ohr klemmte und zur Treppe lief, fragte er sich, warum immer dann jemand klingelte, wenn er gerade mit der Arbeit angefangen hatte. An der Luke zu seinem Loft hielt er inne und betrachtete wie so oft das Panorama, an dem er jetzt seit beinahe vierzehn Jahren arbeitete – Cardigans Leichte Brigade, die an diesem schicksalhaften Oktobernachmittag Aufstellung bezogen hatte und bereit war, eine Legende zu schaffen, indem sie ins Tal des Todes ritt. Kurz fiel sein Blick auf Lord Cardigan, der ungeduldig auf seinem Fuchs Ronald saß, mit einer Hand an der Hüfte, als wolle er sagen: „Ich warte, Mr. Maxwell. Meine Brigade kann nicht ohne Sie losreiten.“
„Ja, ja“, murmelte Maxwell, „sobald ich kann. Scheiße!“ Er stieß sich den Kopf an der Luke an, als er hinunterstieg. Mit finsterem Blick musterte er den Wäscheberg, der vernachlässigt in der Ecke lag. „So viele Unterhosen“, seufzte er, „so wenig Zeit.“
Es klingelte erneut. „Ja, ja, schon unterwegs. Ich habe hier vier Stockwerke zu bewältigen.“
Durch das dicke Glas in seiner Haustür, hinter der der violette Sonnenuntergang eines Maitages dem künstlichen orangeroten Licht der Straßenlaternen wich, konnte Maxwell krauses, blondes Haar und einen grünen, unförmigen Körper ausmachen.
„Sally Greenhow.“ Er öffnete ihr. „Du bist gekommen, um mich zu verführen. Wie schön.“
„Für dich könnte es das sein“, sagte sie und schob sich an ihm vorbei. „Max, ist das da ein Pinsel hinter deinem Ohr, oder freust du dich nur, mich zu sehen?“
„Ah.“ Er nahm das Ding aus seinen drahtigen Locken. „Da habe ich ihn hingetan. Geh nur nach oben, oh weise Nummer zwei des Sonderschulbereichs. Kaffee ist links, Southern Comfort rechts. Mach mit mir, was du willst.“
„Ich gehe nach rechts“, rief sie zu ihm hinunter, „und hör auf, mir unter den Rock zu schauen, du verzogener, alter Lümmel.“
„Gott bewahre.“ Maxwell gab sich aufgebracht und hielt sich eine umgedrehte Hand vor die Stirn. „Ich werde sofort in einen Bungalow umziehen.“
Sie stand in seiner Lounge herum, während er ihnen beiden an dem Barschrank aus der Arts-and-Crafts-Bewegung Southern Comfort einschenkte. Sie ließ sich auf sein Oxfam-Sofa fallen und verschwand beinahe in der ausgesessenen Mitte.
„Ich schau dir in die Augen, Kleine“, schnurrte er mit seiner besten Bogart-Imitation. Und er tat es auch. Und sie schaute ihm auch in die Augen. Sally Greenhow hatte sich seit achtundzwanzig Jahren nicht verändert. Und sie war beinahe neunundzwanzig. Alt genug, um Maxwells Tochter zu sein. Ihr Gesicht war rund und weich, sie hatte große, blaugraue Augen und zwei perfekt passende Grübchen. Maxwell fragte sich wieder einmal, ob sie nach Babyöl roch, doch bei diesem Gedanken wurden in seinem Verstand wieder Stimmen laut, die ihn als verzogenen, alten Lümmel bezeichneten, und er setzte sich ihr gegenüber.
Sie hob ihr Glas, um auf seinen Toast zu antworten. „Mögen all deine Ofsteds erfolgreich sein“, sagte sie.
„Ah.“ Er strahlte. „Du hast also schon davon gehört.“
„Ja.“ Sie nickte. „Nächstes Schuljahr, das steht endgültig fest. Wir sollen von einem Dutzend Ofsted-Inspektoren begutachtet werden, in der dritten Woche, oder etwas in dem Dreh.“
„Na prima!“ Maxwell klatschte in die Hände, achtete aber darauf, vorher seinen Drink abzustellen, und trommelte dann mit den Füßen auf den nachgemachten Berberteppich.
„Das bedeutet Lehrpläne, Max“, warnte Sally, „aber die hast du bestimmt schon alle parat.“
„Meine Liebe“, Maxwell überschlug die Beine so weit, wie ihm das seine dreiundfünfzig Jahre noch erlaubten, „ich habe in einunddreißig Sommern noch keinen Lehrplan aufgestellt. Und wenn Ofsted mich dazu zwingen will, können sie sich das sonst wohin schmieren. Entschuldige meine Ausdrucksweise.“
„Ach“, sie machte eine wegwerfende Handbewegung, „du wirst schon durchkommen. Irgendwas von Scheiße und Geld.“
„Ich dachte, das wäre eine Popgruppe.“ Maxwell legte die Stirn in Falten. „Kommen wir zum Geschäft. Du bist gewiss nicht hier, um mich vor Ofsted zu warnen; oder um große Mengen meines Southern Comfort zu trinken. Und“, seufzte er, „Ich werde mich wohl auch damit abfinden müssen, dass du es nicht auf meinen Körper abgesehen hast. Also …“ Er sah, wie sie in ihrer großen Handtasche nach ihren Zigaretten suchte. „So schön es auch ist, eine Kollegin zu sehen, der ich noch vor …“ Er schaute auf die große Uhr. „… fünf Stunden eine Verabschiedung zugegrunzt habe; ich vermute Hintergedanken.“
„Du hast mich durchschaut!“ Sie schnippte mit den Fingern. Maxwell war beeindruckt. Das konnten nicht alle Frauen. Mit einem gekonnten Schlenker seines Pantoffels schob er einen gläsernen Aschenbecher unter seinem Sessel hervor. „Nein, ich will schon seit einer Weile mit dir über diese INSET-Sache sprechen.“ Ihr Gesichtsausdruck erhellte sich kurz.
„Ruf mir doch noch einmal kurz ins Gedächtnis“, sagte Maxwell, ohne eine Miene zu verziehen, „wofür dieses recht alberne Akronym steht.“
„Es ist nicht ganz ein Akronym“, sagte sie ihm und sog scharf Luft ein. „Es steht für In-Service Training – Weiterbildungen … Max, du verdammtes Arschloch!“ Sie warf eines seiner Kissen nach ihm. Sie war ihm schon wieder auf den Leim gegangen. Warum passierte ihr das nach all den Jahren, die sie Mad Max Maxwell schon kannte, immer noch?
„Also schön“, gluckste er. „Was ist los?“
Nein, sie würde nicht sagen ‚Alles, was nicht fest ist‘, wie es der Puppenspieler von ihr verlangte. Auf ihre Weise liebte sie den alten Maxie, aber bei Gott, manchmal war er auch ein nervenaufreibender Mistkerl. „Nächsten Freitag“, sagte sie, „also übermorgen.“
„Sehr gut“, merkte Max an. „Dann kommst du in der Sonderschule voran?“
„Es heißt, Förderschule, Mr. Maxwell“, entgegnete sie. „Versuchen Sie, mit den Begriffen mitzuhalten.“
„Ups“, sagte Maxwell. „Verzeih mir. Dafür gehe ich bestimmt in die Hölle.“
„Wir müssen am Freitag dort sein. Bis spätestens zwölf Uhr mittags. Hast du den Wisch nicht bekommen?“
„Oh, vermutlich schon“, sagte er. „Aber du weißt, wie das läuft. Vermutlich liegt er irgendwo in meinem Posteingangskorb, unter Anfragen für Empfehlungsschreiben und Zeugnissen aus dem vergangenen Schuljahr. In der Büroarbeit ist es nicht selten, dass etwas obsolet wird, wenn man es lange genug im Eingangskorb liegen lässt, und man es dann wegwerfen kann. Was genau sollen wir dort tun?“
„Na ja, wir müssen spätestens um zwölf am Carnforth Conference Centre sein. In die Zimmer einchecken, Mittagessen, Kennenlernrunden und dann ans Eingemachte, wie man so schön sagt.“
„Ja.“ Maxwell rieb sich nachdenklich das Kinn. „Was genau ist das Eingemachte der GNVQ?“
„Das werden wir wohl herausfinden“, sagte Sally. „Ich bin eigentlich vorbeigekommen, um dir eine Mitfahrgelegenheit anzubieten.“
„Eine Mitfahrgelegenheit?“
„Na ja, du wirst ja wohl kaum mit dem Rad hinfahren, oder?“ Ihre Augen wurden groß. „Gütiger Himmel, Max, das sind über einhundert Kilometer.“
„Kent, nicht wahr?“
„Genau.“
„Der Garten Englands.“
„Bevor du zu poetisch wirst: Es liegt direkt an der A259.“
„Und was schlägst du dann vor?“
„Na ja, wie wäre es, wenn ich dich abhole? Sagen wir, um zehn?“
„Zehn ist gut.“ Maxwell nickte. „Was sagt Alan dazu?“
„Oh“, ächzte Sally. „Mein lieber Ehemann steckt bis zum Hals in irgendeiner lebenswichtigen Vertragsverhandlung oder so etwas. Ich habe ihn seit zwei Wochen kaum zu Gesicht bekommen. Ich bezweifle, dass er meine Abwesenheit überhaupt bemerken würde.“
„Na, na“, knurrte Maxwell ernst. „Ich lasse nicht zu, dass einer meiner Chauffeurinnen die Lippen beben. Alan hat eine Traumfrau. Du weißt das, und er weiß es. Wenn ich so darüber nachdenke: Wir wissen es alle. Lass uns Ehemänner, Ehefrauen und die verdammte GNVQ vergessen, was auch immer das sein mag, und tun, was wir am besten können.“
„Ach ja?“ Sie hob fragend eine Augenbraue. „Und was soll das sein?“
Er grinste sie anzüglich an, zwinkerte, dann wischte er sich das Lächeln aus dem Gesicht. „Na“, sagte er, „Rufmord natürlich. Nimm zum Beispiel diesen Mistkerl Roger Garrett. Weißt du, was er heute Morgen in seiner Dreistigkeit zu mir gesagt hat?“
***
Jim ‚Langbein‘ Diamond lief am folgenden Tag im Flur an Peter ‚Mad Max‘ Maxwell vorbei. Maxwell war gerade recht flapsig veranlagt. Er hatte am Abend zuvor eine schöne, lange Unterhaltung mit Sally Greenhow geführt und war mit allen dunkelblauen Stellen an Lieutenant Fitzgibbons fertig geworden, nachdem sie gegangen war. Jedes Mal, wenn er Blau und Schwarz mischte, schimpfte er über den Idioten, der diese Farbe vor über eineinhalb Jahrhunderten für die Leichte Kavallerie ausgewählt hatte. Wer immer das gewesen war, er hatte offensichtlich keinen Respekt für Humbrol-Farben gehabt. Und da Maxwell so in dieser flapsigen Stimmung war, schlug er sich mit der rechten Faust auf die linke Brust, wie römische Soldaten ihre Offiziere gegrüßt hatten. Das war die einzige Respektsbekundung, die Peter Maxwell Jim Diamond jemals zukommen ließ.
