Leseprobe Mr Maxwell und die geheimnisvolle Lehrerin

Kapitel 1

Die Silhouette des Detectives verdunkelte die Gardine an der Haustür. Es klapperte einmal im Schloss, dann war er drinnen und schaute in die düsteren Winkel des Eingangsbereichs. Die Tür fiel hinter ihm mit einem schweren Klicken ins Schloss. Das einzige Geräusch kam von der tickenden Uhr und das einzige Licht von den schwachen Lampen. Er sah die abblätternde Farbe an der Tür zu seiner Rechten und den von tausend Händen polierten Türgriff. Es war die Tür zum Rübenkeller.

Zu seiner Linken führte eine Treppe mit einem reich verzierten Mahagoni-Geländer nach oben. Er stieg vorsichtig hinauf und schaute sich auf jeder Stufe um.

Seine Schritte hallten durch das leere Haus. Er hatte den Fedora abgesetzt und hielt sich mit der anderen Hand am Handlauf fest. Er hörte das Knarren der zweiten Stufe, dann der dritten und der vierten. Die ganze Zeit hielt er den Blick auf die mit Samt verhangene Lampe am Treppenabsatz gerichtet. Er sah nicht, wie sich links über ihm die Tür öffnete.

Er hatte ein Engegefühl in der Brust, als würde sich dort eine Feder aufziehen. Sein Herz schlug so stark, dass es in seiner Brust und seinen Ohren donnerte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, nach der 38er zu greifen, die in seinem Schulterholster steckte. Dann überlegte er es sich anders. Er hatte das Ende der Treppe erreicht.

Wer auch immer es war, der Angriff kam vom Schlafzimmer, von der Tür zu seiner Linken. Eine große Frau mit kantigen Zügen und schlechter Perücke erreichte den Treppenabsatz mit einem einzelnen Schritt. Ihr langes Calico-Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper und ihr silbergraues Haar leuchtete im Licht der Gaslampe. Sie hielt ein Brotmesser in der rechten Hand und es blitzte auf, als es einmal und ein zweites Mal die staubige Luft der Sommernacht durchschnitt und in seine Brust sank, wobei es Hemd und Hosenträger zerschnitt. Dunkles Rot spritzte auf sein Revers, seine Stirn und seine linke Wange. Der Hut fiel ihm aus der Hand. Er taumelte rückwärts, hatte beide Arme erhoben und versuchte, in der Luft Halt zu finden, bis er bei einem Schritt nach hinten die Treppenstufe verfehlte. Sie stach immer noch mit dem Messer auf ihn ein, als er stürzte. Er prallte auf den Treppenläufer und rollte schließlich ein Stück über den Boden.

Die misstönende Musik, die durch ihren Kopf hallte, wie von Fingernägeln, die über eine Tafel gezogen werden, setzte aus. Das lange Messer lag blutverschmiert auf dem Teppich. Sie bückte sich, schob ihm sanft und liebevoll einen Arm unter den Kopf und den anderen unter die Taille. Sie zog ihn in die Höhe, sodass er einen Augenblick wieder aufrecht stand, während immer noch stoßweise das Blut aus seinem Herzen quoll. Dann kippte sie ihn zu sich, fing sein ganzes Gewicht mit den Armen auf und lief auf die Treppe zu.

Sie lief den Weg, den er gegangen war, die knarrenden Stufen hinauf, und sang leise vor sich hin, während sie sich mit ihrer eigentümlichen, knochigen Art hin und her wiegte. Er fühlte sich in ihren Armen wie Blei an, doch sie konnte jetzt nicht aufhören. Noch eine Stufe. Ein oder zwei Schritte, dann wäre sie dort. Sie trat mit dem rechten Fuß die Tür auf und zerrte ihn hinein, wobei sie behutsam darauf achtete, mit seinem Kopf nirgends anzustoßen.

Die Tür fiel hinter ihr mit einem leisen Klicken ins Schloss. Dann herrschte Stille. Der Flur lag so leise da, wie sie ihn verlassen hatte. Ein Hut lag in einem seltsamen Winkel auf der Treppe und eine Blutspur zog sich über den ausgetretenen Teppich.

Dann war hinter der Tür die Zeile zu hören, die Millionen Menschen das Blut in den Adern hatte gefrieren lassen. Ein junger Mann, entsetzt und aufgebracht: „Mutter! Mein Gott, Blut! Mutter, wie kommt das Blut hierher?! Mutter!“

***

Peter Maxwell schüttelte sich, um sich von der Magie zu befreien. Die Leinwand vor ihm war bereit für eine weitere Szene. Dieses Mal war es ein bärtiger Henry Fonda, der in My Darling Clementine Wyatt Earp spielte (eher schlecht). Doch Maxwell war schon von seinem Plüschsitz aufgestanden und strich noch ein letztes Mal über den flauschigen Stoff. Das wurde natürlich alles mit Spiegeln gefilmt. Der dürre Anthony Perkins, der selbst triefnass kaum fünfzig Kilo auf die Waage brachte, hätte niemals Martin Balsam mit seinen knapp hundert Kilo tragen können, ob mit oder ohne Fedora. Doch das war nicht wichtig. Es zählte nur, dass Psycho wieder einmal einen Zauber gewirkt hatte. Maxwell gluckste vor sich hin, als er das Kino verließ. Er lachte über den alten Lügner Hitchcock, der behauptet hatte, er hätte mit diesem schwärzesten Film Noir niemals jemandem Angst machen wollen; mit dem Schatten auf dem Duschvorhang, mit Janet Leighs Blut, das in den Abfluss rann, mit der Gestalt auf dem Treppenabsatz, die Martin Balsam erstach, während die Kamera von oben auf die Szene herabblickte, mit der abscheulichen Leiche im Rübenkeller, deren eisengraues Haar man sorgfältig über den Schädel mit den leeren Augen gekämmte hatte … Nein, nichts davon hatte irgendjemandem Angst einflößen sollen. Du alter Mistkerl, dachte Maxwell.

Doch ihm wurde auch bewusst, dass sie schon alle tot waren, oder? Hitchcock, Anthony Perkins und selbst der gute, alte Martin Balsam. Solche Kaliber gab es heute einfach nicht mehr. Man hatte die Gussform zerstört und verscharrt. Ein ganzer Ansturm von Klischees erfüllte seine Gedanken.

Am Ausgang hielt er inne und drehte sich um. In dem Gebäude ließ er all die Träume seiner Kindheit zurück. Flash Gordon, Zorro, die scharlachrote Blume, sie waren alle dort. Und sie waren noch nicht alle tot. Eine neue Generation begeisterte sich für sie, aus der Sicherheit ihrer Wohnzimmer heraus. Dank Fernbedienung und Videoband war Bond immer noch da. Und Batman. Und wenn man Moore und Connery dieser Tage besonders vorsichtig ausleuchten musste, dann war es eben so. Maxwell erhaschte im Glas der Tür einen Blick auf sein Spiegelbild. Wir sind alle nicht mehr so jung wie damals, dachte er.

„Schülergruppen?“ Ein gehetzt wirkender Kerl im Anorak stieß mit ihm zusammen, mit ungefähr vierzig schreienden Kindern im Schlepptau.

„Nein danke“, sagte Maxwell.

Der Unterstufenlehrer schaute ihn verwirrt an. „Nein, ich meine: Wissen Sie, wo man mit Schülergruppen hingeht?“

„Nun“, Maxwell lächelte ihn an. „Hätten Sie eine Flöte dabei, würde ich sagen, spielen Sie weiter und biegen Sie da vorne links ab. Dann erreichen Sie den Fluss und werden Ihr Glück gar nicht fassen können. Aber ich glaube, es ist das Tor da drüben, mit der Aufschrift ‚Schülergruppen‘.“ Maxwell hob seinen formlosen Hut kurz von seiner formlosen Frisur. „Viel Spaß“, sagte er und grinste die kreischenden und tobenden Kinder an.

