Kapitel 1
Die Kinder nannten es das Rote Haus; warum genau, das konnten sie nicht beantworten. Allerdings waren sie vor jenem Sommer auch nie danach gefragt worden; vor dem Sommer, in dem sie dort gefunden wurde.
Das Rote Haus war nur im Winter zu sehen, wenn die Eichen die Blätter abgeworfen hatten und das Farngestrüpp braun und tot am Boden lag.
Das Rote Haus war schon immer ein Haus der Geheimnisse gewesen. Einst hatte dort eine Schaukel gehangen, an einem Ast der Zeder. Jemand hatte den Dschungel hereingelassen. Der Tennisplatz war längst verschwunden; dort unten lag jetzt die eingestürzte Mauer, verfallen und vergessen. Und im Obstgarten stand das Sommerhaus, in dem sich junge Menschen im Licht des Sonnenuntergangs schöne Augen gemacht hatten; umgeben von Glühwürmchen. Es war eine völlig andere Welt gewesen. Vor sehr, sehr langer Zeit.
Das Rote Haus war schon immer ein Haus der Schatten gewesen, mit Spinnennetzen in den Ritzen und Asseln, die durch den heruntergestürzten Putz krochen. An den schwarzen Fensterrahmen hingen ächzende, verrostete Scharniere, denen man nicht mehr trauen konnte. Die Wände wurden nur noch von grünschwarzen Schimmelflecken und den silbrigen Pfaden wandernder Schnecken geziert. Die Fensterläden hingen in traurigen Winkeln an der Außenmauer. Der dunkelgraue Schlamm am Boden war einst ein Teppich gewesen, doch er war zu lange dem Regen und der erbarmungslosen Sonne ausgesetzt gewesen. Rohre knallten aneinander und klapperten, wann immer der Wind von Westen her wehte.
Es war Sommer, als die Kinder sie fanden. Sie war ermordet worden. Doch das Rote Haus war schon immer ein Haus des Todes gewesen.
***
Chief Inspector Henry Hall war ein Polizist der neuen Schule. Einer dieser elitären Oberschulabsolventen, der irgendwie dem großen Gleichmacher der allgemeinen Schulbildung entgangen war, indem er in einem dieser rückständigen Länder aufgewachsen war, die sich weigerten, die Abschlussprüfung an der Grundschule abzuschaffen. Seine Freunde waren alle Wirtschaftsprüfer, Bauingenieure oder PR-Männer geworden. Erstaunlich, dass er den Kontakt zu ihnen allen verloren hatte, jetzt da er bei der Polizei war. Zuerst hatte er die üblichen Witze über spitze Köpfe, platte Füße, gefälschte Beweismittel und fingierte Aussagen zu hören bekommen. Sie hatten eben geglaubt, dass er Hendon nicht überstehen würde. Als er das geschafft hatte, schlossen sie Wetten darauf ab, wie lange er auf seiner ersten Streife durchhalten würde. Manche sagten, das Tempo von vier Kilometern die Stunde würde ihn zur Erschöpfung treiben; andere, dass er vor Verlegenheit tot umfallen würde, sobald man ihn zu einer Geburt riefe. Sobald man ihn in einen Streifenwagen setzte, sagten sie, er würde das Auto um einen Pfahl wickeln oder in der falschen Richtung auf die M25 auffahren. Doch mit dem Tempo war er zurechtgekommen, er war nie zu einer Geburt gerufen worden und er war immer nur in einer Richtung unterwegs – nach oben.
Als er an diesem nassen, stürmischen Abend aus dem Auto stieg, starrte er seinem vierzigsten Geburtstag ins Gesicht. Er hatte angezweifelt, dass dieser Tag jemals kommen würde. Es war eine Zeit der Gebrechlichkeit und des Zweifels, in der man den Egotrip der eigenen Jugend hinterfragte. Doch er hatte keine Zeit, um über sich nachzudenken. Seine Sinne waren erfüllt von Blaulicht, flatterndem Absperrband und Jungs in Uniform, die in ihren Mützen mit Schachbrettmuster Gaffer fernhielten. Wo kamen die nur immer her, diese Ghule? Rochen sie das Blut? Erhoben sie sich aus ihrem urzeitlichen Schlaf im Sumpf? Sie sahen immer gleich aus, und klangen und rochen auch gleich.
„Wer ist es?“
„Da ist was passiert.“
„War es ein Unfall?“
„Ist jemand gestorben?“
Alles zu seiner Zeit, dachte Hall. Doch davon hatte man nie viel, nicht wahr? Und der Teenagerin im ersten Stock war sie ausgegangen, die Zeit.
Durch den Regen sah er die Gesichter, die ihn empfingen: versteinerte Züge, fragende Blicke, verhüllt von Kapuzen und Regenjacken. Wo war nur dieses verdammte Wetter hergekommen? Sie drängten so dicht an die Absperrung, wie sie nur konnten, bis sie vom langen Arm eines Motorradpolizisten gebremst und zurückgescheucht wurden. Sie fragten sich, wer er war. Der Kerl mit dem schicken Anzug und der Goldrandbrille. Musste wohl der Gerichtsmediziner sein, wurden sie so nicht in Quincy genannt? Bloß ein wenig jung. Er sollte älter sein.
Hall hörte den Kies der Einfahrt unter seinen Schuhen knirschen. Der Estate von Jim Astley stand in einem gewagten Winkel zur Treppe. Er entdeckte hinten Angelruten. Oh je. Das hieß nichts Gutes. Ein uniformierter Kerl an der Tür salutierte. Er nickte ihm zu. Die Spurensicherung hatte Halogenstrahler in das alte Haus gebracht und jetzt leuchtete es in einem grellen Licht, das es zuvor nie gekannt hatte. Die Schatten der Männer zeichneten sich riesig und scharf umrissen an den Wänden ab.
„Hier oben, Chief Inspector.“ Hall erkannte die Stimme von Detective Inspector Johnson, der ihn am Treppenabsatz erwartete. „Passen Sie auf, wohin Sie treten. Das ist ein verdammter Sumpf hier.“
Jemand richtete den Strahl einer Taschenlampe auf die Treppe und er suchte sich vorsichtig einen Weg durch den Vogelkot, bis er den Raum zu seiner Linken betrat. Es kam ihm kurz so vor, als wäre er in diesen völlig überschätzten Stall zu Bethlehem gestolpert. Eine Gruppe von Personen posierte in gehockter Haltung um ein mit Strahlern beleuchtetes Etwas am Boden, manche auf einem Knie, andere auf beiden. ‚Josef‘ hatte einen wuchernden, mit grauen Strähnen durchzogenen Bart und trug eine Tweedmütze sowie eine Barbourjacke, die er nach hinten geschoben hatte, um sich Platz zu verschaffen – Dr. James Astley, der Gerichtsmediziner, der gleich doppelt angepisst war, weil man ihn von seinem geliebten Flussufer fortgerufen hatte und weil er auf die Leiche einer Teenagerin blickte. ‚Maria‘ schaute mit offenem Mund zu ihm herauf und blinzelte. Detective Jacquie Carpenter, zigarettenlos und überfordert. Hall schaute in ihre Richtung, doch seine Augen verschwanden hinter der Reflexion des Halogenlichts auf seiner Brille.
„Jacquie“, sagte er leise und warf ihr ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche zu. Sie fing es und war dankbar für die Ausrede, um etwas zurückzutreten.
„Nicht hier“, knurrte ‚Josef‘ als sie mit zitternden Händen an dem Päckchen herumfummelte. „Rauchen Sie irgendwo anders.“ Hall nickte in Richtung Tür.
„Es geht mir gut, Sir.“ Sie klang ungerührt.
„Ich weiß“, antwortete Hall, „aber wir haben unten eine ganze Menge Gaffer. Ich will ihre Namen und Adressen, bevor wir sie weiterscheuchen.“
Plötzlich war sie den Tränen nahe. Sie biss sich fest auf die Lippe und marschierte an den ‚Drei Königen‘ vorbei, die in dem gespenstischen Licht verdächtig nach Detective Inspector Johnson aussahen. Hall entging nicht das Grinsen, Glucksen und Kopfschütteln des Mannes. Wie die meisten in der Truppe erhob Johnson die Misogynie zu einer Kunstform. Er war ein zäher, schmallippiger Karrierepolizist, mit dem Hall viel zu lange zu vertraut umgegangen war. Und niemand bemerkte das, schon gar nicht er selbst.
Er trat zu den Königen an den Schrein des Todes. Dort lag kein in Lumpen gewickeltes Kind, sondern eine junge Frau von siebzehn Jahren, die mit leerem Blick an die Reste der Decke starrte. Eigenartig, dass sie nicht blinzelte, wo ihr doch der Regen direkt ins Gesicht fiel. Eigenartig, wie blass sie im Licht der Scheinwerfer wirkte. Ihre Stirn lag leicht in Falten, als würde sie nicht verstehen, was sie hier tat und was all der Wirbel sollte.
„Jim“, sagte Hall leise.