Diamond hingegen hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Immer wenn er auf die grünen Ziffern seiner elektronischen Nachttischuhr geschaut hatte, schienen seit dem letzten Mal nur zehn Minuten vergangen zu sein. Und wann immer er eindöste, sah er das von Haaren eingerahmte Gesicht des Leiters seiner Oberstufe, der ihn anlächelte wie der Tod in Das siebente Siegel. Warum hatte er nachgegeben? Roger Garret, Diamonds zweiter Konrektor, hatte ihn darauf hingewiesen, dass Maxwell anscheinend die INSET-Woche nicht mitbekommen hatte. Und das Thema der Woche – die Einführung eines neuen Berufsschulkurses für Oberstufler – dürfte Maxwell so befremdlich wie unglaublich vorkommen. Es war, als würde man einen Plesiosaurier mit einem Apple Macintosh vertraut machen. Doch nach einem anfänglichen Ausbruch mit leichten strukturellen Schäden am Büro des Direktors, hatte der Große Mann eingelenkt. Er hatte nachgegeben. Und hier war er, an diesem Donnerstagmorgen, strahlte und schlug sich aus irgendeinem Grund auf die Brust.
Erst dann kam Diamond der Gedanke, dass sein Leiter der Oberstufe womöglich nicht ganz wohlauf war. Es wurde schlimmer, oder? War das der Stress? Man hörte immer wieder davon. Eine Kollegin an der Weldon High war mitten im Französischunterricht in Tränen ausgebrochen; jemand von der Burnside hatte sich nackt ausgezogen und war durch das Physiklabor gewandert. Warum sollte Maxwell immun gegen so etwas sein? Immerhin hatte er im vergangenen Jahr nach dem Mord an Jenny Hyde all diese schlimmen Dinge durchgemacht. Und Jenny war eine Schülerin aus Maxwells Oberstufe gewesen. Natürlich hatte so etwas Folgen. Jim Diamond schaute hinter sich, auf die Gestalt in dem leichten, italienischen Anzug und den Wüstenstiefeln, und hielt nach weiteren Anzeichen für Wahnsinn Ausschau.
***
„Hectorina …“ Maxwell wedelte mit einem kleinen Papierstapel vor der schlaksigen jungen Frau herum. Sie schaute ihm kein einziges Mal in die Augen. „Kein schlechter Versuch, meine Liebe, allerdings war der Kosename für die Muskete der britischen Armee ‚Brown Bess‘. ‚Black Bess‘ hingegen, was du hier in deinem ansonsten annehmbaren Aufsatz geschrieben hast, war Dick Turpins Pferd.“
Die Schülerin lachte laut.
„Keine Sorge, Hectorina. Die Farbenblindheit erwischt uns alle mal. Richard …“ Er richtete seine grauen Augen auf einen wackeren Rugbyspieler, der in der Ecke herumlümmelte. Zumindest hätte er ein Rugbyspieler sein können, könnte sich die Leighford High School mit einem Team rühmen. „Deine Argumentation ist durchgehend stichhaltig. Leider hast du keinerlei Ahnung davon, was ein Absatz ist. Allerdings hat Jane Austen sich auch nie mit solchen Annehmlichkeiten aufgehalten, also zur Hölle damit. Und“, er hielt die letzten Seiten in die Höhe, nachdem er Richard seinen Versuch zugeworfen hatte, „wenn wir schon von der Hölle sprechen, Miranda, dein … Ding.“ Er hielt die Seiten verächtlich zwischen den Fingern. „Du schreibst mir zwanzig Millionen Mal auf: ‚Nicht vor jedem einzelnen S in der englischen Sprache steht ein Apostroph.‘ Abgesehen davon habe ich es noch nie gesehen, dass jemand Wellingtons Probleme auf der Halbinsel so prägnant zusammengefasst hat. Bravo. Jetzt hört mir zu, Kinder.“ Er lief an dem Foto von A.J.P. Taylor vorbei, das er vor Jahren in der Ecke aufgehängt hatte, damit die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe mit Dartpfeilen darauf werfen konnten. „Euer verehrter, erstklassiger Lehrer geht für eine Weile fort.“ Schade-Rufe vermischten sich mit Hurras. „Ich gehe in die milde, gute Nacht – also eigentlich ins Carnforth Conference Centre in Lydd. Ich weiß, was ihr jetzt denkt, meine geliebten Kinder. Warum verpisst sich der alte Knacker für eine Woche, wenn wir nur noch – wie viele Schultage sind es noch, Zack? Ihr schreibt immerhin die Matheabschlussprüfung.“
„Ähm … einschließlich heute …“
„Nein.“ Maxwell bremste ihn. „Niemals heute schon mit einschließen, was man bis morgen aufschieben kann.“
„Na gut. Dann … sechsundzwanzig.“
„Exakt. Sechsundzwanzig. Minus die fünf Tage, die ich fort sein werde. Einundzwanzig. Die Europäische Gesandtschaft hat in Peking mehr als zweimal so lange gegen die Boxerhorden ausgehalten. Ihr werdet es überstehen. Und wer könnte euch besser durch die Wirren von Napoleons Innenpolitik führen als euer ganz eigener Mr. Paul Moss, Leiter des Fachbereichs Geschichte.“
Maxwells leidenschaftlicher Vortrag stieß auf taube Ohren. Immerhin unterrichtete der aufsteigende Stern Paul Moss diese Gruppe bereits in britischer Geschichte. Die Vorstellung, ihn jetzt auch noch für eine Woche in englischer Geschichte zu haben, ließ Suizidgedanken in ihren jungen Herzen aufsteigen.
„Aber wenn ich zurückkomme“, warnte Maxwell, „macht ihr euch lieber auf die intensivsten drei Wochen eures jungen Lebens gefasst. Hectorina, welches Körperteil von Napoleon wurde vor einigen Jahren bei Sotheby’s zum Verkauf angeboten? Lasst mich euch einen Tipp geben – er war knapp drei Zentimeter lang und schon ziemlich schwarz geworden.“
Kapitel 2
Die A259 brachte einen fast bis ans Ziel, mit dem Meer auf der rechten und dem weitläufigen Hügelland auf der linken Seite. Man fuhr dicht an der sanften Erhebung vorbei, auf der Duke William die Engländer an einem nebligen Oktobernachmittag vor sehr langer Zeit in Grund und Boden geprügelt hatte; außerdem an Bodiam vorbei, mit seiner schönen Burg aus dem vierzehnten Jahrhundert und dem smaragdgrünen Burggraben, sowie durch Guestling Thorn, Icklesham und Winchelsea.
„Cinque Port“, schrie Maxwell, um den Wind und das Klappern von Sally Greenhows Ente zu übertönen. „Der mittelalterliche Stadtkern liegt natürlich da draußen, in der Rye Bay. Wie das untergegangene Lyonesse, nicht wahr?“
Die junge Frau würgte die Gänge rein, während sie sich an einem alten Mann in einem Rover vorbeiarbeitete, und fragte: „Max, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein ziemlicher Langweiler bist? Woher weißt du so viel über verschiedene Orte? Du hast nur ein Fahrrad.“
„Aber White Surrey und ich haben zusammen schon Orte gesehen, das würdest du mir nicht glauben. Kommt das nur mir so vor, oder bist du heute ein wenig gereizt?“
Sally schüttelte sich. „Tut mir leid, Max“, sagte sie. „Das ist PMS, vermute ich. Und es ist Freitag.“
„Ah, ja“, Maxwell nickte. „PMS. Das gab es zu meiner Zeit noch nicht.“
„Und wann war das genau?“ Sie spielte mit.
„In den Achtzehnhundertvierziger-Jahren“, sagte er. „Als Männer noch Männer waren und Frauen nicht. Ein Stück vor uns steht ein Martello-Turm.“
„Wie geht es weiter? Nach Rye meine ich.“
„Ähm …“
„Nein, Max“, sie hantierte mit der zerknitterten Karte auf seinem Schoß. „Du hast sie falsch herum.“
„Oh, Sussex“, sagte er, als wäre er an der Damascus Road besucht worden. „Also, entweder folgst du der A259 über die Walland Marsh oder du hältst dich an die Küsten, an Camber Sands entlang. Auf dem Weg kommen wir an der herrlichen Kanalisation von Jury’s Gut vorbei.
„Hm, toll. Und wo liegt Carnforth von dort aus?“
„Auf Höhe Lydd, zum Glück außerhalb der Zone, die hier auf der Karte als ‚Gefahrenbereich‘ gekennzeichnet ist.“
„Was meinst du, um welche Art von Gefahr es sich handelt? Arschloch!“, rief sie plötzlich und zeigte dem Fahrer eines landwirtschaftlichen Fahrzeugs, das gerade ausgeschert hatte, den Mittelfinger.
„Frauen am Steuer, da sollte mich nichts wundern.“ Maxwell grinste süffisant.
Sie warf ihm durch ihre Sonnenbrille hindurch einen finsteren Blick zu. „Du blickst einem frühen Ruhestand entgegen“, sagte sie und schürzte die Lippen, „mit dieser Verletzung und so.“
„Welche Verletzung?“
„Die, die ich dir zufügen werde, wenn du noch einmal so einen sexistischen Kommentar abgibst.“
Abgesehen vom Knirschen bei Sallys Schaltvorgängen und dem unterdrückten Glucksen von Max verlief der Rest der Fahrt schweigend.
***
Es war ein seltsamer Ort für ein Konferenzzentrum, weit abseits, an der Dengemarsh Road. Im Nordosten standen die recht bedrohlich wirkenden Reste von Camber Castle, eine der Ruinen, die Cromwell nicht eingerissen hatte, doch die Zeit hatte eine Menge Schaden angerichtet. Der Denkmalschutz hatte sich allerdings eingemischt, und eines Tages würde es seine Tore wieder der breiten, gelangweilten Öffentlichkeit öffnen, und die japanischen Besucher würden mit ihren Kameras eine Heidenfreude daran haben. Das flache Land im Südosten war mit stehenden Gewässern und neu eröffneten Feriencamps übersät. Zum verlängerten Wochenende waren einige Besucher eingetroffen. Dahinter erstreckte sich ein Vogelschutzreservat bis zu The Shingle und dem Meer, wo Brachvögel, Zwergseeschwalben und winzige Sommergoldhähnchen unter freiem Himmel nisteten. Über dem kleinen Leuchtturm, den Samuel Wyatt 1792 dort errichtet hatte, ragten die riesigen, unheilvollen Blöcke von Dungeness A und B auf. Das Kernkraftwerk sah aus, als wären Aliens über eine unterwürfige Landschaft hergefallen, die von Kriegsnarben durchzogen war.