***

Manche Lehrkräfte – und alle, die im Fachbereich Mathematik arbeiteten – bezeichneten Schulausflüge als ‚jollies‘. Niemand wusste genau, warum, wo man sich doch kaum etwas weniger Vergnügliches vorstellen konnte. Es gab auch verdorbene, melancholische Wesen, die sie mit dem siebten Kreis der Hölle verglichen, doch das sind eindeutig traurige Gestalten. Die Leute aus dem Fachbereich Mathematik bezeichneten die Ausflüge auch nur deshalb als vergnüglich, weil sie nie an einem teilgenommen hatten. Wo geht ein Mathematiklehrer überhaupt hin, um Spaß zu haben?

‚Jollies‘ entstehen aus einer Idee; einer Idee, die man Kindern vermitteln muss.

Was Kinder genau sind, ist schwer zu definieren. Diejenigen, die Peter ‚Mad Max‘ Maxwell an diesem Montagmorgen in der Leighford High vor sich hatte, waren recht erträgliche Menschen und saßen in ordentlichen Reihen im Herzen seines Geschichtsimperiums im ersten Stock.

„MOMI“, sagte Maxwell, während er sich zurücklehnte und seinen Stuhl auf die Hinterbeine kippen ließ, was er seinen Schützlingen strengstens untersagte. „Das Museum of the Moving Image. Es ist brillant und überwältigend. Man kann über London hinwegfliegen, sich von Barry Norman interviewen lassen und so tun, als wäre man ein Dalek. Tatsächlich kann man das alles beinahe gleichzeitig tun. Wer hat Lust darauf?“

Ein paar Hände wurden in die Höhe gereckt. Blicke zuckten nach rechts und links, während sich junge Menschen bei ihren Freunden vergewisserten, dem Druck nachgaben und weitere Hände in die Höhe stiegen.

„Ich kann dafür sorgen, dass der Ausflug auf den Tag eurer Chemiearbeit fällt“, sagte er.

Bingo! Einunddreißig Hände schossen deutlich in die Luft.

Auf die Idee folgt der Papierkram. Es bleibt nicht nur den bewaffneten Streitkräften Ihrer Majestät oder den verstaubtesten Ecken des Beamtenapparats vorbehalten, Formulare in dreifacher Ausführung auszufüllen. Auch an jeder High School findet man solche Vorgänge zuhauf. Maxwell, dem Computer und ihre Programme völlig fremd waren, schrieb händisch den Namen jedes Kindes auf, das am Ausflug teilnehmen sollte, und notierte daneben ihre Telefonnummern. Im Sekretariat überprüfte er die Aktenkarten auf Besonderheiten – Asthmatiker, Diabetiker und Bettnässer. Die Psychopathen kannte er bereits. Dann begab er sich auf der Suche nach einer Frau ins Lehrerzimmer.

„Anthea!“ Er lief mit seinem watschelnden Gang über den Teppich und nahm ihre Hand. „Oh du göttliche Perfektion der Frau“, er verfiel augenblicklich in seinen Laurence Olivier als Richard III., „spende mir deinen Segen.“

„Max!“ Anthea war jung genug, um Maxwells Tochter zu sein. Er hatte ihr schon immer Angst bemacht, als graue Eminenz mit einer Schlagfertigkeit, der sie nicht gewachsen war.

Ohne zu zucken, bleckte der Leiter der Oberstufe die Zähne und gab einen halbwegs passablen Humphrey Bogart: „Von sämtlichen Lehrerzimmern in allen Schulen dieser Welt, hast du meines betreten.“

„Was gibt es denn, Max?“ Der Hals der jungen Frau war vor Beschämung rot geworden.

„MOMI“, sagte Max, während er sich auf den Kopierer in der Ecke hockte. „Das Museum of the Moving Image. Hast du Lust auf eine Busladung undankbarer Kinder und den Spaß deines Lebens?“

„Wann?“

„Nächste Woche Mittwoch.“

Anthea ging in Gedanken ihren Stundenplan durch. Zwei Stunden in der neunten Klasse. Der wöchentliche Klassen-Kontest. Und auch noch Pausendienst. „Nur zu gern.“ Sie strahlte ihn an.

„Ausgezeichnet. Überlass mir die Einzelheiten. Oh, könntest du bitte den Bus mieten? Hamilton, wenn es nach mir geht.“

„Ähm … ja, natürlich.“

Ein uralter Mensch in weißem Kittel trat an Maxwell heran. „Darf ich den mal benutzen, Max?“, fragte er.

„Natürlich springe ich beim leisesten Wort unseres geschätzten Leiters des Fachbereichs Chemie, Monsieur Lavoisier.“ Er bewegte seinen Hintern, damit sein Kollege den Kopierer erreichen konnte. „Ah, so funktioniert das Teil also. Erstaunlich!“ Er schüttelte voller ironischer Bewunderung den Kopf. „Ach übrigens, Ben, ich habe schlechte Neuigkeiten, fürchte ich. Der stellvertretende Schulleiter hat mich gebeten, einen Ausflug zum Museum of the Moving Image zu machen, und er hat dafür den Mittwoch der kommenden Woche ausgewählt. Das ist der Termin für die Chemieprüfung, oder?“

„Das kann er doch nicht machen!“, blaffte Ben Horten, dessen Finger über den Tasten für die PIN schwebte.

„Also, das habe ich ihm auch gesagt.“ Maxwell breitete voller Bedauern die Arme aus. „Aber du weißt, wie Bernard ist. Du kannst die Klausur doch am nächsten Tag schreiben, oder?“

„Na ja, ich weiß nicht …“

„Drei, eins, acht.“ Maxwell sagte dem Leiter des Fachbereichs Chemie seine Kopier-PIN.

„Ähm … ja, ich weiß.“ Dem Leiter des Fachbereichs Chemie gefiel nicht, dass der Leiter der Oberstufe so vertraut war mit den wohlgehüteten Geheimnissen des Naturwissenschaftlichen Bereichs. Das roch nach Korruption.

„Nun, er schien zu glauben, dass das schon in Ordnung ist.“ Maxwell strahlte ihn an und wandte sich zum Gehen. „Oh, Anthea, würdest du bitte den Elternbrief verfassen? Du weißt schon, das Übliche, mit dem Briefkopf des Fachbereichs Geschichte, und lass ihn von Paul unterschreiben. Oh, und nimm auch gerne ein paar der Deinen mit. Das senkt die Kosten pro Kopf.“

Paul Moss, der Leiter von Maxwells Fachbereich, war sehr gelassen und kannte den alten Mistkerl, der seine Nummer zwei war, nur zu gut. Wie die Queen, segne sie Gott, würde Paul alles unterzeichnen, was Mad Max angeleiert hatte.

Bernard Ryan, der zweite Konrektor, war eine andere Sache. Mit seinen Pflichten als Vertrauenslehrer war er in Gillian Shepherds England dem ersten Konrektor, dem Herren über die Lehrpläne, untergeordnet. Er war überraschend aufgeblasen für einen Mann unter fünfunddreißig und legte großen Wert auf Etikette.

„Hat dieses Ausflugsziel irgendeinen pädagogischen Wert, Max?“, fragte er den Anstifter des Ausfluges am folgenden Tag, als Maxwells Formulare auf seinem Schreibtisch landeten.

Maxwell trat mit breitem Grinsen an den Mann heran und legte ihm onkelhaft einen Arm um die Schultern. „Also, Bernard, scheißen Bären in den Wald?“

Da Ryan kein Biologe war, hatte er keine Antwort parat. „Einen Moment“, war das Beste, was er entgegnen konnte, während er einen Blick auf den riesengroßen Kalender an seiner Wand warf. „Nächste Woche Mittwoch? Da liegt eine Prüfung an. Naturwissenschaften.“

„In der Tat.“ Maxwell drückte die Schulter des Mannes und ließ ihn dann los. „Aber Ben hat darauf bestanden. Er nimmt gerne den Donnerstag.“

„Ist das so?“ Ryan blinzelte.

Maxwell breitete die Arme aus. „Du weißt doch, wie Ben ist.“ Er lächelte mit großen Augen.