„Nein“, murmelte der Arzt, da er wusste, was der Chief Inspector sagen wollte. „Macht nichts. Sie haben ohnehin nicht gebissen. Es war viel zu nass am Fluss. Mir war das Gerücht zu Ohren gekommen, dass es Sommer sein soll. Wie geht es Helen?“
„Gut.“
„Kinder?“
„Drei … als ich das letzte Mal nachgezählt habe.“
„Ah. Wissen Sie, wer das ist?“
„Oh, ja.“ Hall nickte. „Ich weiß ganz genau, wer das ist. Jennifer Antonia Hyde. Sie ist am 8. März siebzehn geworden. Sie wird eine alte Narbe am Unterarm haben. Sie ist kurz nach ihrem vierten Geburtstag mit dem Dreirad gestürzt.“
Der Arzt hob die leblose Extremität an. Die Narbe war zwar von Schmutz bedeckt, aber noch deutlich sichtbar. „Da waren wohl ein paar Stiche nötig“, sagte er.
„Wie geht es Marjorie?“, fragte Hall. „Ehe ich es vergesse.“
„Ich auch“, schnaubte Astley. Er blickte auf seine Armbanduhr. „Sie ist mittlerweile bei ihrem sechsten Gin, aber danke der Nachfrage. Sehr nett.“
„Schon bereit für die Fotos?“
„Warum nicht?“, knurrte Astley, während er sich erhob. „Ich wünschte, die Leute würden auf Hüfthöhe sterben. Dieses ganze Auf und Ab ist Gift für meinen Ischias.“
Hall hatte den Mund schon geöffnet, als Astley eine Hand hob, um ihn zu bremsen. „Ja, es sieht nach einer sexuellen Sache aus“, sagte er.
In der Tat. Jennifer Antonia Hyde lag auf dem Rücken, die Arme hinter den Kopf gestreckt und darüber hatte sich ihr langes, dunkles Haar ausgebreitet. Die Bluse ihrer Schuluniform war aufgerissen und der Verschluss vorne an ihrem BH offen, sodass ihre kleinen Brüste und die dunklen Brustwarzen entblößt waren. Ihr Rock war hochgeschoben worden und lag nass und schwer auf ihrer Hüfte, und man hatte ihre Beine gespreizt.
„Rosarote Unterwäsche“, sagte Astley. „Gehört das zur Uniform der … wo ging sie zur Schule?“
„Leighford“, murmelte Hall. „Leighford High.“
***
Die Leighford High war eines dieser Gebäude der schönen neuen Welt, die sich irgendein Idiot in den Sechzigern ausgedacht hatte. Die Labour Party hatte in dieser Zeit ein- oder zweimal die Regierung gestellt und Teil ihrer gleichmacherischen Konzepte war auch das Gemeinethos gewesen. Es war zuerst mit Sprichworten verbreitet worden: „Wie der Herr, so der Knecht“, später aber nur noch als Neidpolitik bekannt gewesen. Dabei waren die Söhne von Milchmännern im großen Abenteuer der Adoleszenz auch auf die Töchter von Wirtschaftsprüfern getroffen. Und um sicherzustellen, dass diese Luftschlösser auch Wirklichkeit wurden, dass die Texte der Waynes und Shanes zusammen mit den großen Meistern in Oxford behandelt wurden, errichteten sie nach dem Vorbild von Harold Wilson Schulen wie Leighford. Ein zentraler, turmartiger Block, mit undichten Fenstern und schmutzigen Scheiben. Die Klassenzimmer waren im Sommer drückend heiß und im Winter eiskalt, da die Zentralheizung immer wieder ausfiel. Im Osten lag der gedrungene Flügel für Sprachen, dessen Zimmer immer wieder entkernt worden waren, da sich Sprachlabore und Einzelarbeitsräume sehr wechselhafter Beliebtheit erfreut hatten. Im Osten lagen die naturwissenschaftlichen Labors, bei denen es immer leicht nach Gas, Gummischläuchen und Formalin roch. Hier schwammen unaussprechliche Dinge in Flüssigkeiten, wie man sie in Mengeles Arbeitszimmer oder im Cabinet des Dr. Caligari gefunden hätte. Im Süden stand der neuste Anbau – der Technikbereich, in dem es nach neuen Teppichen und Regierungsgeldern roch, und wo man die Rückkehr zum Konzept der Weltwerkstatt versprach. Nur dass man sich dort im Süden nicht entscheiden konnte, wo genau man stand. Zuerst hatte man dort Holz- und Metallarbeit unterrichtet, sodass die Jungs Nägel einschlagen oder hobeln konnten, bis es dunkel wurde. Dann hatten sich die Regeln und Bezeichnungen geändert und die Zeit der Initialen war angebrochen – CDR, Craft, Design and Technologie, also Werken, Gestalten und Technik. Das Werken war bald verschwunden und man hatte nur noch mit dem Mauszeiger auf dem Computerbildschirm Dinge entworfen. Das Ganze war langsam im Sande verlaufen und irgendwann hatte die Regierung alles beendet, wie ein später Frankenstein, der begriffen hatte, dass seine Kreatur die Fesseln abgestreift hatte und Amok lief. Nichts und niemand war so verwirrt wie ein CDT-Lehrer in den Neunzigern.
Die Polizisten begaben sich in den Norden, wo neben den Fahrradständern ein Wachmann schlief.
„Da stand ein Rad an dem alten Haus“, sagte Johnson, während er in den Regen blickte. „Am Roten Haus. Ein Fahrrad.“
„Wirklich?“, fragte Hall.
„Ich habe es notiert.“ Johnson schlug sein Notizbuch auf. „Ein Mr. Arnold ging vorgestern Abend mit seinem Hund spazieren und kam an dem Haus vorbei. Er sagte, dort habe ein Fahrrad an der Wand gelehnt.“
„Hat er irgendjemanden gesehen?“
„In der Nähe des Fahrrads war niemand. Aber es war ein Herrenrad; mit Stange.“
Ein einzelnes Auto stand zwischen den ausgeblichenen, weißen Linien. Ein Orion. Nicht gerade modern. Dahinter standen noch der Bus einer mobilen Bücherei, der über die Linien hinausragte, und ein Transporter eines Handwerkers, dessen Fahrer die Markierungen völlig ignoriert hatte. Aus der offenen Tür dröhnten die Bedeutungslosigkeiten von Steve Wrights ‚Easy Life‘ in die Nachmittagsluft.
Hall und Johnson stiegen die niedrigen und breiten Stufen hinauf und starrten auf die Glastür vor ihnen.
„Sechs Wochen Ferien“, knurrte Johnson. „Diese verdammten Lehrer. Wir haben uns den falschen Beruf ausgesucht.“
Hall mochte Männer mit Hingabe. Damit blieben sie loyal, unbeirrbar und professionell. Der loyale, unbeirrbare und professionelle Inspector hielt seinem Chief die Tür auf. Ein handgeschriebener Aushang teilte ihnen mit, dass sich der Hausmeister in Block A aufhielt, zusammen mit einem krummen Pfeil nach rechts. Ein teureres und dauerhaftes Schild in braun und weiß zeigte an, wo sich der Empfang befand. Johnson klopfte mit den Knöcheln an die Tür. Stille. Da er nie viel auf Zeremoniell gegeben hatte, stürmte er mit der Schulter voran hinein.
Sie standen in einem inneren Heiligtum, das klinisch und kalt wirkte, selbst jetzt, Ende Juli. In der Ecke drohte eine zu gut versorgte Beamtenpalme den ganzen Raum zu übernehmen, und zwischen ihren an Spinnenbeine erinnernden Blättern hing eingerahmt ein ausgeblichenes Zertifikat für den Sieg der Schule bei irgendeiner Initiative des Bildungsministeriums in den Achtzigern, als dort noch Geld verteilt wurde; beinahe ohne Bedingungen. Eine Glastür wurde aufgeschoben und eine zierliche Frau schaute ihnen entgegen. Sie erinnerte an eine Maus, wie eine Gestalt aus Der Schneider von Gloucester.
„Guten Morgen“, sagte sie. „Kann ich Ihnen helfen, Gentlemen?“
„Chief Inspector Hall und Detective Inspector Johnson. Wir wollen mit dem Rektor sprechen.“
Die mausartigen Augenlider flatterten kurz. Es kam nicht allzu häufig vor, dass Kriminalbeamte die Leighford High betraten. Constable Bob Grenvill, ja, aber er war der schulische Kontaktbeamte, über einen Meter achtzig groß, aber einer dieser Hunde, die bellen und nicht beißen. Außerdem trug er Uniform und die Kinder machten sich hinter seinem Rücken über ihn lustig. Diese beiden wirkten weitaus ernster. Wie sie da standen, mit bohrenden Blicken und Lippen, die scheinbar noch nie ein Lächeln geformt hatten …
„Ähm … ja, natürlich. Mr. Diamond erwartet Sie. Hier entlang, bitte.“
Sie führte sie ins Foyer, dessen robuster Industrieteppich sich unter zahllosen Schritten schwarz verfärbt hatte. Dann ging es in einen Flur, der immer dunkler wurde, je weiter sie kamen. An den Wänden flatterten alte Sportaushänge, die namenlose Kinder daran erinnert hatten, dass um halb eins das Krickettraining startete und das Netzballtraining der Mädchen wegen des Theaterausflugs verschoben wurde. Sie bogen scharf rechts in einen helleren Durchgang ab, dessen Wände von Kunstwerken unter teurem Plexiglas gesäumt waren. Hier baumelte Jesus an einem Draht und ein Wanderschuh lag völlig unpassend auf einer Schachtel Rice Krispies, alles im Namen der Kunst.