„Sieht aus wie bei H. G. Wells“, sagte Maxwell nachdenklich, doch Sally lenkte sie schon in die weite Kurve der Abfahrt nach Carnforth und bekam nicht mit, worauf er sich damit bezog.
Maxwell war froh, sich die Beine vertreten zu können. Sie hatten um halb elf einen Zwischenstopp in Bexhill gemacht, ein recht schöner Ort mit vielen Blumenampeln, doch mit Maxies alten Problemen und Sallys winzigem Auto war es die reinste Freude, wieder aufrecht stehen zu können. Sie half ihm beim Gepäck – ihre drei Samsonites gegen seinen ramponierten, alten Koffer, an dem noch ein P&O-Schildchen hing – und sie gingen hinein.
Das Gebäude war brandneu. Die Schulbehörde von West Sussex hatte zweifellos viel Geld springen lassen. Überall Teppich, elektrische Schiebetüren, weiche Kunstledermöbel. Wenn die Zimmer so gut ausgestattet waren wie das Foyer, dann hatten sie eine wundervolle Woche vor sich. ‚Vergessen Sie nicht, jeden Tag die Formulare für das Tagegeld auszufüllen‘, hatte die Schulsekretärin Margaret gesagt. Hier war es auf jeden Fall sehr viel besser als im Lehrerzimmer der guten, alten Leighford High, mit den Aschenbechern, Plastiktrophäen und Stapeln von Kopierpapier.
„Guten Morgen.“ Ein schrecklich fröhliches, junges Ding winkte sie zum Empfangstresen heran. Sie sah aus, als hätte sie das Schminken von Pablo Picasso gelernt, da ihr Lidschatten die Augenlider um etliche Zentimeter verfehlt hatte. „Ich bin Tracey. Willkommen im Carnforth Conference Center. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Würden Sie sich bitte im Buch eintragen?“
Jetzt, da Maxwell in der Leighford High eine Putzfrau auf seinem Stockwerk hatte, die gefürchtete Mrs. B. (vollständiger Name unbekannt), die einen ähnlichen Konversationsstil in Textblöcken pflegte, war er einigermaßen geübt darin, damit umzugehen.
„Das dachte ich mir schon.“ Er lächelte. „Vielen Dank. Das wünschen wir uns auch. Sehr gern.“ Er hielt Sally den Kugelschreiber hin, der mit einer kleinen Kette am Tisch verankert war. Sie lächelte ihn an und trug sich ein.
„Sie sind?“ Tracey trug einen Bleistiftrock mit Falten.
„Mr. und Mrs. Smith“, sagte Maxwell. „Ich hoffe, wir haben ein Zimmer mit Südblick.“
Tracy ließ ihren eleganten Finger mit einem purpurroten Fingernagel immer noch über die Besucherliste gleiten, als Sally zu ihrer Rettung kam. „Das war nur das, was sich mein Kollege unter einem Scherz vorstellt“, sagte sie. „Ich bin Mrs. Sally Greenhow und mein Großvater hier ist Mr. Peter Maxwell.“ Sie stach ihn mit dem Kugelschreiber. „Trag dich ein, Max. Und versuch es dieses Mal mit Schreibschrift.“
„Ah, ja.“ Nur die Eckpunkte von Sallys Vortrag waren in die Tiefen von Traceys Verstand vorgedrungen. Sie fand die beiden Namen auf der Liste. „Von der Leighford High. Sie nehmen an der GVNQ-Konferenz teil.“
„Mehr oder weniger“, sagte Sally.
„Ich glaube, sie weiß mehr als ich“, flüsterte Maxwell.
„Möchten Sie Tee oder Kaffee? Beides finden Sie in der Whittingham Suite zu Ihrer Rechten. Oder?“ Trace verzog das Gesicht. „Ja, ich glaube, das stimmt. Bitte entschuldigen Sie, ich bin neu.“ Und sie kicherte.
„Das ist schon in Ordnung.“ Maxwell lächelte. „Ich bin alt.“
„Ich lasse Ihr Gepäck auf die Zimmer bringen“, sagte Tracey. „Mrs. Greenhow, Sie haben die 306. Mr. Maxwell die 101.“
„Himmel, nein!“ Maxwell strauchelte gegen den Tresen.
„Geht es Ihnen gut?“ Tracey schaute den alten Kauz besorgt an. „Oh, nein“, sie lachte. „Diese Fernsehsendung, nicht wahr? Der Kerl, der jede Woche eine andere Berühmtheit hat. Das ist wirklich witzig.“
Maxwell schaute die junge Frau mit finsterem Blick an. „1984“, sagte er leise. „George Orwell. Und lassen Sie mich Ihnen eines sagen, Tracey: Zimmer 101 hat nichts Witziges an sich.“
Dann spürte er, dass Sally ihn in Richtung Whittingham Suite zog. Dort fanden sie sich augenblicklich im viktorianischen Zeitalter wieder. Die Fenster bestanden aus Buntglas und die Wände waren mit Samt und Velours tapeziert und hätten jedes chinesische Restaurant in den Schatten gestellt. Überall lockten mit Plüsch bezogene Sitzmöbel. Nur die Kannen für Tee und Kaffee schrien 1990er – und der pickelige Junge im weißen Jackett, der danebenstand.
„Was darf es sein, Mrs. Greenhow?“, fragte Maxwell mit seiner besten Imitation von W.C. Fields. „Welchen Drink bevorzugen Sie?“
„Ich nehme einen Kaffee, Max, schwarz.“
„Zweimal Kaffee, bitte. Einer schwarz, der andere normal.“ Maxwell grinste den Jungen an.
Sally Greenhow wollte sich gerade unter die Kaffeetrinkenden in der Mitte des Raumes mischen, als jemand in die Hände klatschte und sie alle zur Ruhe rief.
„Ladies and Gentlemen. Ladies and Gentlemen. Hallo … Ich bin Gary und ich möchte Sie alle im Carnforth Conference Centre willkommen heißen.“ Sally fand, der junge Mann sah ein wenig so aus wie ein männlicher Klon von Tracey am Empfang. Für Maxwell sah dieser Mann mit dem Topfschnitt und dem blassgrauen Anzug mit steigendem Revers aus wie ein Mormone.
„Wir sind … fast vollzählig, also legen Sie bitte alle diese Namensschilder an und unterhalten Sie sich bis zum Mittagessen im Hadleigh Room noch ein wenig. Wir freuen uns schon auf die Kennenlernrunde nach dem Essen. Oh, nur eine Sache noch: Würden sich die Veganer unter Ihnen bitte bei Antonio melden; er wird diese Woche Ihr Koch sein.“
„Veganer!“, murmelte Maxwell entsetzt. „Mein Gott, Sally, wo hast du mich hier hingeschleppt?“
„Hallo!“ Ein recht männisches Mädel in Budapestern und mit Pony drehte sich mit ausgestreckter Hand um. Sie hatte sich bereits ihr Namensschild ans Revers gesteckt. „Ich bin Valerie, Richard de Clara School, Birmingham.“
„Oh, mein Beileid.“ Maxwell gab ihr die Hand und spürte, wie seine Handknochen knirschten. „Peter Maxwell, Leighford High.“
„Leighford? Wo ist das?“ Valeries Lippenstift war zum Teil auf ihren Schneidezähnen gelandet.
„Folgen Sie einfach dem gelben Ziegelsteinweg.“ Maxwell strahlte sie an. „Direkt bis ins Morgen.“
„Bitte ignorieren Sie ihn, Valerie“, mischte Sally sich ein. „Ich bin Sally Greenhow, bedauerlicherweise aus derselben Irrenanstalt wie er.“ Sie nickte in Maxwells Richtung. „Max ist unter Zwang hier, könnte man sagen. Ich weiß nicht, ob sie ihm während der gesamten Woche auch nur ein kooperatives Wort werden entlocken können.“
„Was tun Sie, Valerie?“, fragte Maxwell.
„Ich unterrichte“, sagte sie und wirkte von der Frage überrascht.
„Ah, natürlich“, Maxwell ließ sich nichts anmerken, „aber was?“
„Oh, Betriebswirtschaftslehre“, sagte sie.
„Wenn Sie mich entschuldigen würden“, sagte Maxwell. „Ich habe gerade da draußen auf dem Gelände einen Stahlträger entdeckt, und ich glaube, er rostet.“ Damit entfernte er sich.
„Tut mir leid“, sagte Sally. „Er ist ein mürrischer, alter Mistkerl, aber sonst ist er eigentlich nicht so unhöflich.“
„Oh, das ist schon in Ordnung.“ Valerie grinste. „Ich weiß, wie Männer sind.“
„Sind Sie verheiratet?“
Valeries Gesicht nahm eine recht ungewöhnliche Farbe an. „Du liebe Güte, nein“, sagte sie. „Sie etwa?“
„Gewissermaßen“, antwortete Sally. „Sie führen also im September die GNVQ an Ihrer Schule ein?“
„Nun ja, wir denken ernsthaft darüber nach. Natürlich hängt das dieser Tage alles von den finanziellen Mitteln ab, nicht wahr?“
„Absolut.“
Ähnlich sinnlose Unterhaltungen wie diese spielten sich in der gesamten Whittingham Suite ab. Es war immer das Gleiche auf Bildungskonferenzen. Alle redeten Mist, entweder um jemanden zu beeindrucken oder auch nur, weil sie für kurze Zeit dieser ganz besonderen Hölle entkommen waren, die die meisten Menschen als Klassenzimmer bezeichnen.
Maxwell schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien hell auf die frisch gepflanzten Rosen und ein Sprinklersystem überzog den Rasen mit glitzernden Tropfen. Es hatte seit einer Woche nicht mehr geregnet. Bald würde es ein Bewässerungsverbot geben.
„And we, who trespass now in Echo Fields,
Called out and, heartless, broke the spell,
And all the wounds which time has healed
(As heal they can in Echo Fields)
Reopened by us and the morning bell.”
Maxwell hätte beinahe seine Tasse fallenlassen. Er stand mit offenem Mund da und starrte die dunkelhaarige Frau an, die neben ihn getreten war.
„Um Himmels willen“, sagte sie, „sagen Sie mir, dass Sie Peter Maxwell sind, sonst muss ich vor Scham im Boden versinken.“
„Ja“, sagte er schließlich. „Ich bin Peter Maxwell. Und Sie sind Rachel Cameron. Oder zumindest waren Sie die, als wir uns das letzte Mal begegneten.“
„King“, erklärte sie, „Mrs. King.“
„Ah.“ Er stellte fest, dass er dümmlich grinste. Dann spürte er ihre Hand an seiner. „Max“, sagte sie. „Der Kämpfende Max von vor all diesen Jahren. Erinnerst du dich noch an das Mittsommer-Fest?“
Er nickte. „Erdbeeren mit Sahne in Grantchester?“
„Du bist aus dem Boot gefallen.“
„Nur weil mich irgendein Idiot ins Wasser geschubst hat.“
„Das war ich.“
Ihr Lachen führte dazu, dass sich einige Köpfe in ihre Richtung drehten.