***

Und so wurde Maxwells ‚Vergnügen‘ in die Wege geleitet. Im Tafeldschungel der Neunziger-Pädagogik gab es immer noch Licht in der Dunkelheit; Lichtungen im Wald. Es drehte sich nicht alles um Ofsted und Eliteschulen, Lehrerselbstmorde und erstochene Rektoren. Aber die Grippe gab es natürlich immer noch.

Die Menschheit mochte einen Menschen auf den Mond geschickt habe, als Maxwell gerade angefangen hatte, sich zu rasieren, man konnte im Auto CDs abspielen und dreißig Prozent der Jugend ging auf die Universität, aber einen gewöhnlichen Schnupfen konnte man immer noch nicht heilen. Nicht dass irgendetwas an dem Virus, den Peter Maxwell sich an diesem nassen Montag im April einfing, gewöhnlich gewesen wäre. Er schlich sich beim morgendlichen Milchbrötchen ein und kribbelte in der Nase, als er bei der Versammlung der Oberstufe die Ankündigungen verlas, und als er mit der elften Klasse die kurzfristigen Änderungen an Stalins Außenpolitik diskutierte, hatte es seinen Rachen erwischt. Als er schließlich am Nachmittag mit der zwölften Klasse über Napoleons Rückzug aus Moskau sprach, bekam er passenderweise Schüttelfrost.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er es nach Schulschluss geschafft hatte, White Surrey, sein treues Fahrrad, zu satteln. Das leicht angerostete Gefährt war nach dem Schlachtross benannt, auf dem Richard III. in die Schlacht von Bosworth geritten war, und fand den Weg zu Maxwells Haus auch ganz allein. Die Raucher, die auf dem Heimweg entlang der Hecke ihre Wölkchen absonderten, sahen ihn über die Felder schlingern und trauten es dem alten Knacker nicht einmal zu, lebendig zu Hause anzukommen. Doch es war Mad Max, der schon dem Tod ins Auge geblickt hatte und davon erzählen konnte. Einmal hatte er das Urinal neben Sir John Barbirolli benutzt. Absolut gar nichts konnte Mad Max aufhalten.

Er warf White Surrey geradezu an die Rückwand seines Hauses, kämpfte eine Weile mit seinem Sicherheitsschloss, strauchelte nach oben und fiel ins Bett. Die Kursarbeit würde warten müssen. Trevor Macdonald würde an diesem Abend Selbstgespräche führen. Der schwarzweiße Kater Metternich beobachtete ihn mit dem unergründlichen Blick, der das Tier ausmachte. Maxwell hatte nur einmal sehen müssen, wie das kleine Kätzchen die Geschwister in seinem Wurf verprügelt hatte, und hatte ihn Prinz Klemens Wenzel Lothar, Fürst von Metternich und Kutscher Europas, getauft. Nach dem Adligen, im neunzehnten Jahrhundert vierzig Jahre lang in den verschiedenen Kanzlersitzen Europas ähnlich dominant aufgetreten war. Der Fürst setzte sich an den Fuß der Treppe und widmete sich wieder den wichtigen Dingen im Leben, wie dem Reinigen seines Hinterns.

***

Maxwell hatte seit acht Jahren keinen Fehltag mehr gehabt. Er hatte die Prozedur dafür ganz vergessen, falls er sie je gekannt hatte. Es gab eine exklusive, nicht öffentlich einsehbare Telefonnummer, unter der man Bernard Ryan erreichte, doch Maxwell hätte Bernard Ryan selbst dann nicht angerufen, wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Also rief er am nächsten Morgen in der Schule an und sprach mit Thingee, der jungen Frau, die den Telefondienst machte.

„Maxwell hier, Thingee“, krächzte er. „Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe. Wäre es möglich, mit Paul Moss zu sprechen? Ich habe meine Bücher nicht zur Hand, also kann ich leider keine Arbeitsaufgaben geben. Aber das ist ja das Schöne am landeseinheitlichen Lehrplan, oder? Also ist das weite Feld des kommunistischen Russland dran. Ich bin morgen wieder da.“

Doch so war es nicht. Am Abend breitete sich das Fieber in seinem Körper aus. Er konnte das Thermometer nicht finden und hätte ohnehin nicht gewusst, mit welchem Ende man misst, also versorgte er sich mit Southern Comfort und packte sich mit einem guten Buch warm ein. Normalerweise hätte er an seinem Diorama der Attacke der Leichten Brigade weitergearbeitet. Die Reiter standen aufgesattelt und bereit für den Höllenritt in seinem Dachboden. Sechshundertsiebenundachtzig Mann waren durch das Tal des Todes gedonnert; wie üblich, Löwen geführt von Eseln; und Peter Maxwell hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie in 54mm-Modellgröße wieder zum Leben zu erwecken. Er liebte es, die Figuren zusammenzusetzen, dabei darauf zu achten, nicht zu viel Klebstoff einzuatmen, und sie in den authentischen Farben der leichten Kavallerie im Oktober 1854 anzumalen. Doch der Gedanke daran, sorgfältig die kleinen Plastikgrate von den Soldaten zu schneiden, machte seine Kopfschmerzen nur noch schlimmer und er sah von der Idee ab. Aus demselben Grund ließ er auch die Sache mit dem Buch sein und machte es sich gerade bequem, um eine halbe Stunde The Quiet Man zu schauen, als jemand klingelte.

Es war Sylvia Matthews, die Antwort der Leighford High auf Dr. Quinn, Ärztin aus Leidenschaft.

„Du liebe Güte, Miss Sylvie.“ Maxwell verdrehte die Augen à la Stepin Fetchit, bis der Schmerz ihn zum Aufhören zwang. „Du bist ein erfreulicher Anblick für meine müden Augen.“

„Max.“ Sie legte ihm ihre kühle Hand an die Stirn. „Du verbrennst ja, du törichter Mann. Du solltest im Bett sein.“

„Nicht jetzt, Nursie“, neckte er. „Es ging mir nicht allzu gut.“

„Und es geht dir immer noch nicht gut.“ Sie schob ihn sanft die Treppe hinauf.

„Ziemt es sich denn für eine ungebundene, junge Dame“, fragte er sie, „die Lage meines Boudoirs so gut zu kennen? Das ist übrigens eine Zeile von Galton und Simpson. Hancock, The Missing Page.“

„Ach, wirklich?“ Sie zog ihm den Morgenmantel aus.

„Jetzt aber langsam“, gluckste er. „Was, wenn ich kitzlig wäre?“

„Bist du kitzlig?“ Sie schlug seine Daunendecke zurück.

„Nur an manchen Stellen. Au!“

„Der Kopf?“

„Köpfe, Plural, glaube ich“, er fasste sich kurz an die Schläfe.

„Weißt du, es überrascht mich …“ Sie deckte ihn zu.

„Was?“ Er blickte an sich herab und fragte sich, wohin sie schaute.

„… dass ein mürrischer Little Englander wie du ein Daunenbett hat. Ich hätte gedacht, du wärst ein Mann mit Laken und gewöhnlichen Decken.“

„Ah, aber du irrst dich“, krächzte er schwach. „Das ist kein Daunenbett; es ist eine Steppdecke. Und gewöhnliche Decken sind für Pferde.“

„Ist das so? Mund auf.“

„Wie bitt…“ Doch der große Mann wurde zum Schweigen gebracht, als Sylvia ihm geschickt ein Thermometer zwischen die Lippen schob.

„Ja, ich mache das nicht zum ersten Mal.“ Sie las die Gedanken, zu denen er gerade noch fähig war. „Ich kümmere mich jetzt schon länger um kränkelnde Kinder, als mir lieb ist. Oh, ich habe eine Nachricht von Anthea Edwards.“

„Was?“ Er zog sich das Glasröhrchen aus dem Mund, um diesen Kommentar zu machen.