Auf dem Schild an der Tür stand in den vorschriftsgemäßen Braun- und Cremetönen ‚Mr. James Diamond, Schuldirektor‘. Alles sehr gekünstelt, fand Johnson. Die Tür seines Direktors hatte einen Messingklopfer gehabt, und drei Lichter, an denen man ablesen konnte, ob er beschäftigt war. Ganz ohne Nachname, ganz zu schweigen von einem Vornamen. Johnson war nur einmal dort gewesen. Um den Stock zu spüren zu bekommen. Nur einmal.
„Mr. Diamond?“, fragte Hall. Es war beinahe, als würde er in einen Spiegel schauen. Diamond war etwas breiter als Hall, und etwas älter, doch der graue Anzug und die Brille mit Goldrahmen hätten aus dem gleichen Regal von Miete-deinen-Traum stammen können.
„Ganz recht“, sagte er. „Chief Inspector Hall?“
Sie gaben sich im Gang die Hände.
„Das ist Detective Inspector Johnson.“
Sie nickten einander zu, der Rektor und der Inspector. Keinem der beiden gefiel der Moment. Es war Argwohn auf den ersten Blick.
„Margaret, Kaffee bitte. Und keine Anrufe. Die Herren?“ Diamond führte sie in sein Büro. Es war nicht luxuriös, doch immerhin hingen hier keine Fotos einer toten Teenagerin an den Wänden. In der Ecke stand eine weitere Beamtenpalme. Hall bemerkte die Grünlilie und fragte sich, ob John Wyndham vor langer Zeit einmal auf diese Schule gegangen war. Johnson sah die Pflanze auch, stellte sich aber keine Fragen.
Die Polizisten setzten sich nebeneinander auf ein viel zu weiches und neues, L-förmiges Sofa, das in der Vorstellung der Herausgeber von Katalogen für Büromobiliar immer noch modern war, obwohl die Industrie diese Möbel vor zwanzig Jahren als obsolet eingestuft hatte. Johnson fragte sich, warum der Direktor am ersten Tag der Ferien noch immer seinen Anzug trug. Hall kam dieser Gedanke nicht.
„Danke, dass Sie uns empfangen“, sagte der Chief Inspector.
Der Direktor hatte seinen Drehstuhl erreicht und wischte den Kommentar mit einer Handbewegung beiseite.
„Das ist ja wohl das Mindeste“, sagte er. „Ich unterrichte seit fünfzehn Jahren und so etwas ist mir noch nie untergekommen. Ich weiß noch nicht, wie sich das auf das nächste Schuljahr auswirken wird. Gewissermaßen ist es ein Segen, dass gerade Ferien sind. Das gibt uns vielleicht genug Zeit, um zu heilen.“
„Heilen?“ Das kam einem Mann wie Johnson wie eine eigenartige Wortwahl vor. Sein höhnisches Grinsen verriet das sofort.
Diamond schaute den Mann über den Rand seiner Brille hinweg an, mit einer professionellen Ausstrahlung, die er sich sorgfältig angeeignet hatte, seit ihn der Direktor des Sixth Form Colleges in einem unbedachten Moment des Sommerfestes mit ‚Sonny‘ angesprochen hatte. „Inspector, eine Schule ist wie eine Blume im Gewächshaus. Sie hat ihre Launen, Depressionen, Freuden und ihr eigenes Wesen. Man kann sie verletzen, beschädigen und mit der falschen Behandlung auch umbringen.“
„Jemand hat Jennifer Hyde umgebracht“, sagte Hall rasch. „Wir hätten gerne Ihre Hilfe bei der Suche nach dem Täter.“
„Ja.“ Diamond räusperte sich peinlich berührt, nachdem seine rhetorische Ausschweifung von der einen unumstößlichen Realität zunichtegemacht worden war, die doch den ganzen Sommer überschatten würde. „Ja, natürlich.“ Er wühlte im Ausgangskorb seines Schreibtisches herum und zog einen abgegriffenen, orangenen Hefter heraus. „Das ist ihre Akte. Meine Sekretärin hat sie für mich aus Mr. Maxwells Aktenschrank herausgesucht.“
„Maxwell?“ Hall hob eine Augenbraue.
„Peter Maxwell, der Leiter unserer Oberstufe. Oder, korrekterweise, der Klassen zwölf und dreizehn.“
„Darf ich?“ Hall lehnte sich vor und nahm sich die Akte. Darin befand sich ein dünner Blätterstapel. Hauchdünnes Druckerpapier, mit Informationen für die Eltern. Jennifer sei eine sehr fähige, junge Frau, doch ihre jüngsten Prüfungsergebnisse seien enttäuschend gewesen. Auf vergilbten Seiten standen Informationen über ihre Angehörigen, ihren Arzt, ihre Tetanusimpfung und ihren Geburtstag. Ein anderes Blatt war in der Handschrift der Teenagerin beschrieben, mit ungewöhnlichen Blümchen statt der Punkte auf den Is. Sie hatte als Elfjährige ihre Hobbys beschrieben. Sie hatte ihr Pony geliebt und Netzball und Tennis gespielt. Sie hatte am Klavier den dritten Grad erreicht und einen Rhetorikwettbewerb gewonnen. Sie hatte Flugbegleiterin werden wollen. Halls Blick ruhte auf der Fortschreibung dieses Berichtes. Im Jahr ihres GCSE waren ihre Handschrift feiner und ihre Rechtschreibung besser geworden. Sie hatte weder Pony noch Netzball erwähnt, war allerdings Mitglied in einem Tennisverein geworden. Am Klavier hatte sie durchgehalten und den fünften Grad erlangt, wenngleich nicht bekannt war, gegen welchen Unmut sie dabei ankommen musste. Doch den Mile-High-Club hatte sie zugunsten der akademischen Welt aus dem Blick verloren. Sie hatte Meeresbiologin werden wollen.
„UCAS?“, las Johnson über die Schulter seines Vorgesetzten hinweg; nur eine seiner irritierenden Angewohnheiten.
„Ähm, das ist die neue Vergabestelle für Studienplätze“, erklärte Diamond. „Sie tritt offiziell im September ihren Dienst an. Eine Mischung aus UCCA und PCAS.“
Der Inspector wirkte ratlos. Auch in der Polizei trieben solche Abkürzungen ihr Unwesen, aber nicht in diesem Ausmaß.
„Jennifer hat sich an Universitäten beworben?“, fragte Hall nach.
„Ich glaube, ja. Das müssten Sie allerdings Maxwell fragen.“
„Da ist nicht viel zu holen.“ Hall schloss den Hefter. Seine eigene Akte über die tote Teenagerin war bereits viermal so dick.
„Nein“, stimmte Diamond ihm zu. „Nein, vermutlich nicht. Es ist nicht leicht, wissen Sie? Bei fast elfhundert Schülerinnen und Schülern fällt es meinem Lehrkörper schwer, größere Mengen an Informationen über alle zusammenzutragen. Außerdem brauchen wir sie normalerweise nicht. Ich meine … na ja …“
„Wie war sie, Mr. Diamond?“, fragte Hall, der sich die Finger an seine ausdruckslosen Lippen gelegt hatte.
„Oh, klug“, sagte er rasch und überzeugt. „Sehr klug. Ja, sie hätte sich gut auf einer Eliteuniversität gemacht. Vielleicht nicht Oxford, auch wenn sie sich dafür beworben hat, wie ich hörte; aber definitiv eine der besten Universitäten.“
„War sie beliebt?“
„Ja. Sehr. Ich wollte sie im kommenden Schuljahr zur Vertrauensschülerin machen; vielleicht sogar zur Schulsprecherin, wenn Heather Robotham nicht wäre.“
„Heather …“ Johnson machte sich in einem kleinen, schwarzen Buch Notizen.
„Robotham“, wiederholte Diamond. „Ihr Vater ist Arzt. Die Praxis ist unten am Ufer.“ Der Polizeibeamte nickte. „Aber Jenny war ein gutes Mädchen. Begabt und entgegenkommend. Sie hat vergangenes Jahr in Godspell mitgespielt.“
„Jungs?“ Hall ließ die Hand sinken.
Diamond schaute ihn mit einem Stirnrunzeln an. „Das weiß ich wirklich nicht.“ Er lächelte. „Da müssten Sie …“
„… Maxwell fragen“, schaltete Johnson sich ein. „Und wo finden wir ihn?“
„Margaret wird Ihnen seine Adresse geben, wobei er …“
„Ja?“, fragte Hall.
„Nun, ich glaube nicht, dass er zu Hause ist. Ich meine, er ist verreist.“
„Für wie lange?“
„Eine ganze Weile, denke ich. Aber keine Sorge, am 19. August wird er zurück sein.“
„Woher wissen Sie das?“, fragte Johnson.
Diamond lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich selbstgefällig über seine Weste. „Die Ergebnisse der A-Levels.“ Er strahlte. „Die hat Peter Maxwell in zwanzig Jahren nicht verpasst. Ah.“ Er reagierte auf ein Klopfen an der Tür. „Herein.“
Die mausartige Frau trat ein und brachte ein Tablett mit einem Sammelsurium von Tassen mit. Eine davon kündete von der Traumhochzeit des Prince und der Princess of Wales.