„Oh“, sagte Valerie zu Sally. „Ihr Mr. Maxwell scheint eine Freundin gefunden zu haben.“
„Ja“, sagte Sally. Sie war überraschter, als sie sich anmerken lassen wollte. „So scheint es.“
„Wie kommt es“, fragte Maxwell Rachel, „dass du dich an ein Gedicht von vor … was … dreißig Jahren erinnerst?“
„Du hast es geschrieben, Max“, sagte sie. „Deshalb kann ich mich erinnern.“
Für einen Augenblick, nur einige kurze Sekunden, war der mürrische, alte Oberstufenleiter mit dem geschundenen Herz wieder dort. In diesem geisterhaften Morgengrauen, mit dem Nebel, der wie ein Schleier über dem See lag, den die ersten Elizabethaner angelegt hatten. Die Finger hatte er mit einer jungen Frau verschränkt; dieselbe Frau, die jetzt hier vor ihm stand.
„Tonight I walked with ghosts in Echo Fields,
And heard their footsteps swishing through the dew,
And stars fell on their ancient shields
(The shields that shone in Echo Fields) …“
„‚And I was glad‘“, unterbrach sie ihn, „‚that we were there and you were you.‘“
„Unglaublich“, sagte er und schüttelte den Kopf.
„Und ich bin es immer noch, Max“, sagte sie leise.
„Was?“, musste er fragen.
„Froh, dass wir dort waren und du du warst.“
„Deine Eltern?“
„Schon lange tot.“ Sie lächelte. „Ich war seit Jahren nicht mehr in Warwickshire.“
Er stellte seine Tasse auf dem nächstbesten Tisch ab. „Wäre es entsetzlich klischeehaft, zu sagen, dass du dich kein bisschen verändert hast?“, fragte er.
„Nicht nur entsetzlich klischeehaft“, sie tippte ihm auf den Arm, „sondern eine glatte Lüge. Das letzte Mal haben wir uns 1963 gesehen, Max. Im Frühling. Du wohntest im oberen Stockwerk des Gästehauses meiner Eltern.“
„Wirklich?“ Er lächelte.
„Nun, sagen wir einfach, du hättest dort wohnen sollen.“ Sie hob eine Augenbraue. „Doch wenn mich die Erinnerung nicht trügt, hat dich dein Weg recht häufig nach unten in mein Stockwerk geführt.“
„Hm“, er schwelgte in Erinnerungen und legte die Stirn in Falten. „Das muss an der Dunkelheit gelegen haben.“
„Hallo.“ Sally Greenhow hatte sich von der männischen Valerie losgeeist und stand erwartungsvoll neben Maxwell.
„Das war der Profumo-Fall, oder?“ Maxwell war viele Jahre weit weg. „Hat sich Stephen Ward nicht in dem Juli umgebracht? Lustigerweise habe ich die Tage erst an Mandy Rice-Davies gedacht.“
„Eine andere Person, in deren Zimmer du immer wieder gestolpert bist?“ Rachel lächelte.
„Es war eine Zeit der großen Reden“, erinnerte Maxwell sich. „Martin Luther King hatte einen Traum. Kennedy behauptete, ein Berliner zu sein.“
„Ich hatte auch einen Traum, Max“, sagte Rachel.
Er schaute ihr in die Augen und empfand etwas, das er schon seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Da regten sich Erhebung in seinem Herzen und Schmerzen in seinem Hals und seinem Kopf. Doch in diesem Augenblick wäre er nirgends lieber gewesen.
„Hallo“, sagte Sally Greenhow erneut.
„Ah, Sally.“ Maxwell riss sich aus seinen Gedanken. „Sally, das ist Rachel. Sie ist … eine alte Freundin.“
„Oh, gut“, sagte Sally, die Maxwell säuerlich anschaute, obwohl sie gleichzeitig lächelte. „Ich dachte schon, der alte Mr. S. sei zu Besuch gekommen.“
„Der alte Mr. S?“ Rachel konnte nicht folgen.
„Der alte Mr. Senil“, erklärte Maxwell. „Anscheinend werden in unserem Lehrerzimmer geheime Wetten darauf abgeschlossen, wann ich den Verstand verliere.“
„Sally Greenhow.“ Sally lächelte und gab Rachel die Hand.
„Rachel King“, sagte die ältere Frau. „An welcher Schule seid ihr?“
„Leighford High“, antwortete Sally.
„Die Gesamtschule aus der Hölle“, präzisierte Maxwell. „Und du?“
„St. Bede’s.“
„Was? Bournemouth?“, fragte Maxwell.
„Ebendas“, sagte Rachel.
„Gütiger Himmel. Das macht uns quasi zu Nachbarn. St. Bede’s hat vergangenes Jahr nicht mitgemacht, oder? Aber … du bist doch katholisch, Rachel. Oder bist du ins Kloster eingetreten, nachdem …“ Er hielt inne. Hätte er den Mumm dazu gehabt, er hätte sich die Zunge abgebissen.“
„Nein.“ Sie bekam ein Lächeln zustande. „Nein, ich bin keine Katholikin. So wie in etwa die Hälfte des Kollegiums. Es ist eine ganz ordentliche Delegation der St. Bede’s hier. Unser Direktor meint, es ist an der Zeit, dass vierhundertfünfzig nette, katholische Mädchen unter Strampeln und Geschrei ins zwanzigste Jahrhundert geschleift werden.“
„Oh, unser Direktor glaubt gar nichts.“ Maxwell zuckte mit den Schultern. „Zumindest nichts von dem, was ich ihm sage.“
„Ich glaube, es geht zum Mittagessen“, sagte Sally, der aufgefallen war, dass die Kaffeetrinkenden in Zweier- oder Dreiergruppen abwanderten. „Darf ich mich euch beiden anschließen oder bin ich dann der Anstandswauwau?“
„Also eigentlich, Sally …“, hob Maxwell an.
„Natürlich, Sally“, sagte Rachel. „Max und ich können noch die ganze Woche in alten Erinnerungen schwelgen.
„Rach?“ Ein recht ausgemergelt aussehender Geistlicher mit locker sitzender Brille hatte beide Hände an Rachels Ellenbogen gelegt.
„Ja, Jordan? Das ist Jordan, unser Kaplan.“
„Hallo, Jordan“, sagten Sally und Maxwell unisono.
„Hallo.“ Der Kaplan strahlte sie an, wobei seine Oberlippe beinahe in seiner Nase verschwand. „Rach, hast du Liz Striker gesehen? Sie hat sämtliche Kopien bei sich.“
„Nein“, sagte Rachel, „ich habe heute Morgen das Frühstück ausgelassen.“
„Sie war nicht dort“, sagte Jordan, „zumindest nicht, während ich da war. Ich werde mit Michael sprechen, ja?“
„Ich sollte das machen.“ Rachel nickte. „Michael Wynn, unser Konrektor“, erklärte sie für Sally und Maxwell, „unser vielgestaltiger Herkules.“
„Ihr was?“, fragte Sally.
„Superman“, erklärte Maxwell. „Du weißt schon, der Kerl, der so wenig Zeit zum Umziehen hat, dass er es in einer Telefonzelle erledigen muss und am Ende mit der Unterhose über der Hose wieder herauskommt.“
„Oh“, sagte Sally.
„Ihr werdet einander verzeihen müssen“, sagte Maxwell, während er die Arme vor der Brust überkreuzte, um auf die beiden Frauen in seinem momentanen Leben zu zeigen. „Rachel war in Homerton und Sally ist an der Sonderschule.“
„Förderschule“, zischte Sally ihn an.
„Armer Jordan.“ Rachel schüttelte den Kopf, als der Mann sich zurückzog. „Er ist wirklich ein Schatz, aber ich fürchte, er könnte sich nicht mal selbst ein Bad einlassen. Mein Gott, ich verhungere.“
***
„Ich bin Valerie Marks“, sagte Valerie, die auf dem Podium der Huntingdon Suite stand. „Leiterin des Fachbereichs Betriebswirtschaftslehre an der Richard de Clara School in Erdington.“
„Strongbow“, knurrte Maxwell, um die Werbung zu imitieren, und machte dann das Geräusch eines Armbrustbolzens, der in das Holz eines Tresens einschlug.
„Was redest du da?“, zischte Sally, in einem Versuch, den alten Idioten zum Schweigen zu bringen, während die recht glanzlose Frau eintönig weiterredete.
„Richard de Clara“, erklärte Maxwell. „Eine einflussreiche Persönlichkeit im dreizehnten Jahrhundert. Sein Spitzname lautete Strongbow. Wie der Cider gleichen Namens.“
„Danke, Valerie.“ Gary führte das halbherzige Klatschen im Raum an. „Ähm … Rachel. Ich glaube, du bist die nächste.“
Die dunkelhaarige Frau an Maxwells Seite stand auf und nahm ihren Platz auf dem Podium ein. Er schaute sie sich noch einmal an, so wie er es schon beim Mittagessen getan hatte. Warum, fragte er sich – und das nicht zum ersten Mal – warum hatte er sie gehen lassen? Ihre Augen waren so tief, dass ein Mann darin ertrinken konnte. Das waren sie schon immer gewesen. Und die meisten der Gedichte, die er in Cambridge produziert hatte, hatte er für sie geschrieben.
„Ich heiße Rachel King“, sagte sie. „Um für meine Sünden zu büßen, bin ich Senior Mistress an der St. Bede’s Mädchenschule in Bournemouth. Ich habe eine Tochter, Helen, die mit einem Anwalt verheiratet ist und in Neuseeland lebt. Ich mag Opern, Nougat, Weißwein – oh, und ich spaziere gern mit seltsamen Männern in der Nähe von Burgen über Wiesen.“ Dabei schaute sie Maxwell an. Doch er hörte das Gelächter nicht. Er hatte nur gehört, was sie nicht gesagt hatte. Keine Erwähnung eines Ehemannes; mit keinem Wort.
„Danke, Rachel“, sagte Gary. „Danke für deine Offenheit. Ähm … Peter, nicht wahr?“
„Nein.“ Maxwell stand auf. „Für die, die ich schätze, bin ich Max.“ Er schritt zielstrebig zum Podium, während Rachel sich wieder setzte. Als er sich der Aufmerksamkeit der Gruppe gewiss war, stellte er sich vor. „Ich bin Peter Maxwell“, sagte er, „und ich bin Alkoholiker.“
Es wurde gemurmelt und einige Personen atmeten lautstark ein. Sally vergrub das Gesicht in den Händen, doch Rachel kicherte.