„Ich stelle hier die Fragen.“ Sie nahm ihm das Thermometer aus der Hand und schob es wieder in seinen Mund. „Jetzt müssen wir von vorne anfangen! Warum wusste ich nur, dass du als Patient ein mürrischer, alter Mistkerl sein würdest? Ach, es fällt mir wieder ein. Persönliche Erfahrung. Dieser Winter, in dem du dir eine Sehne gezerrt hattest.“

„Das ist eine glatte Lüge.“ Das Thermometer war wieder aus dem Mund. „Ich hatte mir den quadriceps femoris angerissen und …“ Silvia schob es wieder zurück.

„Die Botschaft von Anthea lautete: ‚Keine Sorge. Sie hat Alice Goode als Begleitung für den Ausflug angeworben.‘“

Sein unterdrückter Schrei ließ sie wissen, wie er dazu stand, doch dieses Mal hielt sie das Thermometer fest und Maxwell musste sich zusammenreißen. Er wartete, bis sie es selbst herausnahm.

„Was ich sagen wollte“, knurrte er, „vor diesem tätlichen Angriff, war, dass ich trotz des angerissenen Muskels keinen Tag gefehlt habe – so qualvoll es auch war –, und ich werde auch jetzt keinen Tag mehr versäumen.“

„Oh, doch, Max.“ Sylvia konnte trotzig sein wie Boulton-Paul, wenn sie in der Stimmung war. „Du hast fast 39 Grad Fieber. Entweder du bleibst hier im Bett, oder ich rufe dir einen Krankenwagen.“

„Mach dich nicht lächerlich, Sylv“, murmelte er. „Wir wissen beide, wie überfordert der NHS ist. Wenn du jetzt anrufst, kommt der Krankenwagen frühestens am zweiten Freitag der Fastenzeit.“

„Ich habe immer noch ein paar Kontakte im Leighford General“, versicherte sie ihm, „ein oder zwei gute Bekannte, die immer noch glauben, die beste Behandlung für eine Grippe wäre eine Wäsche im Bett und ein Einlauf, nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.“

Sein finsterer Blick sagte alles. Er schaute sie an wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. „Das würdest du nicht tun“, sagte er langsam.

Sie trat an ihn heran und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich glaube nicht, dass du das wirklich herausfinden willst“, sagte sie. „Du bleibst hier. Und das ist ein Befehl.“

„Jawohl, Nursie“, sagte er.

Ihr Herz machte einen Satz. Sie musterte den großen Mann, der da leidend und zitternd unter der Bettdecke lag. Für einen Augenblick war er ein kleiner Junge, verloren im wilden Toben seines Fiebers. Für einen Augenblick wollte sie ihn in den Arm nehmen, ihn küssen und ihn nie wieder gehen lassen. Doch sie war Sylvia Matthews, die Schulkrankenschwester. Und er? Nun ja, er war Mad Max, mit allem, was das beinhaltete. Der Augenblick war vorüber.

„Wie auch immer.“ Sie wandte sich abrupt von ihm ab und räumte ihre Sachen zusammen. „Was ist verkehrt mit Alice Goode?“

„Alice?“ Er schaute sie über die Daunendecke hinweg an. „Nichts. Rein gar nichts. Außer dass sie eine Lehrerin aus dem zwanzigsten Jahrhundert ist, die klingt, als sollte sie eine Hexe aus dem siebzehnten Jahrhundert sein. Und sie sieht aus, als wäre sie sechs Jahre alt.“

„Sie mag ein wenig unerfahren sein, Max“, gab Sylvia zu, „aber für dich sieht jeder aus, als wäre er sechs. Außerdem ist Anthea dabei. Und sie fahren nur nach London, um Himmels willen.“

„Aber, meine Liebe“, knurrte er, „das ist die Stadt Satans. Die Sünden Londons sind alt; so verlockend wie Gold. Und Londons Leid ist – dass mich dort niemand küsst.“

„John Betjeman?“, fragte sie.

„Peter Maxwell“, sagte er. „Und wenn ich etwas mehr Kraft hätte, würde ich ein Kissen nach dir werfen.“

„Hast du Zitronen da, Max?“

„Zitronen?“

„Ja.“ Sie war die Ruhe selbst. „Du weißt schon, diese gelben Teile, die Trinker in ihren Gin Tonic pressen, und andere Leute in den Pfannkuchenteig mischen.“

„Sie müssten in der Küche sein“, schlussfolgerte er, „falls ich welche habe.“

„Natürlich. Ich mache dir eine heiße Zitrone mit Honig, gebe dir zwei Aspirin und füttere Metternich. Dann werde ich nach Hause gehen und du wirst schlafen. Und wenn du vor Donnerstag das Bett verlässt, komme ich zurück und trete dir in den Hintern!“

***

Es regnete die ganze Nacht und den Großteil des folgenden Tages. Es war der Tag, an dem Ben Horton, Leiter des Fachbereichs Naturwissenschaften, seine Klausur geschrieben hätte, wäre Peter Maxwell nicht gewesen. Der Tag, an dem fünfzig aufgeregte Kinder schnatternd und kreischend in den luxuriösen Dreiundfünfzigsitzer von Hamilton gestiegen waren, um unter der zweifelhaften Begleitung von Blur und Take That auf der A3(M) gen Norden gefahren zu werden. Der Fahrer war ein leiderprobter Kerl mit selbst gerollter Zigarette hinterm Ohr und einem ganzen Straßenatlas im Kopf.

„Ein Film, Schätzchen? Ja, kein Problem.“

***

Es regnete immer noch, als jemand an Maxwells Haustür klingelte. Und es war spät. Beinahe Mitternacht. Zur Geisterstunde hob sich der kranke Leiter der Oberstufe voller Selbstmitleid aus dem Bett und stieg die beiden Treppen hinunter, die sein Schlafzimmer von der Haustür trennten. Draußen stand eine Gestalt im Anorak; zitternd und weinend, auch wenn die Tränen kaum vom Regen zu unterscheiden waren.

„Anthea?“ Maxwell ergriff ihre nasse, bebende Hand. „Anthea, was ist denn? Was ist los?“

„Max …“, er half ihr hinein. „Oh, Max. Es geht um Alice. Sie ist … verschwunden.“

Kapitel 2

Anthea Edwards war vermutlich dreißig Jahre alt. Sie arbeitete seit fünf Jahren an der Leighford High und hatte sich in der 10R3 ihre Sporen verdient, die auch als die dreckigen zwei Dutzend bekannt war. Doch als sie in dieser Nacht vor Maxwells leerem Kamin kauerte, sah sie wieder aus wie ein kleines Mädchen. Er hatte ihr den völlig durchnässten Mantel abgenommen und ihr ein Handtuch für die Haare gegeben, doch seinen Southern Comfort wollte sie nicht annehmen und sie konnte nicht aufhören zu zittern. Sie schnieften gemeinsam in den stillen Morgenstunden. Der Kater Metternich rollte sich auf seinem Stuhl zusammen und achtete darauf, dass sein Herrchen ein Gentleman blieb, während eine Dame im Haus war.

„Erzähl mir alles von vorne, Anthea“, sagte Maxwell sanft, „und lass dir Zeit.“

Und das tat sie. Es war beinahe halb drei, als sich die erschöpfte, junge Frau auf Maxwells Sofa legte und er sie mit seinem Morgenmantel zudeckte. Er dimmte das Licht und lief an seinem Kater vorbei zur Treppe. Er sah, wie ein Ohr und die Schnurrhaare des Tieres zuckten, und legte sich warnend einen Finger über die Lippen. „Kein Wort, du scheinheiliges, altes Viech“, flüsterte er. „Miss Edwards und ich sind nur Kollegen, mehr nicht.“

***

Die Kinder hatten großen Spaß im MOMI – selbst der schlaue, kleine Nerd mit der Frisur eines Spaniels, der immer auf einem anderen Planeten als alle anderen zu leben schien. Sie hatten sich ein wenig geniert, gegenüber dem jungen Mann im Pelzmantel, der ihnen von den Studios von Mack Sennett erzählt hatte, und der spannenden Zusammenarbeit mit Chaplin. In solche Rollen zu schlüpfen, das machten sie im MOMI sehr gut, doch manche Kinder kamen nicht gut damit zurecht. Doch als sie von Barry Norman interviewt werden sollten, waren sie längst von der Magie vereinnahmt. Beinahe die Hälfte der Gruppe beteiligte sich an einer gespielten Schießerei in einem heruntergekommenen Saloon von Paramount, und auch wenn das dreizehnjährige Mädchen nicht allzu gut betonte, als sie sagte: „Du liebe Güte, ist das Riccos Ende?“, war es trotzdem ein Erlebnis – und Edward G. Robinson musste auch erst Stimmtraining machen!