„Danke, Margaret. Zucker, die Herren?“
Sie schüttelten beide den Kopf. Johnson wusste, dass er auch so schon süß genug war. Hall schlug erneut die Akte auf. Er blickte in das breite Grinsen eines jüngeren Mädchens. Ihre Haare waren damals noch heller gewesen, und auch ihre Augen strahlten hell. Jetzt gab es keine Hoffnung mehr für sie.
***
Sie konnten Peter Maxwell nicht ausfindig machen. Sein Haus, ja. Und auch die alte Dame, die seinen Kater fütterte. Sie erhaschten sogar einen Blick auf das weiße Fahrrad, das im hinteren Teil seiner Garage stand. Aber ansonsten … Nichts. Sie würden bis zum 19. August warten müssen. Bis dahin blieb er noch verschont. Aber in der Zwischenzeit hatten sie eine Mordermittlung zu führen.
***
Die keifende, wilde Titelmelodie wurde von Blaulicht und kreischenden Fahrzeugen abgelöst. Dann ein Schwenk ins Studio, in dem leicht betreten wirkende Männer und Frauen an Telefonen und Monitoren saßen. Das Bild richtete sich wieder auf das freundliche, vertraute Gesicht von Nick Ross.
Er lauschte dieser Sonderausgabe von Crimewatch nur mit halbem Ohr, die man im Urlaubsmonat August ins Programm genommen hatte. Und auf den Bildschirm achtete er in seinem endlosen Ringen mit Nadel und Faden, der zum Wesen der meisten Männer gehörte, überhaupt nicht. Er wollte seine Laufsocken stopfen. Die Reihe von Namen, Bildern und Zufällen drang wie im Traum in seinen Verstand, dann hob er den Blick und konnte nicht mehr wegschauen. Die Socken blieben als chaotischer Haufen am Boden liegen.
„Es war der 23. Juli“, sagte Ross auf dem Fernsehbildschirm, „der letzte Schultag. Hier fand ein Wanderer Jennifers Leiche, in diesem Haus am Ende der Kissing Tree Lane. Sie war erdrosselt worden.“
Er beobachtete Ross, der ein paar Schritte durchs Studio lief und in eine andere Kamera sprach. „Jenny war ein kluges Mädchen im ersten Jahr der Oberstufe an der Leighford High School.“
Eine recht schmeichelhaftes Aufnahme des Schulgebäudes tauchte auf dem Bildschirm auf. Es war vermutlich ’86 aufgenommen worden, als die Schule im Fokus der industriellen Interessen lag. Oder war das 87? Es fiel ihm schwer, sich noch genau daran zu erinnern.
„Freundinnen beschreiben sie als freundliches, extrovertiertes Mädchen. Sie wurde zuletzt um halb vier an diesem Nachmittag lebend gesehen. Der Unterricht hatte um zwei Uhr geendet und Jenny hatte mit ihrem Freund in der Stadt ein Café aufgesucht. Um Viertel vor drei ließ er sie hier allein, an der Ecke Grassington Street und Rodwell Avenue. Haben Sie gesehen, wohin Sie im Anschluss gegangen ist?“
Jetzt war auf dem Bildschirm ein Double zu sehen, dass die Rodwell Avenue überquerte und in Richtung Golfplatz weiterlief.
Er schüttelte den Kopf. „Zu dick“, sagte er. „Das stimmt doch alles nicht.“
Doch Ross konnte ihn nicht hören. „Jenny trug ihre Schuluniform. Schwarzer Rock, weiße Bluse, schwarze Schuhe. Sie hatte eine Schultasche dabei, wie diese hier …“ Er hielt an einem Tisch an und hob einen grauen Samsonite hoch. „Ihrer wurde noch nicht gefunden. Gegen halb vier sah eine Frau, die sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause befand, wie sich eine Teenagerin, bei der es sich um Jenny gehandelt haben könnte, mit einem jungen Mann unterhielt, hier am Rand des Damms, ein Bereich, der bei Pärchen beliebt ist. Die Augenzeugin erinnert sich daran, dass die beiden zu streiten schienen und die Teenagerin mehrmals ‚nein‘ sagte.“
Das Double und ein großer Schauspieler stellten pflichtbewusst die Szene nach, dann drehte sich das Double um und folgte der alten Zugtrasse in Richtung Moorfields und Meer.
„Es ist nicht bekannt, was Jenny in der folgenden halben Stunde getan hat, doch um kurz nach acht lief dieser Mann, David Arnold, mit seinem Hund die Kissing Tree Lane entlang. Nach einem schönen Tag hatte Regen eingesetzt und Mr. Arnold seine Kapuze übergezogen. Sein Hund wollte nicht hören, als Mr. Arnold ihn rief, und er musste das Grundstück eines verfallenen Hauses betreten, das in der Gegend als das Rote Haus bekannt ist.“
Das Rote Haus füllte den Bildschirm aus, den Raum und seinen Verstand. Mr. Arnold saß plötzlich nachdenklich in einem unbeschreiblich schrecklichen Wohnzimmer. Er hatte eine Brille mit dicken Gläsern auf der Nase und trug einen formlosen Cardigan. Der entlaufene Hund saß zu seinen Füßen und seine Zunge hing im Scheinwerferlicht des Studios.
„Ich erinnere mich daran, ein Fahrrad gesehen zu haben“, erklärte Arnold seinen Zuschauern. „Es lehnte außen am Roten Haus. Ich fand das ungewöhnlich, denn das war es. Das Rote Haus war früher ein Ort für turtelnde Pärchen. Sie wissen schon, Jugendliche. Doch ich habe dort schon seit Monaten niemanden mehr gesehen, weil das Haus so verfallen ist. Auf jeden Fall war der alte Shep hier ins Haus gerannt und wollte nicht mehr herauskommen. Ich ging ihm nach und da sah ich den Landstreicher.“
„Dan Guthrie“, Ross hatte wieder das Heft in der Hand und führte die Geschichte fort, „war in der Gegend eine bekannte Person. Er hatte den Großteil des Julis im Freien geschlafen – bedenken Sie, dass das Wetter bis zur vergangenen Woche noch sehr gut war – und war gegen acht Uhr ins Rote Haus gegangen, in der Hoffnung, dort Schutz zu finden.“
„Jesus“, flüsterte er. „Jesus.“
„Chief Inspector Henry Hall.“ Ross setzte sich neben einen schmallippigen Kriminalbeamten mit einer makellosen Goldrandbrille. „Sie haben die Leitung dieser Ermittlung. Gibt es etwas, das Sie unseren Zuschauern heute Abend mitteilen wollen?“
„Ja.“ Hall schien sich mit dem Ansteckmikrofon an seiner Krawatte recht wohlzufühlen. „Die Tote war erst siebzehn Jahre alt …“
„Siebzehn Jahre und vier Monate“, widersprach er seinem Fernseher.
„Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Irgendjemand da draußen weiß, warum sie sterben musste und wer sie getötet hat. Der 23. Juli. Ein Dienstag. Kam jemand, den Sie kennen, an diesem Abend später als sonst nach Hause? Verhielt sich jemand ungewöhnlich? Oder gibt es jemanden, der sich seither ungewöhnlich verhält?“
„Vermutlich würden Sie gerne den Mann befragen, der mit Jenny am Damm gesehen wurde? Schauen wir uns noch einmal die Beschreibung an.“
Eine schlechte Skizze füllte das Bild aus: ein ungepflegter Kerl um die Zwanzig, mit einem toten Blick in den gezeichneten Augen und der Andeutung von Bartstoppeln.
„Er ist zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt“, führte Ross aus, „trug eine Jeans und ein weißes oder cremefarbenes Hemd und drückte sich wohl artikuliert aus.“
„Wir müssen mit ihm sprechen“, sagte Hall, als die Kamera wieder auf ihn gerichtet wurde, „um ihn als Verdächtigen auszuschließen.“
„Es handelt sich um einen besonders sinnlosen Tod“, kommentierte Ross. „In Tottingleigh wurde eine Einsatzzentrale eingerichtet. Unter 0391 421638 können Sie dort anrufen, oder unter 0500 600 600 hier im Studio; das ist die 0500 600 600. Ein Team von Ermittlern wartet darauf, Ihre Anrufe entgegenzunehmen. Und denken Sie daran: Wenn Sie stattdessen mit der Rechercheabteilung des BBC sprechen wollen, wird Ihr Anruf mit äußerster Vertraulichkeit behandelt werden.“
Ross wandte sich einer dritten Kamera zu, als müsste er jeden Verbrecher im Lande in einem Starrduell besiegen. „Jenny Hyde war erst siebzehn. Sie hatte keine Feinde in dieser Welt. Doch es wäre möglich, dass der Mörder erneut zuschlägt. Es liegt an Ihnen, das zu verhindern.“
Dann wurde die Stimmung aufgelockert, das Schweigen gebrochen und die lächelnde Sue Cook erfüllte den Bildschirm. „Waren Sie am 14. Mai im Zentrum von Birmingham?“, fragte sie.
Er stand auf, lief zum Fernseher und schaltete ihn aus. „Ich würde mich nur über meine Leiche im Zentrum von Birmingham blicken lassen“, sagte er. Er starrte auf den schwarzen, leblosen, leeren Bildschirm. „Und sag mir nicht, dass ich keine Alpträume bekommen soll, Nick. Denn die habe ich schon.“
Kapitel 2
Es gab eigentlich nur ein einziges Gesprächsthema: Jenny Hyde.