„Oh, Verzeihung“, sagte Maxwell und schnippte mit den Fingern, „falsche Konferenz. Das muss vergangene Woche gewesen sein. Ähm … ich bin auf der falschen Seite der Fünfzig, Oberstufenleiter – ich schätze, für alle unter siebenundzwanzig sind das die Klassen 12 und 13 – und ich habe das Privileg, an der Leighford High zu unterrichten. Mein Ziel im Leben ist es, mehr Bekanntheit zu erlangen als Godfrey Bliss …“
In der Pause, die danach entstand, tappte Gary geradewegs in die Falle. Sally hatte ihm eine Warnung zurufen wollen, doch das tat sie erst, als es schon zu spät war. „Ähm … wer ist Godfrey Bliss, Peter?“, fragte er.
„Endlich!“ Maxwell klatschte freudig in die Hände. „Ich habe es geschafft! Endlich! Nach all diesen Jahren! Danke, Gary, Sie haben einen alten Mann sehr glücklich gemacht. Übrigens: Wie es der unglaubliche Zufall so will, gehe ich auch gern in der Nähe von Burgen spazieren, über Wiesen und mit Frauen, die so seltsam sein dürfen, wie sie wollen.“
Es folgte ein Chor von Oh-Rufen, die Maxwell gar nicht hörte. Er schaute nur auf das Lächeln von Rachel King. Und sie hatte auch nichts gehört; von einer ‚Ehefrau‘, ‚besseren Hälfte‘ oder der ‚geliebten Soundso‘. War es wirklich möglich, dass es keine Mrs. Maxwell gab?
„Ja, nun, vielen Dank, Peter“, sagte Gary. „Ähm … Andrew?“
Ein leicht gebückt gehender Mann mit Brille und Kordsakko schlenderte lässig zum Podium. „Andrew Moreton“, sagte er.
„Ich habe Ihr Buch über die Royals geliebt“, rief Maxwell.
Moreton warf einen finsteren Blick in die lachende Menge. „Dr. Moreton“, fuhr er fort, „Leiter des Fachbereichs Naturwissenschaft an der John Bunyan School in Luton.“ Und er setzte sich wieder.
„Oh. Ähm. Michael, glaube ich, als Vorletzter.“ Diese einsilbige Vorstellung hatte Gary Leonard aus dem Konzept gebracht.
„Michael Wynn.“ Der nächste Sprecher schob sich an Maxwell vorbei, der noch auf dem Rückweg war. „Konrektor der St. Bede’s. Ich fürchte, Ihr habt heute Nachmittag schon einiges von uns gehört. Man muss die INSET-Woche in einem modernen Konferenzzentrum an der Küste nur erwähnen, dann zieht sich die Schlange der Kollegen schon halb um das Schulgebäude. Es ist natürlich eine schwierige Entscheidung, aber als der Mann, der INSET verwaltet, möchte ich euch versichern, dass meine Anwesenheit hier reiner Zufall ist.“
Es wurde schallend gelacht.
„Ich habe eine Ehefrau, Gwendoline, zwei Kinder und einen Hund. Ich gehe gerne zum Angeln, habe ein peinliches Handicap beim Golf und freue mich darauf, während dieser Woche mit euch zu arbeiten.“
Es gab Applaus, während sich der große, bärtige Mann wieder setzte.
„Habe ich da einen walisischen Akzent gehört?“, fragte Sally Maxwell.
„Hm?“ Maxwell hatte gerade Rachel etwas zugeflüstert.
„Ich fragte“, mit ihren prämenstruellen Leiden war Sallys Geduld nicht so belastbar wie sonst, „ob ich da einen walisischen Akzent gehört habe.“
„Geordie.“ Maxwell schüttelte den Kopf.
Rachel lehnte sich vor ihn. „Er kommt aus Newcastle.“
„Sag ich doch.“ Maxwell nickte selbstzufrieden. „Das ist Spender-Land. Du weißt schon, Jimmy Nail, im Fernsehen. Großer Kerl; sieht aus, als wäre ihm die Hebamme aufs Gesicht getreten.“
„Und zu guter Letzt“, sagte Gary mit einem Blick auf sein Klemmbrett, „Liz.“
Es war niemand mehr übrig. Sie hatten den kompletten Sitzkreis abgearbeitet; alle vierundzwanzig von ihnen. Maxwell schaute auf den fünfundzwanzigsten Stuhl.
„‚There will be‘“, murmelte er, „‚one vacant chair.‘“
„Sag nichts“, sagte Sally. „Eine Zeile aus Spender.“
„Nein, eine Liedzeile aus dem amerikanischen Bürgerkrieg“, erklärte er. „Das war vor deiner Zeit.“
„Danke.“
„Ähm … hat sie jemand gesehen? Liz Striker?“, fragte Gary immer noch.
„Also“, Jordan war aufgestanden, „ich habe mein Bestes getan.“ Es sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Sie kommt nicht an ihre Zimmertür, dabei hat sie all unsere Kopien.“
„Nun“, sagte Gary, „sie wird bestimmt noch auftauchen. Wahrscheinlich ist sie schwimmen gegangen, oder sie macht einen Spaziergang am Meeresarm. Ist sie nicht eine begeisterte Ornithologin?“
Alle schauten einander an. Niemand schien eine Antwort zu haben.
„Wie auch immer. Es ist beinahe Zeit für den Tee, der unten in der Whittingham Suite serviert wird. Danach wird Dr. Brownwood von der University of Kent in Canterbury in der Huntingdon Suite das offizielle Programm eröffnen. Der Vortrag trägt den Titel: ‚Das Personalisierte Lernen‘. Vielen Dank, allerseits. Gute Arbeit.“
„Gute Arbeit?“, knurrte Maxwell. „Die großartige Rechenmaschine, die ich als Hirn bezeichne, sagt mir, dass dies mein sechsundachtzigster Vortrag über das Personalisierte Lernen sein wird. Sag mal, Rachel, trinkst du immer noch Southern Comfort?“
„Du liebe Güte“, sagte sie lachend, „das Zeug habe ich seit Jahren nicht angerührt.“
„Nun“, Maxwell streckte ihr den Ellenbogen entgegen, damit sie sich einhaken konnte, „ich glaube, ich habe im Erdgeschoss eine Bar gesehen, irgendwo in der Nähe der Trunkenbold Suite. Darf ich dich erneut mit dem Getränk vertraut machen?“
Sie schlenderten davon.
Sally Greenhow blieb allein zurück. „Ich trinke Southern Comfort“, sagte sie leise, doch nur Valerie Marks hörte sie.
„Natürlich, meine Liebe“, sagte sie, „aber lass uns doch eine schöne Tasse Tee genießen, ja? Häkelst du?“ Und sie führte die große Frau mit den krausen Haaren davon.
Kapitel 3
Sie wanderten an The Shingle entlang, Maxwell und seine Dame, in der kühlen Luft dieses Abends im Mai. Die Sonne war ein orangeroter Feuerball hinter violetten Wolkenstreifen, und ihr Licht wurde von der glatten Meeresoberfläche gespiegelt.
Das hohe Gras streifte unter ihrem Kleid die nackten Beine und sie spürte seine Hand in ihrer. Das fühlte sich gut an, nach all den Jahren. Und sicher. Sie mochte es, sich sicher zu fühlen; brauchte es.
„Es ist nicht der Mittsommer Park“, sagte er, während er zusah, wie die Sonne hinter den granitenen Blöcken von Dungeness A und Dungeness B unterging.
„Nein“, sagte sie, „es ist besser.“
„Besser?“ Er bremste sie. „Ich meine, mich daran zu erinnern, dass du dich gegen all das ausgesprochen hast. Die Atomkraft. Standest du nicht in einem Dufflecoat vor Aldermaston?“
„Das war Michael Foot“, rief sie lachend. „Oder Bertie Russell?“
„Ich weiß es nicht.“ Er lief mit ihr weiter, wobei er die Stängel von Grasnelken platttrat. „Es könnte auch Jane Russell gewesen sein.“
„Was ist eigentlich aus Clive geworden?“, fragte sie ihn plötzlich.
„Clive? Wenn du den ersten Baron Robert Clive meinst, dann hat er vermutlich Selbstmord begangen.“
Er spürte, wie ihn ihr leerer Cardigan-Ärmel an der Schulter traf. „Clive Spooner. Du alter Weggefährte Jesu.“
„Oh, Gott, ja.“ Maxwell warf den Kopf in den Nacken und betrachtete die Wolken, hoch oben am Himmel, und die letzte Flugzeugspur, die in Richtung des sich ausbreitenden Nachthimmels breiter wurde. „Die Abschlussklasse von 63.“
„Ich habe diese bleibende Erinnerung an ihn, aus dem Arts Cinema. Psycho, nicht wahr?“
„Genau. Er hat die Duschszene noch ganz passabel überstanden, hat dann ein wenig gezittert, als der Detective seine … erinnerst du dich daran, diese Obersicht-Einstellung … und als wir die Mutter im Vorratskeller sahen, versteckte er sich hinter meinem Sitz. Oder hinter deinem?“ Er setzte sich mit ihr ins Gras.
„Ich glaube nicht, dass Clive viel mit Frauen am Hut hatte, wenn ich mich recht erinnere.“
„Ah, das ist nun aber eine grobe Verleumdung. Clive war fast so wie andere Studenten.“
„Und wer hat diese grobe Verleumdung in die Welt gesetzt, Maxie?“
„Ähm … ich“, gestand Maxwell, „Lieferant der schlimmsten Verleumdungen. Aber weiß Gott, was er heute tut. Man verliert sich aus den Augen.“
„In der Tat“, sagte sie und blickte auf das Meer hinaus. „Sag mal …“ Er spürte, dass es die Frage war, die er nicht zu stellen gewagt hatte. „Gibt es eine Mrs. Maxwell?“
Er schaute sie an. Die leichte Brise ließ ihr Haar aufwallen, und ihre Augen leuchteten. „Es gab sie“, sagte er, „vor langer Zeit.“
Er konnte keine Veränderung in ihrer Stimmung ausmachen, kein anderes Licht in ihren Augen. „Es hat nicht funktioniert?“
„Nein“, sagte er, während er mit dem Gras zwischen seinen angewinkelten Beinen spielte, „nein, dafür hat ein eine Tonne schweres Polizeiauto in einer engen Kurve an einem nassen Morgen gesorgt. Ich möchte glauben, dass meine Frau gar nicht mitbekommen hat, wie ihr geschah.“
Sie drehte sich zu ihm, ihr Gesicht war eine Maske des Schmerzes. „Oh, Max, das tut mir leid“, sagte sie. „Das wusste ich nicht.“
„Nein.“ Er zuckte mit den Schultern und tätschelte die Hand, die seine hielt. „Warum solltest du auch? Was ist mit dir? Mr. King?“
„Ah, ja.“ Sie zog ihre Hand zurück, legte das Kinn auf ihrem Knie ab und schlang sich ihren langen Sommerrock um den Knöchel. „Jeremy. Einer der feinsten Menschen dieser Welt, Max. Er hat mich schon in der Hochzeitsnacht zum ersten Mal geschlagen. Ich hatte irgendeinen albernen Kommentar gemacht, über … mein Gott, ich kann mich nicht mehr erinnern – seinen Vater, denke ich. Der alte Trottel hat es sich bei der Hochzeit ein wenig zu gut gehen lassen. Er war harmlos, und so auch das, was ich über ihn gesagt habe, aber Jeremy sah das anders. Ich hatte noch nie gesehen, wie jemandem die Farbe aus dem Gesicht gewichen ist. Er ist ganz weiß geworden. Und unbeweglich. Ich dachte, er würde einen Anfall bekommen oder ohnmächtig werden. Stattdessen schlug er mich.“ Sie vergrub rasch das Gesicht in ihrem Kleid, dann schaute sie wieder aufs Meer hinaus. „Sekunden später tat es ihm schon leid, aber das änderte nichts. Er hat mir den Wangenknochen gebrochen. Ich lag über eine Woche im Krankenhaus.“
Jetzt war es an ihm, ihre Hand zu halten, doch er konnte sie nicht erreichen, also nahm er mit ihrem Arm Vorlieb. „Das tut mir leid“, sagte er.