Tamsin lag auf einer schrägen Fläche und breitete die Arme aus. Die anderen kicherten, als sie oben auf einem riesigen Bildschirm auftauchte, wo sie wie ein Albatros durch die Luft segelte und zielsicher dem Verlauf der Themse folgte. Rory war der Erste, der in einen Dalek stieg und den Schlachtruf zum Besten gab, der die Generation seines Vaters begeistert hatte: „Eliminieren! Eliminieren!“

Und all die Coolness fiel von ihnen ab, als sie immer mehr vom Zauber ergriffen wurden. Die Grenze zwischen den Generationen verschwamm, während Kinder und Erwachsene gemeinsam über Stan und Ollie oder Wallace und Gromit lachten.

Das hatte Anthea zwar so nicht berichtet, doch Maxwell kannte sein MOMI. Und er kannte die Kinder. Er konnte das Leuchten in ihren Augen sehen, während sie ihm im Lampenschein seines Wohnzimmers schniefend diese Geschichte erzählte. Er zog seinen Morgenmantel aus und ließ sich wieder in die Kissen sinken. Sie hatte Alice zuletzt in den frühen Tagen des Kinos gesehen, im schwachen Licht der Phantasmagorie, als sich auf der Leinwand namenlose Gestalten wanden, zum Erstaunen des Publikums, das die Abendgarderobe des achtzehnten Jahrhunderts trug. Die Lehrer hatten zwei Oberstufenschüler mitgenommen – zwei der Seinen, wie Maxwell sie als Leiter der Oberstufe manchmal nannte. Leila Roberts, dick, rothaarig, hilfsbereit, hatte die schnatternde Gruppe zusammen mit Anthea angeführt. Die schlurfende Nachhut wurde von Ronnie Parsons und Alice übernommen. Es war eine vernünftige Marschordnung. Maxwell hatte Antheas Hand getätschelt, während er ihr das bestätigt hatte. Und das war keine Lüge gewesen. Er empfand die Entscheidung immer noch als vernünftig, als er jetzt in der Stille seines Zimmers lag. Er hätte es auch so gemacht – wäre er dort gewesen. Sein Blut schien noch kälter zu werden, falls das überhaupt möglich war, denn er hätte dort sein müssen. Wäre doch nicht … doch sein logisch kombinierender Verstand meldete sich. Später war noch genug Zeit für Selbstvorwürfe. Am folgenden Tag würde er sich genug davon machen, denn ob er dem Tode nahe war oder nicht, er würde wieder in die Schule gehen; er musste es tun.

„Wir sehen uns am Ende“, war das Letzte, was Anthea von Alice gehört hatte, während das Rad des Lebens rotierte und Schatten über ihr Gesicht tanzen ließ. Anthea hatte sich am Agitprop-Zug umgeschaut und nach ihr gesucht, während ein junger Bolschewik den Kindern erklärte, wie sich Genosse Lenins Revolution mit der Bahn durch ganz Russland verbreitet hatte. Doch Alice war nicht da. Ronnie konnte sie sehen. Sein Gesicht war so leer und ausdruckslos wie immer. Alice musste noch einmal nach hinten gegangen sein, um Nachzügler anzutreiben. Dann wurde Anthea von der Gruppe mitgerissen, nach vorne in den Waggon, während eine Frau mit dickem Hals in der ukrainischen Erde buddelte und sich von den bolschewistischen Kameraleuten Lügen erzählen ließ.

Als die Kinder am Ende der magischen Filmreise auch den Museumsshop hinter sich gebracht hatten, war Anthea ein wenig verärgert. Leila war in Ordnung – tatsächlich gab sie für eine Siebzehnjährige recht gute Gesellschaft ab, wenn sie auch im Umgang mit den Kindern ein wenig übereifrig war. „Nicht anfassen!“, schrie sie das harmloseste Mädchen der ganzen Schule an, die für einen schrecklichen Augenblick so aussah, als würde sie sich in Tränen auflösen. Anthea war an die beiden herangetreten und hatte sie beide beruhigend an sich gedrückt – soweit sich das eine Lehrkraft in den politisch korrekten, prozesswütigen Neunzigern erlauben konnte. Situation entschärft. Problem gelöst. Aber wo war Alice? Und wo war Ronnie? Anthea schaute auf ihre Uhr. Der Bus wartete schon. Wenige Minuten Verzögerung konnten einen großen Unterschied machen. Wenn sie nicht um fünf auf der anderen Seite des Flusses angekommen wären, würden selbst die Kinder im Berufsverkehr von Roehampton an Altersschwäche sterben.

„Halt sie hier versammelt“, trug sie Leila über den Lärm einer Grundschulklasse am Ausgang hinweg auf. „Niemand geht raus, bis ich wieder da bin, ja?“

***

Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Kaum dass sie sich nach hinten zur stählernen Trennwand umdrehte, sah sie Gauleiterin Roberts, die ihre Truppen ordnete. Ein recht furchteinflößender Anblick. Was war nur aus der jüngeren Generation geworden?

Doch Alice war nicht im Fernseh-Bereich. Und Ronnie gab nicht vor, ein Dalek zu sein. Hinter Roberts waren gar keine ihrer Kinder mehr. Oh, alles war voller Kinder, die lachten, schnatterten und sich gegenseitig zu dieser oder jener Attraktion zerrten. Doch keines von ihnen gehörte zur Leighford High. Und während sie langsam in entgegengesetzter Richtung durch die Räume lief, wurde ihre Verärgerung zu Panik. Sie hörte nicht den Schrei, mit dem Fay Wray in der riesigen, haarigen Hand von King Kong zusammenbrach, und hörte nicht die ruhige, freundliche Stimme, mit der Barry Norman zu ihr sprach, während sie um jede Ecke und hinter jeden Glaskasten schaute. Alice schaute sich nicht die ausgeblichenen Fotos der Lumiere-Brüder an; Ronny sabberte nicht ob der Haut, die Raquel Welch zeigte, auch wenn sie alt genug war, um seine Großmutter zu sein. Und dann stand Anthea am Eingang, wo gerade die letzte Schulgruppe eingelassen wurde; völlig intakt mit sämtlichen Lehrkräften und Kindern. Sie bemerkte, dass jenseits der Glastüren jemand in ihre Richtung gestikulierte. Sie konzentrierte sich und versuchte, die aufsteigende Angst in ihrem Herzen beiseite zu schieben; das Grauen in ihrem Verstand. Es war ihr Busfahrer, der an das Glas klopfte und auf seine Uhr zeigte.

Sie nickte hektisch, winkte und zeigte ihm ihre erhobenen Daumen. Dann eilte sie in einer letzten, vergeblichen Suche durch das Museum, ehe sie alle für die Heimreise versammelte.

***

Die Mitarbeiter des Museums waren sehr hilfsbereit gewesen. Ob die Lehrerin zurückgegangen sein könnte, um widerspenstige oder verirrte Kinder zu finden? Könnte sie auf der Toilette sein, weil es ihr nicht gut ging? Was war mit dem National Film Theatre nebenan? Immerhin waren die Souvenirläden miteinander verbunden. Vermutlich sei sie dort.