„Ich habe sie in der neunten Klasse in Französisch unterrichtet.“
„Hat sie nicht in Godspell mitgespielt?“
„Was ist nur aus dieser Welt geworden, dass man die Kinder nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr rauslassen darf?“
„Todesstrafe! Das ist die Lösung.“
„Daran sind natürlich nur die Sechziger schuld. All dieser Mist mit Frieden und Perlen. Das hat uns unserer Moral beraubt; unserer Normen. Wir sind vom Weg abgekommen.“
Waren Sie jemals in einem Lehrerzimmer? In etwa wie dort muss es in der Hölle sein; oder im Fegefeuer. John Milton hätte ein Gesamtschullehrer sein können. Wäre er nicht dreihundert Jahre zu früh zur Welt gekommen. ‚Das schreckliche Zischen im Flur.‘ Sie setzten sich, mit verschiedenen Tassen in der Hand, und unterhielten sich flüsternd. In der Sonderpädagogik-Ecke, bei der Windelbrigade, klapperten Joan Wilsons Nadeln gegeneinander, wie die von Madame de Farge, während ein formloses Etwas für das neuste Enkelkind unerbittlich größer wurde. Neben ihr saß Sally Greenhow und schüttelte den Kopf, während sie krampfhaft rauchte und etwas davon murmelte, dass die Gesellschaft vor die Hunde gehe.
Am Fenster saß das 1981-Komitee, alle in Trainingsanzüge und Zynismus gekleidet, zwischen ihren Comicstapeln und gesammelten Erinnerungsstücken von all den Entgleisungen der Schule aus den vergangenen dreizehn Jahren. Die Clique aus Mitgliedern des Fachbereichs Moderne Sprachen, die sich mit ihrem europäischen Selbstverständnis, ihrer Begeisterung für Maastricht und durch das Rauchen von Gauloises von den Kollegen abhoben, versuchte mit der unglaublich unscheinbaren französischen Aushilfe zu plaudern, die gerade erst eingetroffen war und sich fragte, wo sie hier nur gelandet war.
Dann kamen die Anzugträger herein. James Diamond, Mitte vierzig. Die einst kluge, junge Geschöpf der Achtziger war nicht so steil aufgestiegen, wie alle geglaubt hatten. Stattdessen wurde er älter und grauer, aber nicht weiser, während Regierungen, Gouverneure und Eltern ihn aus allen Richtungen mit Dingen bewarfen. Hinter seiner Brille mit goldenem Gestell blieb er unergründlich. Roger Garrett war ein oder zwei Jahre jünger; immer noch über vierzig, aber weniger offensichtlich als sein Vorgesetzter. Als erster Stellvertreter bekam man aus zwei Richtungen die Scheiße ab: von unten und von oben. Er war für den Lehrplan verantwortlich und sein Alptraum war der Stundenplan, dieser zerstörerische Moloch, in dem Menschen mathematischen Formeln geopfert wurden; in dem die Menschheit in einem Morast aus Möglichkeiten und bunten Reißzwecken an einer Bürowand versank. Und wem gab er die Schuld, wenn rings um ihn alle den Verstand verloren und ihn dafür verantwortlich machten? Dem SIMS natürlich. Dem Computersystem, das die Verwaltung revolutioniert hatte, aber nie ganz das tat, was man von ihm wollte. Wie viele Kinder im siebten Schuljahr besuchten den Erdkundeunterricht? Der Computer wusste es, verriet es aber nicht. An manchen Tagen war das System kaputt, an anderen funktionierte es nicht. Erledigt in der Leighford High. Dann war da noch der dritte Triumvir – der Lepidus zu Diamonds Caesar und Garretts Mark Anton – Bernard Ryan. Sie mögen sich fragen, was ein Vertrauenslehrer ist. Bernard Ryan war auf jeden Fall keiner. Wenn man noch Windeln trug und noch grün hinter den Ohren war, wie sollte man dann vorgeben, mit der gesellschaftlichen Hölle der Unterprivilegierten zurechtzukommen; mit den Kindern der Blumenkinder? Der junge Bernard war das letzte Bollwerk der Disziplin. Zahllos waren die Bengel auf Abwegen, die in sein Büro geschickt wurden, um Ablass zu leisten.
Peter Maxwell saß in der Ecke, die er für sich in Anspruch genommen hatte, und wandte sich an seinen Mitverächtlichen, Geoffrey Smith, den Leiter des Fachbereichs Englisch. „Ist es nicht toll, die Leitung zu haben?“
Smith schmunzelte. Er war ein einundfünfzigjähriger Mann mit funkelnder Glatze und einem Faible für Schwarzweißfilme und Dylan Thomas. Er hatte jüngst einen Sieg errungen, indem er sich geweigert hatte, im Englischunterricht der Key Stage 3 den standardisierten Leistungsnachweis einzuführen. Die Regierung versuchte, einem System Konformität aufzuzwingen, das so individuell unterschiedlich war, wie die Kinder in einer Schule. John Patten, der Bildungsminister, und John Major, der Premierminister, hatten ihn auf verblümte Weise beschimpft und ihm ob seiner Uneinsichtigkeit für den Sommer Chaos in den Klassenräumen prophezeit.
„Können wir bitte anfangen, meine Damen und Herren?“, flehte Diamond.
Das Stimmengewirr im Raum wurde kaum leiser. Er fuhr trotzdem fort.
„Hast du je Seduction of a Nation gesehen, Geoff?“, fragte Maxwell.
„Keine Ahnung“, sagte der Leiter des Fachbereichs Englisch. „Was ist das?“
„Eine Dokumentation über Hitler. Wirklich fabelhafte Aufnahmen der Reden eines ehemaligen Kunststudenten. Er hat zehntausend Menschen in der Hand, indem er einfach nur wartet. Er steht bloß da, bis sie ruhig sind. Fesselnd.“
„Hat er dir das beigebracht, für deine Autorität im Klassenraum?“
„Nein“, sagte Maxwell, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich habe es ihm beigebracht.“
„Es gibt mehrere Dinge …“, sagte Diamond gerade.
„Jenny“, rief Maxwell. „Was ist mit Jenny?“
Sämtliche Unterhaltungen erstarben und alle Blicke richteten sich auf den Direktor. In seiner einsamen Führungsrolle stand er da; mit auffällig schlechtsitzender Hose für ein ehemaliges Wunderkind.
„Ich glaube nicht, dass dies die Zeit und der Ort ist, Max“, sagte er leise.
Die Blicke wanderten zum grauhaarigen, alten Mann in der Ecke. Jetzt schon eine Keilerei? So früh im Schuljahr?
„Jetzt geht’s los“, murmelte Paul Moss, der Leiter des Fachbereichs Geschichte, leise vor sich hin. Peter Maxwell war der schlimmste Rebell in seinem Fachbereich, doch er liebte diese Momente. Sie waren pures Gold. Er sah, wie der Mann langsam die Hand hob, um seinen formlosen Tweedhut abzusetzen – wer zur Hölle trug in den Neunzigern noch einen Hut? Er sah, wie das stachlige Haar befreit, die Stirn in Falten gelegt und der Blick fokussiert wurde. Maxwell wickelte sich los wie eine Mamba. Das würde nicht schön werden.
„Bei allem Respekt, Schuldirektor“, sagte er langsam und man konnte spüren, wie einem seine raue Stimme in den Knochen vibrierte. „Jenny Hyde ging in meine Oberstufe, sie ging auf diese Schule. Sie ist tot. Wenn dies nicht die richtige Zeit und der richtige Ort ist, wann und wo dann?“
Ein ‚Hört, hört‘ ging durch den Raum und der Direktor erkannte seine Niederlage. Es war nicht seine erste. Im Grunde erlebte er jedes Mal eine, wenn er mit Maxwell aneinandergeriet.
„Nun kommen Sie schon, Max …“ Ryan versuchte, mit seinem schrillen Gejammer den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, doch weiter kam er nicht, da sich Maxwells Blick in seinen Kopf brannte und er sich wieder setzte. Das Lächeln war auf seinen Lippen erstarrt.
„Ich weiß auch nicht mehr als Sie“, sagte Diamond, während er sich auf den Tisch setzte, der durch die gesamte Länge des Lehrerzimmers verlief. „Die Polizei führt ihre Ermittlung durch. Wie ich hörte, haben sich die Beamten während der Ferien mit verschiedenen Personen unterhalten; mit Freunden von Jenny und so weiter. Ich habe selbst am Tag nach der Tat mit ihnen gesprochen.“
Stille.
„Und das ist alles?“, fragte Maxwell.
Das Stimmengewirr wurde wieder lauter. Geoffrey Smith hob eine Hand. „Roger, möchten Sie die Änderungen im Stundenplan durchgehen? Die seit Juli meine ich.“
Und das war er, der Entwicklungstag des Kollegiums, bevor die Kinder zurückkehrten und wieder für Unordnung sorgten. Doch das Wetter wusste Bescheid. Der August war nass und wolkig gewesen. Ian McCaskill grinste dreist, um der Welt mitzuteilen, dass es morgen so weitergehen würde. Dann, sobald das Schuljahr begonnen hatte, hielt der Altweibersommer Einzug – mit wolkenlosem, blauem Himmel und gestochen scharfen Schatten auf den Feldern und dem Schulhof.