„Wir beide sagen schon den ganzen Tag kaum etwas anderes.“ Sie lächelte ihn an.
„Du hast Jeremy verlassen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Eigentlich waren wir uns einig“, sagte sie. „Aber was ist mit dir, Max? Wie bist du zurechtgekommen? Nach dem Tod deiner Frau, meine ich?“
„Mit Geschichte“, lautete Maxwells Versuch, alles zusammenzufassen, „und Kindern. Es ist wirklich eigenartig. Ich habe meine Frau und mein Kind begraben und dann mich selbst in Arbeit. Ein wenig klischeehaft, schätze ich.“
„Dein Kind? Oh, Maxie.“ Sie drehte sich um und nahm seine Hände in ihre.
„Jenny“, sagte er. „Sie war noch nicht ganz sechzehn Monate alt. Wir hatten so große Pläne für sie.“
„Und sie wären auch Wirklichkeit geworden“, sagte Rachel. „Ich kenne dich, Peter Maxwell. Schreibst du noch Gedichte, Max?“
Er lachte und warf den Kopf nach hinten. „Nein“, sagte er. „Ich habe das alles vor Jahren hinter mir gelassen. Es ist eigenartig. Damals glaubte ich, so viel zu sagen zu haben, obwohl es mir gutging und ich vor der Welt geschützt war. Eine Treppe am Jesus College war wohl kaum ein Abstecher ins Ungewisse.“
„Ja“, kicherte sie. „Ich habe Timmy immer sehr beneidet. Erinnerst du dich an Timmy?“
„An deinen schrecklichen, kleinen Bruder? Ja, natürlich.“
„Das war er, nicht wahr?“, räumte sie ein. „Schrecklich ist die einzig gute Beschreibung für ihn. Er ist zu einem recht anständigen Mann herangewachsen; eine unglaublich große Nummer in anglo-amerikanischer Geologie.“
„Was? Der kleine Scheißer, der nicht einmal gehen wollte, wenn ich ihm eine Half Crown zusteckte?“
„Genau der. Na ja, Timmy ging in den Siebzigern zur Universität, als dort alles von Flower-Power, Perlen und Barfußspaziergängen durch den Park dominiert war. Seine Freundin hatte Gänseblümchen zwischen den Zehen.“
„Und Gras zwischen den Ohren.“ Maxwell lächelte. „Ja, ich erinnere mich. Ich hatte meine erste Lehrstelle und war kaum älter als die Oberstufenschüler.“
„Na ja, sie haben den Begriff ‚Student‘ erfunden, nicht wahr?“, fragte sie. „Wir, na ja, wir waren einfach große Schülerinnen und Schüler – oder junge Männer und Frauen – je nachdem, wo man stand.“
„Ah ja, die vorliberale Gesellschaft“, dröhnte Maxwell mit schiefen Augenbrauen. „Gute Zeiten.“
„Seltsame Zeiten“, sagte sie nachdenklich, „wenn ich so zurückblicke.“
„Im Rückblick“, erklärte er, „sind die Zeiten immer seltsam.“
„Ja.“ Sie lächelte ihn an. „Da hast du wohl recht.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Sollten wir nicht zurückgehen? Um acht Uhr gibt es Abendessen, hieß es, oder?“
„Abendessen um acht“, sagte er und half ihr auf. „Machst du mir das Vergnügen?“ Er streckte ihr seinen Arm entgegen.
Sie schlug mit dem Ärmel ihres Cardigans danach. „Schon möglich, du obszöner, alter Mann, aber zuerst darfst du mich zum Essen geleiten.“
***
Sally Greenhow starrte an die Artex-Decke. Aus irgendeinem Grund taten ihre Füße höllisch weh. Bei dem Einführungsvortrag zum Personalisierten Lernen des guten Doktors hatte sie nicht viel gelernt, aber das war auch zu erwarten gewesen. Man wurde nicht zu einem Pädagogikprofessor, indem man geistreich war, ein Vorreiter oder gar relevant. Tatsächlich fiel ihr auf, dass neunzig Prozent der Lehrgänge, die sie in den vergangenen fünf Jahren besucht hatte, eher von untergeordneter Tragweite waren.
Wo war das Buch, das sie sich gekauft hatte? Oh, ein Glück. Seite einunddreißig. Sie öffnete es, frischte ihre Erinnerung an den letzten Absatz auf, den sie gelesen hatte, und klappte es wieder zu.
„Anthea Westinghouse“, sagte sie laut, „mit den antiken Pistolen, weil George auf so schmutzige Weise ihre Tochter missbraucht hat.“
Das Zimmer wurde Zeuge ihres mutigen Versuchs, mit Logik den rätselhaften Mord im Buch aufzuklären. Es schaute atemlos zu, während sie blätterte. Wo zur Hölle war es? Ein Stirnrunzeln verfinsterte ihr hübsches, kindliches Gesicht und sie warf das Buch hin. „Na ja“, verkündete sie dem Zimmer bloß, „eins aus drei ist nicht schlecht.“
Der Satz wurde von einem Klopfen an der Tür untermalt. Das war bestimmt dieser widerliche, kleine Schweißtyp Gary mit irgendeinem Verwaltungsmist für den nächsten Morgen. Nur dass er es nicht war, wie sie bemerkte, als sie öffnete. Es war der widerliche, kleine Scheißtyp Jordan, Gottes Vikar auf Erden.
„Ähm … hallo“, sagte er. „Sally, könnte ich … ähm … dürfte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?“
Er hatte sich beim Abendessen schon ausführlich mit ihr unterhalten. Das war eine dieser Unannehmlichkeiten. Margot Wieauchimmer – Sally hatte den Namen bei der Vorstellungsrunde nicht mitbekommen, doch sie wusste noch, dass sie eine Kunstlehrerin aus Maidstone war – hatte interessant gewirkt, doch sie war von Michael Wynn vereinnahmt worden. Maxwell hatte sich die Zeit mit seiner Verflossenen um die Ohren geschlagen, wie in Lochinvar, und diese halbe Portion Lesbe, Valerie Marks, hatte auf sie zugesteuert, vermutlich, um über die verschiedenen Spielarten von Häkelnadeln zu sprechen. Also hatte sie sich einfach schnell an einen Tisch gesetzt und sich eingeklemmt zwischen einen Strauß Kunstblumen und Jordan Gracewell.
„Nun“, Sallys Arm stemmte sich eigenwillig und starr quer durch den Eingangsbereich, „es ist schon spät, Jordan“, sagte sie ihm.
„Oh. Ja, natürlich. Ich weiß. Aber es geht um Liz; Liz Striker. Ich kann sie immer noch nicht finden.“
Das war die B-Seite auf der Schallplatte seines Lebens. Die A-Seite gehörte einem weitaus fesselnderen Thema: dem Platz von Weihrauch in der modernen, katholischen Kirche.
„Warst du noch einmal bei ihrem Zimmer?“
„Oh, ja. Es liegt lustigerweise direkt über diesem. Das ist mir aufgefallen, weil der Flur hier diese seltsame, kleine Macke hat.“
„Ja, ich weiß“, sagte Sally mit steinernem Gesicht. Aber dass sie ihn damit meinte, ging völlig an dem jungen Kaplan der St. Bede’s vorbei.
„Er ist identisch zu dem oben“, erklärte er.
Sally wollte ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass John einen Zwilling hatte, aber plötzlich überlegte sie es sich anders und ließ den Arm sinken. „Na dann“, seufzte sie, „solltest du wohl lieber hereinkommen.“
Er duckte sich beinahe unter ihrer flachen Brust hinweg, als er versuchte, sie nicht zu berühren, während er an ihr vorbeiging. Wie konnte dieser Mann auf einer Mädchenschule überleben?
„Oh, das sieht aus wie mein Zimmer“, sagte er, während er das Bett, den Schrank und das Bad musterte.
„Faszinierend.“ Sie nahm das getragene Höschen, das sie vorhin noch angehabt hatte, und warf es in eine Schublade. „Ähm … kann ich dir einen Kaffee anbieten?“ Haben Sie jemals etwas augenblicklich bereut? Wie auf eine Harke zu treten? So fühlte Sally Greenhow sich, als sich der Pater wie eine Sprungfeder auf der Armlehne ihres Sessels niederließ. „Oh, gerne“, sagte er.
„Lass mich raten.“ Sie schaute ihn an. „Weiß, zwei Stück Zucker.“
„Nein, nein.“ Er wedelte mit den Händen. „Eins.“
„Oh, du Hund!“, gluckste sie, bereute es aber augenblicklich und beschäftigte sich mit dem Wasserkocher.
„Es ist nur, dass … na ja, ich will nicht, dass du mich für paranoid hältst.“
Sally hob die Augenbrauen, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
„… aber nicht nur ich habe Liz seit gestern nicht mehr gesehen. Niemand hat sie gesehen.“
„Donnerstag?“, fragte Sally nach. „Aber ich dachte, der Lehrgang fing erst heute an, am Freitag.“
„Ja, so war es auch“, erklärte Gracewell, „aber eine Gruppe von uns kam schon einen Tag früher, um Vorbereitungen zu treffen. Wir sind die zweite Vortragsgruppe. Morgen Nachmittag. Und wir wussten, dass uns heute mit der Vorstellungsrunde und Professor Brownwoods Vortrag keine Zeit mehr bleiben würde. Er war brillant, nicht wahr?“
„Überwältigend“, log Sally. „Vorsicht, heiß.“
Er nahm die Tasse entgegen, die einem ziemlich hässlichen Set entstammte, mit dem Schriftzug des Carnforth Conference Centre darauf, um absolut sicherzugehen, dass es keinen Wiederverkaufswert hätte, für einen Menschen, der anderer Leute Porzellan klaute. „Vielen Dank, Sally“, sagte er, als hätte er gerade das schmutzigste Wort der englischen Sprache ausgesprochen.
„Worum dreht sich eure Präsentation genau?“, fragte sie ihn.