Nur dass sie da auch nicht war. Und Ronnie auch nicht. Es war an der Zeit, den Sicherheitsdienst hinzuzuziehen. Und der Sicherheitsdienst stellte wieder und wieder dieselben Fragen, als glaubten sie, Anthea hätte sich das alles nur ausgedacht; als hätte sie sich Alice Goode und Ronnie Parsons nur eingebildet und würde völlig grundlos fünfzig zunehmend unruhige Kinder im Eingangsbereich festhalten. Sie wollte schreien, doch das konnte sie nicht; sie wollte den Sicherheitsleuten die Köpfe aneinanderschlagen, doch sie wusste, dass sie nur vernünftig waren und ihre Arbeit machten. Und deswegen wollte sie erst recht schreien. Auf ihre Forderung hin wurde die Polizei gerufen.

Der Fahrer von Hamilton war die Ruhe selbst. Er unterrichtete seine Firma telefonisch über die Verzögerung und Anthea rief in der Leighford High an.

„Aber ich kann sie nicht finden“, schrie sie Bernard Ryan an. Sie hätte genauso gut mit der Schulkatze sprechen können, wenn die Leighford eine Schulkatze gehabt hätte. „Ich weiß es nicht, Bernard. Ich habe gesucht. Überall. Nein. Nein. Ja, ich weiß. Nein, ich kann nicht sämtliche Eltern anrufen, um sie über die Verspätung zu informieren. Deshalb rufe ich ja an. Es gibt eine Kopie im Sekretariat. Ja. Sämtliche Telefonnummern, ja. Ja, ein paar werden nicht drangehen. Wie soll ich das ändern? Ja. Ja.“ Sie konnte das Ende ihrer Geduld deutlich vor sich sehen. „Natürlich. Ja. Genau. Ich weiß es nicht. Wie spät ist es jetzt?“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Oh, ich weiß nicht, gegen acht, schätze ich. Ich rufe noch mal an, kurz bevor wir losfahren. Oh, natürlich. Nun ja, mehr kann ich nicht tun. Ich muss auflegen. Ja. Ja. In Ordnung.“

Jenseits des Glases der Telefonzelle erwartete sie ein Polizist der Metropolitan Police.

„Es wird jemand vermisst?“, fragte er.

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Anthea sah immer noch das Gesicht dieses Polizisten, als sie aufwachte, den silbernen Glanz der Plakette an seinem Helm, und sie hörte seine monotone Stimme. Er hatte in den langen Sekunden zwischen Wachzustand und Traum immer wieder alles ausführlich in seinem Notizbuch niedergeschrieben und es dann laut zugeklappt. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht vor ihr, die dunklen, tiefliegenden Augen, das drahtige Haar, das breite Lächeln. Und ihr war schon wieder nach Weinen zumute.

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„Guten Morgen, Anthea“, sagte Maxwell. „Wie hast du geschlafen?“

„Schlecht“, antwortete sie und befreite sich von ihrer Morgenmantel-Decke. „Mein Gott, ich muss furchtbar aussehen.“

„Mach dich nicht schlecht. Es ist halb acht. Willst du heute in die Schule?“

„Himmel, Max, ich muss dort sein.“ Sie stand rasch auf und glättete so gut wie möglich die Falten in ihrem Rock. „Ich hatte gestern Abend keine Zeit, um irgendetwas zu erledigen. Oh Gott, es ist alles wahr, oder? Ich dachte, dass es vielleicht …“

Er lächelte sie an. „Nur ein Traum war? Ja, das habe ich auch schon erlebt.“

„Ich kann Bernard nicht gegenübertreten“, sagte sie. „Er ist so ein Mistkerl.“

„Bernard?“ Maxwell legte die Stirn in Falten. „Der Mann ist eine Schmusekatze – oh, verzeih mir, Metternich.“

Doch der arme, entmannte Kater hatte längst Anstoß an seinen Worten genommen und war in die Küche gewandert, um sich einige dieser unbeschreiblichen Fischdinger zu genehmigen, die sein Herrchen ihm als Frühstück vorsetzte.

„Frühstück?“, fragte Maxwell seine zerzauste Gästin.

Ihr Gesicht sagte alles. „Nein, danke, Max. Oh, einen Kaffee vielleicht? Verdammt!“

„Was?“

„Die Parsons. Ich wollte sie anrufen.“

„Du hast mir gesagt, du hättest eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen.“

„Ja, aber … Max, meinetwegen wird ihr Kind vermisst. Da kann man nicht einfach eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, als würde man einen Zentner Ziegel bestellen. Man …“ Sie spürte, wie die Hysterie wieder in ihr aufstieg, als würde sich eine Feder aufziehen oder sich ein Band um ihr Herz schnüren. Sie spürte seine Hände, mit denen er ihre Schultern drückte, wie die Hände ihres Vaters. Und sie hörte seine Stimme, wie die Stimme ihres Vaters.

„Du hast getan, was du konntest“, sagte er. „Ronnie Parsons ist achtzehn – erwachsen –, und er ist ein großer Kerl. Es würde mich sehr überraschen, wenn er das erste Mal über Nacht weggeblieben ist. Ich vermute, dass er mittlerweile wieder zu Hause ist. Jetzt komm. Das Bad ist ein Stockwerk höher, auf der linken Seite. Mach dich noch hübscher, während ich ein paar Arabica-Bohnen über meinem Lagerfeuer röste. Und dann wirst du die Freude haben, mich zur Arbeit zu fahren.“

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Die Leighford High wirkte an diesem Morgen noch grauer als sonst. Es war ein grauer Morgen für die zweihundertachtunddreißig Oberstufenschüler, die durch die Flure stapften, um ihre Naturwissenschaftliche Klausur zu schreiben. Und für Anthea Edwards war es erst recht ein grauer Morgen. Sie nestelte an ihrem Autoschlüssel herum und trug noch immer die Kleidung vom Vortag; die Sachen, in denen sie geschlafen hatte. Und das einzige Make-up, das sie hatte auftragen können, war der schreckliche Lippenstift, den Jerry ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Als sie ihn vor Maxwells Badezimmerspiegel aufgetragen hatte, hatte sie darüber nachgedacht, dass dieser Lippenstift das Einzige war, was noch von dieser Beziehung geblieben war. Das waren drei Jahre ihres Lebens gewesen. Doch als ihr am Vortag der Boden unter den Füßen weggebrochen war, hatte sie sich nicht an Jerry gewandt, mit all seinen bissigen Schuldzuweisungen. Sie hatte sich an Max gewandt, der so wahnsinnig war wie der Märzhase, aber gleichzeitig auch stark, verlässlich und weise.

Zusammen teilten sie das Meer aus Kindern auf der Haupttreppe.

„Du bist eine Gefahr im Brandfall, Jason“, trällerte Maxwell. „Wenn der Feueralarm losgeht, wirst du in der Hetze sterben. Sei ein guter Argonaut und beweg dich.“

Jason wusste nicht, was ein Argonaut war. Er wusste auch nicht, was es bedeutete, im Brandfall eine Gefahr zu sein. Er war sich nicht einmal sicher, was den Feueralarm anging. Doch er kannte Mad Max, und wenn der sagte, dass man sich bewegen solle, dann tat man das, selbst wenn er dabei noch so höflich war.

Ein pickeliger, neu eingestellter Lehrer hatte die Aufsicht im Foyer und sammelte bereits die ersten Kaugummiverpackungen des Morgens auf. Er grinste Maxwell mit leerem Gesichtsausdruck an, während der wie eine Galeone unter vollen Segeln an ihm vorbeirauschte und seinen Hut vor dem Curriculum Award von 1984 lüftete, der in einem schiefen Rahmen an der Wand hing. „Ein nettes Bild von Mrs. Shepherd.“ Er lächelte Anthea an. „Es wirkt doch alles viel angenehmer, wenn die Kultusministerin über uns wacht. Jenkins, du undankbares Ferkel, du schuldest mir noch einen Aufsatz.“

„Ah, ja.“ Das undankbare Ferkel hatte einen schlechten Zeitpunkt gewählt. Ihm hätten nur drei Sekunden gefehlt, um es in die unheilige Hölle des Aufenthaltsraums der Oberstufe zu schaffen. Jetzt würde er in seiner Freistunde diesen verdammten Aufsatz schreiben müssen. „Liegt am Nachmittag auf Ihrem Schreibtisch, Mr. Maxwell“, versprach er.