Peter Maxwell trug seinen Kaffee zum Block der Oberstufe hinüber. Er stieg schnaufend zwei Treppen hinauf und lief den Flur entlang, der nach der jährlichen Grundreinigung blinkte. Er tastete nach seinem Schlüsselbund. Irgendjemand hatte endlich das Schloss repariert und die Tür schwang auf. Er warf seinen Hut auf den Haken, den er sich bei B&Q gegönnt hatte: eines dieser selbstklebenden Plastikteile, die ohne Schrauben auskamen. Wenn man hier nur eine Schraube in eine Wand oder Tür jagte, könnte das ganze Gebäude einstürzen.
Als er seinen Aktenschrank öffnete, ging ihm auf, dass er Alison an diesem Morgen gar nicht gesehen hatte. Fing sie jetzt schon an? Eine Frau, seine Assistentin, die die Morgenübelkeit zu einer Kunstform erhoben hatte. Es war ihre dritte Schwangerschaft. Wie zur Hölle konnte sie überhaupt behaupten, Lehrerin zu sein? Doch ihr Fach war die Biologie, das musste es erklären. Sie würde bestimmt verspätet hereingestolpert kommen, mit dem weiblichen Teil des Lehrkörpers herumbummeln und endlos über schmerzende Brustwarzen und Rückenschmerzen klagen. Was für ein Drückeberger, dachte er. Dann traf ihn eine Erinnerung. Stechend und schmerzhaft. Er rammte die Aktenschublade wieder zu.
„Mr. Maxwell?“ Die Stimme brachte ihn dazu, sich umzudrehen.
Ein Mann in einem grauen Anzug stand in seiner Tür, flankiert von einem weiteren.
„Ja?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln. Die beiden sahen nicht nach angehenden Eltern aus. Und außerdem war die neue 12. Klasse erst am Nachmittag dran.
„Ich bin Chief Inspector Henry Hall. Dies ist Detective Inspector Johnson.“
„Ah“, sagte Maxwell. „Ich habe schon mit Ihnen gerechnet, Gentlemen.“
„Wirklich?“ Hall ließ sich zu einem der harten Stühle schicken. „Warum das?“
Maxwell setzte sich auf seinen Platz auf der anderen Seite des Pultes. „Ich ging davon aus, da ich für Jenny Hyde einer Vaterfigur am nächsten kam, zumindest hier an der Schule. Wie kommen die Hydes zurecht?“
„Was denken Sie?“, fragte Johnson.
Hall warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wie zu erwarten“, sagte er leise. „Einzelkind und so. Sie sind immer noch verzweifelt. Ich glaube nicht, dass man mit so etwas leicht abschließen kann.“
Maxwell nickte.
„Wie standen Sie genau zu der Toten?“, fragte Hall.
„Ich war ihr Stufenleiter“, sagte Maxwell, „und ihr Geschichtslehrer.“
Hall wechselte noch einen Blick mit seiner Nummer Zwei. „Das müssen Sie mir erklären“, sagte er. „Ich erinnere mich nicht daran, während meiner Schulzeit Stufenleiter gehabt zu haben.“
„Ich bin für das akademische und seelische Wohlergehen der Oberstufe zuständig“, sagte Maxwell. „Zweihundertachtzehn Sechzehn- bis Neunzehnjährige mit unterschiedlichem Temperament und unterschiedlicher Herkunft. Ich bin eine Art Mischung aus Beichtvater und Polizist.“ Er zeigte Johnson sein strahlendes, zahnlückiges Lächeln. „Ein netter Polizist natürlich.“
Der Inspector antwortete mit einem finsteren Blick.
„Kannten Sie Jenny gut?“, fragte Hall.
Maxwell schaute ihn an. „Haben Sie ihre Akte gesehen?“, fragte er.
Hall nickte.
„Dann kennen Sie mein gesamtes Wissen über Jennifer Antonia Hyde“, sagte er. „Ich hatte für ihren Abschluss eine Note B vorausgesagt – Paul dachte an ein A, aber er ist auch noch jung.“
„Paul?“
„Paul Moss, der Leider des Fachbereichs Geschichte. Ich stehe an zweiter Stelle des Fachbereichs, neben meinen Pflichten als Vertrauenslehrer. Mal sehen. Sie konnte ein logisch schlüssiges Argument aufbauen, war belesen und hatte einen reifen und flüssigen Schreibstil.“
„Ist das nützlich?“, fragte Johnson.
Maxwell schaute ihn an. „Sie fragten mich, ob ich Jenny gut kenne“, sagte er. „Ich berichte Ihnen vom gesamten Umfang meines Wissens über sie.“
„Verzeihen Sie“, Hall veränderte seine Sitzposition, „aber wenn ich mich recht erinnere, wollte Jenny Meeresbiologin werden. Ist es da nicht recht ungewöhnlich, in der Oberstufe Geschichte zu wählen?“
„Intellektuell, nein.“ Maxwell lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Ich werde Sie nicht damit zu Tode langweilen, wie wichtig Geschichte für einen Lebenslauf ist. Alles hat eine Geschichte, Chief Inspector. Selbst die Meeresbiologie, nehme ich an. Und die Polizei ganz gewiss. Es ist ein Fach, das einen wie kein zweites lehrt, schnell und entschlossen zu reagieren.“
„Ach, Sie müssen in Ihrem Arbeitsbereich schnell und entschlossen reagieren?“, spöttelte Johnson.
Maxwell lächelte und sprach mit Hall. „Sie haben recht“, sagte er. „Aus beruflicher Sicht ist es nicht allzu sinnvoll. Das ist ein unüberwindliches Thema. Kinder wählen Fächer, weil sie ihnen gefallen, weil sie gut darin sind, weil ihre besten Freunde sie gewählt haben, weil sie auf die Lehrkraft stehen. Dahinter steckt eigentlich keine rationale Entscheidung. Dann entwickeln sie einen Berufswunsch – und was sie tun, passt nicht dazu. Wie auch immer. Diese Dinge kommen und gehen, wie der Wind. Vor einigen Jahren, als zum ersten Mal Herriot im Fernsehen lief, wollte die Hälfte der Oberstufe Tierärztin oder Tierarzt werden. Das sage ich nur, weil es überraschend unglamourös ist, die Hand in den Hintern einer Kuh zu schieben …“
„Und deshalb hat Jenny Hyde Geschichte gewählt?“, fragte Johnson. „Weil sie auf den Lehrer stand?“
Maxwell kniff ob dieser giftigen Bemerkung die Augen zusammen. „Ich bin alt genug, um ihr Großvater zu sein, Inspector.“ Er lächelte.
„Ja“, knurrte Johnson. „Ganz genau.“
„Hat Crimewatch zu irgendwelchen Ergebnissen geführt?“, fragte Maxwell. „Ich war zu dem Zeitpunkt im Urlaub. Die Folge war ein ziemlicher Schock, das kann ich Ihnen sagen. Ich hätte beinahe eine Masche fallengelassen.“
„Sie stricken gern?“, fragte Johnson.
Maxwell zuckte mit den Schultern. „Ich kann die Löcher in meinen Socken stopfen oder behalten“, sagte er.
„Sind Sie verheiratet, Mr. Maxwell?“ Hall lehnte sich vor.
Maxwell schaute die beiden an; den einen leidenschaftslos, den anderen mit dem Wunsch, das Hängen würde wieder in Mode kommen. „Nein“, sagte er langsam. „Im Moment nicht.“
„Die BBC war sehr hilfreich“, sagte Hall. „Wir haben viele Anrufe erhalten.“
„Der ungepflegte Kerl – der, mit dem Jenny gesprochen hat …“
„In dieser Sache gibt es noch keine nützlichen Hinweise“, sagte Hall. „Zumindest nichts Eindeutiges. Mr. Maxwell …“ Hall erhob sich. „Wir haben mit sämtlichen von Jennys Freundinnen und Freunden gesprochen. Und ehrlich gesagt, sind wir nicht weitergekommen. Sie sehen diese Jugendlichen täglich, in einem Arbeitsumfeld. Würden Sie uns einen Gefallen tun?“
„Wenn ich kann“, sagte Maxwell.
„Spitzen Sie die Ohren, ja? Und halten Sie die Augen auf. Irgendjemand muss etwas wissen. Die Person redet einfach noch nicht. Wir brauchen ehrlich gesagt einen Durchbruch.“
Maxwell erhob sich ebenfalls und nickte. „Ich werde tun, was ich kann“, sagte er.
Die Polizeibeamten verließen den Raum.
Auf der Treppe warf Chief Inspector Hall Detective Inspector Johnson einen Blick zu. „Was ist los, Dave? Du siehst aus, als wärst du den Kray-Zwillingen begegnet.“
„Selbstgefällige Mistkerle“, sagte Johnson, während er seine Augen gegen den grellen Sonnenschein abschirmte. „Besonders sie, die einen Pork-Pie-Hut tragen – hast du ihn gesehen? Er hing an der Wand. Und Fliegen. Welcher Lehrer einer drittklassigen Gesamtschule trägt denn bitte Fliege?“
„Das hört sich an, als hätte dir Mr. Maxwell nicht allzu gut gefallen.“ Hall grinste.