„Na ja, die anderen sind zuerst dran; die Gruppe aus Luton.“
„Ah, ja, die Adolf-Eichmann-Gesamtschule. Haben sie dich nicht auch ein wenig beeindruckt? Der Leiter des Fachbereichs Naturwissenschaften mit seinem finsteren Blick und der Haltung. Mein Gott, ich dachte schon, mein Kollege stünde rechts von Dschingis Khan.“
„Das wäre Mr. Maxwell, nicht wahr?“, fragte Gracewell. „Er scheint Rachel King sehr zugetan zu sein.“
„Ja, nicht wahr?“ Sally warf sich aufs Bett und lehnte den Kopf an die Wand. „Gibt es einen Mr. King?“
„Oh, nein. Nun, es gab ihn, aber es heißt, es sei psychische und physische Gewalt im Spiel gewesen. Gerüchten zufolge hat sie sich eines Tages einfach ihre Sachen und ihre Tochter geschnappt und ihn verlassen.“
„Hm.“ Sally nickte. „So sind sie, die Männer.“ Und sie grinste ihn schmierig an.
„Nein, ich habe am Empfang nach Liz gefragt – Liz Striker. Aber man hat sie nicht nach draußen gehen oder zurückkommen sehen. Ich habe sogar Gary gebeten, ihr Zimmer für mich aufzuschließen. Ich glaube nicht, dass jemand in dem Bett geschlafen hat.“
„Wirklich?“ Das kam auch Sally seltsam vor. „Nun, es muss eine logische Erklärung für all das geben. Sie ähm … sie hat keine Affäre mit einem Mann aus eurem Kollegium, oder?“
„Wie bitte?“ Gracewell wirkte entsetzt.
„Ich meine ja nur, du weißt schon – zwei Kopfabdrücke auf dem Kissen, so etwas?“
„Ich glaube, ich sollte gehen“, sagte Gracewell und erhob sich ruckartig. „Danke für den Kaffee.“
„Hör mal“, sie nahm seine Tasse entgegen, „wenn ich etwas Unangemessenes gesagt habe, Jordan …“
„Nein“, sagte er, doch er schaute nicht zurück, während er zur Tür lief; recht zielstrebig, wie sie fand. „Nein, hast du nicht. Ich werde der Sache schon irgendwie auf den Grund gehen. Gute Nacht, Sally.“
Er verschwand auf leisen Sohlen im schwach beleuchteten Flur. Den Kaffee in Sallys Hand hatte er kaum angerührt.
***
Es war immer das gleiche mit Lehrgängen. Nach dem Kennenlernen kam die Problemlösung. Maxwells erstes Problem war es, dass er die Gruppen wechseln wollte. Sie waren zufällig von Gary Leonard eingeteilt worden, dem Koordinator des Lehrgangs, und Maxwell musste verstimmt, wenn auch nicht überrascht, feststellen, dass er und Rachel in unterschiedlichen Gruppen waren. Er war in Gruppe A und sie in Gruppe D. Er fragte sich immer noch, ob er einfach zwei Namen durchstreichen und vertauscht aufschreiben sollte, oder so lange vor einem Fremden um Gnade winseln sollte, bis der einem Tausch zustimmte, als das Frühstück in der Hadleigh Suite endete und sich die furchtlosen Gruppen in alle Winde zerstreuten.
„Wir sehen uns beim Mittagessen“, war alles, was Rachel King noch zu ihm sagen konnte. Sie zwinkerte ihm zu und verschwand in ihrer Gruppe und der Rolle, die sie für den Rest der Welt spielte.
Auf dem gemeinsamen Weg zum Strand musterte Maxwell sein Team. In einem Moment der Schwäche hätte er das A-Team in ihnen sehen können, obwohl die Ähnlichkeiten zum Dream-Team deutlicher zu erkennen waren. Und wenn Maxwell Hannibal Smith war, dann war es höchst unwahrscheinlich, dass ihre Pläne erfolgreich sein würden, ob es ihm gefiel oder nicht. Sie waren auf jeden Fall eine sehr bunte Truppe. Der auserkorene Anführer war Gregory Trant, ein recht reptilienartiges Wesen, dessen Augen sich standhaft weigerten, sich in dieselbe Richtung zu bewegen. Er schien ein lustloser Mistkerl zu sein, doch das wurde vermutlich aus Menschen, die in Luton unterrichteten. Sollte er in der Schlacht fallen, würde Michael Wynn, der bärtige Liebling von St. Bede’s, als Nummer Zwei seine Stelle übernehmen. Dann waren da noch Lydia Farr, die in Tenterden Textiles Werken unterrichtete und das Vorbild für die Skexis in Der Dunkle Kristall gewesen zu sein schien; Alan Harper-Bennet, dem Maxwell auf jeden Fall einen Preis verleihen würde, weil er es wagte, mit einem Doppelnamen an einer Gesamtschule zu unterrichten; Phyllida Bowles, eine mauerfarbene Frau und Märtyrerin des Heuschnupfens; Margot Jenkinson, die Töpferware und Sir Andrew Lloyd Webber liebte; und natürlich Maxwell selbst, der einzig Normale in der Runde. Sie erreichten das Heidekraut, kurz bevor das Wetter umschlug, und stapften über den rutschigen Boden von The Shingle, mit der Bucht zu ihrer Linken.
„Also hier gibt es überhaupt keinen Schutz“, sagte Lydia, die ihre Haare festhielt, als könnte der Wind sie davontragen. „Wie sollen wir einen Unterschlupf bauen, wenn es hier rein gar nichts gibt?“
„Du hast wohl die Arbeitsanweisung nicht richtig gelesen, meine Liebe“, sagte Trant herablassend. „Da steht nicht, dass es einfach wird.“
„Da drüben hat jemand Müll abgeladen“, rief Wynn. „Schauen wir doch mal, was wir finden.“
„Also bitte!“, jammerte Phyllida, während sie nachdrücklich die Hände in die Taschen ihrer Jeans schob. „Ich habe mich nicht für einen GNVQ-Lehrgang gemeldet, um mir an irgendeiner alten Matratze etwas einzufangen.“
„Was sein muss, muss sein“, entgegnete Wynn kühl. „Peter? Begleitest du mich?“
„Wenn es sein muss“, seufzte Max. „Aber nenn mich Max. Nicht Peter. Max.“
„Na schön, Max.“ Wynn grinste. „Witzige Sache, solche Spitznamen, nicht wahr? Ich kannte mal einen Kerl namens Arthur, als ich noch selbst zur Schule ging. Arthur Gries. Arthur war durch und durch Vegetarier und allen als Kret bekannt, was natürlich eine Abkürzung für Kretin war. Du bist älter als ich, so ein paar Jahre, du weißt, wie das ist. Man denkt gar nicht darüber nach, wie grausam Kinder sein können. Erst als ich ihn Jahre später in einem Rotary-Club wiedersah und ihn Arthur nennen musste, wurde mir das bewusst. Und es klang einfach nicht richtig. Der Mann hieß eigentlich immer noch Kret; ein Name fürs Leben. Schade, dass wir nicht ehrlicher sein können, oder? Lust auf etwas Gewühl im Abfall?“
Gregory Trant, Alan Harper-Bennet und Lydia Farr hatten sich auf die Suche nach Treibholz gemacht, um damit der Aufgabe entsprechend einen Unterschlupf zu bauen. Der Wind stand so, dass sie die Rufe der anderen nicht hören konnten, und bald hatten sich zwei Gruppen gebildet, die sich gegenseitig nicht mehr sehen konnten. In dem Moment tat sich der Himmel auf, was Maxwell an das plötzliche Unwetter erinnerte, das sich während der Schlacht von Evesham 1265 aus dem Nichts zusammengebraut hatte. Damals war Simon de Montfort in der großen Flussschleife des Avon im Schlaf erwischt worden. Maxwell wusste das vor allem, weil er durch und durch Historiker war. Maxwells Schülerinnen und Schüler hingegen dachten, er sei damals dabei gewesen.
Der Regen schmerzte regelrecht mit seinen großen Tropfen, und die inoffizielle Müllkippe war ein Sumpf aus Schlamm, den die Gruppe auf ihrer Materialsuche durchquerte, um unter einigen verkümmerten Zedern Schutz zu suchen.
„Verdammte Scheiße!“ Margot Jenkinson kochte vor Wut. „Natürlich stellt man erst bei einem solchen Wolkenbruch fest, dass man ein Loch im Schuh hat, nicht wahr? Nasse Strumpfhosen sind die Hölle, nicht wahr, Mr. Maxwell?“
„In der Tat.“ Maxwell kramte seinen besten John Inman heraus, „Und sauber, an diesem Morgen.“ Er leckte seine Finger an und strich sich damit die Augenbrauen glatt –eine Geste, für die nicht gerade viele alleinstehende Männer genug Nerven hätten.
„Nun“, Michael Wynn streckte kurz den Kopf unter den Bäumen hervor, „es sieht aus, als wäre die Sache in Wasser gefallen. Wollen wir noch ein wenig warten oder zum Haus rennen?“
Alan Harper-Bennet und Lydia Farr waren schon zum Haus gesprintet, als der Wolkenbruch angefangen hatte, gefolgt von Gregory Trant. Nur dass sie auf der falschen Seite waren und eine dichte Ligusterhecke zwischen ihnen und der Zufahrt stand. Lydia machte sich noch mehr Sorgen darum, was der Regen ihrer Frisur antun würde, als zuvor angesichts des Windes. Als sie einen Seiteneingang entdeckte, riss sie die Tür auf und eilte hinein. Harper-Bennet stieß mit ihr zusammen, als er versuchte, die Tür hinter sich zu schließen, und murmelte gerade eine Entschuldigung, als er bemerkte, dass Lydia sich nicht regte. Sie konnte sich tatsächlich gar nicht bewegen. Er hatte noch nie zuvor einen Menschen unter Schock erlebt, doch jetzt war es soweit. Ihr Mund stand offen, ihre Augen waren weit aufgerissen. Jeder Muskel in ihrem Körper war eisenhart.
„Lydia?“ Harper-Bennets Stimme hatte einen eigenartigen Klang, als würde er sich in dem dunklen Flur selbst nicht ganz trauen. Er folgte dem starrenden Blick der Frau. Da war eine offenstehende Tür, die anscheinend in einen Lagerraum führte. Und dort, von hinter einem eingestürzten Stapel aus eingepacktem Büromaterial, starrte eine Frau zu den beiden herüber. Es war ein seltsamer Moment, da die Augen der Frau trüb und halb geschlossen waren. Ihr Mund stand offen, wie Lydias, doch etwas Braunes umgab Lippen und Nase. In dem seltsamen Licht, das durch eine Öffnung im Dach hereinfiel, sah man, dass ihr die Haare in der Stirn klebten. Und es bestand kein Zweifel daran: Die Frau war tot.