„Mach zwölf Uhr draus, dann vergessen wir deine bedauerlichen Unzulänglichkeiten.“

„Verstanden!“ Jenkins grinste und wusste, dass er keine andere Wahl hatte.

Der Weg zum Büro des zweiten Konrektors führte um die Ecke, dann die Treppe zum Zwischengeschoss hinauf und nach rechts. Es war eines der schönsten Büros in der Schule, mit Blick auf den zentralen Pausenhof und den Seerosenteich, in dem leere Chipstüten und gelegentlich ein Pausenbrot schwammen.

Bernard Ryan war ein Tyrann. Wie die meisten aus der neuen Verwaltungsriege der Lehrerschaft, war er rasch befördert worden und aus dem Nichts gekommen, weil er wusste, was ein CD-ROM war, und positiv über die GNVQ sprach. Er beherrschte mehr Schlagworte als ein ganzer Boxclub und die Worte ‚Penetranter Mistkerl‘ standen ihm förmlich auf die Stirn geschrieben.

„Die Sache ist ernst, Anthea“, waren die ersten Worte, die er zu ihr sagte, „sehr ernst.“

„Haben Sie etwas von den Parsons gehört?“, fragte sie ihn.

„Sie sind gerade bei Mr. Diamond. Ich muss sagen, dass Sie sehr schlecht mit diesem Vorfall umgegangen sind.“

Er beobachtete mit offensichtlichem Vergnügen, wie ihr die Gesichtszüge entglitten und ihre Schultern bebten. Er hatte dabei so viel Spaß, dass er regelrecht zusammenzuckte, als seine Bürotür zuschlug und Peter Maxwell vor ihm stand, wie ein Engel des Todes. Anthea spürte, wie er ihr einen Arm um die Schultern legte, und atmete durch. Die Kavallerie war eingetroffen.

„Es ist fast neun Uhr, Anthea“, sagte Maxwell sanft. „Geh lieber schnell zur 8ED, sonst werden die Kinder noch Block B demolieren.“

Sie versuchte zu lächeln, doch es klappte nicht.

„Eine Minute noch.“ Ryan blickte finster drein. „Ich bin noch nicht fertig …“

Maxwell ignorierte ihn und klopfte auf seine Uhr. „Es ist wirklich Zeit“, sagte er zu Anthea.

Sie warf dem zweiten Konrektor einen Blick zu. „Tut mir leid, Bernard“, bekam sie noch heraus, ehe sie durch die Tür verschwand, die Maxwell ihr aufhielt.

„Was zur Hölle glauben Sie, wer Sie sind?“ Ryan ging an die Decke, sein Hals wurde rot und seine Augen feucht. Maxwell hatte die Tür noch nicht geschlossen und lächelte zwei verblüffte Siebtklässler an, die gerade an der Tür vorbeieilten.

„Das ist ein Rollenspiel“, sagte er ihnen. „Ihr wisst schon, so wie das, was Mrs. Baker in ihrem Theaterunterricht mit euch macht.“ Dann wandte er sich gegen Ryan. „Zweiter Konrektor“, knurrte er. „Das ist was anderes als ein verdammter Platzwart, oder?“

„Also hören Sie mal …“ Doch Ryan war das Herz in die Hose gerutscht und seine Stimme hatte ihr Feuer verloren. Maxwell fing gerade erst an.

„Zeigen Sie noch mal mit dem Finger auf mich, Ryan, dann schiebe ich Ihnen den in den Hintern, zusammen mit dem Rest Ihres Arms. Glauben Sie nicht, dass sich Anthea schon schlecht genug fühlt, auch ohne dass Sie sich wie ein halbstarker Adolf Hitler aufführen? Was hätte sie gestern tun sollen? Eine Kollegin und ein Schüler meiner Oberstufe sind verschwunden. Sie hat nach den beiden gesucht. Mehrmals. Sie hat das zuständige Sicherheitspersonal verständigt. Sie hat die Polizei gerufen. Sie hat Sie angerufen. Das ist alles, was sie hätte tun können. Ich hätte dasselbe getan. Und Sie auch.“

„Ich …“

„Also, wenn Sie sich diese metaphorischen Streifen auf Ihren Schultern verdienen wollen, dann werden Sie Ihren Pflichten als Vertrauenslehrer nachkommen und für das Wohlergehen der Kinder sorgen, statt eine Kollegin herunterzuputzen, die sich nicht wehren kann.“ Maxwell hatte die Tür aufgerissen. „Und wenn Sie unbedingt jemanden herumschubsen wollen, Bernard … es war mein Ausflug. Wenn Sie also irgendwo etwas Mumm auftreiben, dann können Sie zu mir kommen. Verstanden?“

Ryan sah aus, als wäre er gerade von einem Schulbus überrollt worden. Und so sah er immer noch aus, als Maxwell die Tür hinter sich zugeschlagen hatte und mit einem: „Hallo, du grausame Welt!“, verschwunden war, ohne damit jemanden Bestimmten anzusprechen.

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Maxwell hätte seine Hush Puppies tragen sollen, die leisen Mokassins, die er während der Prüfungsphase üblicherweise trug, um die Kinder in der Aula oder der Sporthalle nicht zu stören. Doch er betrachtete die SATS nicht wirklich als ernstzunehmende Klausuren. Sie waren nur der Versuch der Regierung, landesweite Vergleichbarkeit herzustellen. Auch das Schild mit der Aufschrift ‚Aula in Benutzung, draußen bleiben‘ betrachtete er als irrelevant für sich, also lief er begleitet vom Quietschen seiner Halbschuhe über den polierten Boden und zuckte nicht einmal zusammen, als die Tür hinter ihm krachend zufiel.

Ben Horton, der Leiter des Fachbereichs Naturwissenschaften, hob gequält den Blick und auch zweihundertachtunddreißig Köpfe wirbelten herum, um zu sehen, was der Aufruhr sollte. Dann wandten sie sich alle wieder ab. Es war nur Mad Max auf dem Weg zum Schuldirektor.

James Diamond war seit vier Jahren der Rektor der Leighford High. In dieser Zeit hatte er die GNVQ eingeführt und sie hatten angefangen, Lehrer in der Probezeit als NQTs zu bezeichnen. Sie waren in der künstlichen Welt der Abkürzungen angekommen. Doch auch Mr. J. Diamond war nichts als künstlich. Der Mann war seinem Bildungsabschluss nach Physiker – nicht der beste Start ins Leben – und auch wenn er einen Masterabschluss in Pädagogik hatte, hätte man sich öffentlichem Gespött ausgesetzt, wenn man ihn damit betitelt hätte. Maxwell klopfte kurz an die Tür des Schuldirektors, ehe er ins Gespräch mit den Eltern des vermissten Jungen platzte. Nicht weil er dem Mann irgendeine Art von Ehrfurcht entgegengebracht hätte, sondern weil er noch mit den Traditionen der alten Schule aufgewachsen war.

„Ah, Max.“ Diamond sah so grau aus wie sein Anzug. „Da sind Sie ja.“

„Ich musste nur Mr. Ryan in einer Angelegenheit den Kopf zurechtrücken“, sagte Maxwell. „Mrs. Parsons.“ Er gab der Frau die Hand. „Mr. Parsons.“ Dem Mann ebenfalls. „Peter Maxwell.“

Die Vorstellung war eigentlich überflüssig. Jeder in Leighford und Tottingleigh kannte Mad Max oder hatte von ihm gehört. Er hatte die Person selbst unterrichtet, oder ihre Kinder, und viele waren aufsteigende Unternehmer oder Politiker geworden, die tief im Herzen wussten, dass sie ihren Erfolg Mad Max zu verdanken hatten.

„Ich sagte Mr. und Mrs. Parsons gerade“, fuhr Diamond fort, als Maxwell sich auf dem noch freien Plastikstuhl des Rektors niedergelassen hatte, „dass es gewiss eine einfache Erklärung für diese Situation und keinen Grund zur Panik gibt.“

Maxwell schaute Mr. und Mrs. Parsons an. Sie war eine mausartige Frau mit wasserstoffblondem Haar. Er nicht, aber da hörten die Unterschiede auch schon auf.