„Sagen wir einfach, ich halte ihn für ungefähr so aufrecht wie Jeffrey Dahmer. Und da wäre noch etwas.“
„Ach, ja?“
Sie erreichten den Schulhof. Mehrere Lehrkräfte unterhielten sich in Grüppchen, trugen Papierstapel durch die Gegend und eine blasse, schwangere Frau schlurfte an ihnen vorbei.
„Es lagen Hosenklammern auf seinem Schreibtisch“, sagte Johnson. „Unser Mr. Maxwell fährt Fahrrad.“
„Das wissen wir längst. Einer der Constables, den wir während der Ferien zu seinem Haus geschickt haben, hat eins entdeckt.“
Johnson nickte. „Ich bestätige solche Dinge nur gern“, sagte er.
***
Sie hatte sich eines dieser Teile einbauen lassen, so eine Fischaugen-Linse in der Tür, die Besucher schrecklich verzerrt aussehen ließ. Dieser Besucher wirkte ganz besonders deformiert, dort wo sein Gesicht sein sollte, sah man nur einen Strauß Chrysanthemen.
Sie löste die Sicherungskette und ließ ihn ein.
„Aber hallo, Miss Marthe“, sagte mit einem schleppenden Kentucky-Akzent. „Wenn Sie nicht das hübscheste Ding sind, das ich je gesehen habe.“
„Danke für die Blumen, Max“, sagte sie und nahm ihm den Straß ab. „Ich wollte sie selbst abschneiden. Der Wind hat an meiner Vorderseite sein Unwesen getrieben.“
„Sieht für mich nicht so aus.“ Maxwell legte plötzlich Zeigefinger und Daumen aneinander, sodass es aussah, als würde er eine unsichtbare Zigarre paffen, ganz wie Groucho Marx, auf der Höhe ihres Busens.
„Mach deine Hosenklammern ab“, kicherte sie. „Ich werde die hier ins Wasser stellen.“
Er setzte sich und seinen Hut aufs Sofa. „Wie wär‘s mit einem Drink?“, fragte er.
Er hörte sie in der Küche räumen. „Bedien dich“, rief sie.
Er zog die Klammern ab und kniete sich vor den Furnierholzschrank. Eindeutig Kiefer, aber Furnier. Pernod, Vodka, Sherry. Ah, Southern Comfort.
„Möchtest du auch etwas?“, rief er.
„Bin schon versorgt.“ Sie war mit einem Glas in der Hand ins Wohnzimmer gekommen. „Wie war dein Tag?“
„Der Höllentag, Nursie“, seufzte er. „Das schreibe ich jedes Jahr in mein Tagebuch. Ich habe mich heute mit dreiundsechzig kleinen Scheißern unterhalten, die aus mir unerfindlichen Gründen in die Oberstufe wollen. Sie alle hielten die Ergebnisse des größten Mists seit der Grundschul-Abschlussprüfung in Händen.“
„Ich habe diesen Lausbub Henderson gesehen“, sagte sie, während sie ihre Schuhe von sich schleuderte, und streckte sich auf dem Sofa aus. „Oh, tut mir leid, Max, ich habe mich auf deinem Platz breitgemacht.“
„Nicht oft genug.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ja, aber ich habe nicht mit Henderson gesprochen. Er war bei Alison. Eines der achtzehn Kinder, für die sie Zeit hatte.“
Seine Stimmung entging ihr nicht. „Also wirklich, Max“, tadelte sie sanft. „Alison macht im Moment eine schwere Zeit durch. Sie sah am Nachmittag wirklich schrecklich aus.“
„Ja.“ Er nickte und trank einen Schluck. „Du hast recht. Aber nicht so schlimm wie Henderson, möchte ich wetten.“
„Ich dachte, du hättest gesagt, er würde nur über deine Leiche in die Oberstufe kommen.“
Maxwell warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Dieser Tag hat noch vier Stunden, Schwester Matthews. Wer sagt mir denn, dass ich nicht an deinem Treppengeländer baumle, ehe er rum ist?“
„Ich“, sagte sie und begab sich beim Geräusch eines zischenden Topfes in die Küche. „Denn es wird schwer, in einer Wohnung im vierten Stock überhaupt ein Treppengeländer zu finden. Ratatouille.“ Sie verkündete, was es zu essen gab, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Ist das in Ordnung?“
„Wundervoll“, rief er. „Und bei deinem Kochtalent, liebste Sylvia, wird auch genau die richtige Dosis Ratte dabei sein. Apropos, wie geht es Roger Rabbit?“
Er zählte in Gedanken, mit einem albernen Grinsen im Gesicht. Drei Sekunden später, nun, sogar ein wenig schneller, stand sie mit einer bedrohlich wirkenden Schöpfkelle in der Tür. „Wenn du den stellvertretenden Rektor meinst“, sagte sie, „weißt du genau, dass es sich nur um ein lächerliches Gerücht handelt, das von …“ Dann sah sie seinen Gesichtsausdruck, schnaubte und kehrte zu ihren Töpfen und Pfannen zurück.
„… mir in die Welt gesetzt wurde, schätze ich.“ Er trat zu ihr in den Dampf.
„Es gibt nur einen Mann in meinem Leben“, sagte sie und klapperte erneut herum, während sie etwas über der Spüle abgoss. Dann hielt sie abrupt inne und schaute ihn an. „Und das hat nicht sonderlich gut geklappt, oder?“ Sie huschte an ihm vorbei und beschäftigte sich schnell. „Würdest du den Wein öffnen?“
„Oh, Gott!“ Er rammte den Kopf gegen den Schrank. „Das würde ich, Sylv, aber der liegt ganz trostlos in meinem Kühlschrank. Ich bin so ein Arschloch. Oh, entschuldige.“
„Macht nichts.“ Sie lächelte. „Da liegt noch irgendeine Flasche aus Australien im Weinregal. Nein. Links von dir. Ja, genau.“
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Setz dich hin. Der Korkenzieher liegt auf dem Tisch. Oh, und kannst du das hier auf den Tisch stellen?“
Er nahm den Teller mit dampfenden Köstlichkeiten entgegen und widmete sich dem Korken.
„Max.“ Sie klang plötzlich sehr ernst, als sie sich ihm gegenübersetzte und ihm ihr Glas entgegenhielt, damit er es füllte.
„Hm?“ Er schenkte ihnen beiden ein.
„Wer hat sie getötet, Max? Wer hat Jenny getötet?“
Er stellte die Flasche ab. Sylvia Matthews war noch immer eine umwerfende Frau, mit ihrem goldbraunen Haar und den strahlenden Augen, in denen das Kerzenlicht flackerte. Sie war seit beinahe sechs Jahren die Hausmutter der Leighford High; gleichzeitig Florence Nightingale und Claire Rayner, auch wenn sie nie mit einer Lampe herumlief oder andere Schätzchen nannte. „Das geht mir nicht aus dem Kopf“, sagte er, während er ihr das Salz reichte. „Wie lange machen wir das schon, Sylv, wir beide?“
„Was? Am Tag vor Beginn des Schuljahres zusammen zu Abend essen?“ Sie lächelte ihn an. „Schon ewig.“
„Schon ewig.“ Er erwiderte das lächeln. „Und in all der Zeit, in dieser Ewigkeit, hast du es da je erlebt, dass ich eine Frage nicht beantworten kann?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht“, sagte sie.
„Nun, dieses Mal habe ich keine.“ Er aß den ersten Bissen. „Nursie“, stöhnte er und schloss die Augen. „Du hast dich selbst übertroffen.“
„Hat die Polizei mit dir gesprochen?“, fragte sie. „Ich hörte, dass Beamte in der Schule waren.“
Er nickte. „Irgendein Chief Inspector, der nach dem Frontmann einer Band aus den Dreißigern benannt ist, und sein Sidekick, wie zwei Gestalten aus Sweeney.“
„Was wollten sie wissen?“
Er schaute sie an, trank einen Schluck Wein und nahm sich Zeit. „Das Gleiche wie du“, sagte er. „Nur dass sie weniger direkt waren. Sie fragten mich, in welcher Beziehung ich zu Jenny stand.“
„Eine Beziehung?“, wiederholte sie. „Du hattest doch keine … oder?“
Er lehnte sich zurück. „Du liebe Güte, Sylvia. Hätte ich geahnt, wie angriffslustig du vorgehst, ich hätte eine kugelsichere Weste angezogen – oder wenigstens meinen Regenmantel und eine am Knie abgeschnittene Hose, und sonst nichts.“
„Oh, Max.“ Sie tippte mit ihrer Gabel auf seine Knöchel. „Du warst Jennys Vertrauenslehrer, das ist alles.“
„Stimmt.“ Er nickte. Plötzlich war er anderswo; weit entfernt. „Und das war nicht gut genug, nicht wahr?“
„Du hast dir nichts vorzuwerfen.“ Sie biss ins Baguette.
„Nicht?“, fragte er. „Ein Detective fragte mich heute, was ich über eine tote Teenagerin weiß, die ich drei Jahre lang unterrichtet habe, und ich bin ihnen eine Antwort schuldig geblieben. Sie war unter meiner Obhut, Sylv. Ich hätte dort sein sollen. Wie sagen es die Amerikaner – für sie. Ich war nicht für sie da.“
„Ach.“ Sie warf ihre Serviette auf den Tisch und füllte ihre Gläser nach. „Jetzt machst du dich verrückt, Max. Sie war siebzehn …“
„Siebzehn Jahre und vier Monate“, rief er ihr ins Gedächtnis.