***
Jeder Ort konnte zu einem Tatort werden. In Romanen war es natürlich der Westflügel oder die Bibliothek eines Pfarrhauses auf dem Land. Doch das waren die britischen Cosy-Crime-Geschichten. In den Staaten waren es ein privater Pool oder eine drogenverseuchte Gasse in der Bronx. Was einen Lagerraum zu einem Tatort machte, war die Tatsache, dass jemand beschlossen hatte, dort eine Leiche zu verstecken. Und von diesem Moment an, war der Ort ein anderer. Sobald die Leiche gefunden wurde, veränderte sich der Ort grundlegend. Eine schauderhafte Schönheit, wie Yeats sagte, nur dass Yeats nicht über eine Leiche sprach.
Pfarrer Jordan Gracewell hatte in seinem ganzen Leben noch nie so viele Polizisten gesehen. Und er hätte ganz sicher nicht mit Männern in weißen Overalls und Chirurgenhandschuhen gerechnet. Da standen ein Krankenwagen und etliche Streifenwagen, groß und weiß; viele Meter Flatterband, auf dem immer wieder die Aufschrift ‚Polizei‘ stand, aber kein Blaulicht und keine quietschenden Reifen. Tatsächlich hatte sich die Polizei von Kent in Geschwindigkeit und Effizienz ihrer Reaktion selbst übertroffen. Von Gary Leonards Anruf, der einen verdächtigen Todesfall im Carnforth Centre gemeldet hatte, bis zum Eintreffen der ersten Beamten waren nur acht Minuten vergangen. Sie waren beide bewaffnet, auch wenn das niemand außer ihnen wusste, und wenige Minuten nach ihnen waren die Beamten der Spurensicherung eingetroffen.
Es war schon Mittag, als Chief Inspector Miles Warren in dem dunklen Flur der Kelleretage des Zentrums stand und jemandem bei der Arbeit zuschaute. Er war einst als zu klein für den Polizeidienst eingestuft worden, doch entweder hatte er die Messung manipuliert oder man war bei der Truppe sehr verzweifelt gewesen, denn hier war er, ein Mann, mitten im Leben, der noch nie eine Krise erlebt hatte. Oder falls doch, hatte er es sich nie anmerken lassen. Seine Freunde nannten ihn ‚Stony‘, weil sie ihn noch nie hatten lächeln sehen.
„Was haben wir hier, John?“
Inspector John McBride verlor bereits sein Haar. Es war lockig und blond, verließ ihn aber in stetigem Tempo, seit er die Schule abgeschlossen hatte. Er mochte Stony Warren nicht wirklich, doch er wusste, dass der Mann seinen Beruf beherrschte, und das musste ausreichen.
„Mrs. Elizabeth Striker“, berichtete er seinem Vorgesetzten. „Verheiratet, achtunddreißig, war hier auf einem Lehrgang.“
Warren schaute hinter sich. Uniformen, Kameras, aber kein verdammter Mediziner.
„Gibt es in diesem County einen Gerichtsmediziner“, fragte er jeden, der zuhören wollte.
„Dr. Anderson wurde vor beinahe zwei Stunden telefonisch informiert, Sir“, sagte jemand. „Seine Frau hat die Nachricht entgegengenommen.“
„Wirklich?“ Warren war nicht beeindruckt. „Das ist nicht hilfreich. John? Bereit, sich mal daran zu versuchen?“
Warren war ein Verfechter der Praxis, seinen Untergebenen zu Erfahrung zu verhelfen. Außerdem war er selbst damit ein wenig entlastet. Stony ging nur unter seinen eigenen Bedingungen Risiken ein. Er sah keinen Grund dafür, schon so früh in einem Fall seine Unzulänglichkeiten zur Schau zu stellen.
„Die Todesursache ist wahrscheinlich ein zertrümmerter Schädel“, spekulierte McBride. „Man hat von hinten auf sie eingeschlagen, würde ich sagen, aber ich weiß nicht, wie oft.“
„Mordwaffe?“
McBride zuckte mit den Schultern. „Wir haben noch nichts gefunden. Ich habe Männer ins Gelände geschickt.“
Das hatte Warren auf seinem Weg hierher gesehen. Reihenweise uniformierte Beamte, die auf Händen und Knien Gebüsche absuchten, als wären sie Teil irgendeines vorzeitlichen Rituals. Wenn eine Leiche gefunden wurde, bildeten die Männer in Blau Linien und krabbelten herum, als würden sie eine bizarre Form von Tai-Chi praktizieren.
„Dann ist sie nicht hier gestorben?“ Warren betrachtete die Wand hinter dem Kopf der Toten. In diesem winzigen Lagerraum war nicht einmal genug Platz, um ein Ei aufzuschlagen, ganz zu schweigen von einem Schädel.
„Nein, Sir.“ McBride war sich sicher. „Draußen im Gang, würde ich vermuten. Dann wurde sie hier reingeschleift.“
„Warum?“
„Das alte Problem.“ McBride zuckte mit den Schultern. „Schön und gut, jemanden umzulegen, aber dann steht man üblicherweise vor der Frage, was man mit der Leiche anstellt.“
„Also steckt man sie in einen Lagerraum?“
„Kein wirklich guter Plan, oder?“
„Nicht ideal, nein.“ Warren nickte. „Vielleicht war es nur ein vorläufiges Versteck, mit dem sich der Täter Zeit zum Nachdenken verschaffte; Zeit, um für eine dauerhafte Lösung zu sorgen. Mit einem Tatzeitpunkt wollen Sie es wohl nicht versuchen, oder?“
Ein Lächeln zuckte über McBrides Gesicht. „Also, die Leiche ist kalt und nicht mehr steif. Das heißt, die Leichenstarre ist schon wieder vorüber. Die Tat ist mindestens achtundvierzig Stunden her, würde ich sagen.“
Warren nickte erneut. „Wenn man Temperaturschwankungen mit einbezieht und den Zustand der Leiche und so weiter.“ Er schaute sich um. „Das ist eigenartig“, sagte er.
„Was, Sir?“ McBride hasste es, wenn man ihm die Show stahl; selbst wenn es Warren war.
„Die Tür. Sie öffnet sich nach außen.“
„Muss sie wohl, oder?“, fragte der Inspector. „So klein, wie dieser Raum ist.“
„Schon möglich“, sagte Warren. „Allerdings hatte unser Mann ein wenig Pech.“
„Sir?“
„Nun, ich nehme an, dass Mrs. Striker hinter diesen Stapeln von Papierkisten eingeschlossen war. Sie müssen eingestürzt sein und das hat die Tür aufgedrückt. Würde sich die Tür nach innen öffnen, hätte das nicht passieren können.“
„Doch das hätte den Fund der Leiche nur für eine Weile verzögert“, sagte McBride.
„Schon möglich“, sagte Warren erneut und kniff die Augen zusammen.
McBride hasste es, wenn das geschah. Er würde seinem Vorgesetzten nie in den Kopf schauen können. Und deshalb würde er ihm niemals einen Schritt voraus sein. Er trottete immer nur hinterher.
„Sagen Sie mal“, fragte Warren, „sind alle vor Ort? Die Gäste, meine ich. Und die Angestellten.“
McBride nickte. „Alle bis auf eine Handvoll Lehrer, die irgendwo draußen an der Bucht eine Übung zur Problemlösung machen.“
Falls Warren lächeln würde, hätte er das in diesem Moment getan. „Nun“, sagte er, „wenn sie zurückkommen, können sie auch für mich ein paar Probleme lösen. Ich sollte mich mit den Gästen unterhalten, bevor sich jemand aus dem Staub macht. Es wird sonst unglaublich teuer, sie wieder aufzuspüren. Oh, John …“ Er wandte sich zum Flur um. „Unterrichten Sie mich, wenn Graham Anderson eintrifft, ja? Und wenn Sie Mrs. Striker rausgebracht haben, werden Sie diese Mauer wiederaufbauen.“
„Sir?“
„Die Kisten. Die Mauer aus Kisten, hinter der sie versteckt war. Ich möchte, dass der Raum wieder so aussieht wie vor dem Einsturz. Verstanden?“
***
Maxwell hatte das schon einmal erlebt. Oder so ähnlich. Eine Schülerin und ein Schüler seiner Oberstufe waren unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Eine polizeiliche Ermittlung war ihm also nicht fremd. Dennoch hatte er noch nie eine Absperrung der Polizei übertreten. Jetzt hatte er keine andere Wahl.
„Gütiger Himmel“, sagte Phyllida Bowles, während sie den Krankenwagen und die Polizeifahrzeuge an der Straße musterte. „Sie müssen die Leiche von dieser Frau gefunden haben. Wie hieß sie noch gleich?“
„Was?“, fragte Wynn.
„Dings. Du weißt schon. Deine Kollegin. Dieser ulkige, kleine Vikar hat gestern alle mit seiner Suche nach ihr belästigt.“
„Mrs. Striker“, fiel es Margot Jenkinson wieder ein. „Weißt du, Michael, dieser Gin Orange, den wir uns vor dem Aufbruch genehmigt haben, schlägt mir echt auf die Schwimmblase. Ich muss mehr Orangensaft nehmen.“
In diesem Augenblick wurden sie vom langen Arm des Gesetzes gestoppt, von einer besonders dienstbeflissenen Polizeibeamtin, die Maxwell an Helen Mirren in dieser Polizeiserie erinnerte – vierzig, aber begehrenswert. Sie nannten alle ihre Namen und Maxwell war überrascht, als Margot Jenkinsons klischeehafte Frage: „Was ist hier los?“, der jungen Frau in Blau eine irrelevante Antwort entlockte. „Der Chief Inspector möchte mit Ihnen sprechen.“
***
Miles Warren hatte sein Lager in der Trevelyan Suite im ersten Stock aufgeschlagen – abseits der Gaffer am Tor – auf dem kleinen Podium, das für einen drittklassigen Jazzmusiker eingebaut worden war, der immer noch jeden Sommer Englands Südküste heimsuchte. Er hatte das hier schon einmal getan, vor sämtlichen Gästen und Angestellten des Carnforth. Und jetzt tat er es erneut, vor den zurückgekehrten Problemlösern.
Und während er ihnen berichtete, dass auf dem Gelände die Leiche einer Frau gefunden worden war und dass sie ermordet worden sei, beobachtete er jeden Einzelnen von ihnen ganz genau. Denn Miles Stony Warren wusste, was jedem Detective bekannt war. Dass Informationen wie diese in zwei Richtungen wirkten. Wenn man jemandem von einem Mord berichtete, reagierte die Person. Manche schnappten nach Luft, andere schrien und wieder andere weinten. Manche zeigten fast gar keine Regung; nur ein angespannter Muskel im Nacken, das Zucken eines Finger oder ein Zwinkern. Und das schaute man sich an, mit dem halbdurchlässigen Spiegel des eigenen ausgebildeten Auges. Man bemerkte Dinge und man merkte sie sich. Und in der guten alten Zeit waren es solche Kleinigkeiten, die Männer am Galgen enden ließen.