Maxwell war in seinen vier Jahrhunderten als Lehrer aufgefallen, dass sich Eheleute einander im Aussehen über die Zeit immer mehr annäherten. Oder vielleicht war es auch nur die Verschmelzung ihrer Gesichtszüge in den Kindern, die diesen Eindruck erweckte.

„Natürlich“, Maxwell nickte. „Der Schuldirektor hat Sie das gewiss schon gefragt, Mr. und Mrs. Parsons, aber fällt Ihnen irgendein Grund dafür ein, dass Ronnie ausreißen wollen könnte?“

Mr. Parsons schaute ihn ausdruckslos an, als wäre ihm dieser Gedanke noch nie gekommen. Außerdem überließ er die Erziehung Mrs. Parsons. Er hatte heute zum ersten Mal seit Jahren einen Fuß in die Leighford High gesetzt.

„Nein.“ Mrs. Parsons kam zu seiner Rettung, wie sie es immer tat. Ron Senior versorgte die Familie gut, doch er kannte seine Kinder kaum. Er war nie wirklich da gewesen, um sie kennenzulernen, da er ständig unterwegs war, von einer Baustelle zur nächsten. Es waren ihre Kinder, sie würde für sie sprechen. „Nein, da fällt mir nichts ein“, sagte sie.

„Keine Probleme?“, hakte Maxwell nach. „Kein Streit zu Hause?“

„Was wollen Sie damit sagen?“ Mr. Parsons regte sich ein wenig. Er überließ diese ganze Schulangelegenheit gerne seiner Ehefrau, doch wenn eine solche Andeutung in der Luft hing, glaubte er, seinen Teil beisteuern zu müssen.

„So etwas kommt vor, Mr. Parsons“, sagte Maxwell. „Ein kleiner Familienkrach. Er mag an sich nichtig wirken, doch in der Wahrnehmung der Kinder kann so etwas eine überproportionale Wirkung entfalten; sie können die Realität verzerrt wahrnehmen.“

„Sie scheinen sich ja gut auszukennen, was?“, blaffte Parsons. „Haben Sie überhaupt Kinder?“

„Ron …“ Mrs. Parsons streckte den Arm aus und ergriff die Hand ihres Ehemannes.

John Diamond öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch was immer es gewesen sein mochte, es kam nicht schnell genug heraus, oder war nicht relevant genug für Peter Maxwell.

„Ja“, sagte der Leiter der Oberstufe. „Zweihundertachtunddreißig, laut meiner letzten Zählung.“ Er bereute diese Aussage ein wenig, da es jetzt, ohne Ronnie, zweihundertsiebenunddreißig waren. „Ich bin der Vater all meiner Oberstufler, Mr. Parsons; sie sind alle meine Kinder.“

„Nein.“ Ein solcher Gedanke ergab für Ron Parsons keinen Sinn. Ziegel und Mörtel, das waren die Dinge, mit denen er sich auskannte. Die Beziehung eines Lehrers zu seinen Schützlingen? Das überstieg sein Verständnis. „Nein, ich meine eigene Kinder.“

Für einen Augenblick herrschte Stille. Jim Diamond wand sich ein wenig. Für ihn war Peter Maxwell ein Junggeselle und zu sehr mit dem beschäftigt, was Junggesellen so taten, um viel Zeit für ein Privatleben zu haben. Doch er kannte Peter Maxwell nicht. Er wusste nichts von dem kleinen Mädchen, das vor all den Jahren gestorben war, als ein Polizeiwagen in einer gefährlichen Kurve auf nasser Straße von seiner Fahrbahn abgekommen und in ein anderes Fahrzeug gekracht war. Das kleine Mädchen und ihre Mutter waren auf der Stelle tot gewesen. Seit vierundzwanzig Jahren hoffte er, dass seine Frau und seine Tochter überhaupt nichts von dem gemerkt hatten, was ihnen widerfahren war. Das war das Einzige, was seine geistige Gesundheit bewahrte.

„Nein“, sagte Maxwell leise. „Ich habe keine eigenen Kinder.“

„Na, da haben Sie es.“ Ron würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. „Woher wollen Sie dann wissen, wie das ist? Wie können Sie einfach herkommen und behaupten, das sei unsere Schuld?“

„Das hat er nicht gesagt, Ron.“ Mrs. Parsons gab selbst eine ganz brauchbare Kavallerie ab, wenn sie es wollte, als sie zu Maxwells Rettung kam. „Mr. Maxwell versucht nur zu helfen.“

Ron Parsons saß einen Moment lang da, auf dem Plastikstuhl vor dem Schreibtisch des Schuldirektors. Dann knickte er ein. Er entspannte die Schultern und ergab sich den gütigen Worten seiner Frau und dem unnachgiebigen Blick von Mad Max. „Ja, na ja … in Ordnung“, sagte er.

„Nein, Mr. Maxwell, es gab keinen Streit“, erklärte Mrs. Parsons. „Um ehrlich zu sein, haben wir am Abend vor dem Ausflug nicht viel von Ronnie zu Gesicht bekommen. Er ist mit seinen Freunden etwas trinken gegangen, doch er war um zehn Uhr zurück. Du hast das Fußballspiel mit ihm geschaut, nicht wahr, Ron?“

„Genau“, bestätigte Ron.

„Und er war wie immer?“, fragte Maxwell. „Nichts Ungewöhnliches?“

Ron Parsons konnte nicht beurteilen, was für seinen ältesten Sohn ungewöhnlich gewesen wäre. Ronnie war klug und viele Väter wären stolz auf ihn gewesen, doch Ron Senior verstand den Jungen nicht so recht. Er interessierte sich für Wirtschaftslehre, Geschichte und Geografie. Ron kam das alles spanisch vor. Ob der Abwesenheit einer Meinung, zuckte der Vater des Jungen mit den Schultern.

„Hat sich die Polizei bei Ihnen gemeldet?“, fragte Diamond.

„Die Polizei?“ Mrs. Parsons warf ihrem Ehemann einen Blick zu. Dies war ein Alptraum, aus dem sie nicht aufwachen konnte. Und sie hatte gerade eine neue, furchterregende Tiefe des Traumes erreicht. Die pastellfarbenen Wände des Büros erstreckten sich in die Höhe wie die Steinplatten eines Kerkers. Und das Licht oben wurde immer kleiner und kleiner. „Oh.“

„Das ist reine Routine“, sagte Maxwell, der die aufsteigende Panik der Frau spürte. „Sie müssen ein paar Fragen stellen, das ist alles.“

„Ja“, sagte Mrs. Parsons. „Ja, natürlich.“

Maxwell war aufgestanden. „Hören Sie“, sagte er zu den beiden, „bitte machen Sie sich keine Sorgen. Ich muss jetzt weiter, aber Ronnie wird wieder auftauchen, davon bin ich überzeugt. Wir werden selbst einige Nachforschungen anstellen. Direktor.“ Maxwell nickte dem Mann knapp zu, gab Mr. und Mrs. Parsons die Hand und verschwand.

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Er schlug die Akte über Ronnie Parsons auf. Sieben sehr durchschnittliche GCSE-Noten, in der siebten und achten Klasse Fußballer in der Schulmannschaft. Ein Bericht mit Eselsohr belegte, dass Mr. Diamond höchstpersönlich ihn in der zehnten Klasse beim Rauchen an den Tennisplätzen erwischt hatte. Ein Formular der Berufsberatung bestätigte, dass er in Richtung Betriebswirtschaft oder Verwaltung tendierte. Er hatte Masern gehabt, alle nötigen Impfungen bekommen und sein Arzt war der alte Edgarson in seiner Praxis am Meer. Maxwell schüttelte den Kopf angesichts der Unzulänglichkeit des Systems und dieser hauchdünnen Akte, wie er es schon oft getan hatte.

„Wo steckst du, Ronnie“, murmelte er vor sich hin, „du lästiger, kleiner Mistkerl?“