„Na schön, dann eben siebzehn Jahre und vier Monate. Sie war eigenwillig. Und sie hatte Eltern. Deine Verantwortung reicht auch nur bis zu einem gewissen Punkt, weißt du?“
„In loco parentis, Sylv. So heißt es. Wie gut ist dein Latein?“
„Nicht existent“, gab sie zu. „Ich kenne ein paar Körperteile, aber diese Formulierung kenne ich natürlich auch. Lehrer sind dem Gesetz nach in loco parentis – an Eltern statt. Aber das gilt doch gewiss nur tagsüber, oder? Nine to five?“
Er betrachtete sie in ihrer Ruhe und Selbstsicherheit. „Ich weiß es nicht“, sagte er. „Ich weiß nur, dass sie meine Schülerin war und jetzt tot ist. Und weißt du was?“
„Nein, was?“ Sie lächelte, als sie dieses gewisse Leuchten in seinen Augen sah.
„Ich werde etwas deswegen unternehmen. Lust zu helfen?“
***
Sie setzten sich unter das Flackern der falschen Kohlen, das über die Zimmerdecke zuckte. Maxwell hatte die Schuhe ausgezogen und zusammen mit seiner Fliege so viel von seiner Fassade abgelegt, wie er wagte. Sylvia Matthews rollte sich an den Füßen des großen Mannes zusammen – ihr Alexander zu seinem Aristoteles; nur dass sie keine Welt zu erobern hatte und seine Philosophie dem Klassenraum entsprang – ein Vierteljahrhundert der Zivilisation gegen die barbarischen Horden.
„Solltest du nicht mittlerweile an einer Meerschaumpfeife saugen?“, fragte sie.
„In der Tat, Watson.“ Seine Nasenlöcher weiteten sich, ganz wie bei Basil Rathbone oder Arthur Wontner. „Ein Dreipfeifenproblem und eine siebeneinhalbprozentige Lösung.“
Sie schaute ihn mit einem Stirnrunzeln an. „Das ist bestimmt schrecklich clever, Max, aber ich habe nie etwas von Conan Doyle gelesen.“
Er tätschelte ihren Kopf. „Und ich nichts von Gray’s Anatomie“, sagte er. „Würden wir in den Fünfzigern leben, müssten wir Trenchcoats tragen, Tee trinken und uns mit schrecklich gepflegter Ausdrucksweise unterhalten.“
„Warst du in den Fünfzigern nicht in Cambridge?“, fragte sie.
Er schlang ihr das Ende seines Schals um den Kopf. „In den Sechzigern, meine Liebe“, sagte er. „Anfang der Sechziger, das muss ich dir lassen, aber es waren die Sechziger. Während die die Fab Four zum Kreischen brachten, habe ich mich mit dem komplexen Kurssystem der Universität herumgeschlagen. Und nein, ehe du fragst; ich kannte Burgess und Maclean nicht! Was glaubst du, wie alt ich bin?“
Sie tätschelte sein Knie. „Du bist zeitlos, Max“, sagte sie. „Also, was wissen wir?“
„Jennifer Antonia Hyde.“ Maxwell lehnte sich ins Sofa zurück. „Geboren am 16.03.1975. Mein Gott, in dem Jahr habe ich mir in Greenwich die Ausstellung zur Amerikanischen Revolution angeschaut. War recht gut; etwas teuer.“
„Max!“ Sie holte ihn in die Gegenwart zurück.
„Entschuldige. Ich schweife ab. Ein GCSE von acht. Hatte für die Oberstufe Biologie, Chemie und Geschichte gewählt.“
„Klassenlehrer?“
„Janet Foster, die alte Jungfer dieser Gemeinde und Leiterin des Fachbereichs Kunst.“
„Sie ist geschieden.“
„Das ist nur eine Metapher“, sagte Maxwell. „Eine Frau mit feinem Gespür, Vorstellungskraft und Finesse. Und mir ist gerade eingefallen, dass mir der alte Besen noch fünf Pfund schuldet.“
„Wann wurde Jenny … weißt du es … Wann es geschah? Wann genau?“
„Nun, das ist die Sache.“ Maxwell stand auf und füllte ihre Getränke nach. „Ich war die drei Wochen in Cornwall, und auch wenn man mir das Gegenteil versichert hat, war der Fernseher im Cottage kaputt. Ich habe deshalb sogar die letzte Folge Taggart verpasst.“
„Es war der Hotelier“, sagte sie ihm.
„Ja, natürlich.“ Er schnipste. „Das musste ja so sein. Wie auch immer. Ich habe die Besitzer belästigt, die am Ende der Straße wohnten, bis sie einen Handwerker geschickt haben. An dem Abend habe ich Crimewatch eingeschaltet.“
„Hast du denn in keine Zeitung geschaut?“
„Du weißt, dass ich nicht Zeitung lese, Sylv“, sagte er. „Am Anfang schuf Gott die Zeitung, damit wir Briten Fish and Chips darin einwickeln können. Jetzt da irgendein Europapolitiker dem Einhalt geboten hat, erfüllt die Zeitung keine gesellschaftliche Funktion mehr. Wie dem auch sei. Du weißt, dass ich mich im Sommer gerne komplett ausklinke. Zurück in die Natur, wenigstens für eine Weile. Man kann die Hand ausstrecken und die Vergangenheit berühren. Aber du warst hier.“
„Ja, das war ich. Ich hatte erst in der Woche darauf Urlaub.“
„Dann erzähl mir alles.“
„Nun, es kam am Samstag in den Mittagsnachrichten. Ich hatte den Fernseher angemacht, weil ich den Wetterbericht sehen wollte. Ich konnte es gar nicht glauben. Es war schrecklich. Die Sonntagsausgaben der Zeitungen waren am nächsten Tag natürlich voll davon. Die Mail hat damit sogar eine ganze Doppelseite gefüllt. Jennys Aufnahme vom Schulfotografen und ein Bild von Diamond.“
„Ah, Langbein kam also für einen Tag groß raus, ja?“
„Ich hatte Mitleid mit den Eltern. Du weißt, wie aufdringlich Reporter sein können. Am Montag waren sie da und gaben eine Pressekonferenz. Es war schrecklich. Einfach fürchterlich. Irgendein Mistkerl fragte Mr. Hyde, wie es ihm geht. Ist das zu fassen? Er war jünger, als ich erwartet hätte; also, Mr. Hyde. Bist du den beiden je begegnet?“
„Einmal, glaube ich. Ich war nicht angetan. Sie war eine blöde Kuh, fand ich. Ich weiß, man soll nicht schlecht von den Eltern der Toten sprechen. Aber das Leben muss weitergehen.“
„Machst du es deshalb?“, fragte sie ihn.
„Was?“
„Im Fall ihres Todes ermitteln?“
Er gluckste. „Ich ermittle doch nicht“, sagte er.
„Und wie würdest du es dann nennen?“
„Das hier?“, fragte er. „Ich versetze Berge, meine Liebe, sonst nichts.“
„Ich verstehe.“ Sie schaute ihn an. „Dann sagen Sie mal, Mr. Maxwell, Mr. Ich-mische-mich-nicht-ein Maxwell. Wessen Berge versetzt du da? Die eines anderen? Oder deine eigenen?“
Er schaute in ihre Augen, die im Feuerschein strahlten. Dann nickte er. „Es sind meine“, sagte er. „Meine Berge.“
Sie nickte. „Deine. Und wann fängst du an?“
„Dieses ‚du‘ klingt schrecklich einsam, liebste Sylvia. Was ist aus dem ‚wir‘ von vorhin geworden, werte Freundin?“
Sie legte das Kinn auf sein Knie. „Du kannst vorbeikommen, wann immer du willst, Max“, sagte sie ihm. „Ich schlage mir mit dir die Nacht um die Ohren und leihe dir meine weibliche Intuition – was auch immer das wert sein mag. Aber mehr nicht … Weißt du, ich habe ihre Gesichter gesehen … die der Hydes. Ich habe gesehen, was diese Sache ihnen angetan hat. Ich bin nicht für investigativen Journalismus gemacht. Überlass das der Fleet Street, oder wo auch immer die Journalisten heutzutage sitzen. Und der Polizei. Überlass es der Polizei.“
„Ist das dein Rat?“, fragte er. „Ich habe dir gerade gesagt, dass es meine Berge sind. Jenny Hyde war meine Schülerin. So wie sie die Tochter der Hydes war. Ich werde mich nicht einfach damit abfinden, dass jemand eines meiner Mädchen umgebracht hat. So bin ich nicht.“
Sie lächelte ihn mit funkelnden Augen an. „Ich weiß“, sagte sie, mit einem steinharten Kloß im Hals. Sie erhob sich auf die Knie und presste ihm einen Kuss auf die Lippen. „Pass auf dich auf, Peter Maxwell. Denn … denn ich habe Angst.“
Er lächelte und legte seine großen, angenehmen Hände an ihr Gesicht. „Warum?“, fragte er. „Wovor hast du Angst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich habe Angst vor dem Schreckgespenst in den Falten meines Vorhangs, an das ich früher geglaubt habe. Und vor dem Gluckern der Rohre, wenn ich als Kind die Kette des Abzugs betätigte. Aber vor allem … vor allem habe ich Angst vor dem Roten Haus, Max. Ich fürchte das Rote Haus.“